Das Auge des Ra (J&S) von moonlily ("Wüstensand") ================================================================================ Epilog: Falke und Schlange -------------------------- Was lange währte ... Begleitmusik: http://www.youtube.com/watch?v=URvoen-xysg Ägyptische Musik Epilog Falke und Schlange Der Sand der Östlichen Wüste glühte unter den heißen Strahlen der Sonne. Langsamen Schrittes bewegte sich die Karawane der Hethiter vorwärts, immer nach der Sonne oder abends nach der Position der Sterne gerichtet, nach Nordosten. Zidanta und Lubarna waren mehr als froh darüber, auf einem Pferd sitzen zu können und nicht wie Anitta in einer kleinen Sänfte eingepfercht zu sein. Ursprünglich für die nach einem Unfall entstellte Tochter eines früheren Pharao gebaut, war die Sänfte für Anitta etwas zu klein. Es war ihm unmöglich, seine langen Beine auszustrecken, so dass er die meiste Zeit in halber Schräglage, abgestützt auf einen Arm und die Beine angewinkelt, verbrachte. Die kleinen, mit feinem Gitterwerk verschlossenen Fenster ließen kaum frische Luft hinein und seine Diener, die im Tragen einer Sänfte unerfahren waren, brachten Anitta manches Mal schier zur Verzweiflung. Inzwischen bekamen sie wenigstens einen halbwegs ordentlichen Gleichschritt zustande, doch in den ersten Tagen war das hölzerne Beförderungsmittel so stark von einer Seite zur anderen geschwankt, dass sich dessen Insasse wie auf einem kleinen Boot mitten in einem schweren Sturm auf hoher See vorgekommen war. Viel tun konnte der Fürst auch nicht, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Diener und Soldaten, die seine Sänfte begleiteten und ihm abends halfen, waren angewiesen worden, nicht mit ihm zu sprechen. Derart zur Untätigkeit gezwungen, verbrachte Anitta die meiste Zeit damit, in seinem stickigen Gefängnis vor sich hin zu brüten und Pläne zu schmieden, wie er sich an Zidanta, Lubarna, dem Pharao und vor allem an Jono rächen konnte. Ein ums andere Mal verwarf er seine Überlegungen und begann von neuem. Keines der Vorhaben erschien ihm grausam genug und besonders Jono, der seine Pläne einmal zu oft vereitelt hatte, wollte er ein möglichst qualvolles Ende bereiten. Aber wie er es auch drehte und wendete, eines blieb unverändert: Um überhaupt seine Rache zu bekommen, musste er aus dieser verfluchten Sänfte heraus und – was Jono und den Pharao betraf – seinen Be-wachern entkommen. Wenn ich an mein Gepäck käme, sähe die Sache schon anders aus, dachte er. Seine ganzen Sachen waren nach seiner Verhaftung gründlich durchsucht worden und das Mittel, mit dem Anitta den Wein und das Wasser versetzt hatte, war auch gefunden worden. Nicht jedoch die kleine Sammlung von Giften, unter anderem Belladonna, Arsenik, und Mohnsaft, die in einem geheimen Fach im Deckel einer seiner Kleidertruhen ruhte. Eines von den Fläschchen war mehr als ausreichend, um seinen Feinden einige qualvolle letzte Stunden zu bereiten. Als sie hielten und Anitta endlich seine Sänfte verlassen durfte, waren ihm die Beine eingeschlafen. Er streckte sich mehrfach und machte zunächst unsichere Schritte, bis das Blut in seine Extremitäten zurückgeströmt war. Dann ließ er sich von einem Diener zu seinem Zelt führen, immer unter den aufmerksamen Augen der Wachen. Seinen einstigen Leibdiener hatte er seit der Abreise aus Men-nefer nicht mehr zu Gesicht bekommen. Diesem war es streng verboten, Kontakt zu seinem Herrn aufzunehmen, damit er ihm nicht in irgendeiner Form behilflich sein konnte. Aber der Junge, den man ihm heute zugeteilt hatte, war eine wandelnde Katastrophe auf zwei Beinen. Nabi war ein Tollpatsch, wie er im Buche stand. Dauernd stieß er gegen