Schattenräuber von Cadaverosa (Philipp & Tim) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Die Sonne schien durch das Fenster des Klassenzimmers und erzählte von heißen Sommertagen, dem Genuß von Eis und nassen Tagen im Schwimmbad. Es war der letzte Tag vor den Sommerferien und in meiner Klasse herrsche heller Aufruhr und das blanke Chaos. Alle Versuche der Lehrer, die Stunden strucktuiert zu gestallten, waren fehlgeschlagen. Gerade als Herr Kraus zum x-ten Mal „Ruhe!“ brüllte, rief Dominick seinem Freund Justin quer durch den Raum einen Witz zu, der von einem Jungen handelte, der behauptete, Frauen im Sturm zu erobern, und gefragt wurde, was er bei gutem Wetter tue. Alle bis auf den Streber Paul, der versuchte den Lehrer weitgehend zu unterstützen, brüllten vor Lachen. So auch ich, Philipp, und mein bester Freund Tim, mit dem ich ganz hinten in der entlegensten Ecke saß. Unser Tisch sprach Bände von wilden Tick-Tack-Toe Schlachten, die wir uns geliefert hatten und Witzen, die wir uns so lautlos erzählt hatten. So ging der Albtraum eines jeden Lehrers weiter und gerade, als einigermaßen Ruhe eingekehrt war und Herr Kraus erleichtert aufatmete, begann Tim runterzuzählen. „Fünf“, die anderen stimmten mit ein und wurden gen Ende immer lauter, „vier, drei, zwei, eins...“ Die Schulglocke schrillte und verkündete den Anfang der Ferien. Unter das Schrillen mischten sich die Stimmen, die Rufe und das Lachen der Schüler. Ich grinste meinen Freund an. „Wollen wir?“ „Klar!“ Wir schwangen uns unsere Schultaschen über die Schultern und rannten gen Ausgang. Draußen schlug uns eine Hitzewelle entgegen, die selbst für das warme Barcelona ungewöhnlich heiß war. Die Sonne brannte vom blauen, wolkenlosen Himmel und ließ uns dankbar für unsere kurzen Hosen und T-Shirts werden. Trotz des heißen Wetters war Tim wie immer ganz schwarz angezogen und hatte seine schreiend Grün gefärbten Haare zu einer Stachelfrisur gestylt. Ich dagegen sah mit meinem olivgrünen ADIDAS T-Shirt und meiner beigen Hose sehr normal aus. Dazu hatte ich, wie Tim immer sagte, Atom-wasserstoff blonde Haare, die mir wirr vom Kopf abstanden und glasklare, blaue Augen. Die braunen meines Freundes blitzten auf. „Und was hast du diese Ferien so vor?“ „Ooch, noch nichts“, erwiederte ich gedehnt. „Trifft sich gut, Alter, denn ich hab auch noch nichts vor!“ Er grinste. Ich meinte: „Dann könnten wir uns ja treffen. Uns fällt schon noch was ein, was wir anstellen können.“ Er bestätigte meine Worte mit einem noch weiterem Grinsen. So machten wir uns verwegene Pläne schmiedent auf den Heimweg, um erstmal diese lästigen Schultaschen loszuwerden. Auf halber Strecke blieb Tim plötzlich stehen. Ich runzelte die Stirn über sein merkwürdiges Verhalten und folgte seinem Blick. Da erstarrte auch ich. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann. Er hatte trotz des heißen Wetters einen langen, schwarzen Mantel an, um den Tim ihn unter jedem anderen Umstand beneidet hätte. Dazu hatte er sich die weite Kaputze des Mantels tief ins Gesicht gezogen. Er musste schwitzen wie ein Schwein. Noch etwas fiel mir auf: Seine Hand hielt eine Zigarette fest, die schwarz war und auf merkwürdige Art und Weise zu brodeln schien. Auch entwich ihr kein Rauch, wodurch es den Schein hatte, als sei sie gar nicht an. Tim und ich tauschten einen Blick. Wir beide dachten das gleiche: Bloß weg von hier, reden können wir zu Hause. Dieser Mann war uns einfach nicht geheuer. Etwas Böses ging von ihm aus, das spürte ich mit jeder Faser meines Körpers. Und als würde diese Erkenntnis den Ausschlag geben, rannten wir los. Kapitel 1: Der Anfang ... vom Ende ---------------------------------- Schwer atment kamen wir zu Hause an. Wir waren zu mir gelaufen, weil wir hier ungestörter waren als bei Tim, da er mehrere recht nervige und ... nett ausgedrückt laute Geschwister hatte. Ich war ein Einzelkind und recht froh darum. Schnell kickte ich mir die Turnschuhe von den Füßen, ließ meine Tasche im Flur stehen und ging in die Küche, um erstmal etwas zu trinken. Gerade als ich zwei Gläser mit erfrischendem Sprudel gefüllt hatte, kam Tim herein, der meinem vorbildlichen Beispiel gefolgt war. Als er den Mund öffnete, bestimmt um mich in ein Gespräch über den mysteriösen Mann zu verwickeln, hob ich die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Oben. In meinem Zimmer.“ Er nickte, nahm dankbar das Glas entgegen und trank in gierigen Zügen. Schnell hatte er sein Glas leer und füllte sich ein Zweites. Lächelnd trank ich zu ende und wartete, bis er fertig war, bevor ich mit ihm im Schlepptau auf mein Zimmer ging. Dort setzte ich mich auf mein Bett und er sich auf seinen gewohnten Platz auf meinem Teppich, der Barcelona von oben zeigte. „Der Typ war mir echt unheimlich ...“, meinte Tim fröstelnd. Dann leuchteten seine Augen auf. „Jetzt weiß ich was wir diese Ferien tun!“ Ich stutze, dann begriff ich, was er meinte. Entsetzen breitete sich in ihm aus. „Du meinst doch nicht ...“ „Ooh doch!“ Ich stöhnte. Das war ja mal wieder klar für meinen Freund, mich in unangenehme Situationen zu bringen. Doch wie immer würde ich mitmachen. Um dagegen zu arbeiten war ich eh zu neugierig. Dann breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus, als mir bewusst wurde, dass das eine hervorragende Gelegenheit für ein richtiges Abenteuer war. „Wir müssten nur überlegen, was wir unseren Eltern erzählen ...“ Ich überlegte. Auch Tim gab sich alle Mühe. Dann lächelte er triumphierend. „Wir sind in unserem Geheimversteck. Wo das ist, ist geheim, da es sonst kein Geheimniss wär! So weiß keiner, wo wir sind und keiner stört uns bei unseren ‚Ermittlungen‘.“ Ich lachte „Ach das Versteck meinst du. Hoffentlich steht das noch!“ Er nickte begeistert. „Bestimmt!“ Einen Moment verweilte ich in Erinnerungen. Wir hatten auf einem Streifzug eine stillgelegte ehemalige Silbermiene gefunden, in der wir es uns häuslich eingerichtet hatten und gelegentlich dorthin gegangen waren, um dem tristen Leben zu Hause zu entkommen. Nur waren unsere Besuche in letzter Zeit verebbt. „Gut, dann lass uns mal einen Plan erstellen, was wir alles brauchen.“ Die nächste halbe Stunde verbrachten wir damit, aufzulisten, was wir alles brauchen würden. Dann gingen wir kurz runter, um etwas Essbares zu suchen. Wir hatten Glück. Meine Mutter hatte vorrausschauend die Reste unserer gestrigen Lasange in den Kühlschrank gestellt, die wir uns jetzt in der Microwelle warm machten. Meine Mutter oder „Alte“, wie Tim sie nannte, war noch arbeiten und würde erst um 16 Uhr zurück kommen. Nachdem wir uns an den Resten gütlich getan hatten, gingen wir zu Tim, um seinen Teil der erforderlichen Sachen zu holen und alles mit seiner Mutter abzusprechen. Bei ihm angekommen begrüßte uns seine Mutter, die wie immer gut gelaunt war. Das vergnügte Dudeln eines Radios wehte zu uns herüber. Tim rannte mit mir im Schlepptau die Holzustufen zur nächsthöheren Etage hoch, wo Geschrei und das Gewummer unterschiedlicher Musik lautwurde. Ich schüttelte grinsend den Kopf. Typisch Tims Geschwister! Kaum das wir sein Zimmer betreten und die Reisetasche aus seinem Schrank genommen hatten, kamen seine 2 kleinsten Brüder hereingerannt, der jeweils 4 und 6 Jahre alt waren und anscheinend ein wildes „Cowboy und Indianer“ Spiel spielten. Wer welche Rolle bekleidete, sah man an ihren Kostümen. Der 6-jährige Indianer, der sich Jon rufen lies, hatte sich zusätzlich mit roter Fingermalfarbe Striche ins Gesicht gemalt. Ich konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen. Tim scheuchte seine Brüder halb ärgerlich, halb amüsiert aus dem Zimmer und schloss die Tür ab. „Soo“, meinte er lächelnd, „jetzt sind wir ganz ungestört.“ Ich grinste. Das war mal wieder so typisch für ihn. Aber es war nur Spaß, das wusste ich mit Sicherheit. Es konnte gar nicht anders sein. Und so machten wir uns leise lachend daran, Schlafsack, Zahnputzutensilien, Taschenlampen und vieles mehr einzupacken. Als schließlich alle Punkte auf unserer Liste abgehagt waren, gingen wir wieder runter, um alles mit seiner Mutter zu besprechen. Sie lachte, als sie von unserem Vorhaben erfuhr und war offentsichtlich erleichtert, dass ihr Sohn an die frische Luft kam. Schnell hatte sie uns Vorräte an Wasser und Broten, Obst, Gemüse und was sie sonst noch fand für mehrere Tage eingepackt. Leise Zweifel kamen in mir auf, ob meine Mutter es auch so locker nehmen würde, aber ich verdrängte sie bewusst aus meinen Gedanken. Wir verabschiedeten uns und Tims Mutter umarmte ihren Sohn noch ein letztes mal, bevor er für ca. den Rest der Ferien wie verschwunden sein würde. Über das bevorstehende Abenteuer sinnierend gingen wir wieder zurück zu mir, um dort auf meine Mum zu warten, die in ungefähr einer Stunde da sein dürfte. „Was machen wir eigentlich, wenn deine Alte es nicht erlaubt?“, fragte Tim plötzlich. Ich schwieg eine Zeitlang. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht ... Ich denke, dass wir es trotzdem machen, nur dann von meinem Zuhause aus. Es wird dann zwar schwieriger, aber bestimmt schaffbar.“ Er nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Kurz darauf waren wir am Ziel. Ich schloss die Tür auf und wir gingen auf mein Zimmer, um schon mal meinen Teil der Liste zusammen zu packen. Es könnte zwar sein, dass meine „Alte“ es nicht erlauben würde, aber das Risiko gingen wir ein. Während auf die Rückkehr meiner Mum warteten, überlegten wir, wo wir diesen Mann gesehen hatten und wo wir ihn eventuell nochmal sehen könnten. Da wir aber keinen Anstoß hatten, warum der mysteriöse Fremde da war, war es ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen. Mit einem Mal viel Tim etwas auf. „Da, wo er war, war zu dem Zeitpunkt der meiste Schatten. Vielleicht hällt er sich lieber im Schatten auf, auch wenn man bedenkt, wie der rumläuft.“ Er verzog bei der Erinnerung das Gesicht. „Ja“, stimmte ich ihm zu, wenn auch nicht ganz überzeugt, „das könnte sein. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert!“ Und mit diesen Worten machten wir uns daran, auf meinem Teppich zu gucken, wann wo der meiste Schatten war. Manchmal kamen mehrere Stellen in frage, so dass wir uns würden aufteilen müssen. Der Gedanke behagte mir nicht. Was, wenn er böse war? Was, wenn er einem von uns etwas antuen würde, wenn er erführe, dass wir ihn verfolgen? Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich den Gedanken nicht ertragen könnte, wenn Tim starb. Das würde ich einfach nicht verkraften. Desweiteren wurde mir klar, wie viel mir an meinem besten Freund lag. Ich war schon so lange mit ihm befreundet. Ich betrachtete ihn verstohlen und mir vielen seine weichen, schönen Gesichtszüge auf. Erstaunt über meinen eigenen Gedankengang wandte ich verlegen und vielleicht sogar ein kleines bisschen wütend auf mich selbst den Blick ab und konzentrierte mich auf die Karte. Zu meinem Bedauern war Tim mein Blick nicht entgangen. „Was ist los?“, fragte er. Echte Sorge war in seiner Stimme zu hören, gepaart mit leiser Neugier. „Es ist ... Ich mache mir Sorgen. Was ist, wenn dieser Typ einem von uns was antut, sobald er spitzkriegt, dass wir ihn verfolgen?“ „Er wird es nicht merken, wenn wir uns geschickt anstellen. Und wir haben schon ganz anderen Leuten als ihm nachspioniert.“ Bei diesen Worten trat ein leicht triumphierendes Lächeln auf seine Züge. „Keine Angst, ich pass schon auf dich auf“, fügte er im inbrunst der Überzeugung hinzu. Seine Worte hatten mich etwas beruhigt und ich nickte erleichtert. „Also, wo wollen wir uns morgen positionieren?“ Grinsend wandte ich mich wieder der Aufgabe zu. „Hier werde ich auf ihn warten und du da.“ Ich zeigte ihm die Punkte auf dem Teppich und er nickte zustimmend. „Ja, so machen wir das. Und deiner Alten erzählen wir, wir wären ... Hm ... Skaten! Das kauft die uns bestimmt ab.“ „Und mit den Walkie-Talkies verständigen wir uns, wenn einer von uns ihn gefunden hat.“ „Genau! Und wenn zum Beispiel ich ihn hab, dann sag ich dir Bescheid und bleibe an ihm dran. Du kannst dann dazukommen.“ So ging das eine Zeit weiter, bis wir dann hörten, wie meine Mutter nach hause kam und den Schlüssel im Schloß drehte. Schnell kickte ich die Reisetasche, in der sich die Dinge befanden, die wir benötigen würden, unter mein Bett. Den Zettel mit den Uhrzeiten und den Orten, wo der meiste Schatten zu welcher Zeit war, gab ich Tim, der in sorgfältig zusammenfaltete und in seine Hosentasche steckte. Ich versuchte, besonders lässig die wenigen Stufen zum Flur und so zu meiner Mum hinunter zu steigen, doch sie merte es sofort, wenn ich etwas wollte. Mit einem milden Lächeln sah sie mich an. „Was gibt es, Philipp?“ Ich suchte kurz nach Worten, dann sagte ich: „Ähm ... Tim und ich wollten in unser Geheimversteck gehen, um dort für so ziemlich den Rest der Sommerferien zu bleiben. Dürfen wir?“ Es kam mir fast schon lächerlich vor, mit 16 Jahren meine Mutter um eine derartige Erlaubnis zu fragen, doch ich war es so gewohnt und wollte mit dieser Gewohnheit nicht brechen. Schlagartig verdüsterte sich ihre Miene. „Nein. Ich will nicht, dass ihr zwei euch allein irgendwo im Nirgendwo rumtreibt. Wenn euch dort etwas passiert, ist keiner da, der euch helfen könnte. Oder der euch schreien hören würde.“ Ich seufzte innerlich. Das war typisch Mum ... Immer sehr vorsichtig, wenn es um so etwas ging. „Wir sind sechzehn, Mum, uns wird schon nichts passieren. Tim passt schon auf mich auf.“ Ich konnte förmlich spüren, wie er sich ein Grinsen verkniff. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Und das ist mein letztes Wort.“ Nur mit großer Mühe gelang es mir, nicht die Augen zu verdrehen. „Wie du meinst“, nuschelte ich, dann drehte ich mich um und ging hinter Tim wieder hoch auf mein Zimmer. Oben angekommen fluchte ich erst einmal und hätte fast gegen meinen Schrank getreten. „Das macht die ganze Sache viel komplizierter!“, maulte ich. Ich höre mich an, wie ein beleidigtes, quängelntes Kind, wurde mir bewusst. Zu meinem großen Erstaunen lachte Tim laut auf. Er schien die neuen Hindernisse willkommen zu heißen. „Dann werden wir den Plan halt von hier aus ausführen und die Sachen gepackt lassen, falls deine Alte sich umentscheidet.“ Leise vor mich hinlächelnd nickte ich und wir verbrachten den Rest des Tages damit, unseren Plan auszureifen. Kapitel 2: Tag 1 ---------------- Am nächsten Tag weckte uns mein Handywecker um 8 Uhr morgens. Ich gähnte und streckte mich. Gestern hatte bei der Aussicht auf unser Abenteuer und wegen der bedrückenden Hitze, die niemals ganz verflog, nur sehr schlecht einschlafen können. Mein Freund war wie immer gut gelaunt. „Guten Morgen!“, meinte er fröhlich. Ich nuschelte eine Antwort und zog mich an. Als wir beide gefrühstückt hatten und aufbruchsbereit waren, zog Tim den Plan zu rate, auf dem wir die Schattenzeiten notiert hatten. „Alsoo ...“, begann er gedehnt. „Wenn die Sonne im Westen aufgeht, müssen wir uns im Osten halten ... In diesem Wäldchen, östlich der Autobahn, müsste jetzt der meiste Schatten sein. Ich nehme mir die östlichen Stadtviertel vor und kurve ein wenig durch die dunkelsten Stellen. OK?“ Ich nickte. Auf einmal war mein Mund trocken vor Anspannung. „Also los!“, meinte er. Auch seiner Stimme konnte ich Anspannung entnehmen. Wir liefen in die Garage, wo wir unsere Skateboards untergestellt hatten, überprüften noch ein letztes Mal die Walki-Talkies und verabschiedeten uns dann voneinander, um kurz darauf in verschiedene Richtungen davon zu schießen. Ich genoß den kühlen Fahrtwind, der mir ins Gesicht und durch meine Klamotten wehte, denn die Luft war schon wieder im Begriff, sich zu erwärmen und es war klar, dass es gegen Mittag schon wieder so heiß sein würde wie gestern. Wenn nicht noch wärmer. Während ich dem Wald näher kam, wanderte die Sonne immer höher. Nach eine guten halben Stunde hatte ich den schattigen, kühlen Wald erreicht. Ich hob mein Board hoch, da ich damit ja wohl schlecht über die Wiese hätte fahren können, und blieb am Waldrand stehen, um mich für eine Richtung zu entscheiden. Während ich meine Umgebung musterte, fiel mein Blick auf eine Blume in meiner Nähe. Sie war sehr dünn und auch ihre Blätter waren sehr zart und von einer sehr hellen, violetten Farbe. Ich betrachtete sie näher. Um sie herum wuchs keinerlei Gras. Dort war einfach harte, rissige, braune Erde. Es wunderte mich schon, dass diese Blume überhaupt hatte wachsen können. Dann fiel mir etwas auf, das mich mehr als alles andere irritierte: Diese Blume warf keinen Schatten. Er war einfach weg. Zuerst vermutete ich, dass es vielleicht daran lag, dass sie so fein war, aber als ich darüber nachdachte, konnte ich mir dass nicht mehr vorstellen. Ich warf dem Wunder der Natur noch einen letzten Blick zu, dann machte ich mich auf in den Wald. Eine angenehme Kühle umgab mich, als ich ein wenig ziellos durch die Bäume ging. Ich hörte Vögel, die in den Kronen zwitscherten und Insekten, die die Luft um mich herum unsicher machten. Immer tiefer wagte ich mich vor, ohne auf meinen Weg zu achten. Ich konnte mich ja gar nicht verlaufen. Stets hörte man den Lärm der Autos, die am Waldrand vorbeifuhren. Diesem brauchte man dann nur noch zu folgen und schon war man an der Straße. Ganz einfach. Als ich eine Zeitlang gegangen war und anfing, mich zu langweilen, sah ich wieder so eine merkwürdige Blume. Sie stand im Zentrum eines ziemlich großen Kreises aus getrockneter nackter Erde. Und wie die andere Blume auch, warf sie keinen Schatten. Und noch etwas machte mich stuzig: Der Baum, vor dem sie stand, warf auch keinen Schatten. Eigentlich hätte sie in seinem stehen müssen. Wie konnte das sein? Unruhe machte sich in mir breit und ich griff zum Walkie-Talkie. „Tim?“ „Philipp? Hast du ihn?“ „Nein ... aber dafür hab ich was anderes entdeckt.“ Er schwieg gespannt. Als ich nicht weitersprach fragte er ungeduldig: „Und was hast du entdeckt?“ „Komm und sies dir an! Dieser Baum ... er wirft keinen Schatten! Und so eine Blume steht neben ihm, die wirft auch keinen Schatten!“ Ich beugte mich runter, um an ihr zu riechen. „Und sie riecht völlig neutral!“ Ich konnte sein Stirnrunzeln fast schon spüren. „Hast du vielleicht zu viel Sonne abbekommen?“ „Nein! Komm und sies dir selbst an!“ „Hm ... OK. Ich bin dann gleich da.“ „Bis dann.“ Ich steckte das Walkie-Talkie wieder weg und beschloss, ihm endgegenzugehen. Ich brach Zweige ab und legte sie hinter pfeilförmig auf den Boden, um diese Stelle nachher wiederzufinden. Als ich gerade die Hälfte des Waldes hinter mir hatte und mich wieder aufrichtete, nachdem ich einen erkennungs-Pfeil gelegt hatte, sah ich aus den Augenwinkeln den Hauch einer Bewegung. Ich fuhr herum und konnte gerade noch einen Blick auf einen schwarzn Mantel erhaschen, der in den Tiefen des Waldes verschwand. Es bestand kein Zweifel, dass es der Mann war, nach dem wir suchten. Ein wenig unschlüssig blieb ich stehen, hin und her gerissen, ob ich „den Mysteriösen“ verfolgen sollte, oder weiter Tim entgegen gehen sollte, um ihn meinen Fund zu zeigen. Mit einem Seufzen entschied ich mich für Tim. In dem Moment, im dem ich den Schutz der Bäume verließ, schlug mir die Hitze des Vormittags entgegen. Mir war gar nicht bewusst geworden wie lange ich unterwegs gewesen war. Von weiten sah ich meinen Freund auf mich zubrausen und entschloss mich, mich hier hin zu setzen und auf ihn zu warten. Es dauerte nicht lange, da war er schon da. Er grinste mich an, nahm sein Skateboard hoch und ging die letzten paar Schritte zu mir. Mit einem Grinsen erhob ich mich und nahm meinerseits mein Skateboard. „Also, dann zeig mir mal diesen Baum, falls du ihn wiederfindest!“, meinte er. Ich konnte ehrliches Interesse und Neugier in seinen Worten hören. „Na dann komm, wenn du den Mut dazu hast, in den bösen dunklen Wald zu gehen“, foppte ich ihn. Er tat meine Worte mit einem Schulterzucken ab und wies mich an, vorzugehen. Ich folgte meinen Pfeilen. Er ging hinter mir her. Ich konnte das Laub unter seinen Schritten rascheln hören. „Ich habe ihn wieder gesehen“, informierte ich Tim. „Wann? Wo? Warum bist du ihm nicht gefolgt? Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?“ „Als ich dir entgegen gegangen bin. So bei der Hälfte des Weges. Ich wollte erstmal auf dich warten, jetzt können wir ihn ja gemeinsamm nochmal suchen. Er treibt sich bestimmt noch hier rum.“ Er nickte, auch wenn er ein wenig grimmig dabei aussah. Schweigend gingen wir nebeneinander her, bis wir unser Ziel erreichen. Wie angewurzelt blieb er stehen. „Das ... du hattest recht!“, er fasste sich am Kopf. „Natürlich hatte ich das!“, sagte ich leise lachend. „Meinst du ... meinst du das hat was mit ihm zu tun?“ Ich biss mir auf die Unterlippe, während ich nachdachte. „Wie sollte er denn so was machen? Meinst du er hat die Blume gepflanzt? Und selbst wenn, was hat er mit dem Schatten des Baumes gemacht und welchen Sinn hat das Ganze?“ Er schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“ Langsam wurde mir das unheimlich. „Komm, wir gehen ihn suchen. Vielleicht kriegen wir ja dann Antworten.“ Er nickte und wir machten uns auf den Weg. Die Sonne wanderte immer höher. Schließlich – es war weit nach Mittag – beschlossen wir uns, für heute Schluss zu machen und etwas zu essen. Die ganze Zeit über waren wir still. Auch auf dem Heimweg. Zu hause begrüßte uns meine Mutter. „Wo wart ihr? Ich habe mir Sorgen gemacht! Phillipp, du hast dein Handy hier vergessen! Warum habt ihr mir nicht Bescheid gesagt? Hättet ihr nicht wenigstens einen Zettel schreiben können?“ Meine Mutter. Die hatte ich heute total vergessen. „Sorry“, murmelte ich. „Wir waren skaten.“ Sie zog eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts. Schade, dass sie am Wochenende nicht arbeiten musste. „Ich habe schon gegessen. Das Essen müsste aber noch warm sein. Holt euch was. Ich gehe zu meiner Freundin.“ Ohne ein weiteres Wort meinerseits abzuwarten schlüpfte sie aus dem Haus. Mit einem etwas hilflosen Blick wandte ich mich zu Tim um. Er grinste breit. Typisch. „Na dann lass uns mal gucken, was deine Alte schönes gekocht hat.