Das Auge des Ra (J&S) von moonlily ("Wüstensand") ================================================================================ Kapitel 3: Der falsche Prinz ---------------------------- Vielen Dank an meine Kommi-Schreiberinnen! Und schon folgt Kapitel 3. Begleitmusik: http://de.youtube.com/watch?v=YwW2sKvxwPU&NR=1 Desert Rose – Wüstenkind Atemu Kapitel 3 Der falsche Prinz „Wie bitte?“, blinzelte Jono und sah den fremden Fürsten mit einem sehr verwirrten Gesichtsausdruck an. „Wie habt Ihr mich gerade genannt?“ „Ist etwas nicht in Ordnung, Euer Hoheit?“ „Genau das. Warum nennt Ihr mich ‚Hoheit’? Ich bin nicht –“ „Prinz Kail, wenn das ein Spiel ist, so muss ich Euch darauf aufmerksam machen, dass Ihr einen etwas unpassenden Zeitpunkt dafür gewählt habt“, sagte Zidanta, immer noch den Kopf gesenkt. „Aber ich bin keine Hoheit, wenn ich es doch sage. Warum kniet Ihr denn immer noch vor mir?“ „Ihr habt uns noch nicht erlaubt, uns zu erheben.“ „Gut, gut, ich erlaube“, sagte Jono, total mit der Situation überfordert, und die drei standen auf. „Aber trotzdem –“ „Wenn ich das mal erklären darf“, schaltete sich Seth dazwischen, „wir haben den Jungen vor zwei Tagen bewusstlos in der Wüste gefunden. Er leidet unter Gedächtnisverlust, nicht einmal an seinen Namen kann er sich noch erinnern. Er trug nur diesen Dolch bei sich.“ Er winkte Hapi und ließ sich von ihm den Dolch reichen, den er Jono abgenommen hatte. Zidanta ließ sich die Waffe aushändigen, zog sie aus ihrer Scheide und prüfte genau die eingearbeiteten Muster. „Das ist zweifellos der Dolch Seiner Hoheit. Der Eure, mein Prinz“, sagte er und reichte Jono die Waffe auf den flach mit der Innenfläche nach oben gestreckten Händen. Vor Jonos innerem Auge tauchte wieder das Bild des toten Jungen auf, dem er die Waffe abgenommen hatte. Langsam setzten sich die Puzzleteile zusammen. Es musste sich bei ihm um den Prinzen gehandelt haben und wenn er die Männer richtig verstanden hatte, war er von ihnen getrennt worden. Und, so unglaublich ihm das auch vorkam, offenbar dachten sie jetzt, er, Jono, wäre ihr verschollener Prinz. „Aber ich bin nicht ... Oder?“ Für einen Augenblick war sich Jono da selbst nicht mehr ganz sicher. Die Tage, in denen er durch die Wüste geirrt war ... Konnte es da nicht sein, dass er sich das alles nur eingebildet hatte? Dass seine Erinnerungen nichts waren als eine große Täuschung der Wüste? Sein Leben in Zawtj, seine Eltern, seine Verlobte, seine Flucht – Er fuhr mit der Hand an seine Brust, um sein immer schneller schlagendes Herz zu beruhigen. Unter dem weichen Stoff fühlte er etwas Hartes. Das Amulett. Bei Amun, wie konnte ich zweifeln. Aber die Hethiter ... kann ich ihrem Prinzen denn so ähnlich sehen, dass sie mich mit ihm verwechseln? Und ist das nun zu meinem Glück oder zu meinem Schaden? „Ich verstehe, dass Ihr erschöpft sein müsst“, sagte Zidanta und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Ganz besonders, da die Hitze Eurem Gedächtnis anscheinend etwas geschadet hat. Hoheit, ich bin Zidanta, Fürst von Neza und der Berater Eures Vaters, Großkönig Muwatalli dem Zweiten. Anitta und Lubarna, die Fürsten der Städte Kuschar und Kanesh, und ich begleiten Euch auf der Reise, auf die Euer Vater Euch entsandt hat, um mit dem Pharao zu verhandeln.“ „Ähm ... tut mir leid ... ich weiß nicht ...“ „Seth, Isis, wenn Ihr gestattet, ziehen wir uns nun zurück. Seine Hoheit benötigt Ruhe.“ „Ja ... natürlich“, antwortete Seth monoton. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Vor ein paar Stunden noch hatte er den Jungen als Hündchen betitelt und dann stellte sich auf einmal heraus, dass er es mit einem Prinzen des Reiches Hatti zu tun hatte. Hoffentlich war Seine Hoheit nicht nachtragend. Nein, um nachtragend zu sein, fehlte ihm gerade die Zeit. Jono war vollkommen überrumpelt und ließ sich widerstandslos von Zidanta aus dem Zelt führen. „Bitte kommt, wir bringen Euch in unseren Teil des Lagers.