etwas oder ließ etwas fallen. Wie zur Bestätigung krachte es Sekunden darauf und im Zelt breitete sich der süßliche, intensive Geruch von Parfüm aus. „Du Tölpel, was hast du angerichtet! Sieh zu, dass du das wegmachst, ich will nicht in einer Duftwolke schlafen“, fauchte Anitta. Der Junge zog den Kopf ein, als die geballte Ladung aufgestauten Frusts aus seinem Gegenüber ausbrach und sich über ihm entlud. Er huschte aus dem Zelt, um einen Lappen und etwas Wasser zum Aufwischen zu holen. Anitta sah ihm grimmig nach und ließ sich auf einem Hocker nieder. Was habe ich verbrochen, dass ich mit einem solchen Dummkopf gestraft wer – Seine Gedanken brachen ab, als seine Augen an einem hölzernen Kasten hängen blieben, der in einem Winkel des Zeltes stand. Anitta warf einen Blick zum Zelteingang. Seine Wachen standen reglos davor. Er erhob sich vorsichtig von seinem Sitz und hastete dann, nach einem weiteren Blick auf die Männer, zu der Truhe. Mit leicht zitternden Fingern hob er den Deckel an und betätigte den versteckten Mechanismus, der das Geheimfach öffnete. Eine kleine Ansammlung von versiegelten Flaschen und Phiolen kam unter dem Holz zum Vorschein. „Rein mit dir, Nabi, du weißt, du sollst ihn nicht so lange allein lassen“, kam die Stimme von einem der Wächter ins Zelt geweht. Anitta griff hastig nach dem erstbesten Fläschchen, das ihm unter die Finger kam, verschloss das Versteck, klappte den Deckel herunter und schaffte es, die Flasche in sein Gewand schiebend, gerade noch auf seinen Platz zurück. Sekunden später kam Nabi herein und begann die Unordnung aufzuwischen. Anitta schlenderte zu seinem Nachtlager herüber, wo er sich auszog und seine Beute unauffällig zwischen den Decken verschwinden ließ, bevor er selbst ins Bett schlüpfte. Sobald Nabi gegangen war – zu Anittas Ärger hatte er die Truhe wieder mitgenommen –, zog er die Flasche hervor und betrachtete sie im Schein des kleinen Öllichts, das nachts zur besseren Kontrolle für die Wachen in seinem Zelt brannte. Enttäuscht stellte er fest, dass er nur den Mohnsaft erwischt hatte. Ein Gift wäre für seine Rache besser geeignet gewesen, doch auch der Saft konnte ihm gute Dienste leisten. Er klopfte sein Kissen zurecht und zog die Decke höher. Ein oder zwei Stunden Schlaf wollte er sich noch gönnen, die Kraft würde er brauchen. Es war eine Stunde vor Mitternacht, als er erwachte. Er lauschte nach draußen, vor seinem Zelt standen andere Wachen. Wie es sich anhörte, war die Ablösung noch nicht lange her und einer der beiden war verärgert, weil er sein Würfelspiel hatte unterbrechen müssen. „Mach dir nichts draus“, sagte der andere Wächter. „Dafür hat uns doch Seine Durchlaucht mit diesem köstlichen Tropfen entschädigt. Diese Ägypter sind vielleicht zum Teil lausige Kämpfer, aber vom Wein verstehen sie ’ne Menge.“ „Da hast du Recht.“ Anitta schob die Zeltplane einen Spalt weit zur Seite und spähte hinaus. Die beiden Männer hatten sich, Tonkelche in der Hand und eine kleine Amphore zwischen sich stehend, vor den Eingang gesetzt. Schon wieder etwas, über das sich Anitta aufregen konnte. Er wurde seit Tagen mit Wasser abgespeist und einfache Soldaten tranken Wein und ließen obendrein noch die Disziplin vermissen. Letzteres schien ihrem Vorgesetzten ebenfalls ein Dorn im Auge zu sein. Mit großen Schritten kam er durch das Lager auf sie zugeeilt und herrschte sie an, gefälligst Haltung einzunehmen, wenn sie ihre Wache versahen und nicht faul vor dem Zelt herumzulümmeln. Die beiden Gescholtenen sprangen auf und ließen die Standpauke ohne Widerworte über sich ergehen. Anitta zog mit den Zähnen den Korken aus dem Fläschchen und schüttete einen Teil des Mohnsaftes, immer wieder nach oben sehend, ob die Wachen noch von der Rede ihres Vorgesetzten abgelenkt waren, in die Amphore mit dem Wein. Mit einem letzten grimmigen Lächeln zog er sich danach vom Eingang zurück. Sie würden alle bezahlen, einer nach dem anderen. Dafür würde er sorgen. „Dass sich der Hauptmann immer gleich so aufregen muss“, sagte einer der Wächter, als dieser gegangen war. „Aber sollen wir deshalb den guten Wein verkommen lassen?