Mein Tischnachbar ist ein Idiot! von Skeru_Seven ================================================================================ Kapitel 26: ------------ Als Johannes mitten in der Nacht wach wurde, lag er ziemlich ungemütlich zwischen Bettgestell und der Matratze der zwei Verrückten. Na super, da hatte ihn wohl jemand aus Platzgründen aus den Federn geworfen, wie freundlich. Vorsichtig, um nicht noch alle anderen aufzuwecken, suchte sich Johannes einen Weg aus dem Schlafbereich, fischte sich seine Brille und stellte mit einem Blick auf die Uhr fest, dass es gerade mal halb drei war. Und er war nicht müde genug, um seelenruhig weiterzuschlafen, das konnte ja noch etwas werden. Was sollte er denn bitte die nächsten sechs Stunden machen? Alleinunterhalter für seine Nerven spielen? Den Kühlschrank plündern? Doch nach Hause gehen und Ärger bekommen, weil er natürlich keinen Schlüssel dabei hatte und klingeln musste? Nein, erst mal ging er aufs Klo, wenn er schon hier stand, danach... das entschied er spontan. Im Dunklen bahnte er sich einen Weg bis zur Tür – schlimmer als nachts im Wald, da stolperte man auch über alles und jeden – und blieb im Flur kurz stehen. Wohin musste er eigentlich? Hier gab es so viele Türen – immerhin vier Stück! –, da wusste er auf Anhieb nicht, welche es sein konnte. Obwohl Tobis Tür ausschied, aber der Rest... schwere Frage. Irgendwann hatte er keine Lust mehr, wie ein Depp herumzustehen, sondern öffnete eine der Türen und entdeckte zum Glück, dass er sich für die richtige entschieden hatte. Wäre schlecht gewesen, wenn es die von Tobis Schwester gewesen und die noch auf gewesen wäre. Fünf Minuten später versuchte er zurück in das weiche Bett zu kommen, ohne auf Hennings Hand oder Florians Klamotten zu treten, was sich als gar nicht so einfach heraus stellte. Das Chaos schienen alle drei zu lieben, noch mehr Gemeinsamkeiten. Um dieses Mal wenigstens etwas mehr Platz für sich selbst zu haben, schob Johannes Tobi, der noch schön vor sich hin pennte, ein Stück an die Wand und legte sich daneben, nur um zu merken, dass er immer noch nicht bereit zum Wiedereinschlafen war. Vielleicht sollte er anfangen, Schafe oder Katzen zu zählen. Oder Tobis als kleine Alternative, um sich von den ganzen anderen Leuten, die auch Viecher zählten, zu unterschieden. Heutzutage wurde doch an jeder Ecke Individualität gefordert, warum nicht auch hier? Nachdem ihm der hundertste Tobi vor dem inneren Auge vorbeigehüpft war, fühlte sich Johannes verarscht und hörte auf; statt der gewünschten Wirkung war er fast schon aufgedreht, was für ein Scheiß! Und damit hatte er nicht einmal zehn Minuten totgeschlagen, Betrug. Wer auch immer diese Methode entwickelt hatte, gehörte auf dem Mond geschossen. Ohne Rückfahrgarantie natürlich, sonst wäre es ja zwecklos. Sollte er Tobi wecken, damit er jemanden hatte, mit dem er reden konnte oder bei dem er sich überhaupt beschweren konnte, dass er nicht von rosa Schmetterlingen oder wahnsinnigen Mathetests träume? Verdient hätte T.V.L. es auf alle Fälle, aber wenn er einen kleinen Ausraster wegen der Uhrzeit bekam, wären auch noch die anderen wach und das Theater noch größer. Dumme Aussichten. Genervt rückte Johannes etwas näher an Tobi, der ihn automatisch festhielt und somit eine weitere Flucht unmöglich machte. Talent zum Besitzergreifen sein hatte der Junge, kein Zweifel, aber musste er es auch noch nachts ausüben? Und sogar im Schlaf? Irgendwas stimmte da nicht. Doch Johannes