“ Dieses „schöne“ stellte sich als Rosenkohl, Kartoffeln und einem exotisch aussehenden Fleisch herraus. Ich verzog das Gesicht. Ausgerechnet Rosenkohl hatte sie heute gemacht. Wenn ich etwas nicht leiden konnte, dann das. Tim wusste das und grinste noch breiter. „Na dann lass uns mal essen! Dieser Rosenkohl “, er betonte das Wort und kostete jede Silbe aus, „sieht wirklich sehr lecker aus. Findest du nicht?“ Ich antwortete mit einem gespielt wütenden Blick und nahm zwei Teller aus dem Schrank so wie Besteck. Er schaufelte sich von allem etwas drauf, ich begnügte mich mit Kartoffeln und Fleisch. Es war ein wenig zäh und in der Mitte noch zartrosa, doch sonst schmeckte es annehmbar. „Hmm, Kaugummi“, meinte Tim, als er auf seinem Fleischstück rumkaute. Ich hätte mich vor Lachen fast verschluckt. Als wir zu ende gegessen hatte, räumten wir unser Geschirr in die Spülmaschine und gingen auf mein Zimmer. Dort riss ich die Fenster auf, um eine kühle Brise hereinzulocken und hockte mich aufs Bett. Er setzte sich wie immer auf den Boden. Oder besser: auf meinen Teppich, genau auf den Wald, in dem wir zuvor noch fruchtlos gesucht hatten. „Und was machen wir heute noch so? Wollen wirs nochmal versuchen, nur wo anders?“ Ich schüttelte den Kopf. „Es kann gut sein, dass er mich gesehen hat, also wird er heute wohl eher zu Hause bleiben. Morgen auch. Also würde ich eher übermorgen wieder gehen.“ Er dachte kurz über meine Worte nach, dann nickte er. „Wie du meinst.“ Den Rest des Tages verbrachten wir damit, Pläne für übermorgen zu schmieden und Wetterkarten zu studieren. Wenn es zum Beispiel ein Gewitter geben würde, wäre überall Schatten. „Was ist eigentlich nachts? Da ists doch überall dunkel ... Also ists überall schattig, oder?“, fragte ich unvermittelt. Nach kurzem Zögern antwortete Tim: „Naja ... Genau genommen ist dann ja gar kein Schatten, denn die Sonne ist ja nicht da ... Und nur da, wo Licht ist, kann Schatten sein, oder? Stimmts oder hab ich recht?“ Wieder grinste er. Ich nickte langsam. „Du hast wohl recht.“ Zumindest hoffte ich das. Ich hatte keine Lust, abends oder nachts umherzustreifen. Das nächste mal guckte ich um 21 Uhr auf meine Handyuhr. „Komm, wir gehen schlafen“, meinte ich. Er nickte und wir legten uns hin. Kapitel 3: Tag 2 ---------------- Piep, piep! Piepp, piep! Schläfrig tastete ich nach dem Wecker und schaltete ihn ab. Heute würde ich wieder in den Wald gehen. Oder aber mit Tim tauschen. Er sahs schon aufrecht auf seiner Matratze und grinste mich an. „Moin, moin!“, sagte er vergnügt. „Mion ...“, murmelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart. „Morgenmuffel“, grinste er. Ein Lächeln entlockte sich meinen Lippen, dann stand ich auf und zog mich an. Als ich runterging, hörte ich leise Geräusche aus der Küche und unsere Kaffeemaschine. Meine Mum war wohl schon wach. Komisch. Untypisch. Eigentlich schlief sie am Wochenende immer aus. Unten blieb ich im Türramen stehen. Sie wandte sich mir zu und meinte mit einem dünnen Lächeln: „Guten Morgen! Ich hatte mir überlegt, dass wir eventuel heute an den Strand fahren können!“ Die Freude, die sich nach ihren Worten in mir regte, verwandelte sich erst in Argwohn, dann in Trotz. Sie will nur, dass ich in ihrer Nähe bin. Sie vertraut mir nicht. Mensch ... Tim schien ähnliche Gedanken zu haben und auch in seinem Gesicht spiegelte sich Widerwille wieder. Natürlich. So konnten wir nicht unseren Plan verfolgen. Doch ich wollte meine Mutter nicht verletzen, deswegen antwortete ich ihr: „Ja, wir kommen mit, wenn Tim Lust hat.“ Seine Augen wurden für den Bruchteil einer Sekunde schmal, dann lächelte er und sagte: „Klar! Warum nicht?“ Dort wird er sich bestimmt nicht rumtreiben, dachte ich ironisch. Aber eigentlich hatte wir ja gestern ausgemacht, erst morgen wieder zu spionieren ... Naja ... Meine Mutter nickte. „Ok! Dann sucht eure Sachen zusammen, wir fahren so bald wie möglich.“ Kurz darauf hatten wir gegessen und unsere Sachen zusammengesucht. Meine Mutter drehte im Auto das Radio auf und der spanische Gesang einer Rockband, die gerade unglaublich beliebt war, erfüllte den engen Raum. Wir fuhren in gemächlichen Tempo durch die staubigen Straßen, vorbei an umhereilenden Menschen, spielenden Kindern und grünen Palmen, die sich im sachten Wind wiegten. Ich sah leicht gelangweilt aus dem Fenster, bis Tim mich plötzlich mit dem Ellebogen anstieß. „Guck mal!“, zischte er. Ich schaute aus seinem Fenster und sah zuerst nur die Straße und die sommerliche Landschaft. Dann aber bemerkte ich einen Schatten. Einen Schatten mit menschlichen Zügen, der an eine Hausmauer gedrückt dastand und sich umsah. In der Hand hielt dieser Schatten eine seltsamme, schwarze, auf merkwürdige Art und Weise pulsierende Zigarette. Ich fröstelte unwillkürlich. Er war es. Ich hörte ein leises Fluchen von Tim. „Mist! Gerade jetzt!“ Ich nickte nur langsam und sah zu, wie wir an ihm vorbeifuhren und er langsam hinter der nächsten Biegung verschwand. Meine Alte hatte davon nichts mitbekommen, da das Radio sehr laut gedreht war. Glücklicherweise. Den Rest der Fahrt hüllten wir uns alle wieder in Schweigen und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Nur meine Mutter versuchte die Stimmung etwas aufzulockern, als sie ihr Lieblingslied mitsang. Doch Tim und ich waren uns einig, dass dieses Lied total schrecklich war. Schließlich erreichten wir den Strand. Als wir das Auto verließen und so auf die Klimaanlage verzichten mussten, schlug uns eine sengende Hitze entgegen. Insekten zirpten unsichtbar in den Kronen der Bäume. Das Meer rauschte und alles in allem hätte es ein schöner Tag werden können, wenn wir mit den Gedanken dabei gewesen wären. Meine Mum steuerte die Umkleiden an und ich stöhnte innerlich gequält auf. Eigentlich hatte ich gar keine Lust, schwimmen zu gehen. Aber ich entschloss mich, ihr den Gefallen zu tun und folgte ihr mit einigen Schritten Abstand. Mein Freund folgte mir auf dem Fuß. Ich steuerte die Kabine an, auf der mit einem weissen Schriftzug 23 auf dem blau angestrichenen Holz der Tür geschrieben stand, er nahm die 22 und meine Mutter musste sich eine andere suchen, da hier sonst schon alle besetzt waren. Drinnen roch es muffig, doch ich war schon so oft hier gewesen, dass mir der Geruch gar nicht mehr auffiel. Der Boden war rutschig, so dass ich aufpassen musste, nicht hinzufallen, wodurch ich mich je nachdem sehr hätte verletzten können. Meine Mum hatte mir mal von jemanden erzählt, der ausgerutscht war und sich dermaßen den Kopf an den harten Fließen gestoßen hatte, dass er mit verdacht auf Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht war. Doch ich war ein Profi. Ich schaffte es reibungslos, nicht hinzufallen. Gerade, als ich mir meine gelben Bermudas mit den roten, dafür typischen Blumen angezogen, die Klamotten in den Rucksack gestopft und aus der Kabine in das grelle Sonnenlicht getreten war, das mich für einen Moment geblendet blinzeln ließ, gerade, als ich mich darauf vorbereitete, Freude und Fröhlichkeit heucheln zu müssen, hörte ich einen Aufschrei. Ich erstarrte. Es war eindeutig die Stimme meiner Mutter gewesen. Ich stand wie betäubt da, als plötzlich die blaue Holztür der Kabine 22 aufgestoßen wurde und gegen die Wand knallte. Tim kam herausgestürtzt, in einer Hand den Rucksack, in der anderen seine schwarze Hose. Die ebenfalls schwarze Bermudas hatte er schon angezogen und sah mich nun fragend an. „Was machst du? Lass uns sehen, was mit deiner Alten ist!“, rief er und seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Wir rannten an den blauen Türen vorbei. 13 ... 12 ... 11 ... 10 ... Endlich! Vor Kabine 5 standen bereits mehrere Männer, die versuchten die Tür gewaltsamm aufzubrechen. Schließlich schafften sie es und das blau angestrichene Holz landete mit einem dumpfen Aufprall auf etwas, dass zusammengesunken auf dem nassen, befließten Boden lag. „Mum!“, schrie ich und sprintete zu ihr, stieß die Helfer beiseite und fühlte ihren Puls. Sie lebte. „Was ... ist ... passiert?“, keuchte Tim in mein Ohr. „Ich ... ich weiß nicht“, antwortete ich, immernoch etwas geschockt. Jemand rief einen Krankenwagen. Während wir warteten, öffnete meine Mum plötzlich flatternd die Augen. Diese weiteten sich kurz, als sie mich erblickten. Ich sah besorgt auf das schneeweiße Gesicht meiner Mutter. „Was ist passiert?“ „Ich ... ich weiß nicht“, antwortete sie zögernd. „Ich glaub ... ich bin ausgerutscht.“ Auf einmal wurde sie noch eine Spur weißer. Ich rettete mich mit einem Sprung zurück vor ihrem Erbrochen. Ihre klammen, schweißigen Finger suchte meine Hand. Wir mussten nicht lange warten, da kam auch schon mit großem Tatü-Tata der Krankenwagen angefahren, den irgendwer gerufen hatte. Fachmännich untersuchten die Sanitäter meine Mutter, luden sie auf eine Trage und verfrachteten sie in den Wagen. Als ich, gefolgt von Tim, einsteigen wollte, hielt mich meine Mum zurück. „Ist schon ok, bleib du hier. Macht euch noch einen schönen Tag. Ich ruf dich an.“ Zögernd trat ich einen Schritt zurück. Ich konnte noch einen letzten Blick auf sie werfen, dann gingen die Wagentüren zu und sie fuhr davon. Als ich mich abwenden wollte, spürte ich den tröstenden Arm meines Freundes um meine Schultern. Tränen stiegen in meine Augen. Panik wallte in mir auf. Es fühlte sich an wie damals, als mein Dad gestorben war. Aber Mum war nicht Tod. Sie würde es überleben. Halbblind wischte ich mir hecktisch mit dem Ärmel über die Augen. Ich blinzelte noch ein paar mal, dann war es vorbei. Ich spürte, wie Tim mich noch ein wenig enger an sich zog. Meine Selbstbeherrschung zerann für einen Moment und ich spürte wie etwas nasses, salziges an meiner Wange entlanglief. „Es ist OK. Sie wird’s schon überleben. Keine Panik“, hörte ich eine, seine, angenehme Stimme in mein Ohr flüstern. Ich löste mich von ihm und sah ihn an. „Lass uns nach Hause gehen“, murmelte ich. Er nickte. Schweigsam gingen wir durch die sich bereits auflösende Menge der Gaffer hindurch. Auf halben Weg – wir hatten gar nicht nach dem Mysteriösen ausschau gehalten – hörte wir, wie jemand hinter uns schrie: „Hey, Punker-Schwein! Hau wieder ab, wir brauchen dich hier nicht! Geh zurück in das Loch, aus dem du gekrochen gekommen bist!“ Tim fuhr herum. Nur wenig konnte ihn wütend machen und das war eine Möglichkeit davon. Ich fasste ihm am Arm. „Lass sie reden!“, zischte ich. Sie waren zu fünft. Und es waren allesamt wohl so etwas wie Hopper. Vielleicht auch Rapper. Den Unterschied hatte ich immer noch nicht rausgefunden. Und sie waren wohl allesammt so um die 17/18. Ich wollte nicht auch noch meinen Freund im Krankenhaus besuchen müssen. Ich spürte, wie ein Ruck durch meinen Arm lief, als er sich losriss. „Lass mich!“ Ich starrte ihn mit leichter Panik an. So hatte er mich das letzte mal angefahren, als ich ihn davon abhalten wollte, sich auf einen 19-Jährigen zu stürtzen, der auch so etwas Ähnliches gesagt hatte. Man sollte bemerken, dass wir damals 14 gewesen waren und Tim später mit einigen Prellungen und einer blutenden Nase nach Hause gehinkt war. Ich hatte gerade die Erinnerungen abgeschüttelt, als ich sah, wie Tim auf die Gruppe zuging. Der größte der Jungs – breit, massig und bestimmt nicht gerade schwach – schien der Anführer des Rudels zu sein. Er stellte sich ganz nach vorn und grinste auf eine Übelkeit erregende Art und Weise, die meinen Kumpel noch mehr zu reizen schien. Ich lies meinen Blick über den Rest des Rudels wandern. Direkt hinter dem Anführer stand ein Mädl. Langes, blondes Haar fiel ihr über den Rücken. In ihrer Hand hielt sie locker eine D&G Tasche. Sie wirkte zickig und schien gewohnt zu sein, jeden Wunsch von den Augen abgelesen zu bekommen. Warscheinlich war sie sogar die Freundin des Schrankes vor ihr. Die anderen drei Gestallten waren Jungs. Sie sahen schwächer als der erste Junge aus. Einer hatte straßenköterblonde, strubbelige Haare, der andere sehr kurz geschnittene schwarze und der letzte dunkelbraune, die er zu einem Fake-Iro hochgestylt hatte. Ich wante mich hastig wieder Tim zu, der die Gruppe nun erreicht hatte. In meinem (Sicherheits-) Abstand von einem Meter war seine Stimme kaum mehr als ein Hauch, als er den Schrank anzischte: „Wie hast du und deine ... Gang“, er spuckte das Wort schon fast verächtlich aus, „mich gerade genannt?“ Gelächter erscholl. „Wir nennen dich so, wie wir es wollen!“ Und der Blonde rief: „Ey jo, deine Mudda is sou fett, wenn die an ´nem Aquarium vorbeigeht, singen die Walfische ‚We are Family!`“ Tim funkelte den Sprecher an. Noch ein Punkt, bei dem er ausrasten könnte. Seine Mutter. Und Mutterwitze. „Und deine Mutter“, begann er langsam ... „Ey, halt die Fresse Alda!“, stieß der Bandenführer hervor und spuckte Tim voll ins Gesicht. „Niemand beleidigt meine Homeys! Und vor allem nicht meine Mutter!“ Aha. Interessant. Dann waren die also miteinander verwandt. Brüder, die sich überhaupt nicht ähnlich sahen. Toll. Der Angespuckte knackte bedrohlich mit den Fingern. Ehe der Schrank sich versah rammte Tim ihm seine Faust in den Magen. Besser: in den Solar Plexus. Tut verdammt weh. Ich zuckte innerlich zusammen. Das war ein Fehler gewesen. „Das ist für dich, Lama“, zischte Tim. Das Mädl schrie hysterisch. Der geschlagene stöhnte, richtete sich dann wieder auf und fixierte mit seiner verdammt großen Faust meinen Kumpel. „Nein!“, entfuhr es mir. Ich machte einen Satz nach vorne, packte den völlig erstarrten Tim am Arm und riss ihn herum. Ich konnte ihm nicht verdenken, dass er wie eine Statue da rumstand. Er hatte mal seiner „Alten“ versprechen müssen, niemanden mehr zu schlagen, selbst wenn er noch so gereizt worden wäre. Er hatte nicht umsonst „Ferien“ in einem Erziehungscamp gemacht, um etwas ausgeglichener zu werden. Zu spät bemerkte ich, dass es ein Fehler gewesen war, meine passive Rolle zu verlassen. Nun hatte ich ihre Aufmerksammkeit erregt. Der Schläger torkelte leicht, als seine Faust ins Leere ging. Tim ergriff seine Chance, riss sich von mir los und gab seinem Gegner einen kräftigen Stoß von der Seite. Dieser stieß einen erstickten Laut aus, dann fiel er mit einem hässlichen Geräusch auf den Asphalt. Die anderen drei Jungs wurden unruhig. „Worauf wartet ihr? Macht sie kalt!“, brüllte der auf dem Boden Liegende. Macht sie kalt? Das hörte sich nicht gut an. „Lass uns abhauen!“, keuchte ich und zerrte an meinem Freund. Der Fake-Iro Typ war mit einem Satz bei mir und gab mir einen kräftigen Seitenhieb gegen die Schulter. Das pulsieren um die Stelle herum sagte mir genug, um die Kraft meines Gegenübers einzuschätzen. Alle Alarmglocken begannen in mir zu klingeln. „Nun komm!“, schrie ich, zog einem kräftig an Tim und zerrte ihn dann hinter mir her. Endlich erwachte er aus seiner Starre. „Scheiße Mann!“, fluchte er. Wir rannten los. Hastige Schritte hinter mir verrieten unsere Verfolger. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Scheiße, dachte ich. Ich hörte ein unheilverheißenes Klicken. Rasch blickte ich mich um, in die Gesichter unserer drei Verfolger, und sah, wie der Schwarzhaarige ein Taschenmesser aus der Hosentasche zerrte. Es war ihnen ernst. Sehr ernst. „Komm schon, komm schon!“, schrie ich Tim zu, der direkt neben mir lief, mehr um mich selbst anzuspornen als ihn. Immer weiter ging es die Straße englang. Ich bog nach links ab, in eine eng gewundene Gasse. Ein heißeres Keuche machte sich hinter mir bemerkbar. Doch meine Angst war zu groß, als das ich mich hätte umwenden können. Der Weg macht eine Biegung, noch eine und ... Verdammt! Eine Sackgasse tat sich vor mir auf. Zu meiner Linken und Rechten standen blanke Häuserfassaden. Vor mir erstreckte sich eine steile, hohe Wand. Zu steil. Und zu hoch. Langsam, mit zitternden Knien, wante ich mich um. Der Blonde stand hinter mir. Von den anderen war nichts zu sehen. Wo ist Tim? Verdammt, wo ist Tim? Ich musste ihn verloren haben. Ich schob jeden Gedanken an ihn und an sein womögliches Schicksal beiseite und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. Der Blondschopf kam langsam, ganz langsam, aber unaufhaltsam auf mich zu. Ein triumphierendes Grinsen verzog sein braungebranntes Gesicht. Erst jetzt bemerkte ich, dass er Sommersprossen hatte. Das Knacken seiner Fingerknöchel lenkte mich ab. Er ballte die Hände zu Fäusten, stand nun genau vor mir. Ich brach in Angstschweiß aus. Mir wurde sehr kalt. „Wie willst du sterben?“, zischte er in mein Ohr. Er fühlte sich vollkommen überlegen. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie konnte ich jetzt noch entkommen? „Ooh“, meinte er. Sein Gesicht verzog sich hämisch. „Es ist dir also egal? Nun gut. Nimm das!“ Mit diesen Worte schlug er mich auf die Schulter, die schon von dem Iro-Typ getroffen worden war. Eine Welle des Schmerzes schlug über mir zusammen. Er war sogar noch stärker. Sein nächster Schlag traf mich in die Magengrube. Ich sackte zusammen. Sein nächster Stoß mit dem Ellebogen zwischen die Schulterblätter brachte mich zu fall. Stöhnend lag ich auf dem Boden, die Arme um den Bauch geschlungen. Angst und Schmerz vermischten sich, wurden zur Übelkeit. „Und? Willst du so sterben?“ Seine Stimme klang vor lauter Triumph etwas überdreht. Mit mir hatte er ein leichtes Spiel, ich konnte mich nicht wehren. Ich konnte ihn nicht schlagen. Er trat nach mir. Sein Schuh traf hart meine Hand. Ich spürte Tränen des Schmerzes und der Wut in mir aufsteigen. Nicht jetzt, nicht hier!, schoss es mir durch den Kopf. Ich sah durch meine halbgeöffneten Augen, wie er seinen Fuß zu einem erneuten Kick zurückzog. Mehr aus Reflex als aus reinem Wollen griff ich nach seinem Bein. Er war so perplex, dass ich mich endlich werte, dass er tatsächlich kurz schwankte. Nur allzu schnell hatte er sich wieder gefangen. Wut verzerrte sein Gesicht. Ich hätte mich für meine Tat ohrfeigen können. Mein Gegenüber riss erst sein Bein los, dann zog er mich am Hemdkragen hoch. „Das wirst du bereuen. Ich verspreche es dir.“ Er spuckte mir ins Gesicht. Dann, als ich gerade blinzelte, um die Spucketropfen von meinen Augen fern zu halten, stieß er einen erstickten, überraschten Laut aus. Ich sah, wie sein T-Shirt sich am Kragen spannte, als ihn jemand daran zurückriss. „Tim!“, ich war noch nie so glücklich gewesen, dass er da war. „Der Retter in letzter Sekunde“, meinte er mit einem Grinsen. Er riss den Blonden herum und schleuderte ihn gegen die Wand zu meiner Linken. Der Blonde schrabte daran herunter und blieb halb benommen auf dem Asphalt sitzen. Gerade, als er versuchte sich aufzurappeln, gab mein Retter ihm einen Tritt. Und noch einen. Beide Male zuckte der Getretene heftig zusammen. „Das werdet ihr noch bereuen!“, drohte er, rappelte sich auf und machte sich auf und davon. Einen Moment lang blieb ich noch zitternd an die Wand gelehnt stehen, dann gaben meine Beine nach und ich sank auf den Asphalt. Tim schien einen Moment mit sich zu ringen, ob er den Blonden verfolgen solle, entschied sich mit einem Blick auf mich dann aber dagegen und setzte sich neben mich. Besorgt sah er mich an. „Alles OK?“ Ich nickte nur. „Und mit dir? Wie bist du ihnen entwischt?“ Meine Stimme zitterte leicht. „Bei mir ist alles paletti“, er lächelte mich an. „Wie ich ihnen entwischt bin? Tja, ich bin halt gut!“ Er zwinkerte mir zu. Nach einer Kunstpause, in der wir beide schwiegen und ich ihn erwartungsvoll ansah, erklärte er: „Also ... Wir sind ja von ihnen weggelaufen. An der Stelle, wo du in diese Gasse hier eingebogen bist, bin ich weiter geradeaus gelaufen, die anderen beiden auf den Fersen. Nach ein paar Metern, ich bog gerade um eine Ecke, war ich inmitten von Menschen. Ich muss auf irgendeinem Markt oder so gelandet sein, da überall Stände waren. Viel umgesehen hab ich mich nicht, ich bin einfach immer weiter ge- rannt. Irgendwann haben sie mich dann in der Menge verloren. Und dann hab ich gemerkt, dass ich dich verloren hatte.“ Er hielt kurz inne. Dann berichtete er weiter: „Ich hab dich in der Menge gesucht und als ich dich nicht gefunden habe, hab ich meinen Weg zurückverfolgt. Dann bin ich auf diese Gasse gestoßen und naja, dann war ich hier“, endete er etwas lahm. Ich lächelte. „Zum Glück bist du gekommen. Keine Ahnung was der mit mir angestellt hätte.“ Er nickte. „Komm, lass uns jetzt endlich nach Hause gehen. Vielleicht ist ja noch was Essbares im Kühlschrank. Ich verhungere.“ Auch ich spürte, wie mir der Magen knurrte. Dann fiel mir etwas ein. „Mums Tasche!“, ich schlug mir gegen die Stirn. „Sie liegt immer noch am Strand.“ Es stimmte. Wir hatte nur unsere Rucksäcke geschultert. Verwundert registrierte ich, wie schnell ich hatte damit laufen können. Tim verdrehte die Augen. „Na schön, gehen wir ihn holen“, murrte er, stand auf und zog mich hoch. „Auf, auf und davon!“, flötete ich. Er warf mir nur einen kurzen, vernichtenden Blick zu. Es wurde immer heißer, während wir den ganzen Weg wieder zurückgingen. Nach etwa einer halben Stunde waren wir da – Wir hatten uns Zeit gelassen. Schnell rannte ich, gefolgt von Tim, zu der Kabine, die meine Mutter benutzt hatte. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung stand der Korb noch dort. Ich inspizierte ihn kurz. Ein paar geschmierte Brote lagen darin, zusammen mit einer Flasche Mineralwasser und drei Bechern. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie Mum sie eingepackt hatte. Fröhlich hielt ich meinen Fund hoch. „Wer hat Lust auf einen Snack für zwischendurch?“ Eifrig beugte sich Tim über die Brote. Er entschied sich für ein Käsebrot, ich nahm eins mit Fleischwurst. Lecker. Fröhlich essend und trinkend saßen wir da und versuchten nicht an das zu denken, was an diesem Tag alles passiert war. Wir waren irgendwie auf das Thema Polizei gekommen, da meinte er eifrig: „Ha, dazu fällt mir grad ein Witz ein: Der Polizeilehrer, oder wie der heißt, hält einem seiner Schüler ein Pfandungsfoto vor die Nase und fragt: ‚Was fällt ihnen an dieser Person auf?‘ Der Schüler antwortet: ‚Er hat nur ein Auge!‘ Der Lehrer: ‚Aber nein, das Foto ist doch von der Seite aufgenommen!‘ So geht er zum zweiten Schüler und der meint: ‚Hm ... Der Typ hat nur ein Ohr!‘ ‚Nein! Das Foto ist von der Seite aufgenommen!‘ Der dritte Schüler meint: ‚Der Mann trägt Kontaktlinsen!‘ Der Lehrer, ehrlich beeindruckt: ‚Wie haben Sie das rausbekommen?