Warten
Kapitel 8 - Warten
Benjamin's PoV
Er würde wieder aufkreuzen. Da war ich mir sicher. Sonst hätte er nicht - mehr oder weniger - nach meiner Adresse gefragt. Also musste er doch wieder kommen. Er konnte gar nicht anders. Eigentlich musste er sogar. Wo sollte er auch hin? Natürlich. Eine Wohnung hatte er, aber dahin könnte er doch nicht zurück. Wenn der Typ wieder aufkreuzen würde, der ihm den Arm aufgeschlitzt hatte. Was wäre denn dann?
Ich fuhr mir durch das kurze, blonde Haar, als ich durch das TV-Programm zippte. Irgendetwas brauchte ich um mich ein bisschen abzulenken. Sonst würde ich nur anfangen nervös in der Wohnung auf und ab zu rennen. Angeblich hörte man das in die Wohnung unter mir durch. Viel zu oft hatte sich die Tussi, die dort wohnte schon aufgeregt. Dabei war die um einiges Lauter, wenn sie es mit ihrem Freund trieb. Das konnte man dann aber im ganzen Haus hören. Aber aufregen, wenn ich nur durch meine Wohnung ging.
Ich ließ ein Seufzen laut werden, als ich wohl schon mindestens zum dritten Mal alle Programme durch hatte. Wenn man einmal etwas Anständiges brauchen könnte, lief nichts. Irgendwie kam es mir vor, als wäre Weihnachten oder sonst irgendein Feiertag. Da kam auch immer wirklich gar nichts im TV, was man nicht schon in der x-ten Wiederholung gesehen hatte. Und trotzdem gab es angeblich Leute, die sich das Zeug dennoch wirklich ansahen. Obwohl sie wohl schon jeden Dialog in- und auswendig kannten.
Ich legte mich der Länge nach auf die Couch, als ich mich schließlich doch dazu entschlossen hatte den Fernseher wieder auszuschalten. Kostete mir ohnehin nur Strom und das Geld dafür könnte ich für Sinnvolleres ausgeben. Vielleicht um mir einmal ein paar richtige Modele für meine Bilder zu leisten. Die Mädels von der Straße waren wirklich nicht das waren. Und weit würde ich mit denen für die Bilder, die ich für diese Parker seine Frau malen sollte, auch nicht kommen.
Das dem Kerl das überhaupt passe, dass sich seine werte Gemahlin Bilder von Typen an die Wand hin. Wahrscheinlich war ihr ihr Gatte nicht genug. Wer etwas Geschmack hatte, hätte den aber auch schon längst abgeschossen. Das so einer Frauen nicht wirklich gefallen könnte, fiel sogar mir als Kerl auf. Ein zweites Mal würde sie denn sicherlich nicht mehr nehmen. Aber vielleicht hatte er auch einfach nur Geld. Dafür taten doch Menschen alles.
Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Wenn Michael wirklich noch einmal wiederkommen würde, dann könnte ich doch ihn fragen, ob ich ihn - zumindest als Test einmal - malen dürfte. Ausmachen sollte ihn ja meine Art von Kunst nicht. Hunderte von Typen hatten ihn schon so gesehen. Da könnte ihm einer mehr oder weniger eigentlich scheißegal sein. Und irgendeinen dreckigen Hintergedanken hatte ich doch auch nicht. Was sollte ich auch schon groß mit ihm anstellen könnten?
Ich rollte mich so, dass die Rückenlehne der Couch direkt vor mir war.
Was hatte ich mich eigentlich so künstlich aufgeregt, dass er weg war? Hätte er mir vielleicht erst eine schriftliche Genehmigung dafür vorlegen sollen? Es war sein verfluchtes Leben, das er lebte und nicht meines. Also was hatte es mich zu interessieren, wo er war? Im Grunde hätte es für mich nur besser sein könne. Zumindest musste ich nicht noch jemanden durchfüttern. Mit meinen drei Jobs kam ich ja selbst kaum über die Runden.
Erneut seufzte ich. Vielleicht war es auch nur die Einsamkeit, weswegen ich ihn hier behalten wollte. Schon lange hatte ich doch keine richtige Gesellschaft mehr. Die paar Freunde bei der Arbeit waren schon alles. Aber selbst mit denen konnte ich eigentlich nie wirklich mal irgendetwas unternehmen. Ich hatte ja kaum Zeit. Da wäre er mir nur gut bekommen.
Ich rollte mich anders herum.