“ Jono sah ihn verständnislos an. Als Sohn eines ägyptischen Händlers hatte er zwar die komplizierte Hieroglyphenschrift erlernt, doch die Sprache der Hethiter war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. „Wie bitte? Ich kenne Eure Sprache nicht.“ „Heißt das, Ihr versteht mich nicht?“, wechselte Zidanta nun zurück ins Ägyptische. Jono nickte. „Oh ihr Götter, es ist schlimmer, als ich befürchtet hatte. Ihr habt nicht nur Eure Herkunft, sondern sogar Eure Muttersprache vergessen. Wie konnte das nur geschehen?“ „Wir sollten uns für diese Diskussion einen etwas ruhigeren Ort suchen, Zidanta“, meinte Anitta. „Zu viele Zuhörer.“ „Ihr habt Recht. Hier entlang, Euer Hoheit“, sagte er zu Jono. Anitta und Lubarna folgten ihnen, während sie in einem fort versicherten, wie glücklich sie über seine Rückkehr seien, durch das ägyptische Lager, bis sie zu dem Platz kamen, den die Hethiter für sich in Anspruch genommen hatten. Die Soldaten und Diener hatten sich um das kleine Feuer versammelt, auf dem sie ihre Mahlzeit gekocht hatten, und lauschten gebannt den Worten eines älteren Soldaten, der ihnen eine Legende über die Götter erzählte. Mitten im Lager hielt Zidanta an und klatschte mehrmals laut in die Hände. Der Erzähler verstummte und richtete wie alle seine Aufmerksamkeit auf seinen Anführer. Jono, der hinter Zidanta stehen geblieben war, versuchte sich so klein wie möglich zu machen, um nicht entdeckt zu werden. Ihm war die Sache nicht geheuer. Anitta übersetzte leise für ihn. „Soldaten, ich bringe gute Nachrichten zu euch. In ihrer unendlichen Weisheit führte uns Seren heute zum Lager der Ägypter, wo sich uns ein Wunsch erfüllte, auf dessen Erfüllung wir kaum noch Hoffnung hatten. Ich darf euch mit großer Freude verkünden, dass wir Seine Königliche Hoheit Prinz Kail wiedergefunden haben.“ Er trat einen Schritt zur Seite und beraubte Jono damit seines Schutzschildes. „Es ist Prinz Kail.“ „Seine Hoheit ist zu uns zurückgekehrt!“ Aus allen Ecken wurden die Rufe laut, bis sie sich zu einem Chor verdichteten, der „Hoch, Prinz Kail!“ rief. Jonos einziger Gedanke war: Hilfe, holt mich hier raus! Zidanta hob die Hand und es kehrte Ruhe ein. „Seine Hoheit ist erschöpft und möchte sich ausruhen. Baut sein Zelt auf, schnell!“ Jono konnte kaum so schnell gucken, wie in die Männer Bewegung kam. „Prinz Kail, bitte nehmt solange mit meinem Zelt vorlieb, bis die Männer ihre Arbeit abgeschlossen haben“, fuhr Zidanta fort. Er schaffte es nur, ihm als Zustimmung zuzunicken, er wusste kaum noch, wie ihm geschah. Jono hatte das Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein und wusste gleichzeitig, dass er hellwach war. Zidantas Zelt war im Wesentlichen ähnlich wie das von Seth eingerichtet, nur dass der Stil der Möbel anders war. Sie ließen sich auf ein paar Kissen nieder und warteten. „Haben Euch die Ägypter irgendetwas angetan, Euer Hoheit?“, erkundigte sich Anitta und machte eine grimmige Miene, als traue er ihnen jede Schlechtigkeit zu. „Sie haben doch nicht etwa versucht, Euch zu versklaven?! „Nein, nein, ich habe Seths Diener nur mit den Getränken geholfen, weil mir gerade langweilig war. Sie ... sie waren alle sehr freundlich zu mir“, sagte Jono. „Wir haben uns große Vorwürfe gemacht, als wir Euch nicht fanden und weitergezogen sind“, sagte Lubarna. „Überall haben wir nach Euch gesucht. Mitten in der Nacht das Lager zu verlassen. Verzeiht, doch ich begreife nicht, was Euch zu so einer ... Dummheit veranlasst hat.“ „Ich weiß es doch selbst nicht!