‘ Schüler: ‚Naja, mit nur einem Ohr und einem Auge kann er schlecht eine Brille tragen!!‘ “ Ich find heftig an zu lachen. So heftig, dass ich mir den Bauch halten musste. Tim lachte mit. Es tat gut, zusammen zu lachen. Plötzlich blieb es mir ihm Halse stecken. Dort, halb hinter einem Busch verborgen, stand er. Mit einem Seitenhieb machte ich Tim auf ihn aufmerksam. Auch er hörte auf zu lachen und starrte zu dem Mysteriösen herüber. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir sahen uns an, sahen dann wieder rüber und ... „Er ist verschwunden!“, keuchte ich. Tatsächlich. Da, wo er vor einigen Sekunden noch gestanden hatte, wiegte sich eine Blume im sanften Wind. Der Schatten des Busches war verschwunden, die Erde bloßgestellt und rissig. „Oh mein Gott“, flüsterte Tim neben mir. Ich schluckte und nickte. Das war nicht normal. Hastig schlangen wir den Rest unseres Mahls herunter und packten unsere Sachen zusammen. Plötzlich wollten wir nur noch weg von hier. Der Heimweg war schweigsamm. Auch als ich die Tür aufschloss und wir die Rucksäcke und die Tasche abgestellt hatten, hingen wir schweigend unseren Gedanken nach. Erst als wir unsere Schuhe ausgezogen und nach oben in mein Zimmer gegangen waren, brach ich das Schweigen. „Und jetzt?“ Er sah mich kurz an, dann musterte er interessiert den Boden. Die Frage hing eine Zeit lang im Raum. „Wir machen weiter wie geplant“, knurrte er. Sein Blick wirkte versteinert. „Der Typ ... Der ist nicht normal!“, gab ich zu bedenken. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Das macht das ganze ja erst so interessant!“ Ich schüttelte den Kopf. Das war mal wieder typisch für ihn. Naja. „OK, dann machen wir weiter, gleich morgen“, stimmte ich ihm zu. „Und da deine Alte jetzt nicht da ist, können wir auch unser Geheimversteck nutzen. Da können wir nicht überrascht werden. Vorsicht geht über Nachsicht.“ Er zwinkerte mir zu. Ein Schatten legte sich kurz über mein Gesicht, als ich begriff, wie er den Unfall meiner Mutter ausnutzte. Dann lächelte ich schwach. „Du hast wohl recht.“ „Natürlich, ich habe immer recht!“, meinte er mit einem Lachen. Wir zogen den Plan hervor und überlegten, wo wir morgen suchen würden. So verbrachten wir den Rest des Tages. Zuletzt aßen wir etwas zu Abend, dann gingen wir schlafen. Zumindest versuchte ich es. Ich lauschte lange seinem regelmäßigen Atem, beschäftigt mit den Gedanken an das, was ich heute erlebt und herrausgefunden hatte. Schließlich gelang es mir einzuschlafen, auch in meinem Träumen von dem Mysteriösen verfolgt, immer mit dem nagenden Gefühl der Furcht. Ich hatte das Gefühl, als würde sich eine Gefahr heranbahnen, in die wir immer weiter herreinliefen. Kapitel 4: Tag 3 ---------------- Der Anfang des 3. Tages unterschied sich nicht wie der davor mit der einzigen Außnahme, dass meine Mum jetzt nicht da war. Tim und ich sprachen wenig. Unser Vorhaben lag schwarz und schwer über uns. Wir verabschiedeten uns, nachdem wir routiniert die Walkie-Talkies überprüft hatten und fuhren in verschiedene Richtungen davon – er diesmal in den Wald, ich in die Stadt. Die Sonne wanderte immer höher und es geschah nichts. Wirklich rein gar nichts. Die Straßen waren bis auf ein paar gewöhnliche Leute wie ausgestorben. Es wurde immer wärmer und ich begann mich zu fragen, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn wir für heute Schluss machen würden, da sah ich langsam und etwas gelangweilt in eine Seitenstraße. Und erstarrte. Er stand da, in der schwarz behandschuten Hand locker eine Zigarette. Hastig zog ich mich hinter einem Haus zurück und späte um die Ecke. Was ich sah, erschreckte und faszinierte mich gleichermaßen. Er führte seine Zigarette unter seine Kapuze, dahin, wo ich den Mund vermutete. Er nahm einen tiefen Zug und ... der Schatten des Hauses vor ihm schien von der Zigarette eingesogen zu werden. „Hey, du!“ Ich fuhr herum. Da stand die Clique von gestern. Zu meiner Befriedigung stellte ich fest, das der blondhaarige ein wenig hinkte. Schnell verwandelte sich die Befriedigung jedoch in Entsetzen, als sie immer näher kamen. Ich wante mich rasch um im Begriff, in die Straße einzubiegen, wo er bis gerade eben noch gestanden hatte. Doch dann stutzte ich: Er war nicht mehr da! In der Nähe wo er gestanden hatte wiegte sich eine Blume im Wind. Sie war in dem schmalen Spalt zwischen Straße und Bürgersteig aus dem Boden gewachsen. Der Asphalt um sie herum schien rissig und trocken zu sein. „Willst du nicht weglaufen?“, hörte ich eine hönische Stimme hinter mir. Konnten die mich nicht einfach in Ruhe lassen?! Ich gab mir einen Ruck, warf das Board auf die Straße und gab Gas. Ich war geübt darin, schnell und um scharfe Kurven zu fahren. Als ich einen Blick hinter mich riskierte sah ich, dass der schwarzhaarige wieder sein Messer gezückt hatte. Auch das Mädl lief mit wild flatternden D&G-Tasche hinterher. Die Szene beunruhigte mich nicht im geringsten so, wie sie es vermutlich hätte tun sollen. Ich war viel schneller als sie, bald würde ich sie abgehängt haben. Plötzlich ries mich ein schrilles Quitschen aus meinen Gedanken. Vor lauter hinter mich gucken hatte ich ganz vergessen auf das zu achten, was vor mir lag. Irgendwie war ich auf die linke Straßenseite abgedrifftet und raste nun auf ein Auto zu, dessen Fahrer versuchte abzubremsen, um mich nicht zu erfassen. Er musste viel zu schnell gefahren sein, eigentlich war dies hier eine Art Spielstraße. Aus reinem Reflex sprang ich von meinem Board und rollte mich zur Seite ab. Irgendwo hinter mir hörrte ich Triumphgeheul. Das Auto raste haarscharf an mir vorbei. Mein Skateboard war glatt unter ihm durchgefahren und fuhr nun immer noch vom Schwung getragen bis zum Ende der Straße. Benommen vom Schock und vom Sturz rappelte ich mich auf und machte ein paar schwankende Schritte auf meine Rettung zu. Wenn ich es jetzt nicht erreichte, wäre ich verloren. Das Getrappel hinter mir wurde lauter. Eine gierig ausgestreckte Hand streifte mich, als ich mir einen Ruck gab und auf das Board zusprinntete. Etwas hartes traf mich im Rücken und lies mich kurz innehalten. Als ich hinter mir auf den Boden guckte, sah ich einen kleinen Handspiegel. Diese Zicke hatte doch tatsächlich ihren Handspiegel für mich geopfert! Ein Schlag holte mich in die Realität zurück. Wie gestern war es der Fake-Iro Typ gewesen, der mich geschlagen hatte. Wie gestern hatte er meine Schulter getroffen. Schmerz pulsierte durch meine Arm. Ich schrie auf, dann rannte ich schneller denn je weiter. Es waren nur noch zwei Meter. „Bleib stehen! Wir tun dir doch nichts!“, hörte ich jemanden hinter mir rufen. Wers glaubt ..., dachte ich bei mir. Ein Meter ... die Schritte wurden lauter. Wieder spürte ich Hände, die meinen Rücken streiften. Ein halber Meter ... Die Hände kriegten einen Zipfel meines T-Shirts zu fassen. Mit aller Kraft riss ich mich los und sprang ab. Die Flugphase war kurz. Abenteuerlich landete ich auf meinem Brett. Schneller als ich es für möglich gehalten hatte schoss ich davon. Die Angst beflügelte mich. Ich riskierte einen kurzen Blick über die Schulter und sah die Gestallten, die immer noch liefen, mich immer noch verfolgten, immer kleiner und kleiner werden. Schließlich bog ich um eine Ecke, dann um noch eine. Ich hörte nichts mehr von ihnen, trotzdem fuhr ich immer weiter. Schließlich fand ich mich in einem Teil der Stadt wieder, den ich vorher noch nie betreten hatte. Besser: Ich hatte ihn nicht betreten dürfen, da sich hier nur die schlimmsten Gestallten rumtrieben. Ich dachte gerade daran, umzukehren, da sah ich ihn wieder. Mit einem geschmeigdigen, katzenhaften Gang ging er die Straße entlang. Ich zögerte kurz, dann schulterte ich mein Gefährt und schlich so leise wie möglich hinterher. Das Herz schlug mir bei diesem Alleingang bis zum Hals. Vielleicht hätte ich Tim rufen sollen, aber ich hatte Angst, dann endeckt zu werden. So drückte ich mich in den Schatten und Hauseingängen herum, während mein Zielobjeckt nichtsahnend weiterging. Wir kamen in immer vereinsammtere Gegenden. Ich sah Bettler, die auf eine milde Gabe hofften und Kinder, die sich um ein Stück Brot stritten. Mitleid stieg in mir auf. Vor lauter gucken hätte ich dann beinahe vergessen, mich versteckt zu halten. So ging es weiter, bis wir ganz am Rand der Stadt angekommen waren. Es war ruhig und schattig. Ich registrierte mit leichtem Erstaunen, dass es von hier aus nicht mehr weit bis zum Wald war. Schließlich blieb er stehen, ich verdrückte mich hinter einen Hauswand. Eine zweite in einen Mantel gehüllte Gestallt erschien auf der Bildfläche. Dann gab es also zwei von denen. Beunruhigend. Ein Schauer lief über meinen Rücken, als ich auch in der Hand der zweiten Kaputzengetallt eine Zigarette erblickte. Auch sie schien auf merkwürdige Art und Weiße zu brodeln. Es sah ganz so aus, als wäre darin etwas gefangen, das herauswollte. Im nächsten Moment hätte ich fast über mich selbst gelacht. Das konnte doch gar nicht sein. Da ging die Fantasie mit mir durch. Allerdings ... Was war an denen schon normal?! Da begann der, dem ich gefolgt war, zu reden. „Hast dus?“ „Ja.“ Vor Verwunderung hätte ich fast aufgekeucht. Das war eine Frau, die da gerade geantwortete hatte! Kein Zweifel! „Also heute? Ich muss es abliefern, ich habe keinen Platz mehr.“ Die Stimme des Mannes klang tief und rau. Unangenehm. „Ja, heute. Wir treffen uns mit Timor.“ Die Stimme der Frau klang irgendwie melodisch. Fast wie ein Gesang. Sie war das komplette Gegenteil von der Stimme des Mannes. Der Mann nickte. „Gut. An der Silbermiene? Da wären wir ungestörrt, denke ich.“ Die Frau zögerte kurz. Dann meinte sie: „Also gut, ich denke du hast recht. Zwar haben wir da ja mal Spuren gefunden, die davon sprechen, dass sich dort mal ein paar Menschen rumgetrieben haben, aber ich denke, dass sich dort jetzt keiner mehr rumtreiben wird. Und wenn, ist das doch auch nicht schlimm.“ Ihre Stimme klang amüsiert. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie eckelhaft lächelte. Mir fröstelte. Tim würde bestimmt dahin wollen. Wenn wir dann erwischt würden, wären wir dran. „Also gut“, meinte er, „bis heute Abend dann. Wenn der Mond am höchsten steht.“ Sie nickte kurz, dann wante sie sich ab und eilte Richtung Wald davon. Er drehte sich um und kam mir entgegen. Mit aufwallender Panik zog ich mich tiefer in die Schatten zurück. Der Mann ging schnurstracks an mir vorbei und verschwand um eine Biegung. Ich brach in Schweiß aus. Der Schock machte sich bemerkbar. Meine Hände waren sehr kalt und schweißnass. Ich tastete mit glitschigen Finger nach dem Walkie-Talkie. „Tim?“ „Ja?“, meldete er sich sofort „Ich habe interessante Neuigkeiten.“ Als ich nicht weitersprach, wurde er ungeduldig. „Und? Was sind das für Neuigkeiten? Spuck´s aus!“ Ich zögerte noch einen Moment, dann schilderte ich in allen Einzellheiten was passiert war, nachdem die Bande aufgetaucht war und ich abhauen musste. Nachdem ich geendet hatte, schwieg er eine Zeitlang. „Wir gehen hin, ist doch ganz klar“, entschied er dann grimmig. Jetzt zögerte ich. „Bist du dir sicher? Wenn die das spitzkriegen sind wir dran! Die bringen uns doch um!“ Ein leises Lachen ertönte. „Dann sorgen wir halt dafür, dass sie nichts spitzkriegen!“ „Gut“, grummelte ich. „Bis gleich, wir treffen uns bei mir.“ „Roger“, meinte er ironisch. Da wir ungefähr den gleichen Heimweg hatten, trafen wir zur gleichen Zeit bei mir ein. Wieder gestalltete sich das in-mein-Zimmer-gehen schweigsamm. Langsam aber sich ging mir das auf den Geist. Ich sehnte mich nach der ausgelassenen Stimmung, die ich immer so genossen hatte, wenn Tim da gewesen war. Vielleicht sollten wir das ganze vergessen. Es schien uns nicht gut zu tun. Schließlich waren wir in meinem Zimmer und setzten uns auf unsere Lieblingsplätze: Ich mich auf mein Bett, er sich auf den Teppich. Wir schwiegen noch immer. Es war ein eisiges Schweigen. Irgendwie war ich sauer, dass er so über meinen Kopf hinweg entschieden hatte. Wir hatten gar nichts abgesprochen, da war es für ihn schon entschlossene Sache. Zu meiner Überraschung stand er plötzlich auf und setzte sich neben mich. Diese Überraschung vertiefte sich, als er sich zu mir rüberbeugte und ich sanft umarmte. „Tut mir leid, dass ich so über deinen Kopf hinweg entschieden habe. Ich steigere mich da viel zu sehr rein. Wieder Freunde?“, flüsterte er in mein Ohr. Etwas zögerlich erwiederte ich seine Umarmung. „OK. Diesmal verzeih‘ ich dir noch. Das nächste mal achtest du mehr auf meine Meinung, abgemacht?“ Er drückte mich kurz, dann lies er mich wieder los. Seine Berührung hinterlies ein angehnemes Prickeln auf meiner Haut. Hastig verdrängte ich das ungewohnte Gefühl. Und löste mich meinerseits von ihm. „Abgemacht!“, meinte er, sichtlich erleichtert. Ich grinste. „Irgendwie ist es gut, das Mum es uns verobten hat zu den alten Silbermienen zu gehen. Wäre peinlich geworden, wenn die da aufgekreutzt wären, während wir da sind.“ Er lachte kurz auf. „Stimmt! Also gehen wir dann morgen dahin? Ist das OK für dich?“ Ich nickte. „Jop, ist OK. Und wann?“ Er dachte kurz nach. „Na, die haben doch gesagt, dass sie sich dann treffen, wenn der Mond am höchsten steht. Und das ist ...“ Er überlegt kurz, „Mitternacht!“ „Stimmt ... Also dann, Mitternacht. Wir sollten morgen ein Mittagschläfchen halten, damit wir Abends ausgeruht genug sind.“ Ich zwinkerte ihm zu. Er lächelte. „Da hast du wohl recht.“ So ging es weiter und wir überlegten, was wir morgen brauchen würden. Kapitel 5: Tag 4 ---------------- Am nächsten Tag weckte uns kein Wecker – wir hatten beschlossen, dass wir uns erst Abends auf den Weg machen würden. Als ich auwachte, war es bereits 11 Uhr morgens. Tim war schon wach und saß auf seiner Matraze neben meinem Bett. Ein Tablett, beladen mit Nutellabroten, stand neben ihm. Er grinste mich auf eine wunderbare Art und Weise an. „Ich will doch hoffen, dass du Hunger hast!“, meinte er scherzhaft. „Einen Bärenhunger“, antwortete ich flüsternd und mit einem Nicken. Ich war von der Überraschung immer noch ein wenig überwältigt. Er lächelte. „Das freut mich.“ „Es ist ... nett von dir, dass du mir Frühstück machst“, bemerkte ich. Fast hätte ich statt „nett“ „süß“ gesagt, ein Wort, das meine Mum früher, als mein Dad noch dagewesen war, oft benutzt hatte. Ich nahm mir ein Brot vom Tablett. Tiefe Zuneigung zu dem, der mich da grinsend ansah, stieg in mir auf, während ich auf der Brotscheibe kaute. Mein Freund setzte sich zu mir auf die Bettkante und sah mir weiterhin lächelnd beim Essen zu. Dieser Umstand ließ mich stutzen. Ich schluckte hastig meinen Bissen hinunter, dann fragte ich: „Hast du keinen Hunger?“ Sein Lächeln vertiefte sich. „Ich habe gegessen, während du geschlafen hast. Jetzt reicht es mir voll und ganz dir zuzusehen.“ Er machte mich ein wenig nervös, wie er da saß und mir zusah. Ich schob ihn ein Brot hin. „Iss! Du machst mich ganz nervös ...“ Er lachte. „Weil du es bist“, sagte er mit einem Zwinkern und nahm sich das Brot. So verlief der Morgen sehr ruhig und entspannt. Wir redeten über unsere Vergangenheit, unsere Jahre in Deutschland, bevor wir nach Barcelona ausgewandert waren. Wir lachten und witzelten. Ich hatte mich selten so entspannt und fröhlich gefühlt. Plötzlich hörten wir ein Piepen von unten, das ich nicht einordnen konnte. Ich fuhr erschrocken zusammen. Tim fing schallend an zu lachen. „Warte hier!“, wies er mich an und verschwand aus meinem Zimmer. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe verklingen und wartete gespannt auf seine Rückkehr. Ich hörte ihn unten rumoren, ein Klirren und dann das Geräusch von Wasser, das in einen Behälter gegossen wird. Als diese Geräusche verklungen waren, dauerte es nicht mehr lange bis ich seine leisen, bedächtigen Schritte erst im Flut, dann auf der Treppe hörte. Schließlich erschien sein breit grinsendes Gesicht im Türrahmen. Seine Hände hielten zwei dampfende Teetassen umpfangen. „Du verwöhnst mich“, murmelte ich verlegen, wenn auch mit einem gewissen zärtlichen Unterton. Ein Prickeln durchströmte meinen Körper. „Ich will meinen Fehler wieder gut machen“, meinte er seinerseits verlegen. Er stellte die Tassen neben meinem Bett auf den Boden, legte sich neben mich und umarmte mich. Alles in mir versteifte sich. Wieder spürte ich das Prickeln, welches sich in meiner Magengegend zu verdichten schien. Bedächtig erwiderte ich die Umarmung. „Ich will dich nicht als Freund verlieren ... Nicht wegen eines so dummen Fehlers“, flüsterte er in mein Ohr. „So schlimm war es nicht“, versuchte ich ihn zu beruhigen. So war es auch, ich hatte ihm schon längst verziehen. Ein anderer Gedanke drängte sich mir auf. Was ist, wenn er das nicht macht, weil er sich entschuldigen will, sonder ... Nein! Dieser Gedanke war absurd. Er wollte mich doch nicht berühren. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich verdrängte diesen Gedanken. „Gut“, meinte er erleichtert und löste sich von mir. Ich lies ihn, wenn auch mit leichten Widerwillen, los. Er lies sich wieder auf der Bettkante nieder und trank seinen Tee. Ich setzte mich auf und tat es ihm nach. Schweigend hingen wir unseren Gedanken nach. Die Frage danach, was wir heute tun sollten, hing unausgesprochen im Raum. Er setzte schwungvoll seine Tasse an die Lippen, trank den letzten Schluck und sah mich dann an. „Lass uns fernsehn gehen.“ Ich schaute in meine Tasse, drank den Rest Tee darin und nickte. „OK. Lass uns runtergehen.“ Auf dem Weg nach unten dachte ich an die Umstände, unter und wegen denen wir nach Barcelona, ins sonnige Spanien, gezogen waren. Zuerst war mein Dad gestorben. Sie hatte es nie wirklich verkratet. In der Zeit danach hat sie viel mit Tims Mutter gesprochen. Sie waren besten Freundinnen. Circa einen Monat später hat sich Tims „Alte“ sich von ihrem Mann getrennt. Sie beide – meine Mum und seine – haben dann die Idee entwickelt, hierhin zu ziehen, um ein neues Leben anzufangen. Hier gingen Tim und ich nun auf eine Schule für Deutsche im Zentrum der Stadt. Dort wurde uns neben Deutsch und Englisch auch Spanisch beigebracht, welches ich fließend beherrschte. Er hatte da mehr Schwierigkeiten, er war lernfaul. Bei diesen Gedankengang musste ich grinsen, was er nicht sah, da er vor mir herging. Wir saßen nebeneinander auf der Couch und ich zappte ein wenig gelangweilt durch die endlosen spanischen Programme, auf der Suche nach den deutschen. Eine Reihe von Bildern und spanischen Wörtern zeigte sich mir, doch ich machte mir nicht die Mühe zu übersetzen. Gerade waren wir an einem Nachrichtensender angelangt und ich wollte schon weiterschalten, da hielt mich Tim zurück. „Warte!“, meinte er und legte seine Hand auf meine, um mich am weiterschalten zu hindern. Meine Haut prickelte da, wo er mich berührte. „Was ist?“, fragte ich und konzentrierte mich auf den Bildschirm. Tatsächlich, hinter dem Moderator war ein Bilde der Blume erschienen. Ein Bild ebenjener Blume, die von den Mysteriösen kündete. Ich erschauerte unbewusst. Dann konzentrierte ich mich auf die spanischen Worte, die mir entgegenströmten. „Die Biologen stehen vor einem Rätsel“, übersetzte ich langsam in ein einfaches Deutsch, damit auch Tim alles verstand. „Noch nie ist ihnen so etwas untergekommen (...) Das Erdreich ist in einem ... Maß von einem Meter um die Blume rissig und trocken (...) Keiner kann sich dieses Phänonem erklären. Ein Forscher aus Barcelona berichtet: ...“ Weiter konnte ich nicht übersetzen, der Forscher redete zu schnell und zu unverständlich. Ich und mein Freund sahen uns an. „Langsam werden sie wach“, meinte er. Ich nickte. „Aber sie haben mit keinem Wort die Schatten erwähnt ...“, erwähnte ich nachdenklich. Jetzt war es am ihm zu nicken. „Stimmt ... Aber vielleicht sind sie zu kurzsichtig, um es zu bemerken. Vielleicht halten sie es für eine normale Naturerscheinung.“ „Ja, vielleicht.“ Ich schaute wieder zum Fernseher, wo der Wissenschaftler gerade mit seiner Ausführung geendet hatte und der Nachrichtensprecher versprach, uns alle weiterhin auf dem Laufen zu halten. Ich bemerkte, das Tims Hand immernoch auf meiner lag. Als hätte er es gespürt, zog er sie weg und ich schaltete seufzend weiter, bis zu den deutschen Sendern, wo wir uns ein paar Sendungen auf RTL 2 ansahen, um auf andere Gedanken zu kommen. Gegen 13 Uhr rief die Mum meines Freundes an. Wir wurden von dem schrillen Klingeln des Telefons aufgeschreckt. „Ich geh schon!“, sagte ich und sprang auf. Insgeheim wünschte ich, dass es das Krankenhaus war, das mir berichtete, wie es meiner Mutter ging. Als ich abnahm, war ich fast schon enttäuscht, die Stimme von Ms. Paulin zu vernehmen. „Hallo Philipp, mein Lieber, ich habe gerade von der schrecklichen Sache erfahren, die deiner Mutter passiert ist! Ich hoffe, dir und meinem Sohn geht es gut! Habt ihr nicht Lust heute mit mir ins Krankenhaus zu fahren, um deiner Mutter einen Besuch abzustatten? Sie würde sich bestimmt freuen!“ Ich übermittelte die Frage zu Tim und er quitierte sie mit einem Achselzucken und einem Nicken. Es sollte wohl so viel heißen wie: Von mir aus schon, kommt drauf an ob du willst. Ich seuftzte unhörbar und antwortete der Fragenstellerin mit einem „Ja, das wäre toll, wenn du uns fahren würdest!“ Sie bestürmte mich noch ein wenig mit einem Speerfeuer aus Mitleidsbekundungen und Versicherungen, dass alles wieder gut werden würde, dann entließ sie mich mit einem fröhlichen „Bis später!“ und legte auf. Ich stand noch ein paar Sekunden mit dem Telefonhörer in der Hand da, dann legte ich meinerseits auf. Ich spürte Tims teils neugierigen, teils fragenden Blick auf mir. „Du scheinst ja nicht sehr begeistert zu sein, deine Alte sehen zu können“, bemerkte er mit schiefgelegten Kopf. „Najaa“, erwiederte ich gedehnt, „ich weiß es selbst nicht so genau, wenn ich ehrlich sein soll. Einerseits will ich sie ja sehen aber andererseits ...“ Ich schüttelte ratlos den Kopf. Er nickte nachdenklich vor sich hin. „Mhm ...