Porzellan von abgemeldet (Nicht nur Glück ist zerbrechlich...) ================================================================================ Kapitel 6: Kapitel 6 -------------------- Der Entschluss stand fest, bevor Bela etwas dagegen einwenden konnte. Strahlend hatte Farin ihm davon erzählt, dass er doch noch etwas Interessantes in den Prospekten gefunden hatte. „Eingefrorene Wasserfälle, Dirk. Das klingt doch total cool. Und mit dem Auto ist das auch nur zwei Stunden von uns entfernt“ Ihm zuliebe hatte Bela einfach seine Mundwinkel zu einem gequälten Lächeln hochgezogen – was Farin wohl als Bestätigung seines Plans deutete. Und bevor Bela sich versah, saß er auf dem Beifahrersitz des großen, geräumigen Geländewagens, den sie zusammen mit dem Ferienhaus gemietet hatten, und starrte missmutig durch die Windschutzscheibe. Auch der Gedanke daran, dass die Fahrt „nur zwei Stunden“ dauern würde, war nicht besonders hilfreich. Farin allerdings schien wieder bestens gelaunt und trommelte im Takt der Musik, die aus dem Radio kam, auf das Lenkrad ein. „Wann sind wir da?“, fragte Bela schließlich, nachdem er es irgendwann satt hatte, die mit Schnee bedeckten Bäume zu begutachten. „Wann sind wir da?“, äffte Farin ihn nur grinsend in einem quengelnden Tonfall nach. Bela verdrehte die Augen, grinste dann aber auch und schlug dem Fahrer kurz mit geballter Faust in die Seite. Lachend versuchte dieser auszuweichen, was ihm nicht ganz gelang. „Wir hätten auf jeden Fall schon früher losfahren soll. Es wird schon bald dunkel“, antwortete Farin dann doch und sah durch die Windschutzscheibe. Stirnrunzelnd tat Bela es ihm nach. Für ihn hatte die Sonne nichts von ihrer Strahlkraft verloren. „Ähm…ja“, murmelte Bela nur und zuckte mit den Schultern, „das beantwortet meine Frage aber nicht so ganz“ Farin zog eine kurze Grimasse und warf dann einen Blick auf das Display des Autoradios. „Nicht mehr lange“ „Ah, sehr konkrete Zeitangabe, danke“, schnaubte Bela belustigt und verschränkte seine Arme dann vor seiner festgegurteten Brust. Seufzend ließ er sich ein wenig weiter in seinen Sitz sinken und blinzelte dann wieder kurz aus dem Fenster. Die Sonne strahlte heute wirklich außergewöhnlich hell und wenn Bela die Augen schloss, konnte er sich sogar einbilden, dass die Strahlen seine Haut wärmten, auch wenn Minusgrade herrschten. Für eine ganze Weile saß er so da, die Augen geschlossen, die Sonne genießend und sanft in den Fahrbewegungen des Autos mitwiegend. Als er die Augen wieder öffnete, bemerkte er neben der Wärme auf seiner Haut auch einen Blick von der Fahrerseite aus. Leicht verwundert stellte er fest, dass Farin ihn lächelnd aus den Augenwinkeln betrachtete. „Guck wieder auf die Straße, du Schwachkopf“, grinste Bela schwach und Farin wandte schmunzelnd seinen Blick ab. Es war ein Wunder, dass sie heil ankamen, so oft wie Bela Farin vom Fahren ablenkte. Doch schließlich hatten sie es geschafft, parkten am Straßenrand neben anderen Autos und sprangen aus dem Wagen. Wohin man auch sah, überall sah man hohe schneebedeckte Tannen, genau wie in den letzten zwei Stunden. „Und hier soll irgendwo ein Wasserfall sein?“, murrte Bela zweifelnd und folgte Farin, der sich sofort zielstrebig in Bewegung gesetzt hatte, „ich hör den gar nicht rauschen“ „Der ist auch zugefroren, du Idiot“, lachte Farin und Bela schnalzte unbegeistert mit seiner Zunge. „Bist du dir sicher, dass du dich nicht verfahren hast?