“, rief Jono verzweifelt. Er hatte beschlossen, sich vorläufig noch hinter seinem angeblichen Gedächtnisverlust zu verschanzen und betete stündlich, dass ihm ein Ausweg aus diesem Dilemma einfiel, das eben noch um ein gehöriges Stück gewachsen war. „Aber dass der Gedächtnisverlust Euch Eurer Muttersprache beraubt hat – das ist eine Katastrophe. Das muss ein Fluch des Sonnengottes dieses verdammten Landes sein“, sagte Anitta. „Ich habe es von Anfang an gesagt, aber auf mich hört ja niemand“, ereiferte sich Lubarna. „Diese Reise steht unter einem schlechten Stern. Spätestens als Seine Hoheit verschwand, hätte uns das klar werden müssen. Die Götter sind gegen einen Friedensschluss mit dem Pharao. Ich kann meinen Vorschlag nur wiederholen, den ich Seiner Majestät unterbreitet habe –“ „Und der von ihm abgeschmettert wurde“, sagte Zidanta. „Seine Majestät wünscht Frieden zwischen unseren beiden Reichen.“ Einer der Soldaten trat ein und verkündete mit einer Verbeugung, das Zelt des ehrenwerten Prinzen sei fertig gestellt. „Gut, Seine Hoheit wünscht heute Abend nicht mehr gestört zu werden“, sagte Anitta. Jono atmete auf und ließ sich nur zu gern von den diskutierenden Fürsten fortführen. Draußen wurde er von den jubelnden Rufen der Soldaten empfangen, die ihm unverständliche Dinge in ihrer Sprache zuriefen. Er versuchte gute Miene zum bösen Spiel zu machen und zu lächeln. Erleichtert betrat er das Zelt, zu dem der Soldat ihn gebracht hatte und sah sich um. Über seine Lippen glitt ein leises Pfeifen. Nobel reiste der Prinz ja, das musste man ihm lassen. Die Ausstattung war mindestens so erlesen wie die von Seth. „Eure Hoheit, ich freue mich, Euch bei guter Gesundheit zu sehen.“ Jono drehte sich um und sah sich einem etwa fünfzehnjährigen Jungen gegenüber, dessen Haare die Farbe des Sandes hatten und dessen Augen in einem ungewöhnlichen Hellviolett leuchteten. Seine einfache Kleidung wies ihn als Diener aus. „Entschuldige, ich verstehe dich nicht.“ „Hoheit sprechen Eure eigene Sprache nicht mehr?“, fragte der Junge verdutzt und Jono war froh, dieses Mal ägyptisch aus seinem Mund zu hören. „Seine Hoheit hat sein Gedächtnis verloren“, erklärte Zidanta vom Zelteingang aus. „Oh, wie schrecklich! Aber wie kommt es dann, dass er noch ägyptisch versteht?“ „Ich hatte gehofft, du könntest mir das erklären, Marik, schließlich warst du einer seiner Lehrer. Außerdem glaubt er nicht, dass er der Prinz ist.“ „Ein guter Witz“, lachte Marik leise. Er fing sich einen strafenden Blick ein und wandte sich Jono zu. „Wie kommen Eure Hoheit auf den Gedanken ... Aber ... Mein Herr, das ist tatsächlich nicht Seine Hoheit!“ „WAS? Wie kannst du dich erdreisten!“, rief Zidanta. „Nein, das ist mein voller Ernst. Ich diene Prinz Kail, seit ich zehn Jahre alt bin und das ist er nicht.“ „Ich bin seit dem Tag seiner Geburt für seine Erziehung zuständig gewesen, ich werde ihn doch wohl erkennen!“ Jono ließ den Kopf hängen. Eine wundervolle halbe Stunde lang hatte er sich Prinz nennen dürfen. Das war mehr, als die meisten Menschen je erreichen konnten, auch wenn es nie mehr als eine Lüge gewesen war. „Marik hat Recht, ich habe es Euch doch gesagt. Ich bin nicht Euer Prinz“, sagte er. „Den Dolch habe ich bei einem toten Jungen gefunden, mitten in der Wüste. Das muss Euer Prinz gewesen sein. Er hatte eine große, blutende Wunde am Kopf.“ „Seine Hoheit ist also tot?“ Zidanta ließ sich auf einen Hocker sinken und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Wenn das wahr ist ... das ist eine Tragödie in einem Ausmaß, das Ihr Euch nicht vorstellen könnt.“ „Kail ist ... tot?“, flüsterte Marik mit versteinerter Miene. Er klammerte sich an eine der Haltestangen des Zeltes, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Farbe war aus seinen Wangen gewichen. Er konnte und wollte nicht glauben, was der Junge, der genauso aussah wie der Prinz, da eben gesagt hatte. Kail konnte doch nicht tot sein. Er durfte nicht tot sein. Warum hatte er ihn nur nicht aufgehalten, als er losgeritten war? „Und er hatte eine Kopfwunde, sagtet Ihr?