“ Kurz darauf saßen wir wieder vor dem Fernseher. Ich konnte mich kaum auf die Worte konzentrieren, die mir entgegenströmten. Irgendwie war ich verflickst angespannt. Mitten in der neuesten Folge von „King of the Queens“ – es war ungefähr 13:30- läutete es an der Haustür. Wir standen gleichzeitig auf und gingen, um die Tür für Tims Mutter zu öffnen, nachdem ich den Fernseher ausgeschlatet hatte. Wieder machte sich eine lähmende Lustlosigkeit in mir breit. Ich fragte mich, woran das wohl lag. Gerade, als ich die Haustür aufriss und mir eine strahlende Chlarie Paulin gegenüberstand, wurde mir peinlich bewusst, dass ich immer noch in meinem Schlafsachen – sprich ausgeleiertes T-Shirt und Boxershorts – rumlief. Chlarie schien das erst gar nicht zu bemerken und drückte erst mich, dann ihren Sohn zur Begrüßung. Unvermittelt fing sie an zu Lachen. „Und ich dachte, ihr wärt schon aufbruchsbereit“, sagte sie fröhlich. Ihre Fröhlichkeit übertrug sich auf mich und wider Willen musste ich grinsen. Auch Tim grinste. Ich hatte den Verdacht, dass er unendlich erleichtert war, dass ich nicht mehr so ein verdriesliches Gesicht machte. All die Lustlosigkeit, die mich zuvor noch befallen hatte und sich wie ein schweres Tuch über mir ausgebreitet hatte, war verschwunden. Immer noch lachend und mit einem „Einen Moment, wir sind gleich wieder da!“ verschwanden wir uns gegenseitig mit dem Ellebogen in die Seite stechend nach oben. Wir führten uns auch, als wären wir zwölf. Merkwürdigerweise machte mir das mit einem Mal gar nichts aus. Es war mir nicht im geringsten peinlich. Chlarie schien eine Sonne, einen Lichtstrahl mitgebracht zu haben. Oben zogen wir uns in windeseile um, ich wie immer sehr normal und unaufällig gekleidet, Tim dagegen hätte mit seinem verwaschenem Metal-Band-T-Shirt (der Schriftzug verkündete stolz von der Gruppe Slipknot) und seiner, teils zerissenen, schwarzen kurzen Hose kaum aufälliger sein können. Seine grünen Haare, die heute nicht wie sonst gestylt waren, machten diesen Umstand auch nicht besser. Wir rannten wieder runter und jeder versuchte, der Erste zu sein, wodurch wir nicht nur einmal fast gestürzt wären. Die Frau, die unten geduldig auf uns gewartet hatte, lachte bei diesem Anblick glockenhell. Wenig später saßen wir im Auto. Die CD einer von Tims Lieblingsbands lief und ich hatte den schleichenden Verdacht, dass es ebenjene Gruppe war, deren T-Shirt er anhatte. Ich lehnte mich zurück und genoß das ausgelassene Geschwätz meiner Mitfahrer, während ich nur zuhörte und hier und da etwas einwarf, wenn mein Typ gefragt war. Wenn man nach der Stimmung gegangen wäre hätten wir genausogut auf dem Weg zu einem Strandausflug sein können. Noch nichtmal die Musik störte mich, die in einem so krassen Gegensatz zu meinen momentanen Gefühlen stand. Vielleicht war sie gerade desshalb so interessant. Es kam mir vor als wären wir gerade erst losgefahren, da waren wir auch schon da. Groß erhob sich das „Hospital Mare De Deu Del Mar“ vor uns, als wir etwas unschlüssig vor der Tür standen. Entschlossen trat Chlarie schliesslich durch die Tür und wir tapsten ihr hinterher, bis zum Informationsschalter, wo wir uns erkundigen wollten, wo meine Mutter lag. Nach einem kleinen Worgeplänkel in perfeckten Spanisch mit der Frau hinter dem Schalter drehte sich Ms. Paulin mit einem triumphierenden Grinsen zu uns um. „1. Stock, Notfallaufnahmen, dritte Tür von links!“, verkündete sie mit einer gewissen Portion Stolz in der Stimme. „Erst wollte sie es mir nicht verraten, dann jedoch konnte ich sie überzeugen mit deiner Mutter befreundet zu sein“, erklärte sie kurz. „Am Ende hat die Macht gesiegt!“, verkündete Tim theatralisch, worauf ich schallend anfing zu lachen. Erst kriegte ich mich gar nicht mehr ein und der warnende Blick der Frau, mit der sich Chlarie eben noch so nett unterhalten hatte machte es auch nicht grad besser. Schliesslich gelang es mir jedoch mich wieder zu fassen. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und fragte: „Worauf warten wir? Los geht’s!“ Ich quitierte zwei belustigte Blicke und wir begaben uns zu den Treppen. Aufzug fahren wäre viel zu einfach gewesen. Wir standen unschlüssig vor der Tür. Ich fasste mir ein Herz und klopfte an. Niemand antwortete. „Vielleicht schläft sie“, mutmaßte Tim. Ich nickte unschlüssig. „Lass uns einfach reingehen!“, meinte seine Mutter. Ich nickte wieder und drückte den Türgriff runter. Nach ein paar Schritten stand ich am Bett meiner Mutter. Das Nachbarbett war leer, doch dies nahm ich gar nicht so wirklich war. Ich war wie gebannt von den Schläuchen und Vorrichtungen, die an sie angebracht waren. Ein Kasten zählte ihre Herzschläge. Alles schien in Ordnung zu sein. Ich besah mir ihr Gesicht. Ein Schlauch verlief unter ihrer Nase, ihre Augen waren geschlossen. Sie schien zu schlafen. Ihr Brust hob und senkte sich beruhigend bei jeden Atemzug. Die ausgelassene Stimmung, die eben noch geherrscht hatte, war verflogen. Still standen wir um das Krankenbett herum, Tim links neben mir, seine Mum neben ihm. Ich spürte seine Hand, die meine suchte, und streckte meine ihm hin. Er griff sie und hielt sie fest unschlossen. Etwas tröstendes ging von dieser Geste aus. Ich wusste nicht, wie lang wir schon so da standen und nichts sagten und nichts taten, außer meiner Mutter beim schlafen zuzusehen und hin und wieder einen Blick auf den Kasten zu werfen, wo ihre Herzschläge kontroliert wurden. Plötzlich wurde sie munterer. Das Herzfing an schneller zu schlagen. Eine leichte Hysterie stieg in mir auf, wurde jedoch von Chlaries Worten im Keim erstickt. „Sie wacht auf.“ Tatsächlich. Ihre Augen öffneten sich langsam und ihr Herz machte einen – wie es schien begeisterten – Satz, als sie uns erblickte. „Philipp!“, meinte sie mit schwacher Stimme. „Tim, Chlarie.“ Sie lächelte uns an. „Hallo Sahra“, erwiederte Chlarie ihrerseits lächelnd. Ich war zu baff um etwas zu sagen und Tim hielt ebenfalls den Mund. Sahra lächelte und hob eine Hand, an der ein durchsichtiger Schlauch hing, der ihr unaufhörlich irgendein Medikament injizierte, und fuhr mir mit den Fingerspitzen über die Wange. Meine Haut kribbelte da, wo sie mich berührte. Wehmut stieg in mir auf, obwohl sie erst seit einem Tag in Krankenhaus lag. Außerdem hatte sich ihre Berührung so kraftlos und wehrlos angefühlt. Ich blintzelte ein paar mal zu oft und konnte es so verhindern, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Tim spürte dies und drückte meine Hand. So gestärkt konnte ich einen Gefühlsausbruch zurückhalten. Zum Glück hatte niemand sonst etwas davon mitbekommen. Meine Mutter lies die Hand wieder auf ihre weiße Bettdecke sinken, Chlarie setzte sich mit einem aufmunternten Lächeln auf die Bettkante am Fußende des Krankenbettes. „Und jetzt erzähl mal, wie konnte das passieren?“, fragte sie. Sahra lächelte, seuftzte theatralisch und erzählte: „Naja, da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich wollte mich grade fertigmachen um mit den Jungs an den Strand zu gehen“, bei diesen Worten warf sie uns, die wir immer noch da standen und Händchen hielten, einen Blick zu, „und grade als ich die Sandalen ausgezogen hab war ich wohl zu unvorsichtig und bin auf diesen verflicksten nassen Fliesen ausgerutscht. Naja, zu allem Unglück bin ich so unglücklich gefallen, dass ich mir den Kopf an der Kabinenwand aufgeschlagen hab. So kam es dann zu der Gehirnerschütterung“, schloss sie. Ihre Stimme klang schwach, aber vergnügt. Es schien ihr zu gefallen, dass wir da waren. So ging der Mittag zu ende und wir wären wohl noch länger geblieben, wäre nicht eine Krankenschwester reingekommen und hätte uns rausgescheucht mit dem Vorwand, dass „Miss Hawk Ruhe braucht“. Hawk. Mein Nachname. Eigentlich war ich stolz, den Nachnamen eines Namenhaften Skateboarders zu tragen, doch es kam oft zu fragen wie „Kannst du denn so gut Skaten wie er?“. Natürlich konnte ich das nicht. Niemand kann das. Aber ich konnte schon ganz gut Skaten, fand ich. Auch Tim, der sich sehr für die Geschichte des Skatens interessierte, fand meinen Nachnamen „voll cool“. Insgeheim war er wohl sogar etwas neidisch, vermutete ich. Bei diesem Gedanken musste ich lächeln. Eine Stimme dicht neben mir, die mir nur allzu vertraut war, fragte: „Warum lächelst du?“ Mein Lächeln vertiefte sich, als ich Tim antwortete: „Nur so ohne Grund.“ Er zog belustigt eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts. Es dauerte nicht mehr lange, da waren wir schon wieder zu hause. Wir verabschiedeten uns von Tims Mutter und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, umpfing mich direkt wieder dieses lustlose, mutlose Gefühl. Ich versuchte nach Kräften, mir nichts anmerken zu lassen, um nicht eventuell auf meinen Freund abzufärben. Und es gelang so halbwegs. Wir standen in der Küche und machten uns Brote. Der Ausflug zu meiner Mum hatte uns hungrig werden lassen. Ich ertappte mich immer wieder dabei, wie mein Blick zu ihm rüberwanderte, als wäre er ein Magnet. Im Gegenzug konnte ich beobachten, dass es ihm im umgekehrten Falle nicht besser ging. Irgendetwas war komisch. Ich verscheuchte die Gedanken und folgte ihm ins Wohnzimmer, wo wir uns noch etwas entspannen wollten, bevor wir uns heute Abend auf den Weg machen würden. Wir stellten die Brote auf den Couchtisch und ich zappte ganz wie heute Vormittag etwas gelangweilt durch die spanischen Programme. Es war lästig, aber man gewöhnte sich daran, immer so weit durchschalten zu müssen, bis man auf deutsche Sendungen stieß. Tim hatte sich auf die Couch gelegt und das T-Shirt ausgezogen, da es ihm zu warm war. Es war auch verflickst warm, da musste ich ihm zustimmen. Seine Füße lagen dicht neben meinen Beinen. Ein Verlangen stieg in mir auf, gegen das ich einfach nicht ankämpfen konnte. Ich wollte es auch gar nicht. Langsam und bedächtig legte ich mich hinter ihn und schlang einen Arm um seine nackte Brust. Er sagte nichts, setzte sich auf, zog mich so mit sich und nahm den unteren Saum meines T-Shirts in die Hände. Dann zog er es mir über den Kopf. Ein ein starkes Prickeln durchlief mich. Immer noch ohne etwas zu sagen ließ er mein Shirt neben dem Sofa auf den Boden fallen, legte sich wieder hin und zog mich wieder mit. So lagen wir nebeneinander, er mit dem Rücken zum Fernseher. Er schaute mich an. Ein Lächeln umspielte seinen Lippen. Niemand konnte so lächeln wie er. „Süß ...“, rutschte es mir bei dem Anblick heraus. Im nächsten Moment wäre ich vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Doch er gab keine abfällige Bemerkung. Er sagte einfach gar nichts, sondern zog mich eng an sich. Wieder durchströmte mich dieses Gefühl, nur noch stärker. Ich musste mich darauf besinnen, zu atmen. Ich vergaß diesen Vorsatz als ich seine Lippen leicht, ganz leicht an meinem Hals spürte. Ich konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob diese Berührung überhaupt extra gewesen war. Doch es war extra gewesen. Er küsste meinen Hals. Zwei, drei, viermal. Ich schloss die Augen und rang zitternd um Atem. Ein leises Lachen ertönte dicht neben meinem Ohr. Ich schlug die Augen wieder auf. Sein Gesicht erschien wieder vor meinem, er fuhr mir durchs Haar. Ich hatte bis dahin gar nicht gemerkt, wie eng umschlungen wir dalagen. Ich wollte ihn auch küssen, wollte wissen, wie es war. Doch ich war zu scheu. Er lächelte, als er mein Zögern sah. Sein Gesicht kam meinem näher, seine Lippen strichen sanft über meine. Ich tat einen weiteren Atemzug in der Erwartung eines Kusses. Gerade, als er ansetzte, erscholl ein Piepen. Das laute, durchdringende Piepen meines Handyweckers. Ich hatte ihn gestellt, damit wir nicht zu spät losfuhren. Immerhin waren es knapp 4 Kilometer, mit dem Auto eine lächerliche Strecke von 10 Minuten. Mit dem Board würden wir aber länger brauchen. Ich wollte es ignorieren, wollte, dass er mich küsste, wollte meinen ersten Kuss haben ... Doch ich wurde enttäuscht. Er ließ von mir ab und machte sich sanft, aber bestimmt los. Während wir unsere T-Shirts anzogen ging mir das gerade passierte durch den Kopf. Es irritierte mich, weil er ein Junge war. Wieder ertappte ich mich dabei, wie mein Blick zu ihm wanderte. Er jedoch hatte seinen stur auf seine Schuhe gerichtet, die er gerade anzog. Tat ihm das, was er gerade eben getan hatte, leid? Wenn ja, warum? Weil ich ein Junge war? Ärgerlich schüttelte ich den Kopf. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Dafür würde mir später noch genug Zeit bleiben. Jetzt mussten wir erstmal zur verlassenen Silbermiene. Wir fuhren schnell und schweigsam durch die Gassen, jeder hing seinen Gedanken nach. Ich spürte den Drang, mit ihm zu reden. Mit ihm über das zu reden, was bei mir zu hause passiert war, doch ich empfing von ihm genug ich-will-nicht-reden Signale, um den Mund zu halten. Schließlich erreichten wir unser Ziel. Die Schreie der Nachtvögel durchschnitten die Stille, gab ihr etwas mysteriöses. Ebendiese Schreie übertönten unsere Schritte, die unweigerlich auf dem unebenen Untergrund leise Geräusche machten. Wir schlichen einzeln über das Gelände, damit nur einer bemerkt wurde, falls einer bemerkt werden würde, bis wir am Eingang eines – unseres – Stollens drei Gestallten ausmachten. Sie standen in vollkommener Dunkelheit, nur das Licht des Mondes beleuchtete sie. Alle drei hatten ihre Kapuzen runtergezogen. Die Frau fiel mit ihren erregt wirkenden rot-orangen Haaren direkt auf. Diese Haare schimmerten im Schwachen Mondlicht und umspielten den Kopf wie Feuer. Die Züge ihres Gesichts waren fein und weich, das Gesicht makelos, soweit ich das erkennen konnte. Bei ihr standen zwei Männer. Der eine hatte harte, strenge, wild wirkende Gesichtszüge. Mit ihm wäre ich nicht gerne alleine in einem Raum gewesen. Ich vermutete, dass es der war, den ich am Vortag belauscht hatte, da die Stimme, die ich gehört hatte, so wunderbar zu seinem Gesicht passte. Der zweite sah ganz anders aus. Sein Gesicht war schön geschnitten, es sah einladend aus. Ihn hätte man sich gut als besten Kumpel vorstellen können oder als jemanden, zu dem man kommen konnte, falls man Sorgen oder Probleme hatte. Sein Name musste Timor sein. Das einzige, was bei allen drei gleich war, waren die Augen. Sie waren rot und glänzten matt im schwachen Licht. Ich hatte mich immer in der Deckung von Bäumen oder Büschen gehalten, was sich halt anbot. Jetzt lag ich flach auf dem Boden hinter einem Schutthaufen, der teils von Pflanzenflechten überzogen war. Ich schloss die Augen, da ich so besser lauschen konnte und nicht so leicht endeckt werden würde. Die Worte, die nun ertönten, wurden schwach zu mir rübergeweht. Ich musste mir sehr anstrengen, um sie zu verstehen. „Also versammeln wir uns dann morgen alle bei ihm?“, fragte eine mir unbekannte Stimme. Sie war weich und lud dazu ein, ihr zu lauschen. Es war Timor, der da sprach. „Ja“, antwortete die Frau. „Wird auch höchste Zeit“, brummte der Mann, den ich gestern verfolgt hatte. „Ich bin randvoll. Wenn ich noch mehr sammle, wird es zu stark. Selbst für mich.“ „Er wird sehr zufrieden sein, denke ich“, stellte Timor fest. „Natürlich! Und wehe wenn nicht.“ „Was willst du dann machen, Nex, außer um dein Dasein flehen?“, höhnte die Frau. „Ich werde mich nicht gegen ihn stellen. Wasimmer du dann vorhast, du wirst es wohl allein machen müssen.“ „Es hat ja keiner von dir verlangt, das du dich gegen ihn stellst, Lupa“, er spuckte den Namen verächtlich aus. „Und es war mir von vorneherein klar, dass du das nicht tun würdest. Und was du nicht tust, tut unser lieber Timor ja auch nicht“, fügte er süffisant hinzu. „Ich würde es auch dann nicht machen, wenn Lupa es machen würde! Das Riskio wäre mir viel zu groß“, fauchte Timor. Dann fuhr er mit ruhigerer Stimme vort: „Aber egal, hören wir auf zu streiten. Wir hatten das Thema jetzt schon so oft und immer war es ein Patt, in dem wir uns wiederfanden.“ In meinem Kopf drehte sich alles. Das gerade gehörte ergab für mich überhaupt keinen Sinn. Was wird zu stark? Warum hatte Lupa das Wort „Dasein“ und nicht das Wort „Leben“ gewählt? Was ging da vor? Am liebsten wäre ich wieder zurückgefahren, doch die Neugier und die Sorge um Tim hielten mich hier. Für einen Moment streiften meine Gedanken ab. Tim ... Ich öffnete die Augen und blickte suchend umher, dann sah ich ihn. Er war – wie ich zu meiner tiefesten Bestürtzung feststellte – auf einen Schutthaufen geklettert, um besser hören zu können. Er war den drei Gestallten viel näher als ich. Wieder ertönten Worte, doch ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Die Sorge um meinen besten Freund – oder war er jetzt mehr? – umtrieb mich zu sehr. Mit größter Kraftanstrengung schloss ich wieder die Augen und lauschte weiter. „ ... bis morgen. Wir treffen uns in Santa Maria“, konnte Timor noch sagen, dann wurde er von einem gewalltigen Poltern und Scheppern unterbrochen, das mich zusammenzucken ließ. Tim!, schoss es mir durch den Kopf. Keine Frage, er war es gewesen, der diesen Radau gemacht hatte. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und zu ihm gelaufen, denn er lag da, halb vom Schutt jenes Haufens bedeckt, auf dem er bis eben noch gekniet hatte. Er musste sich so weit nach vorne gebeugt haben, um alles zu verstehen, dass er eine Schuttlawine ausgelöst hatte. Hatten die drei eben noch erstarrt dagestanden, hatten sie diesen Schock jetzt überwunden und kamen hastig auf Tim zu, der da lag und sich schwach bewegte. Er versuchte wohl aufzustehen. Unruhe machte sich in mir breit. Jede Faser meines Körpers schrie danach, aufzuspringen und ihm zu helfen, doch ich blieb versteckt liegen. Wir hatten es so ausgemacht und er hätte es mir den Rest meines Lebens vorgeworfen, wenn ich jetzt aufgesprungen wäre. Wie auch immer dieser Rest aussehen würde. Sie hatten ihn erreicht und Nex beugte sich zu ihm runter, packte ihn ohne viel Federlesen unter den Achseln und zog ihn einfach unter dem Schutt hervor. Es sah aus, als hätte er übermenschliche Kräfte. Tim stöhnte gequält auf. Ich hörte diesen Stöhnen an, dass er Angst hatte. Nex hielt ihn eisern fest und schien gar nicht zu bemerken, wie mein Freund sich sträubte, während er sich mit seinen Verbündeten leise flüsternd austauschte. Ich konnte nichts verstehen, bis Lupa schließlich fragte: „Wie heißt du?“ Sie fixierte Tim dabei mit ihren roten Augen und ihre Stimme klang beschwörend. „Tim“, antwortete er. Seine Stimme war von meinem Stantpunkt her kaum mehr als ein Hauch. „Bist du alleine hier?“, fragte die Frau. „Ja“, kam die leise, aber entschlossene Antwort. Man hörte gar nicht, wie er log. Wahrscheinlich hatte er die Wahrheit wieder so verdreht, dass es aus dieser Perspektive gesehn tatächlich so war. „Er lügt nicht“, stellte die Frau nüchtern fest. Die beiden Männer nickten ernst. „Nehmen wir ihn mit?“, fragte Timor. Seine sonst so schöne Stimme klang mit einem Mal begierig. Die anderen beiden zuckten mit den Achseln. „Wenn du willst“, meinte Lupa. „Ich wäre dafür, ihn hier liegen zu lassen!“, knurrte Nex. „Ganz klar“, höhnte die Frau. „Nachdem er alles mitgehört hat, sollen wir ihn hier liegen lassen?!“ „Da muss ich Lupa zustimmen“, ließ sich Timor vernehmen. „Es wäre viel zu gefährlich.“ „Nach deiner parteiischen Meinung hat keiner gefragt“, erwiderte Nex drohend. Timor zuckte die Achseln. „Auch wenn Lupa anderer Meinung gewesen wäre, hätte ich ihn mitgenommen.“ Nex brummte unzufrieden und meinte dann resigniert: „Von mir aus. Nehmen wir ihn halt mit.“ Er schaute sich kurz um. Ich hielt den Atmen an, als sein Blick mein Versteck streifte. Zum Glück schien er mich nicht zu bemerken. Verzweiflung machte sich in mir breit, als sie sich abwandten und davongingen. Nex hatte Tim geschultert, sodass dieser wie ein Sack über seinen Schultern hing. Immerhin ist Tim nicht tot, versuchte ich mich zu beruhigen. Er bedeutete mir einfach alles. Wenn er es jetzt doch nicht überlebte ... Ich rette ihn, dachte ich entschlossen. Ja, ich würde ihn retten. Komme, was wolle. Ich wusste später nicht mehr, wie lang ich dagelegen und nachgedacht hatte. Irgendwann war ich dann aufgestanden und nach hause gegangen. Einzig der Gedanke daran, ihn zu retten, hielt mich davon ab in Tränen auszubrechen. Nun war ich allein. Ganz allein. Kapitel 6: Tag 5 ---------------- Ich wachte irgendwann Nachmittags auf und dachte erst, alles wäre nur ein furchtbarer Traum gewesen. Dann registrierte ich meine Klamotten, die ich zum schlafen nicht ausgezogen hatte und die Erinnerungen stürmten auf mich ein. Tim ... Mir war längst klar, dass ich es mit etwas aussermenschlichen zu tun hatte. Aber mit was? Ich stellte mir die Frage immer und immer wieder, während ich in meinem Zimmer auf- und abtiegerte, unfähig etwas zu essen oder mich zu setzen. Ich ging meinen Wissenstand nochmal durch: 1. Waren da die roten Augen. 