Aber ihn hier halten, wie einen Vogel in einem goldenen Käfig? Das hätte ich doch auch nicht machen können. Das sollte eigentlich niemand mit einem Menschen machen können. Und wie viele taten es? Genügend! Wer wollte nicht jemanden ganz für sich allein haben? Rein aus Liebe. Nein! Das war keine Liebe mehr. Das war grausam.
Ich rollte mich wieder auf den Rücken und verschränke die Arme erneut hinter dem Kopf.
Was sollte ich eigentlich machen, wenn er doch nicht mehr kommt? Im Grunde sollte mir das egal sein. Oder? Könnte ich hier eben wieder alleine rumhängen. So lange war das ja auch nicht. Nur ein paar Stunden am Tag. Freizeit hatte ich ohnehin so gut wie gar keine. Aber so richtig interessieren tat es mich gar nicht mehr. Man gewöhnte sich daran.
Und das hatte ich auch. Schlafen, essen und arbeiten. Aus viel mehr bestand mein Leben schon gar nicht mehr. Da wäre es zumindest einmal eine schöne Vorstellung, wenn zu Hause jemand auf mich warten würde. So könnte ich mich zumindest auf irgendetwas freuen. Mehr als auf die kalte, leere Wohnung.
Mir würde schon etwas Gesellschaft hier reichen. Irgendjemanden. Es wäre schon genug. Auch wenn ich mir dafür gut und gerne auch eine Katze anschaffen könnte. Nur wäre das wohl nicht so schön, wie wenn es jemand wäre, mit dem man sich auch unterhalten könnte und der dann auch antwortete.
Langsam setzte ich mich auf und streckte mich leicht. Das Knurren meines Magens ließ mich leicht zusammen zucken. Ich hatte ganz vergessen etwas zu essen und eigentlich war mir der Hunger auch etwas vergangen, als ich das erste Mal nach Hause gekommen war und er nicht mehr da war. Aber jetzt wäre es wohl doch angebracht, irgendetwas im Magen zu haben.
Ich tapste in die Küche. Ein paar der Pfannkuchen von heute Mittag waren noch da. Die könnte ich mir jetzt einverleiben. Aber vielleicht sollte ich ein paar für Michael aufheben. Da verließ aber schon wieder ein Seufzen meine Kehle. Wieso war ich mir eigentlich so sicher, dass er hier noch einmal aufkreuzen würde? Das war doch nur Einbildung. Er hatte keinen Grund um hier wieder aufzutauchen.
Ich setzte mich an den Küchentisch und massierte mir leicht die Schläfe. Sicherlich würde ich hier alleine sitzen bleiben. Michael kam nicht wieder. Ganz bestimmt nicht. Er wäre aber auch ein Idiot, wenn er es tun würde. Und ich wäre einer, wenn ich weiter warten würde.
Langsam sank mein Kopf auf die Tischplatte. Mir war der Hunger wieder vergangen. Und eigentlich sollte ich längst im Bett sein. Morgen würde ich zwar nicht so früh aufstehen müssen, aber lieber war ich in meinem warmen Bett.
Ich zog mir schnell das Shirt und die Jeans aus, kroch unter die Decke und blieb erst einmal auf dem Bauch liegen. Ohne einen weiteren Zucker zu tun starrte ich in die Dunkelheit. In der letzten Nacht lag ich hier zumindest nicht allein. Es hatte sich irgendwie gut angefühlt.
Er hatte es mir sicherlich nicht geglaubt, dass ich neben ihm eingeschlafen war und mich deswegen so an ihn gekuschelt hatte. War ohnehin nur eine verdammt dumme Ausrede. Und noch dazu eine verflucht billige. War nicht ungewöhnlich, das er es anzweifeln würde.
Aber wieso war ich den wirklich bei ihm geblieben? Nur weil ich auf ihn aufpassen wollte? Wäre einleuchtend, aber das konnte doch kaum der einzige Grund gewesen sein. Sonst machte ich auch nichts, nur wegen einem Ansporn. Ich brauchte sonst immer etwas Zweites um mir wirklich sicher zu sein, dass etwas so sein musste.
Ich rollte mich auf den Rüchen und setzte mich wieder auf. Tief sog ich die Luft ein und stieß sie mit einem Seufzen wieder aus. Schließlich raffte ich mich wieder hoch und marschierte erneut in die Küche. Nur ein Glas Wasser würde ich mir holen. Mehr nicht.
Doch aus dem einen wurden zwei. Und dann immer mehr. Bis mir fast schon schlecht wurde. Ich sank schließlich wieder auf einen der Küchenstühle und ließ langsam den Kopf in den Nacken sinken. Wie gebannt starrte ich an die Decke.