“, erkundigte sich Zidanta. „Dann muss er bei seinem Ritt vom Pferd gefallen sein. Ich habe ihn immer ermahnt, nicht so wild zu sein. Aber selbst wenn es ein Unfall war ... Er ist im Gebiet des Pharaos gestorben und somit werden Lubarna und Anitta ein weiteres Argument haben, um Seine Majestät von einem neuen Krieg zu überzeugen.“ Wenn das Seiner Majestät zu Ohren kommt, jammerte Marik. Dann sind wir alle, die wir auf ihn achten sollten, erledigt. Aber ... wenn er es nun gar nicht erfährt ... Hmm ... Jono fiel auf einmal auf, dass Marik wie eine Raubkatze um ihn herumschlich und ihn von allen Seiten einer genauen Musterung unterzog. „Mein Herr“, sagte er dann, „es wäre zwar äußerst verwegen, aber erlaubt Ihr mir, einen Vorschlag zu machen?“ „Sprich schon.“ „Ich wüsste vielleicht einen Ausweg. Der Junge ist Prinz Kail wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie sind Zwillingsbrüder.“ „Ooooh ... Ich ahne, worauf du hinaus willst, Marik. Wie ist Euer Name?“ „J ... Jono.“ „Hört mir zu, Jono, ich möchte Euch einen Handel vorschlagen. Die Mission, die der Großkönig von Hatti uns aufgetragen hat, ist sehr wichtig. Ihr seht genauso aus wie unser Prinz. Würdet Ihr in seine Rolle schlüpfen und uns nach Men-nefer begleiten?“ „Ich soll den Prinzen spielen? Aber das ist Betrug!“, sagte Jono. Zidanta zischte ungehalten. „So seid doch leise! Wenn uns jemand hört. Ich bitte Euch, im Namen aller Götter, Eurer und unserer, Ihr erweist damit Eurem wie unserem Land einen großen Dienst. Um keinen Preis der diesseitigen Welt möchte ich, dass es erneut zu einem Krieg kommt, doch ich habe bei den Verhandlungen nicht die gleiche machtvolle Stimme, die Seiner Hoheit zusteht und Anitta und Lubarna könnten mich leicht überstimmen.“ „Wie soll ich das denn bewerkstelligen?“, fragte Jono einlenkend. „Ich habe keine Ahnung davon, wie sich ein Prinz benimmt, ich verstehe nicht einmal Eure Sprache.“ „Das sind Dinge, die sich erlernen lassen“, widersprach Zidanta. „Oder in Eurem Fall wieder erlernen lassen. Es dauert noch vier Tage, bis wir die Hauptstadt und den Palast des Pharao erreichen, das sollte genügen, um Euch in einem ... Schnellkurs die wichtigsten Dinge beizubringen. Und ich bin immer an Eurer Seite, es kann also nichts passieren.“ Jono seufzte schwer. Verzweifelte Situationen erfordern manchmal verzweifelte Maßnahmen, sagte er sich. Anscheinend haben mich die Götter doch noch nicht ganz verlassen. Eine bessere Tarnung werde ich so schnell nicht finden. Wenn Seth denkt, ich sei ein Hethiterprinz, hält ihn das mit etwas Glück von weiteren Nachforschungen ab. „Also ... gut. Ich bin einverstanden.“ „Den Göttern sei Dank. Dann werde ich mich nun mit Eurer Erlaubnis zurückziehen, Prinz Kail. Marik, du hilfst deinem Herrn dabei, sich zurechtzufinden. Und noch etwas sehr wichtiges: Von unserer Unterhaltung darf kein einziges Wort einem anderen zu Ohren kommen. Was in diesem Zelt gesprochen und beschlossen wurde, bleibt unter uns dreien.“ „Kein Wort wird über meine Lippen kommen“, sagten Jono und Marik synchron. „Dann wünsche ich Euch eine angenehme Nacht, Euer Hoheit“, erwiderte Zidanta und verließ das Zelt. „Da hab ich mir was eingebrockt“, sagte Jono und ließ sich auf dem Hocker nieder, auf dem vorhin Zidanta gesessen hatte. „Was habe ich mir nur dabei gedacht?“ „Ihr tut das Richtige“, sagte Marik. „Ihr könnt einen Krieg gegen unser Land Kemet verhindern.“ „Unser ... Dann stammst du also auch aus Kemet.