Auf dem Weg nach Hause hatte Johannes sich fest vorgenommen, nicht sofort bei Tanja anzurufen und sie zu nerven, um nicht den Anschein zu erwecken, überfordert zu sein. Das wusste sie ja sowieso schon, außerdem würden sich seine Eltern aufgrund der vielen Telefonate in letzter Zeit wundern und zusätzlich neugierige Erwachsene verkraftete er auf keinen Fall.
Und Telefonieren blieb für ihn einfach das Mädchenhobby schlechthin, egal ob Vorurteil oder nicht, und das würde er nicht so schnell ändern können, obwohl seine Schwester auch nicht pausenlos an der Strippe hing und seine Mutter schon gar nicht. Außer, sie tat das, wenn er in der Schule war. Dunklen Familiengeheimnissen kam er hier auf die Schliche, er sollte bei TKKG mitmachen, falls sie noch einen Platz frei hatten.
Aber natürlich schaffte es Johannes Sander, grandiose drei Minuten sein Vorhaben einzuhalten, das Telefon nur von Weiten zu betrachten, bis er es mit einem kleinen Seufzer über seine eigene Unfähigkeit in die Hand nahm, sich im Stillen für sein inkonsequentes Verhalten ausschimpfte – die Supernanny wäre entsetzt gewesen – und zum tausendsten Mal Tanjas Familie belästigte.
„Lass mich raten. Irgendwas war mit dir und deinem Fastehemann Tobi“, fing Tanja gleich an, bevor Johannes sie richtig begrüßen konnte. „Hat er dich in der Umkleide bespannt? Befummelt? Ausgelacht?“
„Naja, so schlimm auch nicht.“ Wenn jemand angefasst worden war, dann höchstens Tobi von ihm. Weltpremiere.
„Mann, Johannes, hör auf, immer in Rätseln zu schwätzen, wir sind hier nicht beim Orakel von Delphi. Dein Bruder sitzt gerade neben mir und langweilt sich zu Tode, weil er eigentlich etwas mit mir unternehmen wollte, statt mir beim Telefonieren zuzuhören. Also komm bitte mal auf den Punkt.“ Klang sie genervt? Nicht wirklich, dann brauchte er sich auch nicht unnötig zu beeilen.
Aber was zum Geier machte Kevin schon wieder bei ihr? Johannes hatte erwartet, dass sein Bruder sich wenigstens einmal so 'normal' wie vor einer Woche anstellen und das Wohnzimmer in Beschlag nehmen würde. Aber daraus wurde irgendwie nichts, vielleicht hatte Tanja ihm etwas ins Essen getan oder entführen lassen?
„Hallo, lebst du noch? Erzähl endlich, was ihr gemacht habt, sonst muss ich Tobi persönlich danach fragen.“
„Ja ja, ist gut.“ So wie er Tanja kannte, endete das hochgradig peinlich für ihn selbst, lieber berichtete er ihr nun kurz und knapp, was in der unscheinbaren Jungenumkleide vor nicht einmal einer halben Stunde geschehen war und weshalb er seit zehn Minuten die Leitung belegte.
„Du stellst dich echt an.“
„Hä?“ Zugegeben, das hätte er nun nicht erwartet und das merkte man ihm auch an.
„Zum tausendsten Mal: Steh dazu, wie es ist und wenn du was von ihm willst, ist gut und wenn nicht, freut sich halt ein anderes Mädchen, dass sie bald an dir hängen darf.“
Aus dem Hintergrund ertönte ein deutlich vernehmbares Geräusch der Überraschung und Johannes fiel entsetzt ein, dass sein Bruder immer noch live mithörte. Peinlich, peinlich.
„Danke für den Rat.“ Den sie ihm gefühlte 200 Mal schon an den Kopf geworfen hatte. „Bis morgen.“
Toll! Nun wusste nicht nur seine halbe Klasse, dass da möglicherweise etwas zwischen Nervfischi und ihm lief, sondern auch Kevin, der das Ganze bestimmt nicht so locker sah wie Tanja, schließlich hatten Männer fast immer riesige Probleme mit Homosexualität. Als ob sie selbst davon betroffen wären, wenn eine einzige Person in ihrer Umgebung das war, hirnlose Massenpanik für doofe, fand Johannes auf Dauer.
Außer natürlich, er war durch zu viel Kontakt mit Tobi schwul – oder auch nur bi – geworden. Das konnte ihm nicht mal Dr. Sommer weismachen.