hatte momentan keine Lust, ein kleines Kämpfchen gegen seinen festen Freund zu führen, der das sowieso nicht mitbekam. Verschwendete Kraft, die man später für andere Zwecke nutzen konnte. Zum Beispiel Tobi eins auf die Mütze geben, wenn er sich in der Öffentlichkeit daneben benahm. Oder sich über sinnlose Hausaufgaben beschweren und sie trotzdem machen, das gehörte auch dazu. Endlich merkte Johannes, dass er sich nicht mehr ganz so wach fühlte wie noch vor kurze Zeit – lag bestimmt an Tobis Anwesenheit – und schon bald tat er das, was jeder normale Mensch um diese Uhrzeit tun sollte: schlafen und die dümmsten Dinge träumen. Ein leises Getuschel in der Nähe seines Ohrs weckte ihn wieder halb auf, was ihn erstens nervte, weil er gerne noch weiter geschlafen hätte, und zweitens spürte er die gefährliche Kante direkt neben sich. Einmal runterfallen am Tag genügte doch eigentlich. „Ja, Flo, mach weiter!“ Aha,das klang mehr als seltsam. Was auch immer die zwei Jungs da vorhatten, er selbst wollte es nicht wissen. Deshalb hielt er demonstrativ die Augen geschlossen und versteckte sich noch ein bisschen mehr in der Decke, die ihm allerdings in der restlichen Nacht fast wieder komplett entführt worden war, dank Tobi. „Gefällts dir, Henning?“ Florians Stimme örte sich an, als müsste er gleich loslachen, aus welchem Grund auch immer. Was machten die zwei da? Etwas raschelte und ohne wirkliche Vorwarnung fing Henning an, wie ein Wahnsinniger zu keuchen, sodass sich Johannes erschrocken noch tiefer in die minimalen Weiten der Decke vergrub und sich wünschte, nie wieder rauskommen zu müssen. Wollte ihn die ganze Welt verarschen oder was verstanden die beiden unter der Bedeutung 'nicht schwul'? „Ja, gibs mir, Flo!“ Jetzt reichte es aber, langsam übertrieben die beide es wirklich. Wo lebten sie denn, dass man seine Privatangelegenheiten nicht mehr zuhause hinter verschlossener Tür regeln konnte? Das tat er ja auch nicht, sonst hätte sich schon längst jemand aufgeregt. Ruckartig zog jemand Johannes die einzige Schutzhülle vor der fiesen Welt weg und das erste, was er sah, waren die zwei gewissen Leute, die keinen Meter von ihm entfernt saßen und sich kaputt lachten, weil er auf ihr kleines Theaterstück hereingefallen war. Wie peinlich! „Na, hats dir gefallen?“, fragte Florian lässig und grinste ihn an. „Heute war Premiere, extra für dich. Freust du dich auch schön?“ „Ihr könnt mich mal.“ Etwas anderes fiel Johannes im Moment nicht ein, die bekannte Schlagfertigkeit hatte sich nämlich in Luft aufgelöst durch den kleinen Schock am Morgen. „Gerne, sofort?“ War klar, dass Tobi das wieder ernst nahm, der wartete sozusagen nur darauf. Mit was für netten Leuten er sich hier herumschlug, man glaubte es kaum. „Nein, vergiss es.“ Immerhin hatte er die beiden nicht von ihrer Dummheit abgehalten, also musste Strafe sein. „Ich hab Hunger, bring uns was.“ „Wenn du schon so ankommst, ganz sicher nicht.“ Und gleich kam die Rache, wie gemein. „Wir können wie normale Menschen unten in der Küche essen, meine Familie schläft noch mindestens bis elf oder länger.“ „Na wenns sein muss.“ Mit einem bösen Blick an Henning und Florian verließ Johannes das Bett und stapfte beleidigt in die Küche, um nun wirklich den Kühlschrank leerzuräumen. Als Rache der Rache der Rache. Oder so, war ja auch egal, Hauptsache Rache! „He, eingeschnapptes Hühnchen, bleib stehen!“, rief Florian ihm hinterher. „Du bist selbst dran schuld, wenn du gleich etwas annimmst, ohne überhaupt mal hingeguckt zu haben.