“ „Meine Heimat liegt in Theben. Mein Vater war Maler in den Nekropolen der Adligen, aber ... er war hoch verschuldet, glaube ich, jedenfalls wurde ich verkauft und gelangte über ein paar Umwege nach Hattusa. Seitdem bin ich der Leibdiener Seiner Hoheit. Beziehungsweise ... jetzt bin ich Eurer.“ „Und er sieht ... sah wirklich so aus wie ich?“ „Bis aufs Haar. Zu unserem Glück, möchte ich sagen.“ „Ob das so ein Glück ist, muss sich erst noch herausstellen“, nuschelte Jono. „So“, klatschte Marik in die Hände, „nun sollten wir aber anfangen.“ „Womit?“ „Na, Euch vorzubereiten, Euer Hoheit. Wenn Ihr Prinz Kail sein wollt, müsst Ihr alles über ihn wissen. Die Männer, mit denen wir unterwegs sind, kennen ihn zum Teil, seit er ein kleines Kind ist.“ „Dann merken die doch sofort, dass ich nicht der richtige bin.“ „Nicht, wenn wir es geschickt anstellen. Und so weit ich weiß, kann es bei einem Gedächtnisverlust schon mal eine Weile dauern, bis man sich wieder an alles erinnert“, sagte er und zwinkerte Jono zu. „Also, fangen wir an. Ihr seid der vierte Sohn von Muwatalli dem Zweiten, Großkönig des hethitischen Reiches. Ihr wurdet vor sechzehn Jahren während des Winters im königlichen Palast in Hattusa geboren und Eure Mutter heißt Tariya. Sie ist eine Nebenfrau Seiner Majestät, aber soweit ich das beurteilen kann, scheint er sie sehr zu lieben. Die Herrin stammt aus dem Gebiet des Kaukasus, von ihr habt Ihr Eure hellen Haare geerbt, ebenso wie Euer Bruder Katuzili, er ist drei Jahre älter als Ihr ...“ Jono gähnte verhalten. Es waren Stunden vergangen und Marik war immer noch damit beschäftigt, ihn in das komplizierte Gefüge seiner neuen Familie einzuführen. Zwischendurch ließ er ihn die verschiedenen Namen wiederholen und in welchem Verhältnis er zu ihnen stand. Dabei zeigte er sich als überaus geduldiger Lehrer, sehr zu Jonos Beruhigung. In dem Tempel, in den ihn sein Vater zum Unterricht gegeben hatte, war er nicht unbedingt für seinen Fleiß bekannt gewesen. Es mangelte ihm nicht an Verstand, im Gegenteil, er ließ sich lediglich gerne von anderen Dingen ablenken und hatte es immer interessanter gefunden, mit seinen Freunden die Gegend zu erkunden und sich im Kämpfen zu üben als den Ausführungen der Priester zu lauschen. In diesem Punkt jedoch erwies sich Marik als streng. Er mochte über eine göttliche Geduld verfügen, aber er erwartete, dass man ihm zuhörte. Eine Sache, die Jono zu dieser fortgeschrittenen Stunde trotz allen Bemühens nicht leicht fiel. „Marik, können wir bitte für heute Schluss machen? Mir schwirrt der Kopf von den ganzen Namen.“ „Hmmm ... na schön, belassen wir es für heute dabei und machen morgen früh weiter. Es ist spät geworden“, sagte er mit einem Blick aus dem Zelt. Am tintenschwarzen Himmel flackerten Tausende kleiner Sterne. „Ihr solltet schlafen gehen. Wir reiten morgens immer sehr zeitig.“ „Ja ... stimmt“, meinte Jono abwesend. „Hast du für mich etwas anderes zum Anziehen? Diese Sachen gehören dem Priester, er wird sie zurückhaben wollen.“ Marik öffnete eine Truhe und entnahm ihr einen am Saum bestickten Rock, den er auf dem aus Decken und geflochtenen Matten hergerichteten Bett ablegte. Jono machte sich daran, seinen Gürtel zu lösen. „Was tut Ihr denn da? Es ist meine Aufgabe, Euch beim An- und Entkleiden zu helfen.“ „Ich kann das ganz gut allein“, wehrte Jono seine Hände ab, die sich an seinen Armbändern zu schaffen machen wollten. „Nächste Lektion“, seufzte Marik. „Ein Prinz kümmert sich nicht eigenhändig um seine Garderobe, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall wie einen Überfall und es ist gerade kein Diener in der Nähe.“ Jono ließ die Hände sinken und gestattete Marik, wenn auch widerwillig, ihm aus den Kleidern zu helfen. „Oh, ein schönes Schmuckstück“, sagte er, als er auf die Kette stieß. „Aber als Prinz Hattis solltet Ihr sie nicht tragen. Seine Hoheit besitzt keinen Schmuck dieser Art.