2. Hatten sie alle, soweit ich das hatte erkennen können, eine sehr blasse Haut. 3. Waren sie Lichtempfindlich. Warum sonst sollten sie mit schweren Umhängen bekleidet rumlaufen und Schatten in ihre merkwürdigen Zigaretten einziehen? Bei Punkt drei wurde mir mit einem Mal klar, was Nex mit „ich bin randvoll“ gemeint hatte. Und „sonst wird es zu stark“. Hatte er damit die Schatten gemeint? Konnten Schatten stark werden? Was wollten diese Gestallen überhaupt damit? Ich verscheuchte diese Gedanken wütend und wante mich wieder meiner Ausgangsfrage zu. Was war Lichtscheu? – Fast alle Fantasygestallten, von denen man heute so hörte. Bei den roten Augen war es genauso. Letztlich die Blasse Haut und die Menschliche Erscheinung gaben mir die Eingebung, auf die ich so verzweifelt gewartete hatte. Es waren Vampire. Ich hatte dann und wann immer mal wieder etwas von Vampiren gehört, besonders wenn Tim mir von dem neusten Horrorfilm erzählt hatte, den er sich reingezogen hatte. Ich war nie der Typ für Horrorfilme gewesen. Alles in allem schienen es sehr unangenehme Gesellen zu sein. Und wie konnte man gegen sie kämpfen? Wie konnte man sie besiegen? Was konnte ich gegen sie ausrichten? Der Computer war hochgefahren und ich hatte fesgestellt, dass das Internet randvoll war mit Geschichten und Klitschees über Vampire. Ich erfuhr, dass sie sich von Blut ernährten. Menschenblut. Schaudernd dachte ich an Tim und fragte mich, wie es ihm wohl ging. Die Erinnerungen und die Gedanken drohten mich zu überfluten, mich von meiner Aufgabe abzulenken. Ich konzentrierte mich wieder auf die eben geöffnete Website und las: Der Vampir Vampire sind im Volksglauben und in der Mythologie blutsaugende Nachtgestallten, meist wiederbelebte Leichname, was ihre Menschliche Erscheinungsform erklärt. Je nach Kultur und Mythos werden ihnen verschiedene übernatürliche Eigenschaften zugesprochen. Manchmal heißt es auch, dass sie sich eine tierische Erscheinungsform aneignen können, wie zB die eines Hundes, einer Fledermaus oder einer Spinne. Ich hatte gespannt gelesen und immer mehr an meinem Verstand gezweifelt. Es konnte doch unmöglich Vampire geben! Resigniert registierte ich jedoch, dass ich jedem noch so kleinem Hinweis nachgehen würde, um Tim wiederzubekommen. Es folgte ein Bericht darüber, woher der Vampirismus kam, den ich ignorierte. Der nächste – wenn auch kurze - Absatz ließ mich wieder gespannt weiterlesen: „Belegte“ Vampire Der erste bekannte Vampir stammte aus Kroatien, aus dem kleinen Dorf Kringa (Istrien) und soll dort im Jahre 1652 gestorben sein. Er war ein Bauer und trug den Namen Jure Grando. Im Jahre 1672 soll er aus seinem Grab gestiegen sein und des Öfteren das Dorf terrorisiert haben. In dem Buch von Johann Weichard Valvasor wird dieser Vampir das erste Mal in der europäischen Literatur erwähnt. Johann Joseph von Görres übernahm diese Geschichte in seinem mehrbändigen Werk „Die christliche Mystik“, das 1836-42 in Regensburg gedruckt wurde. Ich erfuhr, dass auch schon in Deutschland – meinem Heimatland – im Jahre 1718 bis 1732 Vampirfälle gemeldet worden waren. Ein Teil des Abschnittes sah folgendermaßen aus: In dem Dorf Kisolova trat ohne ersichtlichen Grund ein vermehrtes Sterben der Bewohner auf, so verstarben innerhalb von acht Tagen neun Personen verschiedenen Alters nach eintägiger, angeblich bereits ausgestandener Krankheit. Dafür wurde Peter Plogojowitz (auch: Plagojevic oder Blagojevic) verantwortlich gemacht, der zehn Wochen zuvor gestorben war. Auf dem Totenbett sagten alle Erkrankten aus, sie seien im Schlaf von Plogojowitz gewürgt worden, was später als die Handlung eines Vampirs gedeutet wurde. Das Grab von Plogojowitz wurde geöffnet und man fand die Leiche angeblich im Zustand eines Vampirs: sie war noch recht unverwest, hatte eine frische Farbe und strömte kaum Verwesungsgeruch aus. Außerdem waren Haut, Haare und Nägel nachgewachsen, nachdem sich die ursprüngliche Haut und die Nägel abgeschält hatten. Ebenso fand man an den Körperöffnungen frisches Blut, das man für das Blut der Opfer hielt. Die Dorfbevölkerung beschloss deshalb, den Leichnam zu pfählen und anschließend zu verbrennen. Die Meldung erregte sehr viel Aufsehen, der Vampirglaube in Osteuropa geriet im deutschsprachigen Raum aber schnell wieder in Vergessenheit. Meistens wurden in die betroffenen Dörfer Mediziner oder Geistliche gesandt, um die Vampirfälle aufzuklären. Diese exhumierten die vermeintlichen Vampire und schrieben – oftmals ausführliche – Berichte über die Plage. Außerdem sorgten sie dafür, dass alle suspekt erscheinenden Leichen enthauptet und verbrannt wurden. Wieder erschauerte ich und zwang mich beinahe den Bericht darüber, wie Mediziner und Theologen den Berichten über Vampire normale – und unbekannte – Seuchen zuzuschreiben versuchten, zu lesen. Der Absatz über die Eigenschaften der Vampire ließ mich gespannt weiterlesen. Zugeschriebene Eigenschaften 1. Unsterblichkeit & Blutdurst (durch letzteres sollen sie ein abnormes Gebiss mit stark ausgeprägten Eckzähnen besitzen) 2. bleiches Äußeres 3. das Vermögen, an Wänden Hochzugehen 4. die Verwandlung von Opfern in Vampire 5. Nachtaktivität (durch die Berührung mit Sonnenlicht sollen sie zu Staub zerfallen) 6. kein Spiegelbild 7. das schnelle Erholen von Verletzungen Ich erschrag, als ich erkannte, dass sich mein Wissenstand teils mit dem gerade gelesenen deckte. Sollte ich es wirklich mit Vampiren zu tun haben? Mit etwas, an das ich nie geglaubt hatte? Wie konnte ich sie bekämpfen, falls dies der Fall sei? Der nächste Absatz klärte diese Frage. Abwehr Man soll Vampire durch ... 1. Knoblauch 2. einen Krutzfix (ein Kreuz mit dem Corpus des heiligen Christi daran) 3. gewheites Wasser Einhalt gebieten können. Töten soll man sie folgendermaßen können: 1. durch das stechen eines Holzpflocks mitten durchs Herz. 2. durch das Köpfen des Vampirs. 3. durch das Berühren des Vampirs mit einem Krutzfix (er zerfällt zu Staub, ähnlich wie bei dem Sonnenlicht) Zum wiederholten Male erschauerte ich. Ich was war ich da hineingeraten? Ich konnte es zwar immer noch nicht glauben, entschloss mich aber, auf alles vorbereitet zu sein. Also würde ich einen Kruzfix tragen, was mir am ehesten von den aufgeführten Metoden entgegenkam. Ich musste gar nicht lange überlegen um zu wissen, ob und wo ich einen Kruzfix hatte. Tim hatte mir einen geschenkt, als ich konformiert worden war. Das einzige, was wir nicht zusammen gemacht hatten. Er hatte dabei breit gerinst, was nicht weiter verwunderlich war, da der Kruzfix pechschwarz war. Nur die Rückseite war blutrot. Ein Stich durchzuckte mich, als ich sein Grinsen vor meinem geistigen Auge sah. Ich vermisste ihn sehr. Nie waren wir lange voneinander getrennt gewesen und nie waren wir so auseinander gegangen. Ich zog den Kruzfix aus dem Etui in einer meiner Schreibtischschubladen und hängte ihn mir um. Die Kette, an die er befestigt war, war ebenfalls schwarz und aus sehr kleinen, feinen Ösen gemacht. Flüchtig berührte mich die Frage danach, wo mein Freund dieses Einzellstück herbekommen hatte. Vielleicht hatte er es ja auch selbst angemalt. Das schien mir am naheliegensten. Ich sahs lange da uns starrte vor mich hin, während meine Gedanken kreisten. Vampire – Tim – Kuss – Tim – Vampire Schließlich schaffte ich es, mich aufzuraffen. Jeder Moment zählte. Ich musste Tim finden, ihn befreien. Wo war Tim? Angestrengt dachte ich nach. Die Vampire hatten erwähnt, sich irgendwo treffen zu wollen. Nur wo? Es wollte und wollte mir nicht einfallen. Das Einzige, was mir einfiel, war die Tatsache, dass sie sich heute treffen würden. Heute! Verdammt! Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Mit wachsender Panik dachte ich weiter nach. Es war bereits 18 Uhr, als es mir wieder einfiel. Santa Maria. Santa Maria – oder besser Santa Maria de Palautordera – lag etwa 55 km von Barcelona entfernt. Ich beschäftigte mich gar nicht erst mit der Frage, wie sie Tim dahinschaffen wollten, ohne entdeckt zu werden. Mitlerweile traute ich ihnen (fast) alles zu. Jetzt lag es erstmal daran, einen Zugverbindung nach Santa Maria zu bekommen. Der Computer war noch hochgefahren, so musste ich nur gucken, wann der Zug abfuhr. Der nächste fuhr um 18:17 Uhr. Ich würde kein Mal umsteigen müssen. Alles in allem würde es 52 Minuten dauern, bis ich da war. Hoffentlich war das nicht zu spät. Ich sah auf die Uhr. Ein Schock durchfuhr mich, belebte meine Lebensgeister. Es war schon 18:07 Uhr! Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich den Zug nichtmehr kriegen! Wie der Wind fuhr ich in meine Schuhe, die neben meinem Bett standen und rannte runter in den Flur, wo die beiden Skateboards standen, die ich gestern achtlos da hingeworfen hatte. Ich nahm mir wahlos und ich großer Hast eins und stellte erst draußen fest, dass es Tims war. Ich hatte es am Vortag mitgenommen, da ich wusste, wie viel es ihm bedeutete. Es war, als würde das rote „S“, das Zeichen der Band Slipknot, kurz aufleuchten, als ich das Board auf den Boden fallen ließ und draufsprang. Schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, fuhr ich los. Es war Feierabendverkehr und ich schlängte mich durch die mir entegegenkommenden Passanten, da ich wegen der vielen Autos lieber auf dem Bürgersteig fuhr. Die Zeit rann mir zwischen den Fingern hindurch. Minuten verflogen, während ich versuchte so schnell wie möglich zum Bahnhof zu kommen. Immer mehr Menschen strömten mir entgegen, eine vielzahl von Leibern drückte mich weg, trieb mich vom Kurs ab. Einmal musste ich sogar absteigen und zu fuß weitergehen, da es mit dem Board kein Durchkommen gab. Wut stieg in mir auf. Eine unbeschreibliche Wut gegen jene, die ihrem alltäglichen Geschäften nachgingen, während ich versuchte ein Menschenleben zu retten, das mehr wert war als alle ihre Leben zusammen. Ich erschrack vor mir selber, als ich diese Wut in mir spürrte. So kannte ich mich gar nicht. Eigentlich war ich sehr ausgeglichen. Ich versuchte mir vorzustellen, was Tim in meinem Situation getan hätte und ein Lächeln huschte mir trotz der angesptannten Lage, in der ich mich befand, übers Gesicht als ich mir vorstellte, wie er sich laut rufend und wild mit dem Board um sich schlagend den Weg durch die Menge bahnte. Ihm hätte es nichts ausgemacht, ein paar verärgerte Blicke zu ertragen, wenn es darum ging mich zu retten. Doch ich war nicht so wie er. Also schlängelte ich mich weiter, immer weiter. Plötzlich wurde die Straße breiter, das Durchkommen einfacher. Der Bahnhof war keine Zehn Meter mehr entvernt. Ich sah ihn schon. Und ich sah den Zug, der gerade auf Gleis 3 fuhr. Ein Fluch entrang sich meinen Lippen. Mit einem Schrei fuhr ich so schnell ich konnte. Passanten sprangen mir aus dem Weg, Mütter zogen ihre kleinen Kinder an sich. Für all das hatte ich keinen Blick übrig. All mein Denken war auf den Zug gerichtet, der langsam, sehr langsam zum stehen kam. Ich machte einen Ollie über die Stufe, die vor der Bahnhofstür war, die ein älterer Herr mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen aufhielt. Ich fuhr quer durchs Bahnhofsgebäude, bis ich die Treppe erreicht hatte, die nach unten auf einen Gang führte, von dem aus wiederrum Treppen zu den einzellnen Gleisten hochführten. Die Treppe war durch ein Eisengeländer in zwei Hälften geteilt. Wunderbar. Ich sprang auf dieses Geländer und grindete daran herunter. Unten sausten die Treppen zu Gleis eins und zwei an mir vorbei, dann hielt ich mit einem Ruck an, nahm das Skateboard hoch zu rannte die Treppe zu Gleis drei hinauf. Ich hatte Glück. Ein Mann, aufgrund seines Anzugs arbeitete er wahrscheinlich in irgendeinem Büro, stieg gerade ein. „J alto!“, rief ich. Es war Spanisch und hieß auf Deutsch so viel wie „halt!“. Der Mann sah mich an. Eine leichte Verärgerung zeichnete sich auf seinen Zügen ab, ob meiner unhöflichen Aufforderung. Ich dachte schon, er würde es ignorieren und die Türen sich schließen lassen, doch er tat das genauge Gegenteil: er hielt die Türen für mich auf. Ich sprang mit einem dankbaren Nicken in seine Richtung in den Zug. Die Türen schlossen sich hinter mir. Ein Ruck ließ mich kurz schwanken, als sich mein Gefährt in Bewegung setzte. Ich ging mit dem Board unter dem Arm geklemmt, das rote graffiti S nach außen gedreht, den Gang entlang, auf der Suche nach einem freien Sitzplatz. Leider war keiner mehr frei. Ich hatte mich schon darauf eingestellt, stehen zu müssen, als ich sah, dass neben einem Mädchen noch ein Platz frei war. „Ist der Platz neben dir noch frei?“, fragte ich auf spanisch. Sie lächelte und nickte. Auch ich lächelte dankbar und setzte mich neben sie. Sie musterte mich neugierig, was mir die Gelegenheit gab, es bei ihr auch zu tun. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr mich, als ich erkannte, wie sie rumlief. Ihr Styl erinnerte mich dan den Tims. Sehr düster. Naja, fast. Sie hatte ein schwarzer T-Shirt an, auf dem ein Sensemann prangte und mir mit dem Tod drohte. Ihre Arme steckten in schwarzen Netzstulpen, die teils zerissen und mit Sicherheitsnadeln notdürftig geflickt waren. Über ihre Beine hatte sie eine Netzstrumpfhose gezogen, die den Stulpen ziemlich ähnlich sah. Darüber trug sie einen Minirock, auf den ein rotes schottenähnliches Muster zu erkennen war. Jetzt erst betrachtete ich ihren Kopf näher. Die Haare waren etwas mehr als schulterlang und schwarz gefärbt. Alles in allem hätte sie Tim wohl ganz gut gefallen. Ein unsinniger Gedanke drängte sich mir auf: Hätte sie ihm besser gefallen als ich? Ich sinnierte den Bruchteil einer Sekunde darüber nach, dann verwarf ich ihn. Es war doch ziemlich schwachsinnig, darüber nachzudenken. Etwas anderes kam mir in den Sinn: Als wir auf der Couch gelegen hatten ... Als er mich geküsst hatte ... „Hey, hörst du mir überhaupt zu??“, erscholl es spanisch knapp neben meinem Ohr. Eine Hand mit schwarz lackierten Fingernägeln wedelte mir vor dem Gesicht herum. „J Perdon!“, meinte ich und entschuldigte mich so in ihrer Sprache. Sie lächelte. „Dein Spanisch hat einen eigenartigen Akzent. Auch siehst du nicht aus wie ein Spanier“, bei diesen Worten warf sie einen bedeutungsvollen Blick auf meine blonden Haare, „Woher kommst du?“ Ich grinste. Sie hatte mich ertappt. Sie war gut. Eigentlich fiel das fast niemanden auf. „Ich komme aus Deutschland. Und du?“ Ungläubige, aber auch erfreute Überraschung spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder. „Ich auch!“, antwortete sie auf deutsch. Jetzt war ich baff. Ich hatte noch nie einen Deutschen in Spanien getroffen, außer die Touristen. Klar, vielleicht war sie ja einer. „Wie heißt du? Warum bist du hier? Wohin fährst du?“, sprudelte es aus ihr heraus. „Ich heiße Philipp. Ich bin hier, weil ich vor ein paar Jahren mit meiner Mum hierhin gezogen bin“, ich vermutete an dieser Stelle, dass sie mit „hier“ Spanien meinte, „und ich fahre ...“, ja, was sollte ich ihr jetzt sagen? Die Lüge „Zu einem Freund“ lag mir auf der Zunge, aber irgendwie konnte ich bei ihr nicht lügen. Sie hatte etwas an sich, was mich davon abhielt. Fast gegen meinen Willen antwortete ich deswegen wahrheitsgemäß: „Ich fahre, um einen – meinen – Freund zu retten. Meine besten Freund.“ Meinen einzigen Freund, dachte ich bei mir. Alle anderen, die ich so kannte, konnte man nicht als wirkliche Freunde bezeichnen. Es waren eher flüchtige Bekannte. Sie machte große Augen. „Ihn retten? Wie meinst du das?“ „Najaa“, meinte ich. Wie sollte ich ihr das erklären? Und wieder konnte ich nicht lügen. Ich sah in ihre Augen, die von einem intensieven Grün waren, und da entschlüpfte mir die Wahrheit, und während ich ihr alles erzählte, legte sich ein Schatten über mein Gesicht und das Atmen wurde mir schwer und meine Stimme immer tonloser. Ich schaffte es mit großer Not, nichts von meinem Gefühlen zu Tim zu erzählen und auch das mit der Couch auszulassen. Als ich geendet hatte, sah ich in ihr Gesicht, in dem sich wieder meinen Erwartungen keine Belustigung, sondern im Gegenteil, Ernsthaftigkeit und Mitgefühl lag. Ich wurde ganz starr, als sie mir einen Arm um die Schultern legte. „Sie haben es wieder getan“, sagte sie tief in Gedanken versunken mehr zu sich selbst als zu mir. Ich sah sie verwirrt an. „Was getan? Wer sind sie?“ Wusste dieses Mädchen etwa etwas davon? Hatte sie eine Ahnung davon, was hier abging? Sie sah mich an, und das Mitgefühl in ihrem Blick machte mich halb wahsinnig. „Sag! Was weißt du?“, langsam machte sich die Altvertraute Panik in mir breit. „Du bist da in eine ganz schlimme Sache reingeraten“, stellte sie kurz angebunden fest. „Das ist mir klar! Was weißt du noch? Da ist doch noch etwas, oder? Wenn ja, dann sag es mir! Ich muss Tim helfen. Tim er ist ... Er bedeutet mir einfach alles! Ich muss zu ihm!“ „Ganz ruhig“, beschwor sie mich, „ich weiß ein wenig über sie. Wie du mir erzählt hast, vermutest du, dass es Vampire gibt. Das stimmt.“ Jetzt war ich völlig verdutzt. Ich hatte es zwar vermutet, aber doch nur, weil ich keinen anderen Anhaltspunkt gehabt hatte. Hätte sich eine ander Möglichkeit aufgetan, hätte ich mich darauf gestürtzt, um an der Realität festhalten zu können. „Also wie gesagt, es gibt sie“, fuhr sie vort, „und man kann sie bekämpfen mit den Mitteln, die du im Internet gelesen hast. Nur das mit den Übernatürlichen Fähigkeiten, da sollte man vielleicht bemerken, dass jeder Vampir seinen eigene Fähigkeit hat. Lupa zum Beispielt zwingt die normal Sterblichen mit ihrem Blick dazu, die Wahrheit zu sagen. Und der Anführer der Bande, dessen Namen niemand weiß, der kann andere seinem Willen unterwerfen. Beide können ihre Fähigkeiten nur anwenden, wenn sie den Namen der betroffenen Person kennen. Anders ist es bei Timor. Auch wenn er deinen Namen nicht kennt, wirst du unglaublich lust- und mutlos, sobald er in deiner Nähe ist. Indem du an seinen Namen denkst, kannst du die Fähigkeit nur ein wenig abblocken, damit sie dich nicht voll erwischt. Bei Nex ist es ganz anders. Er hat einfach nur eine unglaubliche Stärke. Kennst du Hercules? Mit ihm könntest du Nex vergleichen. Achja, die Namen Nex, Lupa und Timor sind eingentlich Lateinisch und heißen auf deutsch so viel wie Mord, Wölfin und Furcht. Keine sehr erbaulichen Namen.“ Bei dem letzten Satz huschte ein Lächlen über ihre Züge, das jedoch direkt wieder verblasste. Ich hatte zugehört und immer mehr die Stirn gerunzelt. Wie konnte sie so viel über Nex, Timor und Lupa wissen? Verarschte sie mich etwa? Die ist ja noch verrückter als ich ..., dachte ich bei mir. Als hätte sie meine Gedanken gehört meinte sie: „Ich weiß, du hälst mich jetzt bestimmt für durchgeknallt und so, aber ich bin ganz normal! Und ich verarsche dich auch nicht, ich glaube dir wirklich. Ich kenne diese drei Gestallten. Ich habe sie einmal getroffen und seitdem versuche ich sie zu umgehen.“ Mildes Interesse stieg in mir auf, aber ich glaubte nicht, dass sie darüber reden wollte. „Wie heißt du?“, fragte ich die erste Frage, die mir in den Sinn kam. Sie lächelte kühn. „Why.“ „Why?“, fragte ich belustigt. Ihr lächeln vertiefte sich. „Ja, Why. Weil ich immer nach dem ,Warum´ frage. Eine zeitlang hab ich das mal auf englisch gemacht und meine Freunde haben mir den Spitznamen Why gegeben. Meinen richtigen Namen wirst du noch früh genug erfahren. Vielleicht kannst du dir denken, dass ich ihn nicht an jeden x-Beliebigen weitergebe. Viel zu gefährlich.“ Ich nickte wie betäubt vor mich hin. Sie verdraute mir nicht, kam es mir verdrossen in den Sinn. Und um mal ganz erlich zu sein: Ich hätte es an ihrer Stelle auch nicht getan. Als wir so eine Weile weitergefahren waren, sagte sie unvermittelt: „Ich helfe dir! Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber das nehme ich in kauf!“ Ich sah sie mit großen Augen an und eine Welle von Zuneigung schlug über mir zusammen. Sie half mir, obwohl mein Unternehmen so gefährlich war! Sie könnte leicht dabei umkommen! Aus meiner Überrumpelung heraus konnte ich nur ein Wort hervorbringen: „Danke!“ Sie grinste breit. „Hey, ist doch ein richtiges Abenteuer!“ Jetzt war es an mir zu grinsen. Sie redete wie Tim. Tim ... Wieder durchfuhr mich der altvertraute Stich. Es kam mir vor, als wäre ich schon Wochen von ihm getrennt, obwohl es erst ein Tag war. Sie schien es zu spüren, denn sie lächelte aufmunternt und verstärckte ihren Griff mit dem Arm, den sie immer noch um meine Schulter gelegt hatte. Ich mochte sie sehr, auch wenn ich sie noch nicht lange kannte. Unser Gespräch und das darauf folgende Schweigen hatte bemerkenswert lange gedauert, denn es dauerte nicht mehr lange, da ging ein Ruck durch den Zug und wir waren da. Dieser Ruck riss mich aus meinem Dämmerzustand und ich sprang auf, wodurch ihr Arm von meinen Schultern rutschte. Ich hatte das Board schon unter den Arm geklemmt und steuerte auf den Ausgang zu. Sie war dicht hinter mir. Draußen warf ich mein Skateboard auf den Boden und wollte losfahren, da fasste sie mich am Handgelenk und fragte: „Wie soll ich da mithalten können?“, während sie einen bedeutungsschwangeren Blick auf mein Gefährt warf. Ich zuckte die Achseln, stieg wieder ab und hob es auf. „Keine Ahnung ... hast du keins?“ Sie strich demonstratiev über ihre Klamotten, die alle keine Taschen besahsen, und meinte ironisch: „Nicht hier.“ „Bei dir zu Hause?“ „Jep!“ „Wo bist du zu Hause??“ „In Santa Maria, also hier.“ „Worauf warten wir dann noch?“, fragte ich ungeduldig. Sie zuckte die Achseln und rannte bemerkenswert schnell los. Ich lief ihr hinterher. Ihre Mutter hatte uns geöffnet, der Vater war auf der Arbeit. Nach einem kurzen Gespräch mit der Frau, in dem ich erfuhr, dass sie Magret Schmitt ar das Skateboard aus der Garage geholt, Verabschiedungen ausgetauscht worden und wir auf dem Weg durch die Stadt. Santa Maria war eine große Stadt. „Wo, verdammt nochmal, sollen wir die finden?“, fluchte ich, als wir die Straßen symetrisch durchkämten. Es konnte sein, dass wir an der völlig falschen Stelle suchten und sie schon lange weg waren. Es konnte sein, dass Tim ... Nein, er war nicht tod! Das war unmöglich! Irgendwie hätte ich das doch gespürrt ... hoffte ich zumindest. Ich wurde von ihrer – wie mir erst jetzt richtig auffiel – ziemlich melodisch klingenden Stimme aus meinen schlimmen Gedanken gerissen. „Wir werden sie finden. Wir müssen nur richtig suchen.“ Es folgte eine kurze Pause, in der nur das Rollen unsere Gummieräder zu hören war. „Wir müssen nur richtig suchen ...“, wiederholte sie nochmal, diesmal im flüsterton. „Nur wo ist richtig? Hm ...“ Ich lauschte ihrem Selbstgespräch interessiert, in der Hoffnung auf einen Geistesblitz ihrerseits. „Das ist es!“, sagte sie etwas zu laut mit vor Begeisterung leuchtenden Augen. „Was ist es?“, fragte ich nervös, als sie nicht weitersprach. „Wir müssen einfach weitersuchen!“, meinte sie plump und kurz angebunden. „Haha, sehr witzig“, nuschelte ich. „Warn Witz!“, grinste sie. „Meine eigentliche Idee war, uns zu überlegen, wo der wenigste Betrieb ist, da sie sich ja nicht mitten in einer Menschenmenge treffen werden. Auch müssen wir überlegen, zu welchem Zeitpunkt das geschieht.“ Ich zuckte die Achseln. „Mit dem Ort müsstest du dich am besten auskennen, ich war hier noch nie. Der Zeitpunkt ist warscheinlich wieder Mitternacht.“ Sie nickte und meinte dann, nachdem sie kurz überlegt hatte: „Komm mit!