Zur Ablenkung kritzelte er seine Hausaufgaben aufs Papier, beobachtete vom Fenster aus wie seine Nachbarn sich ein Kämpfchen um den besten Parkplatz lieferten und dachte nach; nichts Neues also, vielleicht fand er im Internet nette Dinge zum Zeitvertreib.
Gegen sechs Uhr und einer großen Zahl Misserfolge – wer niveauvoll unterhalten werden wollte, durfte kein Internet besitzen – hörte er im Flur die Tür aufgehen und wie befürchtet stand wenig später Kevin in seinem Zimmer; mit einem Blick, als hätte Johannes behauptet, er wäre sein Vater – wie in 80% dieser schlechten Filmen – und die Großmutter gleich dazu.
„Hi Kevin.“ Irgendwie musste er das Unvermeidbare ein wenig heraus zögern.
„Stimmt das wirklich?“, fragte sein Bruder leicht nervös und setzte sich neben ihn an den Schreibtisch. „Oder war das ein dummer Witz von Tanja?“
Klar, mit solchen Dingen verarschte sie regelmäßig ihre festen Freunde, weil sie auch so oft welche hatte.
„Sagen wir es mal so.“ Wenn er jetzt eine halbe Stunde lang wages Zeug ohne genaue Aussage herunter leierte, verlor Kevin vielleicht schnell die Lust daran und machte die Fliege. „Ungefähr zehn Prozent der Weltbevölkerung ist homosexuell, wie groß ist also die Wahrscheinlichkeit, dass ich es auch bin?“
„Jo, hör auf mit dem Mathegequassel und sags mir einfach. Ich bin dein Bruder, ich habe ein Recht darauf zu wissen, auf wen oder was du stehst.“ Kevin klang fast schon beleidigt.
„Aber mir nicht erzählen, was zwischen dir und Tanja läuft!“ Gleichberechtigung für alle wennschon.
„Das ist auch was anderes“, behauptete Kevin nicht sehr überzeugend, „aber komm, es geht um Tobi. Den Tobi, der dich mit einem Physikbuch geschlagen hat, der sonst noch öfters gewalttätig war. Und auf den sollst du plötzlich stehen? Der erste April kommt erst noch.“
„Die Chancen liegen bei 89,847%“, grinste Johannes und wich einem genervten Fußtritt seines Bruders aus. Wie schön man andere Menschen mit unsinnigen Zahlen in den Wahnsinn treiben konnte.
„Naja, dann müssen Mama und Papa sich halt auf weniger Enkelkinder einstellen“, meinte Kevin sachlich und blätterte eins von Johannes‘ Heften durch, als suchte er nach einem Beweis des Geständnis. „Werden sie schon überleben.“
Auf dieser Antwort war Johannes nicht vorbereitet gewesen und das schien Kevin zu freuen.
„Hast du ehrlich geglaubt, ich mach jetzt ein riesiges Theater deshalb? Tanja hätte mir dafür ziemlich die Meinung gegeigt. Außerdem hatte sie ungefähr vier Stunden Zeit, mich geistig darauf vorzubereiten. Weiß Tobi schon von seinem Glück?“
„Er ist derjenige, der mich unbedingt entheteroisieren will“, stellte Johannes klar, „bis Samstag habe ich Zeit, ihm seinen Erfolg mitzuteilen.“
„Wow, was für eine Entscheidungsfreiheit.“ Kopfschüttelnd klappte Kevin das untersuchte Heft wieder zu. „Ich muss auch noch Aufgaben machen, bis später.“
Damit verschwand er in sein eigenes Zimmer und Johannes widmete sich den interessanten Überlegungen, wie es wohl wäre, mit Tobi eine richtige Beziehung zu führen.
Irgendwie beunruhigte ihn die Vorstellung von einem Tobi, der ständig an ihm klebte, ihn abknutschte und sogar einmal zugab, in ihn verliebt zu sein.
Wollte er sich das tatsächlich antun? Nicht, dass seine Nerven nach knapp einer Woche streikten oder sich sein kleiner Rest Intelligenz völlig verabschiedete.
Das musste er sich alles noch ein paar Mal ganz genau durch den Kopf gehen lassen.
In den nächsten zwei Tagen versuchte Tobi ihn so wenig wie möglich zu bedrängen, um ihm vorzugaukeln, in irgendeiner Weise frei wählen zu dürfen und am Samstag schließlich triumphierend Johannes abschleppen zu können. Kleiner Schleimer, das funktionierte nicht!