“ „Nee, du, wer weiß, ob wir noch mal welchen kriegen, bevor wir nach Hause kommen. Prost.“ Zufrieden hörte Anitta, wie die Tonbecher aneinander geschlagen wurden. Nicht lange, nachdem der Wein ihre Kehlen heruntergeflossen war, spürten die beiden, wie die Müdigkeit von ihnen Besitz ergriff. Sie versuchten sich an ihren Lanzen festzuhalten und wach zu bleiben. Der Hauptmann hatte damit gedroht, den Sold, den sie für diese Reise zusätzlich erhalten sollten, einzubehalten, wenn er sie noch einmal während ihres Dienstes so faul antraf. Der Mohnsaft aber tat unaufhaltsam seine Arbeit und bald darauf waren sie auch gegen ihren Willen ins Reich der Träume geglitten. Anitta stieß sie an, seine Berührung blieb ohne Reaktion. Zufrieden grinsend holte er seinen Umhang und schlich aus dem Zelt. Über das Lager hatte sich Stille gesenkt, nur die Flammen der beiden Lagerfeuer, um welche sich jene Soldaten geschart hatten, die zur Wache eingeteilt waren, knisterten. Der Fürst sah sich nach seinem Gepäck um, doch in der Dunkelheit ließ sich kaum eine Truhe von der anderen unterscheiden. Er öffnete die erstbeste und fühlte kühles Metall unter seinen Fingern, glatt polierte Steine und Perlen. Das war zwar nicht das, wonach er gerade suchte, doch die Schmuckstücke konnten ihm sicher noch nützlich sein. Unter den hastigen Bewegungen seiner Finger verschwanden die Juwelen in einem Beutel. Anitta stöberte weiter und merkte nicht, dass er dabei immer lauter zu Werke ging. „Ist da jemand?“ Beim Ruf des Wächters hielten Anittas Finger inne, ihr Besitzer sah sich um und verschwand hinter einem großen Korb. Der Soldat sah sich bei den Gepäckstücken um und trottete zu seinem Platz am Feuer zurück. Erleichtert atmete Anitta aus und überdachte seine Situation. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass er die Gifte an sich brachte, mit ihnen in die Zelte von Lubarna und Zidanta gelangte und beide tötete? Nicht besonders groß, bedachte er die Wachen, die vor ihren Eingängen postiert waren. Und wenn man ihn erwischte, wie er durch das Lager streifte und zu allem Überfluss die betäubten Wachen fand, würde man ihn überhaupt nicht mehr aus den Augen lassen. So ungern er die zwei am Leben ließ, es war wichtiger, dass ihm die Flucht gelang. Über die konkrete Planung seiner Rache konnte er sich danach Gedanken machen. Auf seinem Weg durch das Lager nahm er noch einen Beutel mit Lebensmitteln und mehrere Wasserschläuche an sich und schlich sich dann zu dem Teil des Lagers, wo die Tiere untergebracht waren. Während er seinen Blick in kurzen Abständen über die Zelte schweifen ließ, um eventuelle unerwünschte Besucher schnell auszumachen, sattelte er sein Pferd und verstaute die Beutel, die er hatte mitgehen lassen. Das Tier schnaufte leise, als sei es mit dem Vorhaben seines Besitzers nicht einverstanden, der nach den Zügeln griff und es zwischen ein paar Zelten, in denen die Diener schliefen, aus dem Lager führte. Anitta wanderte über mehrere Sanddünen, bis die Feuer fast aus seiner Sicht verschwunden waren, dann erst wagte er aufzusteigen. Die zuerst langsamen Schritte wurden bald zu einem schnellen Trab und schließlich zum Galopp, der den Sand aufstauben ließ. Als der Schrei des