“ „Kannst du mir dann einen Beutel besorgen, in dem ich sie aufbewahren kann? Ich möchte sie ungern aus den Augen lassen.“ „Natürlich“, kam die etwas verwunderte Antwort. Aus einer anderen Truhe fischte er einen ledernen Beutel und reichte ihn ihm. „Danke, Marik.“ „Noch etwas: Wenn wir allein sind, freue ich mich darüber, aber wenn noch jemand anwesend ist, sagt zu mir nie ‚Bitte’ und ‚Danke’. Es ist meine Aufgabe, Euch zu dienen und die meisten hohen Herren beachten ihre Diener nicht einmal.“ „War das bei Prinz Kail auch so?“ „In der Gegenwart anderer, ja. Er hat sich so verhalten, wie es von ihm in seiner Stellung erwartet wurde. Ansonsten ... ich denke, ich kann sagen, wir waren in gewisser Weise Freunde.“ Er half Jono noch, den Rock für die Nacht anzulegen, dann nahm er die Kleider an sich und eilte aus dem Zelt, um sie zu waschen. Der frisch gebackene Prinz ließ sich auf sein Bett sinken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das kann ja was werden, dachte er noch, dann übermannte ihn der Schlaf. Ein zu Beginn leichtes Rütteln an seiner Schulter, das nach einer Weile immer eindringlicher wurde, ließ ihn wach werden, zog ihn fort aus der Welt des Schlafes. „Ist doch noch viel zu früh ...“, murmelte Jono, drehte sich um und schickte sich an, weiterzuschlafen. „Mein Herr, bitte, Ihr müsst aufstehen. Das ganze Lager ist schon auf den Beinen. Prinz Kail ist ein Frühaufsteher.“ „Was hab ich denn damit zu tun?“, kam die von Kissen gedämpfte Antwort. „Ihr seid der Prinz“, sagte Marik. „Und wenn Ihr nicht bald aufsteht, erregt das bei den Männern Verdacht.“ Entschlossen zog er ihm die Bettdecke weg. Bevor Jonos Hand nach dem Stoff greifen konnte, war dieser außer Reichweite. Marik grinste belustigt, als sich Jono am Kopf kratzte und sich etwas orientierungslos umsah. „Was mache ich denn hier?“ „Wenn ich Eurem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen darf ... Unsere Soldaten sind trotz der feuchtfröhlichen Feier, die sie gestern veranstaltet haben, schon auf den Beinen. Es wundert mich allerdings, wie Ihr bei dem Lärm, den sie gemacht haben, überhaupt schlafen konntet. Ich habe eben Fürst Lubarna getroffen, er sah etwas ... mitgenommen aus.“ „Also, ich hab jedenfalls normalerweise keine Probleme beim Einschlafen. Nur mit dem Aufwachen.“ „Das habe ich gemerkt und genau das müssen wir schnellstens ändern. Fürst Zidanta brennt darauf, den Weg nach Men-nefer fortzusetzen. Und Ihr, Euer Hoheit, habt gleich Eure erste Stunde in Hethitisch bei mir. Vorher jedoch möchte ich Euch zu unseren gestrigen Themen abfragen.“ „Muss das sein?“ „Ja“, lautete die schlichte Antwort und schon wurde der noch immer halb schlafende Jono mit Fragen zu seiner Familie – oder eher zur Familie des Prinzen Kail – bombardiert. Während er sich bemühte, seine ganzen Schwestern und Brüder, seine Cousins und Cousinen und sonstigen Verwandten aufzuzählen und gleichzeitig sein Frühstück, das aus Brot und getrocknetem Fleisch bestand, zu essen, wusch Marik ihn und steckte ihn in eine knielange, an den Säumen mit blauem Garn bestickte Tunika, die er mit einem Gürtel befestigte. Seine Haare bändigte er nach dem Kämmen mit einem gleichfarbig bestickten Stirnband. Zu guter Letzt legte Marik ihm zwei Ketten aus Gold und Karneol um den Hals, befestigte die Goldreife an seinen Armen und steckte ihm einen ebenfalls aus Gold gefertigten Ring an den rechten Mittelfinger. Dann trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete sein Werk mit sichtlich zufriedener Miene. „Wenn ich nicht genau wüsste, dass Seine Hoheit ... tot ist, würde ich sagen, er steht vor mir. Wenn wir jetzt noch etwas an Eurem Benehmen feilen, wird niemand einen Unterschied bemerken.