Außerdem schaffte es Tobi inzwischen nicht mehr, einen Tag lang Johannes nicht mehr anzurühren, küssen ging gerade noch so. Wahrscheinlich fühlte er sich schon wie der Sieger des Jahres.
Wenn Johannes ihn nun einfach abblitzen ließ, wäre das die perfekte Rache für die ersten drei Wochen Gewalttätigkeiten gewesen und Tobis Selbstsicherheit wäre vielleicht ein klein wenig angekratzt. Kratzer im Lack gefielen Männer ja überhaupt nicht.
Diesen hinterhältigen Plan schlug sich Johannes aber nach fünf Minuten gründlicher Überlegung wieder aus dem Kopf, da er erstens nicht so dreist handelte und er zweitens auf diese unverschämt guten Belästigungsattacken von Tobi nicht komplett verzichten wollte. Immer musste nicht sein, aber so zweimal in der Woche gefiel ihm doch ziemlich.
Was ihn schließlich zu einer Entscheidung brachte, die er am Donnerstag morgen kurz vor Schulbeginn Tobi vor dem Schultor mitteilte.
„So, was willst du von mir?“ Am frühen Morgen schien das Hirn des dauernörgelnden Gelegenheitsschlägers noch nicht ganz auf der Höhe zu sein.
„Dreimal darfst du raten.“ Ganz sicher nicht Deutsch abschreiben, das konnte er allein besser als mit Tobi zusammen.
„Kein Bock, sags einfach“, forderte dieser ihn auf, aber an seinem leichten Grinsen – Haifisch ließ grüßen – erkannte man, dass er vielleicht nur so tat, als wäre er dumm wie Stroh.
„Ich hab lang darüber nachgedacht.“ Darüber schon, nur über seine Wortwahl im Moment nicht. In schlechten Soaps wurden so irgendwelche vorhersehbaren Ereignisse angekündigt. Obwohl seine Aussage auf irgendeine Weise voraussehbar war. Und vielleicht lebten sie tatsächlich in einer miesen Soap mit einem untalentierten Drehbuchautor. „Ich sag ja.“
„Das heißt, du willst mit mir zusammen sein, Blitzmerker?“
„Ja.“ Wie oft denn noch? „Aber könnten wir erst so etwas wie... eine Probebeziehungszeit machen? Von der außerdem nicht so viele erfahren sollen? Dann wäre das Risiko geringer, dass dich jemand auslacht, falls es nicht hält.“
„Äh...“ Damit hatte Tobi scheinbar nicht gerechnet. „Wenns unbedingt sein muss. So ungefähr wie die Verlobung? Man testet erstmal, wie dumm der andere ist um dann festzustellen, dass man doch lieber seinen Bruder heiratet?“
„Ja, so ungefähr könnte man das sagen.“ Wie war Tobi auf den komischen Vergleich gekommen? Lag wahrscheinlich an der Uhrzeit.“
„Geil, dann kann ich alles mit dir anstellen!“, freute sich Tobi und packte dabei so fest Johannes‘ Handgelenk, dass er befürchtete, es würde gleich abfallen. „Wie lange soll die Probezeit gehen? Drei Tage? Vier?“
„Zwei Wochen“, legte Johannes fest und unterdrückte einen Schmerzensschrei, als seine Hand systematisch zerkleinert wurde.
„Hallo, weißt du, wie lang das ist?“
Den Kommentar, dass dies die durchschnittliche Dauer einer normalen Beziehung bei Tobi darstellte, verkniff Johannes sich hastig und versuchte stattdessen, seinen sozusagen neuen festen Freund dazu zu bringen, ihn entweder loszulassen oder nicht weiter zu beschädigen.
„Ich weiß es, ich kann einen Kalender lesen. Ist ja nicht so, als dürftest du mich die ganze Zeit nicht anfassen.“ Um das zu verdeutlichen, drückte Johannes Tobi einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Endlich probierte er selbst auch mal die Offensive aus, Fortschritt.
„Na gut, wenn das so ist, hab ich nichts dagegen“, meinte Tobi, gab Johannes Hand frei, legte ihm stattdessen einen Arm um die Hüfte und schleifte ihn wie sein neustes Ausstellungsstück in den Klassensaal.
Was hatte er an dem Satz 'Es sollen nicht viele davon erfahren' nicht verstanden?