“ Sie sauste davon und ich musste mich beeilen, ihr folgen zu können. Zeit, um Fragen zu stellen, hatte ich nicht. Brauchte ich auch nicht. Ich hörte den Lärm der Autos, die auf einer Straße dahinfuhren, welche sich durch eine Talebene schlängelte, die von zwei Bergketten eingefasst war. Unweit ebenjener Straße sahs ich mit Why in einem Wald auf einer Lichtung. Es erinnerte mich sehr an den Tag, an dem ich selbst in einem Wald unweit der Autobahn gewesen war. Es schien Wochen herzusein. Ich verlor mich in den Gedanken und Erinnerungen, während wir dasahsen und darauf warteten, dass es Mitternacht wurde. Why hatte, als wir hier angekommen waren, in der Mitte der Lichtung gestanden und die Luft durch die Nase eingesogen, als würde sie nach etwas wittern. Schließlich hatte sie zufrieden gelächelt und gemeint, dass wir hier richtig wären. Mir war es sehr komisch vorgekommen. Es hatte ausgesehen, als hätte sie nach dem Gerucht der Vampire gesucht. Als könnte sie sie riechen. Merkwürdig. Doch ich hatte mich nicht weiter mit dem Gedanken befasst, sondern einfach auf meine neue Freundin vertraut. Eine Frage, die ich bis jetzt alle zehn Minuten gestellt hatte, kam mir einigermaßen routiniert über die Lippen. „Meinst du, dass wir hier wirklich richtig sind?“ Amüsiert antwortete sie: „Klar. Warte noch eine Weile.“ So hatte sie mir bis jetzt immer geantwortet. Es war wie einstudiert – immer die gleiche Frage, immer die gleiche Antwort. Man hätte „Klappe die x – te“ sagen können ... Und nach dieser Frage schaute ich auf die Uhr – wie die unzähligen anderen Male davor auch. 20:30 Uhr ... Verdammt! Warum geht die Zeit nur so lahm vorbei? Ich hob den Kopf und sah Why an. Sie erwiederte meine Blick mit ihren Rehbraunen Augen. So braun wie Tims ..., ging es mir durch den Kopf. Eine Sehnsucht, eine brennende Sehnsucht, die ich bis jetzt noch nie gespürrt hatte, wallte in mir auf. Ich untersuchte dieses Gefühl genauer und erkannte, dass es ein Verlangen nach körperlicher Nähe war. Ich wollte Irgendjemanden – am liebsten sie – einfach umarmen, liebe spüren ... Ich erschreckte selber von dieser Erkenntnis. Wie sehr hatte ich mich in den wenigen Tagen doch verändert! Ich senkte den Blick rasch und mussterte mehr oder weniger interessiert den Boden. Mein Blick streifte am Waldrand entlang. Eine Blume fiel mir auf. Eine jener Blumen, die für die Vampire stand. Der Schock, der mich durchfuhr, war nicht sehr groß. Ich hatte ja damit gerechnet, Why hatte ja gesagt, dass die Vampire hier gewesen waren, dann war die Blume ja klar. Nur komisch, dass sie mir nicht schon früher aufgefallen war. Ich verwarf diese Gedankengänge und streckte mich auf dem spärrlichem Gras aus, um etwas zu dösen, was mir gelang. „Hey, aufwachen, du Schlafmütze!“, weckte mich die Stimme Whys aus meinem Schlaf. Ich war doch tatsächlich eingeschlafen! Das hätte ich nicht erwartet ... „Ja, bin ja schon wach“, murmelte ich und öffnete blinzelnt die Augen. Über mir schwebte das Gesicht Whys. Es verschwand und ich setzte mich rasch auf. Es war kühl geworden, doch nicht so kalt, als das ich Gänsehaut bekommen hätte. Mit dem T-Shirt hier draußen zu sitzen war angenehm. Die Geräusche der Nachttiere erfüllten die Luft, es war eine Mischung aus Schuhuhen, Zirpen und Grasgeraschell. Und noch während ich diesen Nachgeräuschen lauschte, war es so, als würde ich eine nahende Bedrohung fühlen. Ein Gefühl, das in mir verwurzelt war, eisig nach meinem Herzen griff, mich zu lähmen schien. Es war, als wäre die Normalität, die ich bins dahin wahrge- nommen hatte, nur Fassade, hinter der etwas Unheimliches, Verbotenes lauerte. Als wollte ebendiese Normalität von etwas ablenken, das zu gefährlich für jemanden wie mich war, von dem ich mich besser verngehalten hätte. Es war ein eigentümliches Gefühl, doch es war vertraut. Ich hatte es seit dem Beginn unseres Abenteuers gespürrt. Während ich darauf lauschte, wusste ich, wer, oder besser, was da kam. „Vampire“, hauchte ich. Meine Freundin nickte nur und schaute weiter in den Wald. Woher wusste sie, wo die Vampire waren? Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen und zu laut, um etwas zu hören. Ich sah, wie sich ihre Nasenflügel wie heute Mittag blähten, als würde sie etwas wittern. Sie verschwieg mir etwas und am liebsten hätte ich sie danach gefragt, doch der Moment war falsch gewählt. Die Vampire kamen. Die Vampire ... Erst Zorn, dann Wut und zuletzt allumfassender, zerfressender Hass stiegen in mir auf. Solche Regungen kannte ich gar nicht von mir. Der Hass beschwor Bilder in mir herauf, die mich erschreckten. Bilder, in denen ich die Vampire vernichtete, ihnen den Kruzfix unter die Nase hielt und genüsslich dabei zusah, wie sie zu Staub zerfielen. Diese zerstörrerische Seite an mir kannte ich gar nicht und wollte ich auch nicht kennen-lernen. Also schob ich die Bilder beiseite und konzentrierte mich auf die Gestallt neben mir, die Gestallt Whys, die sehr angespannt dazustehen schien. In dem schwachen Mondlich konnte ich erkennen, dass ihre Hände zu Fäusten geballt waren und die Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihr Körper zuckte. Dann und wann schnellte ihre Faust auf, um sich gleich darauf wieder zu schließen. Irrte ich mich oder waren die Häärchen an ihren bloßen Armen länger geworden, ebenso wie die schwarzlackierten Fingernägel? Konnte das sein? Oder spielte mir das schwache Licht, kombiniert mit meiner Fantasie, einen Streich? Ich schreckte auf, als sich ihren krampfhaft zusammengepressten Lippen ein knurränlicher Laut entrang. Ich schaute sie halb fasziniert, halb argwönsich an, als sich plötzlich eine Wolkendecke vor den Mond und die Sterne schob. Schneller als ich es für möglich gehalten hätte, war sie neben mir und packte ich mit einem starken, festen Griff, den ich nicht von ihr erwartet hätte, an der Schulter und zog mich in den Schutz der Bäume. Dort zog sie die Hand wieder weg. Ich hörte, wie mein T-Shirt mit einem leisten „Ratsch“ an der Schulter einriss, als Whys Finger sie streiften. Ein leises, aber behagliches Ziehen und Pochen an der Stelle symbolisierte mir vier feine, nicht sehr tiefe Einschnitte. Meine Kopfhaut prickelte und ich keuchte unwillkürlich überrascht auf, während sie leise vor sich hinfluchte. Ich öffnete den Mund, um sie zu fragen, was hier vor sich ging und sie so in ihrer Fluch- tirade zu unterbrechen, doch sie zischte kurz, um mich zum scheigen zu bringen. Wie hatte sie sehen können, dass ich den Mund geöffnet hatte? Ich konzentrierte mich auf den – ihren – schwarzen Schehmen, um zu gucken, ob ich etwas erkennen konnte, doch ich wurde enttäuscht. Ich konnte nur ihre groben Umrisse erahnen. Etwas daran ließ mich stutzen. Ich schaute noch genauer hin und meinte zu sehen, dass sich ihr Gesicht leicht nach vorne verzerrt hatte. Ein Windstoß ging durch den Wald und es war mir, als wäre sie behaarter als zuvor und als hätten sich iebendiese Haare gerade im Wind gewiegt. Ich ließ meinen Blick an ihr herunterwandern. Mit etwas Fantasie konnte das, was da scheinbar unter ihrem Minnirock hervorlugte, ein Tierschwanz sein.Wohl der eines Hundes. Auch zuckte ihre Gestallt nicht mehr so stark. Ich schreckte zurück. Augen und Mund weit aufgerissen. In meinen Beinen juckte es, sofort abzuhauen, um von ihr, die sie mir immer unheimlicher wurde, wegzukommen. Zwar konnte ich mich täuschen, aber meine überspitze Fantasie hinderte mich daran, diesen beruhigenden Gedanken zu glauben. Dies alles ging mir innerhalb von Sekunden durch den Kopf. Ebenso wie die Festellung, dass ich nicht abehauen würde, weil Why, wer oder was immer sie auch war, die einzige Chance für mich war, Tim zu retten, da sie so viel über die Vampire zu wissen schien. Die Vampire ... Der Gedanke an sie riss mich in die Wirklichkeit zurück. Ich hörte die Nachtgeräsuche, die Fassade ... Ich spürrte die dumpfe Bedrohung, die nun viel näher war. Die feinen Häärchen an meinen Armen und meinem Nacknen stellten sich auf und mein so schon schnell schlagendes Herz machte einen erschrockenen Satz, als Why neben mir mit kaum vernehmbarer, knurrender Stimme sagte: „Der Wind weht uns ins Gesicht. Gut. Dann können sie uns nicht riechen.“ Ich hielt es nicht für nötig, darauf eine Antwort zu geben, vor allem als meine Aufmerk- sammkeit von einem ryhthmischen Grasgeraschell beansprucht wurde. Sie kommen, wurde es mir klar, noch bevor ich Lupas melodische Stimme hörte: „Timor?“ „Hier bin ich“, kam es von etwas weiter rechts. „Wo ist Nex?“ „Ich weiß es nicht. Vielleicht kommt er noch. Ist mir erlich gesagt auch egal.“ Timors samtene Stimme hatte einen gefährlichen, abwertenden Unterton. „Hat er den Jungen?“ „Versteckt.“ „Weißt du wo?“ Er zuckte mit den Achseln. „Entschuldige, ich habe keine Ahnung.“ Sie hatten die Kaputzen runtergezogen und ich erkannte Lupas heute gefährlich feuer-roten Harrschopf. Timors Haar war nach wie vor von einem hellen, weichen Blond. Sie waren groß, schlank, stark und bedrohlich. Frustration überfiel mich. Das schaffen wir nie, dachte ich. Wie sollten wir – zwei Kinder – denn auch gegen solche Wesen ankommen können? Selbst wenn Why ... sagen wir, etwas anders war. Die Mutlosigkeit war so groß, dass ich am liebsten einfach nach Hause gegangen wäre, um dieses wahnwitzige Unterfangen zu beenden. Andererseits ... Was für einen Sinn hatte mein Leben, jetzt, ohne Tim, noch? Ich könnte es jetzt beenden, müsste nur zu ihnen gehen. Müde lauschte ich meine Gedankengängen. Leben, sterben, leben ... Tim! Das brachte Kraft. Der Schleier, der sich unbemerkt vor meine Augen gelegt hatte, verschwand und der Groschen fiel. Timor. Dieser ganze Gedankenfluß war das Werk seiner besonderen Gabe. Wegen ihm hatte ich mich so mutlos gefühlt und nicht auf ihre Worte geachtet. Hastig spitzte ich die Ohren. „Wir haben lang genug gewartet. Lass uns vorgehen! Nex kann nachkommen ... !“, das war Lupa. „Nein, warten wir noch einen kleinen Moment ...“ Sie zuckte ungeduldig die Achseln, sagte jedoch nichts. So standen wir da, unbeweglich, wartend. Es war geraume Zeit vergangen und meine Füße fingen an zu schmrerzen, da packte Why mich unvermittelt an der Schulter. Der Griff war hart und fest. Eine kurze Welle aus Panik schwabte über mir zusammen, doch ich verdrängte sie weitgehend und vermied es so, laut aufzuschreien. „Verdammt!“, hauchte sie direkt neben meinem Ohr. Ich hatte den verwirrenden Eindruck, Tasthaare wie die einer Katze an meiner Wange entlangstreifen zu spüren. Die Fragen, die mir auf der Zunge lagen, wurden erstickt, als sie plötzlich und vollkommen lautlos in die Hocke ging und ... sprang. Mein Schultergelenk protestierte, als sie mich daran mitzog. Im letzten Moment fiel mir ein, mein – Tims – Skateboard fest zu umklammern, damit es mir nicht abhanden kam. Wir flogen von ihrem Sprung getragen durch die Luft und ich konnte von Glück sagen, dass ich nicht sah, wie hoch wir in der Luft waren. Es war auch zu dunkel, um zu erkennen, was für eine Strecke wir zurückgelegt hatten, als die Schwerkraft uns wieder nach unten zog. Why hielt mich mit schier übermenschlich er Kraft hoch, damit ich nicht mit den Füßen auf dem harten Boden aufschlug, was diesen wahrscheinlich nicht sehr gefallen hätte. Ich spürte anahnd der Erschütterung, die durch den Körper meiner Freundin ging und so auch ein wenig auf mich übertragen wurde, wie hart die Landung gewesen war. Trotzdem stand Why vollkommen aufrecht und mit scheinbar intackten Füßen da und ließ mich wieder los, diesmal ohne mich zu streifen. Dafür spürrte ich jetzt, dass sie mich wirklich sehr fest gepackt hatte, denn ich hatte nun vier kleine, leicht blutende Kreise kurz unter dem Schlüsselbein. Der schemenhafte Umriss, den ich von ihrem Kopf erkennen konnte, wannte sich zu mir um. „Verdammt! Sie werden dich riechen können!“, rief sie unvorsichtig laut mit leiser Panik in der knurränlichen Stimme. „Mich riechen?“, fragte ich. „Wir sind doch irre weit von ihnen weg.“ Tatsächlich hörte ich sie nicht mehr. Nur die Nachttiere waren zu vernehmen. Statt einer Antwort packte sie mich am Handgelenk - ihre Haut fühlte sich irgendwie komisch an – und zog mich quer durch den Wald, ohne ein einziges Geräusch zu machen. Brauchte sie auch nicht. Ich machte genug Lärm für zwei. Zwar rannte ich nicht gegen Bäume, da sie mich ja führte, aber ich trat bei jeden zweiten Schritt auf einen herumliegenden Ast. Nach circa zehn Minuten hielt sie es nicht mehr aus und hob mich auf ihren Rücken. Jap, eindeutig behaarter. „Why?“ „Scht!“, machte sie. „Was ist ...“ „Leise!“ „... los?“ „Halt den Mund! Später!“, sie fauchte dabei so bedrohlich, dass ich tatsächlich den Mund hielt. So ging es lautlos weiter. Glücklicherweise konnte ich nicht sehen, dass wir mit jeden Schritt eine beträchtliche Menge an Weg zurücklegten. Ich hätte mich womöglich noch erbrochen. Kapitel 7: Tag 6 ---------------- Die Sonne ging bereits auf, als sie endlich stehen blieb. Wir hatten den Wald lange hinter uns gelassen und befanden uns auf einem Landstrich, den ich ganz und gar nicht kannte. Irgendwann war ich wohl eingeschlafen. Als sie mich ächzend von ihrem Rücken hob und ich Gras legte, wachte ich auf. Ich blinzelte in das ungewohnte Licht und sah dann, als meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, in ihr Gesicht. Es sah vollkommen normal aus. Ich konnte die Muttermale auf ihrem Hals zählen. Anstatt sie nach einer Erklärung wegen gestern zu fragen oder mich überhaupt weiter zu wundern, fragte ich nur eins: „Skateboard??“ Sie lachte ein schönes Lachen. Mit vollkommen normaler Stimme antwortete sie: „Skateboard liegen zehn Zentimeter über Kopf deinen in fett krass Gras!“ Jetzt musste ich auch lachen, verstummte aber, als mir bewusst wurde, das mein bester Freund, der Liebe, auch so redete ... Manchmal, um mich aufzuheitern. Ich beschloss, mir nicht die Laune verderben zu lassen, drehte den Kopf in den Nacken und sah das Board, wie es im schwachen Morgenlicht matt schimmerte. Dann sah ich wieder in ihr Gesicht, in die schönen Augen, den weich geschwungen Mund, der zu einem Lächeln verzogen war. Dieses Gesicht, es kam auf mich zu. Der Mund, dieser Mund, er war leicht geöffnet, die Augen geschlossen. Einen Moment war ich zu perplex, um zu schalten. Dann wurde ich ganz starr, als die Antwort in meinem Kopf einrastete. Innerhalb einer Sekunde war alles wieder da ... Tim, die Couch, der beinahe-Kuss. Etwas in mir sperrte sich dagegen, mich von ihr küssen zu lassen. Dieses etwas wollte sich nur von Tim küssen lassen. Doch dieses etwas war klein. Ich kriegte es schnell unterdrückt. Denn irgendwo, da liebte ich Why ja. Aber mehr wie eine Schwester. Es war mir, als hätte ich sie schon jahrelang gekannt, obwohl es erst ein paar Stunden waren. Auch diese Gedanken schalteten sich aus, als ihre Lippen meine trafen. Als sie mich küsste. Nur eines kam mir in den Sinn: den Kuss zu erwiedern. Ihre Hände fuhren an meinen Seiten entlang, dann wühlten sie sich durch mein Haar. Ehe ich michs versah, lag sie auf mir. Sie nagelte mich auf den Boden fest, indem sie ihre Hände auf meine Handgelenke legte und diese auf das Gras drückte. Sie küsste mich irgendwie stürmisch, aber auch zärtlich. Wir lagen nebeneinander im Gras. Die helle Scheibe am Himmel war höher gewandert und blendete uns ein wenig. Ich schloss die Augen nach mehreren verzweifelten Versuchen, dem Licht standhalten zu können. Whys Hand auf meiner fühlte sich gut an. Ich genoß die Nähe. Die Fragen kamen mir wieder in den Sinn, doch es war weißgott der falsche Zeit- punkt, um darüber zu reden. Ich wollte einfach nur ausspannen, was mir mit ihr an meiner Seite ziemlich gut gelang. Irgendwann spürrte ich, wie ihre Hand von meiner streifte, sich entvernte. Mit einer leichten Müdigkeit im Kopf stützte ich mich auf die Ellebogen und sah dabei zu, wie sie erst aufstand, sich aufmerksamm umsah und sich dann im Schneidersitz hinsetzte. Da traute ich mich. „Was war jetzt gestern los? Warum sind wir abgehauen? Was war mit dir?“ Sie sah mir kurz in die Augen und richtete ihren Blick dann gen Himmel, bevor sie antwortete, immernoch zum blauen Himmelszelt gewant: „Nex kam. Von hinten. Ich hab ihn gerade noch rechtzeitig wahrgenommen. Er riecht halt nicht besonders stark und war gegen den Wind. Bestimmt hat er uns bemerkt. Und naja, dein Blut konnten sie halt ganz gut riechen, deswegen sind wir nicht im Wald geblieben. Und die Sache mit mir ... naja ... Ich ...“ Sie stockte. Ich drängte sich nicht dazu, weiterzureden, auch wenn ich vor Neugier fast platzte, sondern sah sie einfach nur an. Schließlich seuftzte sie und beichtete mir: „Ich bin ein Halb-Werwolf.“ Einen Moment war ich ganz still. Ich brauchte einen Zeit, um das zu verdauen. Dann fragte ich: „Ein Halb-Werwolf? Wie kann das sein?“ Sie schüttelte den Kopf, stützte diesen dann in ihre Hände und schien auf einmal ganz deprimiert. „Ein Halb-Werwolf“, erklärte sie mit durch ihre Hände etwas gedämpfter Stimme, „muss sich nur bei Vollmond verwandeln. Oder wenn Vampire in der Nähe sind. Vollwertige Exemplare müssen sich in jeder Nacht verwandeln. Und natürlich, wenn diese drecks Blutsauger circa einen Killometer von ihm entfernt sind.“ Ich sagte nichts. Dazu war ich einfach nicht in der Lage. Die, die ich so sehr mochte, jetzt war sie auch noch nicht normal. Ein Werwolf. Von mir aus auch Halb-Werwolf. Warum? Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wir sahsen da und schwiegen. Plötzlich fragte sie: „Magst du mich trotzdem noch?“ Wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Dann wurde mir jedoch klar, dass ich sie noch mochte. Sehr mochte. Und das ich sie brauchte, um Tim zu befreien. Selbstsüchtiger Dreckskerl!, schimpfte ich mich im Stillen. Laut antwortete ich: „Ja, ich mag dich noch. Wirklich. Vielleicht ist es sogar besser, wenn wir gegen diese drecks Blutsauger“, ich betonte die zwei Worte extra, „ein Ass im Ärmel haben, oder?“ Sie nickte glücklich lächelnd. „Natürlich.“ „Ich ... ich habe der Unterhaltung der Vampire einen Moment nicht zugehört ... Haben sie vielleicht gesagt, wo ihr Versteck liegt?“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Jap, haben sie“, meinte sie fröhlich. „Und wo?“, fragte ich aufgeregt. „Na, du hast ja die Straße gesehen. Da ist ja links und rechts gaaanz viel Fels. Und da, dadrin ist ihre Höhle. Und wo die Höhle und so das Versteck ist, da sind sie auch. Und dein Freund auch.“ „Perfekt!“, jubilierte ich. Wir würden es schaffen! Bis zum Nachmittag klärte mich Why über die Vampire auf. Sie beschrieb mir unter anderen das Aussehen einer mentalen Attacke. Wenn man von dieser Attacke getroffen wird schalten sich sämtliche Nervenzellen ab, so dass man sich nicht mehr bewegen kann. Wie lange dieser Zustand dann anhält, hängt von der Willensstärke des Getroffenen ab. Es sei auch sehr schwer, so berichtete sie, diese Attacke zu erkennen, um ihr dann ausweichen zu können, wenn man kein „Eingeweihter“ ist. Man müsse auf die Brust des Vampires achten. Bei der Vorbereitung auf den Angriff fängt die Luft um den Brustkorb herum an zu flimmern. Wenn er sie dann abschießt ist es, als würde eine Kugel aus flimmernder Luft auf einen zufliegen. In Wahrheit ist diese Kugel eine Mentalitätskugel. Zusätzlich erzählte sie mir, dass Werwölfe ein immenses Pensum an Willenstärke haben und auch selber angreifen könnten. Sie weigerte sich, mir einen Kampf in allen Einzellheiten zu beschreiben, versichterte mir jedoch, dass es ein sehr beeindruckendes Schauspiel sei. Schließlich kamen wir darin überein, dass es besser wäre, zu ihr zu fahren, da wir beide ziemlich Hunger hatten. Der Weg war weit. Wir mussten unsere Skateboards tragen, da wir in dem Gras kaum hätten fahren können. Wir mussten bis zum Wald und von da aus zur Straße laufen. Die Sonne stand hoch am Himmel und es war sehr warm. Vögel zwischerten und viele Blumen in allen erdenklichen Farben sprossen aus der Erde. Nichts deutete auf die dunkle Gefahr hin, die unweit entfernt lauerte. Ich versuchte jeden Gedanken daran zu verdrängen und mich auf das ausgelassene Gespräch mit meiner Freundin zu konzentrieren, die mir lustige Geschichten aus ihrer Schule erzählte. Es war, als würden wir einen Ausflug machen. Gerade, als die Stimmung am besten war und ich fast schon das erdrückende Gewicht aus Sorge, dass schwar auf meinen Schultern lag, vergessen hatte, kamen wir am Waldrand an. Zu meinen Füßen wugs kein Gras mehr. Kahle Erde starrte mich an und ich starrte zurück. Und wie ich so starrte, sah ich auch eine Blume, die sich sanft im warmen Wind wiegte. Unschuldig schien sich mich anzugucken, als wolle sie sagen, dass sich nichts dafür könne, dass sie inmitten eines kreises nackter Erde stand. Einen Moment lang fühlte ich mich, als würde ich zusammenbrechen. Alles kam mit noch größerer Wucht auf mich eingestürmt. Ein drückendes Gewicht legte sich auf meine Brust und machte mir das Atmen schwer. Nie hatte ich mich so schlecht gefühlt wie jetzt. Why schien dies zu merken und legte mir einen Arm über die Schulter. Sanft, aber be- stimmt zog sie mich weg, in den Wald hinein. Ich nahm die Bäume gar nicht war. Vögel zwischerten, doch ihr Gesang erreichte meine Ohren nicht. Es war, als habe diese einfache Blume mir die ganze Kraft meiner Wiedersacher vor Augen geführt. Eben hatte ich noch im Siegestaumel geschwelgt, jetzt wollte mir das nicht mehr gelingen. Tod ..., dachte ich immer und immer wieder. Dieses Wort, es fokussierte alle meine Gedanken. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als wir aus dem Wald ins helle Sonnenlicht heraustraten. Als wir stumm herauskamen, ebenso stumm wie wir hereingetreten waren. Doch das Licht schien auch meine dunklen Gedanken aufleuchten zu lassen. Das Wort „Tod“ wich dem Wort „Leben“. Ein kurzes Lächeln huschte über mein Gesicht, als der ganze Pessimismus förmlich von mir abfiel. Auch das Mädchen neben mir hatte es gemerkt und machte mich auf die Vögel und die Sonne aufmerksam und fragte mich, ob ich nicht auch diese Wärme genießen würde. „Ja.“ Es war mein erstes Wort, seit wir den Wald betreten hatten. So einfach und doch so voller Wahrheit. Wir legten die Boards auf die asphaltierte Straße und fuhren los. Zu ihr, Why, wo wir hoffentlich etwas zu essen kriegen würden. Mit allen Sinnen nahm ich war, dass ich lebte. Ich fühlte den Wind in meinem Gesicht, der durch meine Klamotten wehte. Ich spürrte den Luftzug, wenn ein Auto an mir vorbei- fuhr, die Sonne, die mit ganzer Wucht auf meinen Kopf knallte. Alles, was ich vorher als alltäglich abgetan hatte, fand ich jetzt berauschend. Ein herrliches Gefühl! Wir sahsen bei ihr in der Küche und aßen. Ihre Mutter hatte uns etwas vom Mittagessen aufgewärmt. Klöße mit Gulasch. Lecker! Es wurde nicht viel geredet. Whys Mum hatte zuerst noch kurz mit uns geredet, dann war sie aus der Küche gegangen. Wäsche aufhängen, wie sie gesagt hatte. „Was ...