“ Jono war sich seiner Sache längst nicht so sicher wie sein junger Diener. Vier Tage waren eine verflucht knappe Zeit, um die komplizierten Regeln des höfischen Benehmens zu erlernen, von der Sprache der Hethiter gar nicht zu reden. Plötzlich veränderten sich die Geräusche im Lager. Erst Rufe, dann laute Schreie ertönten. „Was ist denn da draußen los?“ Jono und Marik verließen das Zelt. Das ganze Lager, sowohl der ägyptische als auch der hethitische Teil, war in Aufruhr geraten. Soldaten und Diener liefen durcheinander, mehrere Zelte waren eingestürzt. Dazwischen lagen Breischüsseln, deren Inhalt sich auf den sandigen Boden ergoss. Der Koch stieß laute Flüche aus, die Jono dank seiner Unkenntnis der Sprache nicht verstand, aber auch für seine Ohren ziemlich derb klangen. Der Ursprung dieses ganzen Chaos stellte sich gerade auf die Hinterbeine, wieherte laut und schlug mit den Hufen aus. Die Männer, die sich in einem weiten Kreis um den schwarzen Hengst geschart hatten, wichen wieder ein Stück zurück und sahen sich unschlüssig um. „Dieser verfluchte Gaul!“ Taneres kam, die Peitsche über seinem Kopf knallend, auf die Hethiter zugelaufen. „Was ist passiert?“, verlangte Jono zu wissen. Taneres verbeugte sich vor ihm. „Verzeiht, Euer Hoheit, dass wir Euch schon so früh am Morgen belästigen müssen. Meren hat sich losgerissen und ist geflohen. Und wie ich sehe, nicht ohne auch bei Euch Verwüstung zu stiften.“ Er warf dem unruhig tänzelnden Tier einen bösen Blick zu. „Er wird dafür bezahlen, das versichere ich Euch.“ „Wollt Ihr ihn etwa auspeitschen?!“ Jono sah alarmiert zwischen der Peitsche in Taneres’ Hand und Meren hin und her. „Er ist sturer als jeder Esel und schwerer zu bändigen als jedes Raubtier. Mein Herr hätte ihn längst verkauft, doch es findet sich niemand, der ihn haben will.“ „Ich würde ihn gern nehmen“, murmelte Jono so leise, dass der Aufseher es nicht hören konnte. „Aber ich habe kein Geld.“ „Euer Hoheit, das habt Ihr“, flüsterte Marik. „Aber ich kann doch nicht –“ „Taneres, wie lange muss ich noch warten, bis du diese wandelnde Katastrophe wieder eingefangen hast?“ Seth kam mit großen Schritten auf sie zu, die Miene zu dem für ihn üblichen, grimmigen Ausdruck verzogen. „Muss ich meine Pferde jetzt schon selbst bändigen?“ Er nahm Taneres die Peitsche aus der Hand. Knapp vor Meren knallte sie auf den Boden. Das Pferd wich schnaubend einen Schritt zurück, ohne sich zu beruhigen. Ein weiteres Mal holte Seth aus, dieses Mal entschlossen, ihn zu treffen. „Nicht!“ Zwei Arme schlangen sich um seinen, hielten ihn und die Peitsche fest. Seth wandte den Kopf und blickte in zwei wild funkelnde Topase. „Lasst auf der Stelle los“, knurrte er. „Das ist mein Pferd und es ist meine Sache, wie ich ihn bestrafe.“ „Das mag stimmen, aber bitte ... Lasst mich es versuchen. Vielleicht kann ich Meren beruhigen.“ „Ausgerechnet Ihr? Ha!“ „Bitte.“ Jonos Blick wurde flehend. Auge in Auge standen sie sich gegenüber, Seth mit der Peitsche und Jono, die Arme immer noch um den des Priesters geschlungen und ihn festhaltend. Seine Augen begannen feucht zu schimmern. Seth brummte ungehalten. „Na schön, versucht es, aber ich kann Euch schon jetzt sagen, dass Euch kein Glück beschieden sein wird.“ „Und wenn ich es doch schaffe?“ „Dann gehört Meren Euch. Ich kann mit einem solch bockigen Tier nichts anfangen. Er würde meine ganze Zucht verderben.“ „Abgemacht“, sagte Jono und ließ ihn los. Er näherte sich dem Tier langsam, die Hände erhoben. „Ruhig, ganz ruhig, Junge. Ich tu dir nichts. Pssst ... Oh!“ Jono zuckte zurück, als Meren ihn zu treffen versuchte. Er suchte den Blick des Pferdes und sprach weiter beruhigend auf ihn ein. Seth verfolgte das Geschehen mit verschränkten Armen, den Blick skeptisch auf die beiden gerichtet. Außen war nichts zu sehen, doch in seinem Inneren wich die anfängliche Skepsis bald dem Erstauen, als Meren Jono Stück für Stück an sich herankommen ließ, bis es ihm gelang, die Zügel zu ergreifen. Jono strich ihm beruhigend über Hals und Flanke. „Was hat dich denn so aufgeschreckt, hmm?