“, fragte Bela nach weiteren fünf Minuten Gehens und Farin verdrehte die Augen. „Laut meiner Karte muss man hier nur noch einmal rechts abbiegen, und dann…“ Die Straße machte einen Bogen, die Bäume wurden lichter. Durch sie hindurch schien helles Licht. Sie bogen rechts ab und vor ihnen erstreckte sich eine zementierte Lichtung und mit ihr die schillernden Eiskristalle des Wasserfalls. „Und dafür sind wir jetzt zwei Stunden lang gefahren“, stellte Bela trocken fest, doch da war Farin schon strahlend an ihm vorbeigerauscht und hatte sich an die hölzerne Absperrung am Ende dieser Aussichtsplattform gestellt, die einen davor schützte, in die Tiefen des sonst tosenden Wassers zu fallen. Seufzend warf Bela einen kurz Blick über diese Plattform. Eine Familie mit zwei Kindern und ein junges Pärchen waren ebenfalls hier und alle hatten etwas gemeinsam: Die Kamera, mit der sie wie von Sinnen versuchten das funkelnde Naturschauspiel vor ihnen auf Film zu bannen. Muss wohl ne Touristenfalle sein, dachte Bela nur und ging dann mit den Händen tief in seiner Jackentasche vergraben auf Farin zu. „Das ist wunderschön“, seufzte dieser, als er die Gegenwart des Schlagzeugers neben sich spürte. „Mhm“, murmelte Bela nur und betrachtete das Eis stirnrunzelnd. „Du hast einfach kein Verständnis für Schönheit“, grinste Farin ohne den Blick abzuwenden und legte seine Hände auf den hölzernen Balken vor sich. Er klammerte sich so fest daran, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Gedankenverloren betrachtete Bela die schlanken Finger und ließ seinen Blick dann weiter hochgleiten zu Farins Gesicht…den geöffneten Lippen, deren Mundwinkel zu einem milden Lächeln verzogen waren…die vor Begeisterung strahlenden Augen… Kein Verständnis für Schönheit, dachte er bitter und schüttelte dann den Kopf, um den merkwürdigen Gedanken zu verscheuchen. In diesem Moment ertönte ein schrilles Kreischen, dann ein unterdrücktes Kichern. Fast gleichzeitig drehten sich die Beiden nach dem Ursprung des Geräusches um und entdeckten dann die älteste Tochter der Familie, die sie wie hypnotisiert anstarrte. „Mama!“, zischte sie bemüht leise, und trotzdem konnte Bela jedes Wort verstehen, „Mama, das sind die Ärzte!“ Bela hörte Farin leise aufstöhnen und wandte sich dann wieder dem Gitarristen zu. „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir mitten in der Pampa am anderen Ende der Welt ausgerechnet auf ‘ne deutsche Familie treffen?“, wisperte Farin und Bela lachte kurz auf. Da spürte er auch schon etwas, das ihm in den Rücken tippte. Das Mädchen war zu ihnen herübergekommen und sah die Beiden mit großen Augen an. „Tschuldigung…“, sagte sie zaghaft, „seid ihr nicht Bela und Farin?“ „Nein, tut mir Leid“, antwortete Farin, während Bela noch damit beschäftigt war, seinen Mund zu öffnen, und lächelte seinen Freund dann an, „wir sind Jan und Dirk. Aber ich wünsch dir noch einen wunderschönen Tag“ Und bevor Bela in irgendeiner Weise reagieren konnte, spürte er schon, wie Farin sich bei ihm unterhakte und ihn auf diese Weise von der Plattform zog. „Der Tank ist bald leer“ Dieser Satz riss Bela unsanft aus seinem wohligen Dämmerschlaf. Verwirrt blinzelte er Farin an. Sie waren wieder auf dem Heimweg und mittlerweile war es stockdunkel. „Wie bald ist ‚bald leer‘? Und wieso fällt dir das erst jetzt auf?“, fragte Bela und ärgerte sich, sobald die Worte ausgesprochen waren, über ihren panischen Klang. „Bald leer im Sinne von: Wenn wir jetzt nicht bald auf eine Tankstelle stoßen, haben wir ein Problem“, seufzte Farin nur und begutachtete stirnrunzelnd die Tankanzeige. Bela stöhnte genervt auf und ließ seinen Kopf gegen die Fensterscheibe schlagen. „Das hat man davon, wenn man stundenlang durch das Nichts fährt für ein paar Minuten lang Wasserfall-Gucken“, grummelte er und schloss die Augen. Er bezweifelte stark, dass es hier irgendwo im Umkreis von einigen Kilometern auch nur einen Tropfen Benzin gab. Einige Momente der Stille vergangen, dann seufzte Farin und fuhr den immer langsamer werdenden Wagen an den Straßenrand. „Toll“, murmelte Bela und rieb sich kurz angestrengt über die müden Augen, „wirklich toll. Ich wollt schon immer mal mitten in der Pampa feststecken.