“, fing ich eine Frage an, doch Why unterbrach mich. „Gleich. Wenn wir auf meinem Zimmer sind. Lass uns jetzt erstmal das Essen genießen.“ Ich erwiederte ihr Lächeln, mit dem diese Worte begleitet waren und aß weiter. Wir sahsen nebeneinander auf ihrem Bett. Helles Sonnenlicht fiel durch das Fenster in der Wand vor uns. Die Sonne war bereits im Begriff unterzugehen, wodurch sie fast direkt vor dem Fenster stand. Ich wante meinen blinzelnten Blick von dem Licht ab zu sah das Mädchen neben mir an. Es starrte vor sich hin und schien in Gedanken versunken zu sein. Ich wollte es nicht stören und schwieg. „Also, wollen wir dann morgen gehen?“, fragte es so unvermittelt, dass ich zusammen- zuckte. „Ähm ... Klar“, antwortete ich. „Müssen wir irgendetwas mitnehmen?“ Why überlegte kurz und zeigte dann auf die schwarze Kette um meinen Hals. „Das ist der Kruzfix, oder?“ Ich nickte zur Antwort. „OK. Mehr brauchen wir nicht.“ Wir redeten noch ein wenig und ich erzählte ihr nahezu meinen kompletten Lebenslauf. Im Gegenzug erklärte sie mir, dass ihr Vater ein Werwolf war, ihre Mutter jedoch nicht. So eine Zwitterbeziehung war eine riesengroße Ausnahme, meinte sie. Why schätzte auch, dass sie so ziemlich der einzige Halbwerwolf auf der lieben weiten Welt war. Wir kamen plötzlich auf das Thema Vampire zu sprechen, als ich mich laut fragte, warum sie wohl ausgrechnet deutsch redeten. Sie hätten ja auch irgendeine andere Sprache sprechen können, wie zum Beispiel Latein. Meine Freundin hatte natürlich eine Antwort parat. „Sie sprechen keine bestimmte Sprache, sondern so eine Art universal-Sprache, die von jedem verstanden wird. Frag mich nicht warum und wesshalb das so ist, ich weiß es wirklich nicht. Fakt ist ja, dass wir sie verstehen und nur das zählt, oder?“ Bei dem letzten Satz zwinkerte sie mir zu und wechselte augenblicklich das Thema. „Was für Musik hörst du so?“ Ich war etwas erstaunt über die Frage, antwortete jedoch schnell: „So Radio so was ... Charts und son Zeug.“ Ich sah in ihre Augen, seuftzte und dachte kurz an Tim. Wie ein Wasserfall kam es aus mir herausgesprudelt: „Tim liebt dieses Metal – Zeug.“ Ich lachte kurz. „Find ich ganz ok.“ Sie lächelte wissend und meinte dann: „An ihm muss dir viel liegen. Du redest oft von ihm.“ Ich errötete leicht bei dieser Feststellung und diesmal war ich der, der das Thema wechselte: „Und du? Was für Musik hörst du?“ Sie lachte. „Nicht das, was du hörst. Eher so Punkigere Sachen. Willst du mal hören?“ Sie grinste mich verschmitzt an. Durch ihr Verhalten neugierig geworden nickte ich. Ihr Grinsen war erfüllt von Vorfreude, wohl auf mein dummes Gesicht. Gespannt sah ich dabei zu, wie sie eine CD aus einem Regal über ihrem Bett nahm und in den schwarzen CD-Spieler legte. Ich hörte, wie die CD in ihrer Fassung vibrirrte, dann drückte Why auf „Play“. Ich zuckte erschrocken zusammen, so laut war das plötzliche Gekreische, welches mir entgegenschlug und von schrillen Gitarrentönen begleitet war. Das Mädchen neben den Boxen kugelte sich vor Lachen, ihm schien dieser – zugegebenermaßen – sehr laute Krach nichts auszumachen. „Hab ich zuviel versprochen?“, fragte sie, nachdem sie den Krach wieder abgestellt und sich neben mich gesetzt hatte. „Nicht im geringsten ...“ Irgendwann wurden wir dann müde und gingen zu Bett. Whys Mum hatte extra für mich eine zweite Matratze ausgekramt, sie bezogen und neben das Bett ihrer Tochter gelegt. Ich legte mich hin und versuchte alle Gedanken zu verdrängen, die Leere zu spüren, die ich so dringend brauchte, wenn ich in Ruhe schlafen wollte. Kapitel 8: Tag 7 ---------------- Als ich aufwachte, sahs Why schon fertig angezogen auf der Kante ihres Bettes und grinste mich fröhlich an. „Guten Morgen!“, flötete sie, kaum dass ich die Augen aufgeschlagen hatte. Ich brachte ein müdes Lächeln und ein gebrummtes „Guten Morgen ...“ zustande. Ich hatte in T-Shirt und Boxershorts geschlafen und zog mir schnell meine Hose an, bevor wir in die Küche gingen, um zu frühstücken. Why erklärte mir, dass ihre Eltern auf der Arbeit waren und erst gegen Nachmittag wieder zurück sein würden. „Wir gehen dann wohl nach dem Frühstück am Besten direkt los“, meinte sie zwischen zwei Löffeln Cornflakes. Ich nickte und zuckte mit den Achseln, ganz nach dem wie-du-meinst Prinzip, während ich meinen Bissen runterquälte. Irgendwie war ich zu aufgeregt, um wirklich Hunger zu haben. Wir standen in der Schlucht. Autos rasten hinter unseren Rücken vorbei und die Fahrer wunderten sich bestimmt, warum denn zwei 16 jährige an den Felswänden entlanggingen und –krochen. Wir legten unsere Ohren an die Wände, klopften sie ab und suchten dieses verflichsten Eingang. Die Sonne stand schon ziemlich hoch. Ein müder Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass es schon ein Uhr Mittags war. Ich reckte mich kurz und dachte daran, dass wir schon ca. 2 Stunden suchten. Langsam sank meine Hoffnung. Ich ließ mich wieder auf die Knie fallen und klopfte weiter. Ich kam an ein Farngestrüpp und klopfte auch darauf. Zuerst flogen mir nur Spinnen und merkwürdige Käfer entgegen und Ekel verzog mein Gesicht. Dann aber – ganz plötzlich – bot sich meiner Faust kein Wiederstand mehr. Sie sackte durch den Farn. Krabbelgetier floh mir entgegen, doch ich beachtete es nicht, sondern schrei nur: „Why! Why, komm mal!“ Sie war auf der anderen Seite der Schlucht, weswegen sie kurz warten musste, bis sich einen Lücke in dem Autofluß auftat. Kaum kniete sie neben mir, teilte ich den Farn, wodurch ich einen Durchgang freilegte. Ich sah sie an und sie sah mich an. Dann nickten wir gleichzeitig. Sie kroch gefolgt von mir durch den Eingang. Drinnen richtete ich mich auf und blieb einen Moment stehen, um meinen Augen die Zeit zu geben, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, welches hier vorherrschte und von vier Fackeln rührte, die in den vier Ecken verteilt waren. Als ich mehr als nur Umrisse erkennen konnte, machte ich zwei Türen zu meiner Linken und Rechten aus, so wie eine dritte ca. vier Meter vor mir. Und ich bemerkte noch etwas. Meine Freundin stand angespannt da. Schauer durchliefen ihren Körper. Ihr Gesicht, welches sie gesenkt hielt, verzerrte sich nach vorne. Speichel troff aus dem Mundwinkel. Die Haare an Armen und Beinen und wer weiß wo noch wurden länger, bildeten eine Fell- decke. Venen und Adern traten deutlicher hervor, die Muskeln wurden größer. Ihre Fingernägel wurden spitz und krallenartig. Netzstrumpfhose und –stulpen sowie ihr T-Shirt spannten sich. Die Augen wurden gefährlich gelb und die Iris zog sich zu einem schmalen Strich zusammen. Hätte ich nicht 100%ig gewusst, dass diese Horrorgestall neben mir Why war, wäre ich schreiend davongerannt. So stand ich allerdings einfach nur da und starrte sie an. Sie knurrte und bedachte mich zu meinem Entsetzen mit einem ziemlich wilden Blick. Ihr Kopf, der sich zu einer hundeähnlichen Schnauze umgeformt hatte, ruckte hin und her. Die nassen Nasenlöcher blähten sich, als sie schnüffelte. Ihr wilder Blick zuckte wieder zu mir und ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Irgendwie schien sie diese Geste wieder auf den Boden zu holen, denn ihr ganzer Gesichts- ausdruck wurde weicher. „Keine Angst. Du hast doch keine Angst, oder?!“, fragte sie. Ihre Stimme war wieder so knurrähnlich wie sie im Wald gewesen war. Ich versuchte es mit einem Lächeln und es gelang. So halbwegs. „Nein, ich ... hab mich nur erschreckt.“ Ich meinte ein beruhigtes und irgendwie wissendes Lächeln erkennen zu können, bei dem sie ihre langen Fangzähne zeigte. Plötzlich war ihr Gesicht wie versteinert. Sie schien zu lauschen. Auch ich spitzte die Ohren, konnte aber nichts hören. Außer Stille und unsere Atem. Bei ihr schien das anders zu sein. „Da vorne“, flüsterte sie. „Da sind sie.“ Sie zeigte mit ihrer Pranke auf die Tür am Ende des kurzen Ganges. Ich wollte schon darauf zugehen, doch sie hielt mich zurück. „Ich muss dir noch kurz was gestehen“, zischte sie. Ich sah sie aufmerksam an. „Als wir uns kennengelernt haben, im Zug ... und du mir dann so viel erzählt hast ... das war wegen meiner Gabe. Wegen dieser bringe ich immer die Leute dazu, mir alles bzw. vieles zu erzählen, sobald ich ihre Namen weiß.“ Ich starrte sie an. Sie schaute leicht betreten zu Boden. Bestimmt wusste sie, wie sehr es mich schockierte, dass sie mein Vertrauen dermaßen missbraucht hatte. Eine andere Tatsache drängte sich mir auf: Hätte sie ihre Gabe nicht genutzt, hätte ich ihr das mit den Vampiren und so niemals erzählt. Ich hätte viel zu viel Angst davor gehabt, dass sie mich auslacht und mir den Vogel zeigt. Dank dieser Feststellung konnte ich es also ganz gut verzeihen. Ich zuckte betont lässig mit den Achseln und raunte: „Schon OK.“ Sie schaute mich noch einen Moment lang an und lächelte dann glücklich. „Gut.“ Ich wante mich ab und ging abermals Richtung Tür, doch wieder hielt sie mich zurück und ging vor. Sie legte eines ihrer flauschigen Ohren an das Holz und lauschte. Ich stand direkt neben ihr, doch ich konnte immer noch nichts hören. Plötzlich schien sie zu entscheiden, den Überraschungsmoment zu nutzen und stieß die Tür schwungvoll auf. Sie krachte laut und hart gegen die maßieve Felswand. Ich erfasste mit einem Blick die Situation. Ein großer, wuchtiger Holzschrank nahm die ganze Wand direkt mir gegenüber ein. Vor diesem Schrank standen die Vampire sich gegenüber. Nex auf der einen und Timor und Lupa auf der anderen Seite. Alle Gesichter waren uns zugewant. Alle sechs Augen zuckten zwischen mir und meiner Freundin hin und her. Und alle drei schienen sie schwer überrascht, uns zu sehen. Warum waren sie so überrascht? Warum hatten sie uns nicht gehört? Ich fand keine Antwort. Es verstrichen noch ein paar Augenblicke, dann nickte Timor Nex zu und bedeutete diesem so, zu ihm zu kommen. Nex ging, wenn auch mit kaum unterdrückten Wiederwillen und stellte sich rechts von Timor auf. Zu seiner Linken stand Lupa, deren Haare gefährlich rot waren. Er, der er da in der Mitte stand, war auch der erste, der sich wieder fing und uns gelassen ansah. Irgendwie hatten wir den Überraschungsmoment verpasst. Er grinste, nickte und blickte kurz nach links und rechts. Plötzlich, ganz unerwartet, knickte Why neben mir ein. Sie stöhnte, stand zusammenge- sunken da und schein unfähig, sich zu bewegen. Panik und Sorge stiegen in mir auf. „Why!“, schrie ich unvermittelt, aus der reinen Frustration herraus, nichts tun zu können. Doch etwas schien ich damit bewirkt zu haben, denn ihre Augen blitzten und sie stellte sich wieder gerade hin. Ich sah zu den Vampiren hinüber, sah in ihre konzentrierten Gesichter. Der Hauch von Timors Stimme erreichte mein Ohr. „Zuerst ... den ... Werwolf.“ Wie zur Salzsäule erstarrt stand sie da, den Blick auf den Vampir in der Mitte geheftet. Schweißperlen rannen ihr über die Stirn, das Blut rauschte in ihren Schläfen. Es kostete sie viel Energie und höchste Konzentration, den mentalen Angriffen standzuhalten und ihr-erseits anzugreifen. Werwölfe besahsen ein immenses Ausmahs an Willensstärke, mehr als ein einzellner Vampir. Doch sie, Why, war nur ein Halbwerwolf und sie kämpfte gegen drei voll ausgebildete Vampire. Sie sah weiter in die von langen Wimpern umrahmten blutroten Augen des bildhübschen Timors, auf dessen Gesichtszügen ein siegesgewisses Lächeln zu lesen war. In der Tat spürrte das Mädchen, wie ihre geistliche Barriere aus purer Willensstärke haarfeine Risse bekam und hier und da schon bröckelte. Feindliche Mentalitätsfetzen haatten sich schon durch ebenjene Risse gezwenkt und schwirrten in ihr umher, versuchte ihre Konzentration zu stören. Immer, wenn es ihnen gelang, wurden die Risse größer. Panik wallte in Why auf und drohte den letzten Rest Willenskraft zu begraben. Fierberhaft überlegte sie, wie sie das Ruder noch rumreissen konnte, doch es wollte ihr nichts einfallen, außer ... „Sag meine Eltern, dass ich sie immer geliebt habe, liebe und ewig lieben werde!“, rief sie dem Jungen hinter sich zu, der antwortete: „OK, mach ich, aber sag mir bitte, was du vorhast!“ Sie beachtete es nicht, sondern bereitete sich auf den Zauber vor, der sie zu 99,99% umbringen würde. Selbst vollwertige ihrer Art brauchten langes Training und viel Kraft, um den Zauber auszusprechen und danach auch weiterleben zu können. Why hatte ihn mal in einem Buch gelesen und ihren Vater darauf angesprochen, welcher das Buch verbrannt und ihr verboten hatte, ihn auszuführen. Doch jetzt würde sie so wie so sterben, da konnte sie ja wenigstens Tim retten. „Lux cux!“, schrie sie, was auf deutsch so viel wie „das strahlende Kreuz“ bedeutete. Die Vampire stellten augenblicklich ihre Angriffe ein, denn natürlich kannten auch sie den tödlichen Zauber. Lupa schrie hysterisch etwas und auch Timors sonst so sanfte Stimme klang panisch. Einzig Nex blieb ruhig. Why sah durch ihre geschlossene Augenlieder ein helles, strahlendes Licht aufleuchten, dann wurde alles schwarz. Zuletzt hörte sie Philipps Schrei: „Why!“ Ihre Seele glitt aus dem geschundenen Körper, entfloh in den Himmel. Einzig die Hülle, über der ein hell strahlender Kruzfix in der Luft hin, blieb zurück, auf den Lippen ein zufriedenes Lächeln, von dem Staub des Sieges umweht. „Why!“, schrie ich erneut. Tränen liefen mir über die Wangen, wurden jedoch von dem heftigen Wind direkt wieder getrocknet, welcher aufgekommen war, als der erste Vampir gestorben war. „Why ...“, hauchte ich, doch meine Stimme wurde vom Winde verweht. Der Sturm wurde immer stärker, war begleitet von einem wilden, wütenden Brüllen. Ich spürrte den Staub, der mir ins Gesicht peitschte, nicht, als ich mich neben dem toten Körper meiner Freundin niederließ. Der schon verblassende Kruzfix schwebte über mir. Erst jetzt, als ich wieder wieder herab in ihr lebloses Gesicht sah, in dem ich meinte, ein Lächeln lesen zu können, fiel mir auf, dass sie sich wieder in einen Menschen verwandelt hatte. Ihr schwarzes, glattes Haar wurde vom Sturm zerzaust. Ich betete ihren Kopf auf meinen Schoß. Ich weinte bitterlich. In mir schien es einerseits zerrissen zu sein, andererseits aber auch vernkotet. Es war, als hätte jemand mein Herz mit tausend Nadeln durchlöchert. Ich dachte gar nicht an die Gefahr, in der ich schwebte. Ich war ganz in meiner Trauer versunken. Plötzlich – ich wusste nicht wann – ging das Licht über mir aus, wie bei einer Kerze, die man auspustet, und gleichzeitig wurde es absolut windstill. Ich registrierte es nur am Rande, während ich weiter dasahs und ewinte, von stummen Schluchzern gesüchttelt. Warum hatte es so enden müssen? Wegen Tim, gabmir eine leise Stimme in meinem Kopf die Antwort. Tim ... Wie immer holte mich dieser Name in die Wirklichkeit zurück. Ich musste zu ihm, sonst wäre alles umsonst gewesen! Ich war aufgestanden, hatte die Tür geöffnet und stand nun auf dem breiten Gang. Ich schenkte dem Ausgang rund vier Meter vor mir keine Beachtung sondern öffnete die Tür zu meiner Linken. Das Licht der Fackeln aus dem Gang hinter mir fiel nur spärlich in den Raum, der sich vor mir auftat. In dem Dämmerlich konnte ich einen wuchtigen Holzschreibtisch erkennen, auf dem diverse Papiere lagen. Hinter dem Schreibtisch waren mehrere Regalbretter an der Wand angebracht, auf denen Gefäße standen, die mit einer merkwürdig – milchigen Flüssig- keit gefüllt waren. Doch da war nicht nur diese Flüssigkeit drin. Ich erschauerte und machte die Tür hastig wieder zu, als ich erkannte, was es war. Tiere. Oder zumindest Teile von ihnen. Einen Frosch und einen Wildschweinkopf hatte ich ausmachen können. Mehr hatte ich gar nicht sehen wollen. Übelkeit stieg in mir auf und ich drehte mich um, zu der anderen Tür. Dahinter musste Tim sein. Ich schob jeden Gedanken an Furcht beiseite und stieß die Tür auf, während ich mit der linken Hand den Kruzfix hervorzog. Doch kein Vampir sprang mich an. Mein Blick zuckte durch die Halle, in der ich schon halb stand, und registrierte vier Fackeln in den vier Ecken, die dafür sorgten, dass ich eine am Boden liegende Gestallt erkennen konnte. Eine Gestallt mit grünen Haaren. Nur der Haaransatz war von einem dreckigem Blondton. „Tim!“, schrie ich, ließ alle Vorsicht fallen und rannte zu ihm. Er rührte sich nicht. „Tim ...“, flüsterte ich und ging neben ihm in die Hocke. Immer noch bewegte er sich nicht. „Nein ...“, entrang es sich meiner Kehle. Mein Blick verschwamm durch die Tränen, die mir über die Wangen liefen. Ich hatte mich über ihn gebeugt und sie fielen ihm ins kalk- weiße Gesicht. Sollte alles umsonst gewesen sein? In einer verzweifelten Hoffnung griff ich nach seinem Handgelenk, um den Puls zu überprüfen. Schlagartik verwandelten sich meine Tränen des Kummers in Tränen der Freude. Sein Herz schlug! Zwar nicht sehr stark, aber es schlug! „Du hast aber lange gebraucht, um hierhin – zu mir – zu kommen“, ertönte eine gelang- weilte, leicht überhebliche Stimme hinter mir. Ich fuhr herum. Mein Blick war noch nicht ganz klar und ich blinzelte hastig, um den Sprecher erkennen zu können. Es war ein Vampir. Lupa, Timor und Nex waren tod oder wie man es nennen wollte. Also musste er es sein. Das Oberhaupt. Er lächelte kühl, als ich nichts erwiederte. Sein schwarzes Haar hatte ein paar weiße Strähnen, so weiß wie seine Haut. Der Mantel, den er trug, sah schlicht, aber elegant aus und schleifte leicht über den Boden, als er mir näher kam. Sein Gesicht war noch schöner als das Timors, doch der Blick, mit dem er mich bedachte, war wilder. Er war einen leichten Bogen gegangen, so dass ich, der ich mich erhoben hatte, nun der Tür am nähesten war. Langsam ging ich rückwärts auf sie zu, die linke Hand um den Kruzfix geballt. „Du hast meine Gefolgsleute umgebracht und das kann ich beim besten Willen nicht toller- ieren“, sagte er, „und dein Blut ... es riecht frisch und stark. Auch mich wird es frisch und stark machen.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sah, wie ich mich seitwärts an der Wand entlang in Richtung Ausgang schob. „Du kannst nicht entkommen“, flüsterte er. Seine langen, gemessenen Schritte durch- maßen den Raum und ließen den Abstand zwischen mir und ihm kleiner werden. Ich spürrte immer noch keine Angst, sondern lächelte sogar, als ich die Faust öffnete und den schwarzen Kruzfix zeigte, der im Fackelschein matt gläntzte. Mein Wiedersacher blieb ca. 2 Meter vor mir stehen, zerfiel jedoch nicht zu Staub. Jetzt meldete sich leise Panik in mir, die ich mit aller Macht unterdrückte, um nicht von ihr gelähmt zu werden. Der Vampir, der stehen geblieben war, schein über den umstand, noch zu exestieren ganz perplex. Ich nutzte den Moment der Verwirrung aus und stolperte aus der Halle in den Gang, wo ich - immer noch rückwärts – die Tür zu dem sonderbaren Zimmer öffnete. Dort ging ich weiter, bis ich mit dem Rücken zu den Regal mit den Gefäßen darin stand. Kaum war ich mir meiner Umgebung richtig bewusst geworden, hörte ich Schritte, die näher kamen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als der Vampir im Türrahmen erschien, mit rot glühenden Augen. Sein Mund war zu einem siegessicheren Lächeln verzogen. „Buh ...“, meinte er mit emotionsloser Stimme und schien mein kreideweißes Gesicht zu genießen, in dem sich gewiß meine Angst wiederspiegelte. Ich krallte mich an dem Regalbrett hinter mir fest. Meine Fingerknöchel traten weiß hervor, die Nagelbetten entfärbten sich. Plötzlich schien die Luft um seinen Brustkorb herum merkwürdig zu flimmern. Er bereitet sich auf einen mentalen Angriff vor!, schoss es mir gerade noch rechtzeitig druch den Kopf, um der Kugel aus flimmernder Luft mit einem Hechtsprung zur Seite aus-weichen zu können. Die Kugel landete in dem Gefäß, vor dem sich bis eben noch mein Kopf befunden hatte. Ein Schauer, gepaart mir ungläubigen Entsetzen, durchfuhr mich, als der Frosch, der bis dato friedlich in seiner milchigen Flüssigkeit geschwommen war, zum Leben erwachte. Und nicht nur das. Sein linkes Froschbein streckte sich in die Länge und die langen Zehen wuchsen zusammen. Das ganze schien keine Knochen mehr zu besitzen, denn es schlingerte wild hin und her, so dass es an eine Tentakel erinnerte. Neben dem zuckenden Kopf, dessen Augen in ihren Höhlen umherrollten, wuchs ein zweiter mit drei Augen und zwei Froschmäulern, in denen sich gespalltene Schlangenzungen befanden. Das Wesen schoss in seinem Gefängniss wild hin und her, während immer mehr Gliedmaßen an den unmöglichsten Stellen aus ihm sprossen. Vereinzellt konnte ich auch schwarze und grüne Stacheln erkennen. Ich hörte nur am Rande meines ungläubigen, erstarrten Bewusstseins, wie eine Stimme hinter mir sprach: „Interessant ... Das passiert also bei Tieren, die einen mentalen Angriff abbekommen.“ Mein Verstand weigerte sich, normal zu arbeiten, bi eine starke Elektrizität mich durchfuhr und lähmte. Ich ... Er hat mich getroffen!, wurde es mir bewusst. Übelkeit bemächtigte sich meiner und ich erbrach mich auf den Fußboden. Ich spürrte, dass ich mich wieder bewegen konnte, und sah den Vampir an, um dessen Brust es abermals flimmerte. Ich hielt den Kruzfix hoch, doch wie beim ersten Mal passierte nichts. Was war da los? Warum funktionierte es nicht? Meine Gedanken wurden von einer erneuten Mentalitätskugel unterbrochen, von der ich mich mit einem erneuten Sprung rettete. Sie traf einen Hirschkopf samt –hals, dessen Augen ruckartig aufflogen und umherzurollen begannen. Das Fell des Tieres verfärbte sich giftgrün und Stacheln in ebenjener Farbe wuchsen den Nacken hinten herunter, in einer geraden Linie. Sie waren durch eine hellgrüne Membran miteinander verbunden. Die Augen wurden rotund die Flüssigkeit um die Nüstern herum begann zu zischen. Da, wo der Hals irgendwann in der Vergangenheit einmal abgetrennt worden war, sprossen unzählige Tentalkeln. Aus den Schläfen des Tieres wuchsen zweil ange, schwarze, nach vorne gebogene Hörner. Die Enden des Geweis wurden spitz, so dass es an ein Gewirr aus Hörnern oder übergroßen Dornen erinnerte. Erneut ergriff mich Übelkeit. Dann hörte ich langsame, aber unaufhaltsame Schritte, die auf mich zukamen. Ich hatte wirklich Angst, als ich meinen Blick von dem Hirsch abwante und meinen Wiedersacher ansah. Ihn schien das Sachauspiel, welches sich ihm bot, nicht im geringsten aus der Bahn zu werfen. Im Gegenteil, er wirkte leicht belustigt. Nur nochd er Schreibtisch trennte ihn und mich. Ich drückte mcih an das Regal hinter mich und fühlte, wie das Gefäß mit dem Hirsckopf hin- und herruckte. Doch ich ließ mich von dieser Erkenntnis nur kurz ablenken und sah wieder nach vorne, sah in das weiße Gesicht. Ich schreckte heftig zusammen, als der Vampir mit einem geschmeidigen Sprung auf dem Tisch landete und mich nun von oben herab musterte. Ein leichter Wahnsinn, ein Wahn nach Blut, meinem Blut, verzerrte sein Gesicht. Er schoss noch zwei Angriffe auf mich ab, doch ich hatte nicht mehr den Elan, mich zu bewegen. Die Kugeln landeten links und rechts neben mir. Entweder, weil er schlecht geziehlt hatte oder, weil er mich hatte erschrecken wollen. Ich tendierte zum zweiten. Er spielte mit mir. Eins wunderte mich: Warum sagte er nichts? In jedem erst- oder zweitklassigen Film ist es doch so, dass der Schurke dem Helden seinen teuflischen Plan erzählt, wodurch der Held Zeit gewinnt und am Ende eben dadurch siegen – oder sich zumindest befreien – kann. Vielleicht brauchte der Schurke in meinem Film ja einfach eine Anregung. „Wofür habt ihr die Schatten eigentlich gesammelt?