Eins. Zwei. Drei. ... Neun Deckenlahmelen. Und vier LCD-Lampen.
Mein Kopf sank wieder nach vorne und ich blickte mich langsam um. Eins. Zwei. Drei. ... Drei Steckdosen. Mir war nie aufgefallen, dass das so viele waren. Immerhin suchte ich andauernd eine. Manchmal meinte ich fast, dass ich nur eine einzige hätte. Zumindest war es nicht so.
Ich stand etwas umständlich wieder auf, tapste in den Gang hinaus und lief bis an dessen hinteres Ende. Dort hielt ich einen Moment inne, bevor ich wieder auf den Haken kehrt machte und rückwärts so weit zurückging, bis ich die Wand mit der Ferse spürte.
Genau setzte ich den einen Fuß vor den anderen, so das kein Millimeter mehr Platz war. Etwas wankend lief ich so den ganzen Gang ab. Genau 26 Fuß und ein bisschen was lang. Das gleiche machte ich bei der Breite. Da waren es aber nur sieben Fuß und ein bisschen was. Demnach hatte ich einen 182 Quadratfuß großen Gang.
Leicht schüttelte ich den Kopf. Was machte ich da eigentlich. Wollte ich so vielleicht noch die komplette Wohnung abmessen?
Ich marschierte geradewegs wieder ins Schlafzimmer und ließ mich ein weiteres Mal aufs Bett fallen. Vielleicht könnte ich nach dieser dummen Aktion ja jetzt endlich schlafen.
Nur blöd, wenn Michael doch wieder kommen würde und ich ihn nicht hörte. Er könnte draußen erfrieren. Immerhin hatte er nicht gerade etwas Warmes an. Mein Pulli, der ihm um einiges zu groß war, würde da auch nicht mehr viel ausmachen.
Ich sprang wieder auf. Die Tussi unter mir - wenn sie denn zu Hause war - würde mich wohl morgen umbringen, dass sie ihren wichtigen Schönheitsschlaf nicht mehr richtig bekommen hatte, nur weil ich hier oben so einen Radau gemacht hatte. Doch nur rumliegen und Löcher in die Luft starren konnte ich auch nicht. Von schlafen mal ganz abgesehen.
Ich stapfte wieder ins Wohnzimmer. Vielleicht könnte ich ja etwas lesen. Als Otaku[1] - auch wenn ich mir schon lange keinen Manga mehr gekauft hatte - hatte ich eigentlich was im Haus. Immer noch stand meine kleine Sammlung in einem Regal direkt neben dem Fernseher. Nur hatte sie mit der Zeit angefangen zu schrumpfen. Jetzt waren zum Großteil nur noch meine wirklichen Lieblinge da.
Kurzerhand schnappte ich mir den ersten Band von Lady Snowblood[2] und sank damit auf die Couch. Irgendwie könnte ich damit schon die Zeit überbrücken, bevor mich die Langeweile und Nervosität wieder packte.
Und dennoch konnte ich nicht lange lesen. Schon bald landete der Manga neben dem Sofa auf dem Boden und ich blickte nur starr an die Decke. Biss mir schließlich auf die Unterlippe. Da schmeckte ich aber schon einen leicht kupfernen Geschmack im Mund. Das war wohl ein bisschen zu fest.
Ich machte mir Sorgen um ihn. Wenn dieser Kerl ihm auch etwas antun wollen würde. Dieses Mal könnte ich ihm sicherlich nicht mehr helfen. Woher sollte ich auch jetzt wissen, wo er war? Hellsehen gehörte zu einem der Dinge, die ich nicht konnte. Und einen Sensor zum Finden von kleinen rothaarigen Strichern hatte ich auch nicht.
Leicht kniff ich die Augen zusammen. Wieso hatte ich überhaupt solche Befürchtungen, dass ihm etwas passieren könnte? Gerade bei einem Fremden. Es war doch Irrsinn sich um jemanden zu sorgen, denn man gar nicht kannte. Also wieso machte ich es eigentlich? Etwas krank im Kopf musste ich doch sein.
Ich rollte mich auf den Bauch und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Für einen Moment schloss ich die Augen, da war es aber längst zu spät. Ich war eingenickt. Und versank in einem konfusen Traum.
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[1] Ein extremer Fan (vor allem Anime und Manga)
[2] Seinen-Manga von Kazuo Koike & Kazuo Kamimura