“ Er musterte Meren genau, bis er an seinem linken Hinterbein hängen blieb, mit dem das Pferd unaufhörlich scharrte. Wieder musste Jono Geduld aufbringen, bis Meren ihm erlaubte, sein Bein anzuheben und seinen Huf zu betrachten. „Kann mir mal jemand eine Zange besorgen?“ Kurz darauf war der Übeltäter entfernt, der sich als spitzer Knochen herausstellte. „Na endlich“, sagte Seth. „Taneres, mach Meren für die Weiterreise fertig. Er hat uns schon genug Zeit gekostet.“ „Ähm, habt Ihr da nicht eine Kleinigkeit vergessen?“, fragte Jono lächelnd, bestärkt durch seinen Erfolg. „Ihr hattet versprochen, ihn mir zu überlassen, wenn ich ihn beruhige. Und das habe ich.“ Taneres nahm sich vor, seinem Herrn für den Rest des Tages so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Er sah alles andere als erfreut darüber aus, wegen eines Knochensplitters eines seiner besten Pferde, auch wenn es das mit Abstand störrischste war, an einen dahergelaufenen hethitischen Prinzen zu verlieren. Jono hingegen wirkte voll mit sich zufrieden und streichelte Meren noch, als sich Seth schon wieder in seinen Teil des Lagers verzogen hatte, nicht ohne ihm einen letzten eisigen Blick zuzuwerfen. „Dieser Priester scheint Euch zu mögen, mein Herr“, meinte Marik. „Er? Von wegen, wir können uns nicht ausstehen.“ „Und warum hat er Euch dann das Pferd gegeben?“ „So war es abgemacht, daran musste er sich halten. Ein Priester darf doch nicht wortbrüchig werden.“ „Wie dem auch sei, Euer Pferd benötigt einen neuen Namen, einen hethitischen. Wie wollt Ihr ihn nennen?“ „Mach du mir einen Vorschlag.“ „Hmmm ... Mîtšakui“, sagte Marik nach einer Weile. „Was heißt das?“ „Es bedeutet Rotauge. Ich finde, in seinen Augen ist ein gewisses Feuer.“ Die Stunden zogen sich endlos dahin, wie der Sand der Wüste und doch war es für Jono gänzlich anders als gestern. Da hatte er auf Merens Rücken, Seths Pferd, gesessen und sich gelangweilt. Jetzt saß er auf Rotauge, der ihm gehörte, und von Langeweile konnte sich keine Spur finden lassen. Ob dies allerdings zum Guten oder zum Schlechten war, wusste er nicht zu sagen. Marik nannten ihm ständig neue Worte und kurze Sätze, die er lernen musste, dazwischen kam die eine oder andere Lektion in gutem Benehmen. Wenn Marik eine Pause machte, kam sofort Zidanta an seine Seite geritten, um ihn in die höfische Konversation, das staatliche System und die Politik von Hatti einzuführen. Jono überlegte schon, ob es nicht doch angenehmer gewesen wäre, sein Herz von dem Ungeheuer in der Unterwelt fressen zu lassen, als Zidanta und Seth kurz nacheinander den Befehl zum Anhalten gaben und das Lager aufschlagen ließen. Jono ließ sich mit einem erleichterten Seufzen von Rotauges Rücken gleiten. Er hatte es sich gerade in seinem frisch aufgebauten Zelt auf einem Hocker bequem gemacht und die Sandalen von den Füßen gestreift, als Zidanta eintrat und sich vor ihm verbeugte. „Euer Hoheit, ich habe, Eure Erlaubnis vorausgesetzt, den ehrenwerten Priester Seth und die große Priesterin Isis für heute zum Abendessen eingeladen.“ „Muss das sein?“, brummte Jono, der wenig Lust verspürte, den immer noch grummeligen Priester unterhalten zu müssen. „Das Gesetz der Höflichkeit verlangt eine rasche Gegeneinladung, Prinz Kail“, sagte Marik. „Die Herrschaften könnten sich sonst beleidigt fühlen.“ Jono verabschiedete sich mit einem leisen Seufzen von dem Gedanken, wenigstens den Abend in Ruhe verbringen zu können, und ließ sich von Marik für das Essen herrichten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)