“ Farin verdrehte nur die Augen, schaltete das Licht des Wagens an und öffnete dann seine Autotür. Für einen Moment hatte Bela den absurden Gedanken, dass Farin jetzt auf eigene Faust losmarschieren würde, um eine Tankstelle zu suchen. Allerdings hörte der Schlagzeuger da schon, wie der Kofferraum geöffnet wurde und Farin seufzend darin herumkramte. Als er wiederkam, hielt er zwei Wolldecken in der Hand und warf Bela eine davon zu. „An einen Ersatzkanister hat unser lieber Vermieter nicht gedacht, dafür wenigstens an ein paar Decken“, grummelte Farin und schob sich dann wieder auf den Sitz. „Apropos Vermieter, ruf ihn mal an. Der soll uns mal abschleppen“, sagte Bela nur und stieß nun seinerseits die Autotür auf. Mit der Decke im Schlepptau stapfte er kurz durch den Schnee und öffnete dann die Tür zu der Rückbank, um es sich dort so gut es ging bequem zu machen. Während er dies tat, hatte Farin mittlerweile Belas Rat befolgt und rief Frank an. Nach einem kurzen Wortabtausch legte Farin auf und folgte Bela, in dem er sich auch auf die Rückbank setzte. „Und?“ „Er kommt“ „Woher soll der wissen, wo wir sind? Das weiß ich ja noch nicht mal…hier gibt’s nur Bäume“ Farin grinste schwach und schlang die Decke etwas fester um sich. „Ich hab ihm von ‘nem Straßenschild erzählt, an dem wir eben vorbeigekommen sind. Er meint, er weiß, wo wir sind“ „Ah ja…“, seufzte Bela und zuckte mit den Schultern, „und wie lang soll das dauern?“ „Just a few hours“, zitierte Farin und Bela stöhnte frustriert auf. Es gab wirklich angenehmere Dinge, die er sich vorstellen konnte. Nachdem sie für einige Zeit nur stumm im schwachen Schein des Lichtes dasaßen, stand Bela - so weit es ihm in dem Auto möglich war - auf und griff nach einer leeren Plastikflasche, die noch auf dem Beifahrersitz lag. „Wir könnten ja Wahrheit oder Pflicht spielen“, sagte er bitter lächelnd und legte die Flasche zwischen sich und Farin. „Wow. Grandioser Einfall, zu zweit Flaschendrehen“, sagte Farin nur trocken und betrachtete missmutig die Flasche. Lustlos umgriff Bela diese und drehte sie. Als sie zum Stehen kam, zeigte der Flaschenkopf in Richtung Windschutzscheibe. „Blöde Flasche“, murrte Bela und legte sie dann eigenhändig so hin, dass der Flaschenkopf auf Farin zeigte, „So. Wahrheit oder Pflicht?“ „Ist das jetzt dein Ernst?“, antwortete Farin nur stirnrunzelnd und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Ich deute das als Wahrheit“, entgegnete Bela und grinste schwach, „an was denkst du gerade?“ Leise stöhnend legte Farin seinen Ellenbogen auf die Kopfstütze des Rücksitzes und lehnte den Kopf gegen seine Handfläche. „Daran, dass du seltsam und kindisch bist.“ „Danke für das Kompliment“, lachte Bela und sah dann auf die Flasche herunter, „dafür bist du jetzt dran.“ „Wahrheit oder Pflicht?“, murmelte Farin mit schleppender Stimme und Bela schüttelte den Kopf. „Du musst erst die Flasche drehen“ Auf Farins Gesicht erschien ein leidender Ausdruck, doch schließlich beugte er sich wortlos dem Willen des Schlagzeugers. Diesmal blieb die Flasche wieder bei Farin stehen. Ein weiteres Mal half Bela nach, so dass der Flaschenkopf schließlich doch auf den Schlagzeuger zeigte. „Wahrheit“, sagte Bela und musterte Farin gespannt. Langsam schloss Farin die Augen und runzelte die Stirn, was ihm einen nachdenklichen Gesichtsausdruck verlieh. Wieder vergangen mehrere Momente, in denen sie beide schwiegen, dann öffnete Farin seine Augen und nahm die Flasche in seine Hand. „Ich hätte da tatsächlich ‘ne Frage“, murmelte er und drückte auf das harte Plastik in seinen Händen ein. Das leise Knacken unterbrach die Stille. Mit einem Mal veränderte sich die Stimmung in dem Wagen spürbar. Ob es an der plötzlichen Veränderung des Tonfall Farins lag oder einfach daran, wie er sich nun verhielt – Bela wusste es nicht. Stumm blickte er einfach nur den Gitarristen an, der es immer noch mied, ihn anzusehen. „Diese Nacht…“, murmelte er leise und sofort spürte Bela ein Stück Ohnmacht, die ihn überkam, „…als wir…also, nach der wir zusammen aufgewacht sind. Kannst du dich wirklich nicht mehr daran erinnern?