“ Obwohl Johannes das momentan nicht zugeben würde, hatte Tobis Freund recht, ein bisschen zumindest. Statt wie ein Einserschüler in Deutsch zu interpretieren hätte er mal die Augen aufmachen sollen. Auch wenn er dann möglicherweise eine tolle Überraschung vor der Nase gehabt hätte. Von der er sicher noch etwas hätte lernen können. Entgegen Tobis Annahme, seine Familie würde den halben Vormittag in ihren Zimmern verbringen, saß seine Mutter in der Küche am Tisch mit einer Tasse Kaffee und einem Brötchen mit Marmelade vor sich. Ein wenig verwundert beobachtete sie die Jungsparade, die sich im Schlafanzug zu ihr setzte und gleich begann, das Brotkörbchen zu erleichtern, als hätten sie seit Jahrzehnten nichts mehr zu futtern gehabt. Das ließ sie allerdings unkommentiert, was Johannes ganz recht war. „Was habt ihr denn gestern Abend noch schönes gemacht?“ Na gut, diese Standardfrage hätte sie auch weglassen können, das fragte man kleine Achtjährige, aber nicht eine Gruppe von extrem coolen Jugendlichen. „Nichts besonderes“, antwortete Tobi zwischen zwei Brötchenhälften und einem Schluck Kakao. „Du musst Sarah wirklich diese schrecklichen Filme verbieten, davon bekommt man Alpträume, stimmts?“ Florian und Henning nickten gleich, obwohl mindestens einer von ihnen kaum etwas mitbekommen hatte, aber Hauptsache man tat, als wüsste man 100%ig Bescheid. „Ach Tobi, du machst auch nicht immer besseres Sachen“, belehrte Frau Lohr ihn sofort und trank ihren Kaffee leer. „Außerdem könntest du mich nächstes Mal vorwarnen, wenn wir wieder sehr viel Besuch bekommen, damit ich mehr einkaufen kann.“ „Ging nicht, war eine spontane Aktion, von der wusste ich selbst gestern Morgen noch nichts.“ Da hatte er ausnahmsweise recht, was auch nicht besonders häufig vorkam. Tag der Premieren und Rekorde. „Florian und Henning kenne ich ja, aber wer bist du noch mal?“ Fragend sah sie Johannes an, der sich wunderte, wieso sie ihn nicht erkannte; er kam doch jede Woche hier her. Vielleicht lag es am Schlafanzug – einer von Tobi, das sagte alles – und an seiner interessanten Frisur am Morgen. „Mann, wie peinlich, Mama.“ Tobi blickt sie schräg an. „Das ist Johannes, nicht erkannt?“ „Oh, jetzt wo du es sagt, fällt es mir auch auf.“ Etwas verlegen versteckte sich Tobis Mutter hinter einer weiteren Tasse Kaffee. Ein zusätzlicher Kaffeeabhängiger auf dieser Welt, wie schön. „Eltern“, murmelte Tobi genervt, trank seinen Kakao aus und bestimmte aus einer Laune heraus, dass sie nun alle genug gegessen hatten und zurück in sein Zimmer gehen würden. Seit wann herrschte hier im Hause Lohr Diktatur, das gefiel Johannes gar nicht, eigentlich wollte er nämlich noch ein Brötchen essen, aber daraus wurde nichts; Tobi drückte ihn ohne Rücksicht in Richtung Tür und zerrte ihn in sein Chaosräumchen. „Ich müsste dann bald auch wieder nach Hause“, teilte Johannes Tobi mit, dem das gar nicht zu passen schien. „Hausaufgaben machen und so, du weißt ja.“ „Wieso? Es ist Samstag, Englischtag. Du bleibst hier noch und ich tu so, als würde ich dir helfen und du tust so, als verstehst du es.“ Stimmt ja, diesen besonderen Tag in der Woche hätte er wegen des vielen Gedöns drum herum fast vergessen. Das kam davon, wenn man sich zu lange mit einem kleinen besitzergreifenden Etwas in einem Zimmer aufhielt. „Was? Du bist sein Nachhilfelehrer?