Hauptmanns, der die beiden Unglücklichen entdeckte, die in dieser Nacht Anitta bewachen sollten, das Lager aus seinem Schlaf riss, hatte er längst ein ganzes Stück Weges hinter sich gebracht. Vor ihm stieg die Sonne auf und tauchte eine Gruppe Felsen in ihr rötliches Licht. Anitta ließ sich müde von seinem Pferd gleiten und rollte sich unter seiner Decke auf einem großen, flachen Felsen zusammen. Vor ihm lag noch ein weiter Weg, aber jeder Schritt würde ihn seiner Rache ein Stück näher bringen. Gut fünf Tage später traf der Soldat, den Zidanta als Bote losgeschickt hatte, in Men-nefer ein, um den Pharao über Anittas Flucht in Kenntnis zu setzen. Atemu schickte augenblicklich berittene Truppen los, um den Flüchtigen zu suchen, auch wenn die Chance, ihn zu finden, verhältnismäßig klein war. Die Östliche Wüste war groß und er hatte immerhin fast eine Woche Vorsprung. In einem beeindruckenden Farbenspiel zog sich die Sonnenscheibe hinter den Horizont zurück, um ihrem kühlen Gefährten dem Mond Platz zu machen, der sich bereits im Osten zeigte. Jono betrachtete die beiden Gestirne mit einem leisen Seufzen. Den ganzen Tag über hatte er mit Tanefer trainiert und war nun, nach dem Abendessen, auf eine der Akazien geklettert, die in den Gartenanlagen wuchsen, um die schöne Abendstimmung ein wenig zu genießen. Um einiges lieber wäre es ihm allerdings gewesen, hätte er dies zusammen mit Seth tun können. Es waren mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. In zwei Tagen wurde Atemus zukünftige Frau, Prinzessin Tia, erwartet und im ganzen Palast herrschte eine Geschäftigkeit wie zuletzt vor der Ankunft der hethitischen Gesandten. Überall wurde geputzt und alles auf Hochglanz gebracht, um die königliche Braut angemessen willkommen zu heißen. Sie sollte nach ihrer Ankunft im Hafen in einem feierlichen Umzug zum Palast gebracht werden, den Seth, ebenso wie die restlichen Feierlichkeiten, organisierte – zu Jonos Leidwesen. Der Hohepriester wurde dermaßen von den Vorbereitungen vereinnahmt, dass sich das Paar seit Tagen kaum noch zu Gesicht bekam. Jonos Finger strichen geistesabwesend über das Amulett, das um seinen Hals hing. Seitdem er offiziell zu seinem Wächter erklärt worden war, trug er es fast immer. Ähnlich wie Isis’ Kette hatte es sich darin bewährt, seinen Träger frühzeitig vor Gefahr zu warnen, besonders wenn es sich um Gefahr für den Pharao handelte. Von Anitta fehlte jede Spur, obwohl in dieser Stunde im ganzen Reich Beschreibungen von ihm verteilt wurden. „Jono, was im Namen Amun-Ras machst du da oben?“ Der Blick des jungen Medjai richtete sich zu Boden und traf auf etwas genervt blickende blaue Augen. „Ich habe auf dich gewartet.“ „Auf einem Baum“, kam die skeptische Antwort von Seth. „Warum nicht? Die Aussicht von hier oben ist sehr schön. Komm rauf, dann zeige ich sie dir.“ „Danke, ich verzichte. Aber wenn du nicht bald herunterkommst, überlege ich mir, heute auf unser Training zu verzichten.“ „Nein, nein, nicht gleich sauer werden. Ich komme ja schon, Schlange“, sagte Jono und machte sich an den Abstieg. „So ist es brav, Hündchen.“ „Seth! Ich bin kein Haustier!“ Etwa anderthalb Meter über dem Boden sprang Jono ab und landete vor seinem Gefährten. „Ist ja gut, du weißt doch, dass ich das nicht böse gemeint habe.“ „Wenn ich mich richtig erinnere“, Jono stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust, „hast du darauf bestanden, die Namen ‚Hündchen’ und ‚Kater’ nur in unseren Räumen zu verwenden, nicht da, wo uns jeder hören kann.“ „Das weiß ich.