“ Langsam presste Bela seine Lippen aufeinander. Dann schüttelte er mit einer gequält langsamen Bewegung seinen Kopf. Er wünschte, er könnte es. „Dann erübrigt sich wohl die Frage nach dem warum“, seufzte Farin und das Knacken des Plastiks wurde lauter. Gedankenverloren sah Bela mit an, wie Farin auf die Flasche eindrückte und nahm sie dann schließlich zaghaft aus seinen Fingern. Als er sie wieder auf den Sitz zwischen den Beiden legte, war das Plastik ganz eingedrückt. Diesmal hatte er sie gleich so gelegt, dass der Flaschenkopf auf Farin zeigte. „Wahrheit oder Pflicht?“, murmelte er und schluckte. „Pflicht“, antwortete Farin und klang diesmal bestimmter als noch zuvor. Fast so, als wollte er nichts mehr von sich preisgeben. Einen Moment lang dachte Bela nach, dann begann er zögernd zu sprechen. „Erzähl mir…erzähl mir von der Nacht“ Ein gequältes Lächeln erschien auf den Mundwinkeln des Gitarristen. „Jetzt rat mal, warum ich gerade Pflicht genommen hab…“, lachte er und schüttelte schwach seinen Kopf. „Bitte“, flüsterte Bela nur und sah ihn mit großen Augen an. Er hörte, wie Farin tief Luft holte und dann seine Finger in seinem Schoß verschränkte. „Das war…auf dieser Party. Ich saß allein auf einem Sofa und war kurz davor zu gehen, während alle um mich herum wie bescheuert herumhüpften. Auf jeden Fall…warst du dann plötzlich neben mir und hast mich angelächelt.“ Seine Stimme brach ab und Farin schloss die Augen, so als versuchte er sich die Szene wieder ins Gedächtnis zu rufen. Sein heiserer Flüsterton war stockend und teilweise sprach er so leise, dass es Bela schwer fiel, ihn zu verstehen. „Natürlich wusste ich, dass du da auch schon einiges getrunken haben musstet…nur irgendwie…warst du so klar. Ich weiß nicht mehr, wie es gekommen ist, aber plötzlich kamst du irgendwann immer näher, und dann…“ Er musste nicht weitersprechen, um Bela wissen zu lassen, was daraufhin passiert war. Langsam verkrallte der Schlagzeuger seine Fingernägel in seinen Handflächen und spürte, wie das Herz in seiner Brust beständig gegen seinen Brustkorb hämmerte. Schneller als sonst. „Ich weiß auch nicht, warum ich mich nicht dagegen gewehrt hab. Vielleicht war es einfach zu plötzlich. Irgendwann hast du mich mit in dein Hotelzimmer gezogen und ich hab mich immer noch nicht gewehrt. Das war alles so…“ Farin zuckte mit den Schultern und schüttelte dann schließlich den Kopf. Es schien so, als wollte er nicht mehr weiterreden – und diese Tatsache brachte Bela schier um. „Weiter“, wisperte Bela mit merkwürdig belegter Stimme und sah zu, wie Farin wieder nach der Flasche griff. Für einen kurzen Moment blickte Farin auf und sah Bela einfach nur perplex an. „Du willst nicht wirklich, dass ich dir…dass ich davon…“ „Doch, will ich.“ Mit geschlossenen Augen biss sich Farin auf seine Unterlippe und Bela vergaß das Atmen. „Ich…ich hab sowas noch nie erlebt. Mein Kopf hat sich plötzlich komplett ausgeschaltet. Deine…deine Hände waren überall. Du hast mich auf das Bett gedrückt, ich…-“ Wie so oft konnte Farin seine Gedanken nicht zu Ende führen. Langsam öffneten sich seine Augen wieder, dann schüttelte er ein weiteres Mal seinen Kopf, diesmal noch vehementer als zuvor. „Wahrheit oder Pflicht“, flüsterte Farin und riss Bela aus seiner Trance. Ihre Blicke trafen sich und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. „Pflicht“ „Beweg dich nicht“, befahl Farin kaum hörbar und Bela fror in seinen Bewegungen ein. Wie in Zeitlupe, so quälend langsam kam es ihm vor, beugte sich der Gitarrist zu ihm. Sein rasselnder Atem war mit einem Mal erschreckend deutlich wahrzunehmen, er konnte jede Unebenheit in den halb geöffneten Lippen sehen, die sich unaufhörlich den seinen näherten. Es endete, bevor es angefangen hatte. Ein plötzliches Klopfen an der Fensterscheibe ließ sie beide zusammenzucken und auseinanderfahren. Mit trockenem Hals starrte er zuerst Farin an, der genauso verwirrt entgegen starrte, dann glitt sein Blick zu der Person, die vor ihrem Auto stand. Es war ihr Vermieter, breit grinsend und mit einem Ersatzkanister in der Hand. 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