“ Henning konnte es kaum glauben, verständlich. „Du checkst doch selbst höchstens die Hälfte, die ihr im Unterricht macht, oder? „Tja, auch ich kann was“, gab Tobi an und hielt ihm das Englischheft, das er aus irgendeiner Ecke gezaubert hatte, unter die Nase. „Guck rein, das kannst du nicht.“ „Will ich auch gar nicht, meine zwei in Mathe kannst du nicht toppen.“ „Jungs, hört auf, euch gegenseitig auf die Nerven zu gehen.“ Unbeeindruckt vom Notenduell neben ihm spielte Florian mit einem Kugelschreiber, den er auf dem Schreibtisch gefunden hatte. „Dafür seid ihr beide in Bio die totalen Loser, also seid still, zivilisiert und macht was, was nichts mit Schule zu tun hat.“ Zum Schluss quetschten sie sich alle zu viert mit einem kleinen Brettchen auf das Bett und spielten ein paar Runden 'Mensch ärgere dich nicht‘, was damit endete, dass Tobi ziemlich aggressiv die Figürchen auf seinem Bettlaken verteilte, weil er als einziger erst eins davon auf dem Feld hatte, während Florian schon so gut wie fertig war. „Der Spielverderber in Aktion“, seufzte Henning und trauerte seinem zweiten Platz hinterher. „Das nächste Mal spielen wir Memory, vielleicht hast du da eine Chance.“ Johannes fand es erstaunlich, wie die drei sich beschäftigen konnten, ohne sich gleich vor eine Flimmerkiste oder den schrottreifesten PC zu hocken. Das sollten sich mal ein paar tausend andere Typen abgucken, damit sparte man nämlich auch noch Strom. Und Nerven, falls das Elektroteil nicht so wollte wie man selbst. „Oder Siedler von Catan, da gewinnt er doch öfters.“ „Aber nur, weil er gerne die Karten aus der Kasse klaut, Henning. ist dir das noch nie aufgefallen?“ Florian begann das Spielmaterial – soweit er es fand – wieder einzuräumen und trat dabei Tobi natürlich ganz ausversehen auf dem Fuß. „Wir gehen jetzt aber wirklich, sogar wir müssen für die Schule lernen“, verabschiedete sich Florian eine halbe Stunde später, als er und Henning in ihren Klamotten vom Vortag und frisch gewaschen per erneuter Wasserschlacht in der Haustür standen. „Viel Spaß noch, bei was auch immer. Und lass Johannes am Leben, Tobi, eigentlich ist er ja ganz in Ordnung. Nur sollte er sich eine neue Brille kaufen.“ Wie oft wollte er noch auf heute Morgen anspielen? „So, jetzt sind wir sie los“, stellte Tobi fest und schloss dir Tür. „Englisch müssen wir ja nicht lernen, oder? Ich hab keinen Bock drauf, es ist sowieso nichts Schwieriges zum Üben dabei. Oder verstehst du das Futur immer noch nicht?“ „Besser als andere Sachen.“ Auf Schule hatte er auch keine Lust. „Und was machen wir jetzt?“ „Ah, ich hätte da eine Idee.“ Mit einem bekannten Tobigrinsen zog er Johannes zurück in sein Zimmer in Richtung Bett und setzte sich dort neben ihn. „Du wirst jetzt lernen, etwas aktiver zu sein. Ist echt nervig, wenn ich der einzige bin, der immer was machen muss.“ „Aha.“ War das so ein Problem? Fand er eigentlich nicht. „Muss das sein? Du hast mehr Ahnung als ich.“ „Deswegen sollst du es lernen, Mann.“ Man merkte Tobi an, dass er ihn gerade als leicht schwer von Begriff einstufte. „Fangen wir ganz einfach an: Küss mich.“ „Äh...“ Sowas klappte doch nicht auf Befehl! Sah er aus wie ein Hund, der alles machte, was von ihm verlangt wurde? Dann würde er schleunigst etwas an seinem Äußeren ändern. Trotzdem beugte sich Johannes zaghaft zu Tobi hinüber und gab ihm einen kurzen Kuss auf den Mund. „So gut?“ „Das kann ja meine Schwester besser.“ Verzweifelt seufzte Tobi. Das musste jemand noch viel lernen. Aber sie hatten ja den halben Vormittag Zeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)