“ „Apropos“, er beugte sich näher zu dem Hohepriester. „Unsere letzte gemeinsame Nacht ist schon ein paar Tage her“, raunte er. Seths Gesichtsausdruck wirkte gequält. „Ich würde ja gern, liebend gern sogar, aber ... Es gibt noch ein paar Unstimmigkeiten mit der Sitzordnung für die Hochzeit.“ „Dämliche Hochzeit“, grummelte Jono. „Bin ich froh, wenn die vorbei ist.“ „Glaub mir, ich auch. Unser Herr ist jetzt schon so nervös. Wie soll das erst bei der Hochzeit werden? Aber jetzt lass uns gehen. Je schneller ich heute an die Sitzliste komme, desto eher bin ich fertig und kann vielleicht doch noch zu dir kommen.“ Sie begaben sich in einen etwas entfernteren Winkel des Gartens, der im Allgemeinen selten von den Höflingen für einen Spaziergang aufgesucht wurde. Dort hatten sie ihre Ruhe. Mehrere Ölschalen auf hohen Ständern erhellten den Platz mit ihrem flackernden Licht. Jono und Seth ließen sich einander gegenüber auf großen Kissen nieder und verkreuzten die Beine zum Schneidersitz. Die Hände wurden, den Handrücken nach oben gerichtet, übereinander gelegt, nachdem sie die goldenen Diadiac angelegt hatten. Bei diesen handelte es sich um breite Armreife, an denen fächerförmig drei wie Flügel geformte Ebenen befestigt waren. Am linken Unterarm getragen, gestatteten sie es ihnen, die Ka-Wesen zu beschwören. Jono rutschte noch etwas hin und her, bis er eine so weit bequeme Position gefunden hatte. Noch vor der Abreise der Hethiter hatte Seth damit begonnen, Jono in der Beschwörung seines Ka-Wesens zu unterrichten. Zu Anfang war ihm das alles sehr merkwürdig vorgekommen, doch inzwischen hatte er sich daran gewöhnt und wurde mit jedem Tag besser. Bei seinem ersten Versuch hatte Jono nur die Kraft des Auges gespürt, bald darauf aber hatte er noch eine andere Energie wahrgenommen, zwar von dunkler Natur, doch nicht böse gesinnt. Mit jedem Tag war diese Präsenz stärker geworden, war erst als schwacher Schemen, dann als Schatten hinter ihm sichtbar geworden. Vor drei Tagen hatte sich sein Ka-Wesen schließlich zum ersten Mal richtig gezeigt. Damit hatte Jono fast das Ende der ersten der drei Stufen erreicht, wie man ein Ka-Wesen beschwor, das Rufen in absolutem Ruhezustand. Bei der zweiten Stufe war zwar ebenfalls eine gewisse Ruhe vonnöten, jedoch keine Meditation mehr. Die dritte und letzte Stufe bedeutete die Vollendung und die Fähigkeit, sein Ka-Wesen jederzeit, selbst mitten in einer Schlacht, zu beschwören. Doch bis Jono so weit war, würde es noch eine Weile dauern. „Befreie deinen Kopf von allen unnötigen Gedanken“, hörte er Seth sagen. „Lass alles, was dich ablenken könnte, zurück und erzeuge eine Leere in deinem Inneren.“ Die Worte waren leicht gesagt, ihre Ausführung jedoch nicht immer so einfach. Jono bemühte sich, es seinem Lehrmeister nachzutun und sich in die Entspannung sinken zu lassen, doch immer wieder glitten seine Gedanken ab. Er öffnete das eine Auge einen Spalt weit und beobachtete Seth, der ebenfalls die Augen geschlossen hatte und, den Oberkörper gerade aufgerichtet, vor ihm saß. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter gleichmäßigen Atemzügen, das Licht der Fackeln ließ die Haut in einem feinen Bronzeton schimmern. Jono war versucht, die Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu berühren. Seine Finger begannen unruhig zu zucken. „Du konzentrierst dich nicht“, sagte Seth, ohne die Augen zu öffnen. „Was ... wieso ...“ „Du musst es nicht leugnen, ich merke es, wenn deine Gedanken woanders sind. Ich wüsste lediglich gern, wo.“ Auf Jonos Lippen trat ein Grinsen. „Bei dir, wenn du es wissen willst. Wir sind hier allein und ... wir könnten doch –“ Seth sah ihn grummelig an, die Zähne zusammengebissen. Für einen Augenblick zog er Jonos Vorschlag in Erwägung, dann schüttelte er den Kopf. „Wir machen das hier nicht zum Spaß, Jono. Ich nehme mir diese Zeit trotz der ganzen anderen Arbeit, die ich habe, um dir mit deinem Ka-Wesen zu helfen.“ „Und dafür bin ich dir auch dankbar, Seth, aber –“ „Kein Aber, konzentrier dich“, knurrte der Hohepriester und schloss wieder die Augen. Jono brummte ein wenig unwillig, aber er wusste, wenn Seth diesen Ton anschlug, ließ er nicht mit sich verhandeln. Mit einem letzten Seufzen begab er sich zu seiner Meditation zurück. Nach und nach entspannte er sich, sein Atem wurde ruhiger. Wo bist du?, fragte er in Gedanken. Zeige dich mir. Er wartete, doch keine Antwort kam. Die Minuten verstrichen und seine mühsam gewonnene Ruhe schwand zusehends. „Argh, das hat keinen Zweck“, sagte er, löste sich aus der Sitzposition und schüttelte seine mittlerweile etwas taub gewordenen Beine aus. „Er antwortet mir nicht, vielleicht hat er heute keine Lust.“ Seth starrte ihn ungläubig an und sprang ebenfalls auf die Füße. „Wie bitte?“, fauchte er. „Keine Lust? Dass es nicht erscheint, zeigt nur, dass du keine Kontrolle über dein Ka-Wesen hast. Es soll nicht erscheinen, wie es gerade Lust und Laune hat, sondern wenn du es rufst. Was willst du in einer Schlacht tun, wenn du es brauchst und es kommt nicht?“ „Bei Ra, ich bemühe mich wirklich, es zu schaffen und deinen Ansprüchen zu genügen, Seth, aber heute geht es einfach nicht!“ „Ja, weil du nicht übst!“ „Du tust gerade so, als wäre dir so etwas noch nie passiert.“ „Ist es auch nicht“, entgegnete der Hohepriester. „Du –“ Ein durchdringendes Brüllen ließ die beiden jungen Männer zusammenzucken. Jono wandte sich um und legte den Kopf in den Nacken. „Bei Ra“, flüsterte er und ein zufriedenes Grinsen umspielte seine Lippen. Vor ihnen stand der Schwarze Rotaugendrache. In seinen schwarzen glänzenden Schuppen spiegelte sich das Licht der Fackeln. Der lange Hals war in einer anmutigen Kurve nach unten gebogen und seine roten Augen trafen sich mit den braunen seines mehr als stolzen Besitzers. Seth trat, ein gewisses Maß an Erstaunen nicht verbergen könnend, neben den soeben Genannten. „Wie hast du das geschafft, Jono?“, fragte er und sah auf das Diadiac, dessen oberster Flügel das Zeichen des Drachen trug. „Ich ... ich weiß nicht. Unser Streit hat sich irgendwie hochgeschaukelt und dann ...“ „Hmm ...“ Seth überlegte eine Weile auf und ab gehend, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ehe er sich wieder Jono zuwandte. „Jedem von uns sieben Millenniumswächtern steht jeweils ein ganzes Sanktuarium mit Ka-Monstern zur Verfügung, die wir zum Schutz des Reiches beschwören können. Die meisten von ihnen wurden aus den Seelen von Verbrechern entfernt, um sie von ihren bösen Geistern zu befreien. Aber manchmal kommt es auch vor, dass du eine ganz persönliche Bindung zu einem Ka-Wesen besitzt, wie beispielsweise Mahaado zu seinem Magier der Illusion. In diesem Fall reagiert ein Ka-Wesen besonders auf starke Gefühle seines Besitzers. Ich denke, auf dich und deinen Rotaugendrachen trifft das auch zu.“ Jono näherte sich dem großen Drachen langsam und ließ seinen Blick über den mächtigen Körper und die Schwingen bis hin zu dem peitschenden Schwanz gleiten, der gerade einen Busch, welcher sich unglücklicherweise in seiner Reichweite befand, zu Kleinholz verarbeitete. Er streckte die Hand aus und strich vorsichtig über den geschuppten Panzer. „Sei vorsichtig, Jono“, mahnte Seth, als der Drache den Kopf zu ihm beugte. „Ach, der ist doch ganz lieb“, meinte Jono und begann seinen Drachen mit einem leicht verträumt wirkenden Gesichtsausdruck am Hals zu kraulen. Seth schüttelte nur den Kopf. „Das ist doch kein Schoßtier.“ „Weiß ich doch“, sagte er und flüsterte dem Drachen etwas zu. Seth hob skeptisch die Brauen, als sich der Rotaugendrache weiter herunterließ und den Kopf noch weiter herunterbeugte. „Was soll das werden?“, fragte er, als sich Jono an dem schwarzen Hals festhielt und sich auf den Drachenrücken schwang. „Ich habe ihn gefragt, ob er uns auf einen kleinen Ausflug mitnimmt.“ „Wie bitte?!“ Jono lachte leise, so fassungslos sah er Seth selten. „Lass diesen Unsinn, Jono, und komm sofort da runter“, verlangte er. „Komm du rauf. Oder hat der große Hohepriester etwa Angst vor einem Drachen?“ „Hmpf ... Warum musste ich mich nur ausgerechnet in einen so übermütigen Mann verlieben“, brummte Seth und schwang sich hinter Jono auf den Rücken des Schwarzen. „Halt dich gut fest“, sagte Jono noch, bevor er seine Arme um den Hals seines Drachen schlang. Als dieser seine Schwingen ausbreitete, sich vom Boden abstieß und die ersten kraftvollen Schläge mit ihnen ausführte, flackerten die Öllampen bedenklich und einige von ihnen erloschen. Seth klammerte sich an Jono fest. Mit jedem Schlag entfernte sich der Boden weiter von ihnen und sie gewannen rasch an Höhe, bis der Palast und sein ganzes, ihn umgebendes Gelände für die beiden Reiter nur noch wie eine Miniaturanlage wirkten. Unter ihnen zog die Stadt vorbei; die wenigen Menschen, die unterwegs waren, kamen ihnen wie Ameisen vor. Es dauerte nicht lange, bis sie Men-nefer hinter sich ließen. Jono probierte sich daran, seinen Drachen über seine Gedanken zu steuern. Nachdem sie jedoch mehrere Drehungen, Rollen, Richtungswechsel und sogar einen doppelten Looping hingelegt hatten, beschloss Jono, weitere Experimente auf einen Flug ohne Seth zu vertagen, da dieser um die Nase leicht grünlich aussah und sich mit einer Hand an ihm festhalten musste, da er die andere brauchte, um sie vor seinen Mund zu halten. Nur langsam und dank eines nun sehr ruhigen Fluges beruhigte sich der rebellierende Magen des Hohepriesters. Gut zwei Stunden waren sie unterwegs, bis sie an die Grenzen des fruchtbaren Landes stießen, das recht abrupt in die Wüste überging. Auf dem Landweg brauchten sie für die gleiche Strecke zu Pferd mehrere Tage. Der Drache verharrte mit leichten Flügelbewegungen an der Stelle und gewährte seinen beiden Reitern so einen guten Ausblick auf das einsame Land, das sich vor ihnen erstreckte. „Dort draußen sind wir uns irgendwo zum ersten Mal begegnet“, sagte Jono. „Und schon damals hatte ich so eine Ahnung, dass du etwas verbirgst, Falke.“ „Hättest du mir damals etwa geglaubt, wenn ich angekommen wäre und gesagt hätte, dass ich der neue Wächter des Auges bin?“ „Wahrscheinlich nicht“, überlegte Seth. „Siehst du.“ „Aber nun lass uns nach Hause fliegen, sonst komme ich heute nicht mehr zu meiner Arbeit.“ „Einverstanden“, sagte Jono und wandte sein Gesicht wieder nach vorne, um sein Grinsen zu verbergen. Seth würde sich heute Nacht noch mit einigem beschäftigen, doch nicht mehr mit seiner Arbeit, dafür würde er sorgen. Der Drache flog eine weite Kurve und machte sich auf den Rückweg nach Men-nefer. Friedlich lag die Wüste im Licht des zunehmenden Mondes da. Düne reihte sich an Düne und kein Anzeichen ließ darauf schließen, dass sich in den Tiefen des Ödlandes bereits der nächste Sturm zusammenbraute und dass er mehr aufwirbeln würde als nur den Sand der Wüste. ... findet nun sein Ende. *schnüff* Ich möchte mich noch einmal bei all meinen Lesern bedanken und ganz besonders bei meinen Kommentatoren (ohne bestimmte Reihenfolge): littledivana, SchwarzesMagiermädchenTea, Ryuichi-Sakuma, Asch, Yisa-, Roset, Rani, Sammy5522, saspi, Aredhel_Palantir Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)