“, fragte ich, um eine möglichst feste Stimme bemüht. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass sie leicht zitterte. Sein siegessicheres Lächeln wurde noch breiter und seine Augen funkelten fanatisch, als er mich aufklärte: „Wie du weißt, zerfallen wir zu Staub, wenn wir ins direkte Sonnenlicht treten. Dadurch können wir nur Abends bzw. Nachts aktiev sein. Doch das reicht uns nicht. Wir wollen immer aktiev, wollen immer unsere Macht und Kraft mehren, indem wir einfachen Menschen wie dir und deinem Freund das Blut nehmen. Je reiner das Blut ist, desto stärker macht es uns. Und dein Blut, das ist besonders rein ...“ Bei diesem letzten Satz hatte er sich zum Sprung bereit gemacht. Mein Gehirn arbeitete fieberhaft. Ich brauchte noch mehr Zeit ... „Du hast mir noch nicht erklärt, was das alles mit den Schatten zu tun hat“, rief ich schnell. Er verdrehte sichtlich genervt die Augen, richtete sich jedoch wieder auf und unterrichtete mich hastig: „Mit den Schatten verdunkeln wir natürlich die Sonne, du Dum- merchen!“ Ich sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Wie soll das den bitteschön gehen?“ Er schloss die Augen kurz, öffnete sie wieder und sagte mit erzwungen ruhiger Stimme: „Nun gut, ich will dich ja nicht unwissend sterben lassen. Wir haben jahrelang an einer Technik gearbeitet, mit der man Schatten einfangen, festhalten und ihnen den eigenen Willen aufzwingen kann. Es gab natürlich mehrere Fehlschläge, aber letzten Endes ist es uns dann doch gelungen und so unseren Halbtägigen Leben ein Ende gesetzt! Bald können wir endlich rund um die Uhr überall auf der Welt tätig sein! Wir können dann die Reinen von den Unreinen trennen und müssen keine Junkies mehr als letztes Mittel benutzen! Wir ...“ „Stop!“, unterbrach ich ihn, selbst überrascht von meinem Mut. „Es gibt kein ‚wir‘! Nex, Timor und Lupa sind tot!“ Er sah nachdenklich aus und nickte vor sich hin. „Allerdings, sind sie. Wegen dir!“ Ohne Vorwarnung sprang er vom Tisch. Ich riss aus reinem Reflex den Kruzfix hoch, den der Vampir mir mit einem hönischem Gelächter aus der Hand schlug, noch während er knapp vor mir landete. Jede Selbstbeherrschung war aus seinem Gesicht gewichen und es glich einer hungrigen Fratze. Der Kruzfix, meine letzte Hoffnung, landete mit einem leisen „Pling“ in unerreichbarer Entfernung auf dem Fußboden. In meiner Panik sah ich, wie der Vampir die Zähne bleckte, fühlte, wie das Regal hinter mir immer stärker ruckte und wankte. Jeder Gedanke daran verblasste, als ich zwei nadel- spitze Eckzähne an meiner blank daliegenden Halsschlagader spürrte. Eine Hand hielt meinen Nacken fest, die andere krallte sich in mein Haar. Sein Körper war eng an meinem gedrückt und nagelte mich so fest. Ich spürrte den kalten Atem, roch den Geruch ... den Geruch des Todes. Es war, als wolle er mich küssen, als er ganz sacht mit seinen Eckzähnen an meiner Ader entlangfuhr, auf der Suche nach der idealen Stelle zum beissen. Seine Hand krallte sich fester in mein Haar, als er sie gefunden hatte. Ich schloss die Augen. Brings hinter dich, bitte, brings zu Ende!, dachte ich. Es war mir unangenehm, von im so an das Regal gedrückt zu werden, ihm so nahe zu sein. „Du riechst so gut ...“, wisperte er, dann biss er langsam, aber unaufhaltsam zu. Ich spürrte, wie schon der erste Blutstropfen an meinem Hals entlanglief, einer Träne gleich. Plötzlich schepperte es etwas weiter rechts neben ir und Flüssigkeit spritzte gegen meine blanken Unterschenkel. Ein Quacken ertönte, ein Klatschen & Schleifen. Der Kopf vor mir fuhr ruckartig herum und riss mit den Reißzähnen gleich noch ein Stück Haut mit. Der Rest des Körpers verharrte in seiner Possition. Erst jetzt spürrte ich den stechenden Schmerz am Hals und das Wummern meiner Kopfhaut, registrierte, wie sehr das Regal wackelte, immer stärker. Ich linste nach rechts, um zu sehen, was da passiert war und sah den missgestallteten Frosch, der mühsam auf mich zuhüpfte, wo bei ihm die ganzen zusätzlichen Gliedmaßen im Weg waren. Ich zuckte heftig zusammen, als es ein zweites Mal krachte, diesmal direkt links neben mir. Wieder wurde ich ein wenig nass, ein paar Glassplitter prallten gegen mein Bein, aller- dings ohne Schaden anzurichten. Ich guckte herunter und sah zu meinem Schrecken ein sehr kleines Krokodiel, das ähnliche Probleme wie der Frosch hatte. Ich stieß einen Schrei aus und erst jetzt fiel mir ein, dass meine Arme ja immer noch frei waren. Ich versuchte mit aller Kraft, den steinharten Körper vor mir wegzuschieben, doch genausogut hätte ich versuchen können, Berge zu versetzen. So musste ich hilflos dabei zusehen, wie das Tier zu meinen Füßen kurz zu mir hochblinzelte, dann den Kopf zu dem Vampri wante, der immer noch den Frosch anstarrte, und diesem kräftig ins Bein biss. Er zuckte zwar zusammen, krümmte sich aber nicht vor Schmerz, wie ich es erwartet hätte. Stattdessen ließ er mich los, bückte sich und schleuderte das arme Krokodiel quer durch den Raum von sich. Ich reagierte blitzschnell. Durch seine ausgestreckten Arme durchtauchend machte ich einen Hechtsprung zur Seite. Ich landete neben dem Frosch, der mich traurig anquackte, und hockte mich hin. „Du kannst nicht entkommen“, knurrte mein Feind bedrohlich und wante sich blitzschnell zu mir um. Fieberhaft suchte ich den Boden nach irgendetwas ab, womit ich mich verteidigen könnte. Leider gab es da nur eine Möglichkeit. Mit einer schwungvollen Bewegung riss ich den Frosch an einer Tentakel hoch, ohne auf seine Proteste zu achten, und schleuderte ihn dem Vampir ins Gesicht. Ungläubigkeit und milde Belustigung war in diesem zu lesen, als er den Körper der Amphibie umfasste, wobei auch seine Hand von etlichen Dornen durchlöchert wurde, und zog sie aus dem Gesicht. Ein Keuchen entfuhr mir, als ich sah, was ich da angerichtet hatte Schwarze Löcher gähnten mir entgegen, aus denen merkwürdigerweise kein Blut drang. Dies wäre ja noch zu ertragen gewesen, wäre da nicht das schlimmste aller Löcher. Das, was wirklich alles durcheinander brachte in diesem Gesicht. Das, wo vorher mal sein linkes Augen gewesen war. Ich wante den Blick hastig ab und sah in das Gewirr aus Gliedmaßen, Dornen und Tentakeln in seiner Hand. Ich erkannte das Auge, aufgespießt auf einem Stachel. Ich sah durch mein verwirrendes Entsetzen – immerhin hatte ich ihn ja verletzen wollen – hindurch, wie eine zweite weiße Hand auftauchte und das Auge mit einer fast lässigen Bewegung von dem Stachel zog. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es seine zweite weiße Hand war, in der das Auge nun umherrollte, mal die Decke, mal die Wände, mal die Gefäße und mal – und das besonders intensiev – mich anstarrte. Währenddessen schloss sich das Loch in seiner Mitte wieder und sein Besitzer nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger, um es dann mit einem leisen Schmatzen wieder einzusetzen. Dadurch wurde mein Aufmerksamkeit zurück auf sein Gesicht gelenkt. Ein erneutes Keuchen entfuhr mir, als ich sah, dass sich auch diese Löcher wieder nahtlos geschlossen hatten. Die ganze Sache war mehr als nur ein wenig Unheimlich ... Er warf den Frosch lässig weg. Ich zuckte zusammen, als er landete. Als er auf dem – meinem – Kruzfix landete! Er quackte gequält und schleifte sich mühsam in Richtung Wand. Mehrere lange Stacheln schabten über den Kruzfix und schabten so einen Teil der schwarzen Farbe weg! Die Gestallt vor mir schrie gequält auf, als Strahlen hellen gleißenden Sonnenlichts auf seine weiße Haut trafen und ihn verbrannten. Ich begriff jetzt, warum es nicht gewirkt hatte. Die Farbe, sie war das Problem gewesen, hatten die Macht des Kruzfixes abge-schirmt! Wieder tauchte ich durch seine – diesmal blind ausgestreckten – Arme hindurch und kratzte den Rest der Farbe weg. Die Schreie wurden immer schriller, als der ganze Raum von Sonnenlicht durchflutet wurde. Ein starker heulender Wind kam auf und wirbelte die Papiere auf dem Schreibtisch durcheinander, wurden vom Staub der zerfallenden Vampirs mit einer feinen schwarzen Staubschicht überzogen. Ebenjene Schreie, die meinen Kopf durchschnitten und jedes Denken abgeblockt hatten, verhallten. Der pfeiende Wind ebbte ab und verschwand schließlich ganz, als ich den Kruzfix mit der Hand verbarg. Die missgestallteten Tiere zerliefen zu einer stinkenden grünen Masse. Ohnen ihren „Schöpfer“ konnten sie wohl nicht weiterhin exestieren. Mein Denken schaltete sich wieder ein und ich verließ in fliegender Hast den Raum, schlug die Tür hinter mir zu und stürtzte in den Saal, in dem Tim lag. „Tim!“, schrie ich und meine Stimme hallte 100 mal von den Wänden ab. Und wirklich! Er zuckte leicht zusammen und auch sein gequältes Stöhnen hallte gespenstisch wieder. Erneut rannen mir Tränen der Freude über die Wangen, als ich mich über ihn beugte, die Hände rechts und links neben seinem Kopf auf den Boden gestützt. „Tim ...“, flüsterte ich überglücklich schluchzend und konnte es nicht glauben, wieder bei ihm zu sein. „Philipp ...“, hauchte er, schlug die Augen auf und sah mich an. Ein Lächeln zierrte sein Gesicht. „Ich wusste, dass du kommst ...“ Ohne Vorwarnung legte er seine Hände auf meinen Hinterkopf, zog mich zu sich runter und küsste mich. Ein wahres Feuerwerk aus Gefühlen explodierte in meiner Brust. Schauer durchliefen meinen Körper, als ich die Augen schloss und mich ganz dem lang ersehnten Kuss hingab. Seine Hände durchwühlten meine Haare, fuhren an meinen Seiten entlang, ruhten dann auf meinen Hüften, während ich ganz damit beschäftigt war, nicht in Ohnmacht zu fallen. Alle Gedanken, die mich abgelenkt hätten, waren ausgeschlatet. Es gab nur mich und ihn. „Ich liebe dich“, hauchte er, als er mich wieder freigab. Mir wurde leicht schwindelig. Wie viel mir diese Worte bedeuteten! „Ich liebe dich auch“, flüsterte ich etwas atemlos zurück. Er lachte leise und küsste meinen Hals runter, machte anstallten, mir das T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Wieder durchliefen mich Schauer und jede einzellne Pore in mir prickelte. Gerne hätte ich mich ihm, seinen Berührungen, hingegeben, doch ich fühlte, dass hier nicht der richtige Ort dafür war. Unvermittelt bestürmten mich die Erinnerungen. Eine trat aus allen hervor: Whys Tod. „Nicht hier, nicht jetzt ...“, brachte ich hervor. Mein Hals war vor lauter Erregung wie zugeschnürrt. Er hielt mitten in der Bewegung inne, hatte mir das T-Shirt schon halb über den Kopf gezogen. „Warum?“ Verwirrung war in seinen Augen zu lesen. Ich entwand ihm das Shirt, zog es mir wieder richtig an, lehnte mich gegen die Felswand und begann zu erzählen. Ich berichtete, wie ich herausgefunden hatte, dass es Vampire gewesen waren, die ihn entführt hatten, erklärte, wie ich Why getroffen hatte und alles andere. Als ich zu ihrem Tod kam, musste ich kurz innehalten, denn die Trauer überwältigte mich. Er sagte kein einziges Wort, unterbrach mich nicht, rückte nur näher zu mir und legte einen Arm tröstend um meine Schulter. Ich kuschelte mich an ihn und spürrte seine Anteilnahme. Als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, berichtete ich von meinem Kampf gegen den höchsten der Schattenkreaturen. „Lass uns gehen“, endete ich mit etwas tonloser Stimme. Er nickte, stand auf und zog mich hoch. Wir traten hinaus, Hand in Hand, durch den Farn in das helle wärmende Sonnenlicht. Die strahlende Scheibe stand schon relativ tief am Himmel, es musste wohl so 16 Uhr sein. Wir gingen immer weiter an der Straße entlang bis zu Whys Haus, durch den über und über mit Blumen bewachsenen Vorgarten und klingelten. Ihre Mutter öffnete. „Wo ist Why??“, fragte sie, nachdem sie sich umgeschaut und ihre Tochter nirgends ..51.. entdeckt hatte. „Können wir reinkommen?“, fragte ich, statt ihr eine Antwort zu geben, den Blick gesenkt. Sie nickte beklommen, die Augen dunkel vor Vorahnungen, trat zur Seite und führte uns in die Küche, wo sie uns wohl gerade gemachten Tee einschenkte. Diesen trinkend begann ich zu erzählen. Ich beschrieb, wie wir die Höhle gefunden hatten und Whys Kampf gegen Nex, Timor und Lupa. Ich beendete meine Ausführung mit einer genaugen Beschreibung von diesem Zauber, den Why als letztes gesprochen hatte. „ ,Lux Crux´ hat sie geschrien“, meinte ich, „und dann ist so ein leuchtender Kruzfix über ihr erschienen. Die Vampire sind zu Staub zerfallen und sie ...“ Ich stockte. Tim drückte unter dem Tisch meine Hand, was mir die Kraft gab, weiterzusprechen. „Sie ist umgefallen. Tot. Und hat sich wieder zu einem Menschen zurückverwandelt.“ Ich sah, wie der Frau vor mir Tränen über die Sangen liefen und fühlte mich ganz hilflos. „Ich soll euch – dir un ddeinem Mann – auch noch etwas von Why sagen“, flüsterte ich. „Nämlich das sie euch immer geliebt hat, liebt und ewig lieben wird.“ Meine Stimme brach, als ich ihr verzweifeltes Gesicht sah. „Entschuldigt mich“, schluchzte sie und stürtzte aus der Küche. Beklommen sahsen wir – Tim und ich – da. Der Kuss auf der Wiese fiel mir wieder ein. „Tim ...?“ „Ja?“, fragte er neugierig. „Als ich mit Why die Vampire belauscht hatte und wir fliehen mussten ... Als wir dann auf dieser Wiese waren ... Da ... da ...“ Ich suchte nach den richtigen Worten, während ich seinen erwartungsvollen Blick auf mir ruhen spürrte. „Da haben wir uns geküsst ... so richtig geküsst ...“ Ich sah ihn leicht ängstlich an. Wieder erwarten nahm er mich fest in seine Arme und drückte mich an sich. Ich schmiegte mich an seine Brust. „Vergessen wir das“, flüsterte er in mein Ohr, während er mir, der ich von Schuld- gefühlen geplagt war, beruhigend über den Kopf strich. „Vergessen wir das einfach ...“ Ich nickte, forh darüber, dass er nicht ausflippte oder so. Ich schloss die Augen und entspannte mich etwas, während er mir Liebesbezeugungen zuflüsterte. „Verlass mich nie, OK?“ Ertönte es direkt neben meiner Ohrmuschel. „Ok“, flüsterte ich zurück. „Versprochen?“ „Versprochen.“ Als Whys Mutter gefolgt von ihrem Mann zur Tür hereinkam, sprangen wir förmlich auseinander. Ihr Vater, der erstaunlich gefasst wirkte, während ihre Mutter mich aus verweinten Augen anstarrte, richtete nun das Wort an mich. „Wo ist es passiert?“ Ich beschrieb ihm die Stelle sehr genau, erwähnte auch den Raum, in dem sie lag. „Danke. Und jetzt hol dein Board und geh. Bitte“, meinte er. Ich nickte betroffen, stand auf und war schon fast aus der Tür, als er noch etwas hinzufügte: „Und nehm ihres mit. Sozusagen als Andenken.“ Wieder nickte ich, murmelte etwas verwirrt „Danke“ und kam seiner Aufforderung nach. Wir sahsen in seinem Zimmer auf dem Bett. Ich starrte zu Boden. Die Rückfahrt hatte sich schweigend gestalltet. Auch seine Mutter, die überglücklich gewesen war, ihren Sohn wiederzusehen, hatten wir mit ein paar knappen Worten abgespeißt. Meine Gedanken wanderten an unsere Ankuft zurück. » "Komm, lass in die Kirche gehen", hatte ich gesagt, kaum das wir aus dem Zug gestiegen waren. Er hatte mich einen Moment lang schief angeguckt, dann aber mit den Achseln, dann aber mit den Achseln gezuckt und genickt. Also waren wir auf die Boards gesprungen – ich auf Whys und er auf seins – und Richtung Kathedrale gefahren.. Wir hatten eine wunderschöne Kathedrale hier in Barcelona. Sie besahs auch einen üppigen Garten, in dessen Grün man wunderbar abschlaten konnte. Am schönsten fand ich aber immer noch die Buntglasfenster, jedes ein Unikad. Wir gelangten schließlich an den Placa de la Seu und somit auch an die Kathedrale. Ich hatte gar nicht so richtig mitbekommen, wie wir durch die Altstadt gefahren waren, in deren Mitte die Kathedrale stand. Wir gingen durch das Mittelschiff. Wie immer machte mich die wahnsinnige Größe des Gebäudes ein wenig befangen. Ca. 80 Meter vor mir stand der Altar, die Gebetsbänke waren links und rechts neben mir aufgereiht. Das Licht aus dem hoch oben angebrachten Fenstern beleuchtete den unteren Teil nur spärrlich. Es kam mir so vor, als solle der oben hell erleuchete Teil den Himmel und das Paradies darstellen, während der dunkle Teil die Welt war, auf der wir lebten. Etwas beklommen fragte ich mich, ob wohl Why jetzt auch hoch, hoch oben im Paradies war. Bestimmt. Eine Einzellne, heiße Träne lief mir über die Wange. Ich spürrte einen tröstenden Arm über meiner Schulter. Schließlich waren wir ganz vorne angelangt. Ich kniete mich auf eine Bank, legte das Board neben mich und begann zu beten. Tim tat es mir nach. So sahsen wir dann nebeneinander da. Ich wusste nicht, warum ich ausgerechnet hatte beten wollen. Ich wusste nich, warum Tim das mitmachte, obwohl er so überhaupt nicht an Gott glaubte, obwohl er eigentlich sogar eher Anti-Christ war. Ich wusste nur, dass ich irgendjemanden danken musste. Ich wusste nur, dass Tim dagekniet hatte, gebetet hatte, wenn auch vielleicht nicht ganz so inbrünstig wie ich. Er hatte neben mir gekniet und mir leicht monoton nachgeredet, hin und wieder hatten sich unsere Ellebogen berührt. Dann – nach wohl ca. 10 Minuten – war ich aufgestanden, hatte mich gereckt und ihm hochgeholfen. Ich hatte mich etwas besser gefühlt, denn in mein Gebet hatte ich auch Why mit einbezogen. Danach waren wir in einheitlichen Scheigen zu ihm gefahren. « Nun sahsen wir hier. Das Geschrei seiner Geschwister drang durch das Holz der Zimmertür gedämpft zu uns durch, durchbrochen von dem Gewummer der diveresen Musikstücken. „Ich hab Hunger“, durchbrach Tims Stimme unvermittelt das Schweigen. Ich sah ihn leicht verwirrt an. Irgednwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass so eine einfach Tatsache das bedrückte Nichtssagen zwischen uns beenden würde. Er schien durch meinen Blick verunsichert geworden zu sein, denn er sah kurz zu Boden und fragte: „Du etwa nicht?“ Ich merkte, wie auch mir der Magen knurrte, beeilte mich zu nicken und antwortete: „Doch, ich hab auch Hunger.“ Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Dann warte kurz.“ Mit diesem Worten verschwand er aus dem Zimmer. Ich sahs da und lauschte seinen verklingenden Schritten, was dank des Krachs um mich herum nicht sehr lange gelang. Er lies mich nicht lange warten. Schon nach ca. 15 Minuten kam er wieder ins Zimmer gewankt, ein mit Noutellabrötchen überladenes Tablett balancierend. Außerdem konnte ich eine 1-Liter-Colaflasche erkennen sowie zwei Gläser Er stellte es zwischen uns aufs Bett, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. „Bedien dich!“, meinte er betont fröhlich. Ich grinste, dann nahm ich mir ein Brötchen und begann zu essen. Als ich einen Schluck eisgekühlte Cola drank, spürrte ich, wie die Kälte, die sich in meinem Mund ausbreitete, mich etwas belebte. Wir hatten gegessen, gedrunken und dabei über belanglose Sachen wie etwa skaten und die Schule geredet und ich fühlte mich etwas besser. Nun stellte er das Tablett auf den Boden. Er richtete sich wieder auf und sah mir fest in die Augen. Mein Herz machte einen Sprung, denn ich dachte, er würde mich wieder küssen und tatsächlich: Ich spürrte, wie warme Schauer mich durchliefen, als er einen Arm um mich legte und mich zu sich zog. An ihn gelehnt hielt ich meinen Blick auf seinen gerichtet und sa, wie er lächelte, sah, wie sein Gesicht meinem näher kam ... Mir blieb die Luft weg und wieder explodierte dieses Feuerwerk in mir, als seine Lippen meine berührten. Der Kuss war einerseits stürmisch, andererseits aber auch unendlich zärtlich. Ich besann mich darauf, zu atmen, versuchte mein Bestes, um den Kuss zu erwiedern und war mir mit einem Mal bewusst, wie sehr ich Tim brauchte, wie sehr ich ihn liebte ... Ich wollte – und würde – für immer mit ihm zusammen bleiben. Ich hätte ewig so weiterküssen können, hätte ewig dieses Gefühl haben können, das ich nie mehr vermissen wollte ... Doch schließlich löste er sich von mir. Ich schlug die Augen auf und lag warm und geborgen in seinen Armen. Ich ließ meinen Blick nach draußen schweifen und sah die Sonne, die tief am Himmel stand. Voller Vorfreude dachte ich daran, dass ich bei ihm übernachten würde. Und noch eine Tatsache ließ mein Herz flattern: Ich würde mit ihm in einem Bett schlafen, in seinen Armen einschlafen ... Irgendwo, unter all dem Glück und der Freude begraben, lauerte Whys Tod als schwarzer Schatten, doch ich kriegte ihn ganz gut ignoriert. Später würde ich mich noch damit auseinandersetzen müssen, doch jetzt war nicht die richtige Zeit dafür. Vielleicht war es selbstüchtig, aber ich wollte den Moment genießen, mit allen Sinnen voll auskosten. Kapitel 9: ... Das Ende ----------------------- Wieder sahsen wir auf seinem Bett, es war der 8. Tag, da nahm Tim seine Gitarre zur Hand. Irgendwann hatten wir mal Unterricht darin genommen, mit ebenjenem Instrument spielen zu können, doch ich hatte schnell das Interesse verloren. Gerade mal die groben Grundkenntnisse hatte ich gesammelt, ehe ich aufhörte. Er jedoch hatte privat weitergeübt uns seine Spieltechnik verfeinert. Nun sahs er da, ließ ein paar unzusammenhängende Töne erklingen, sah mich an. Dann fing er an sehr schön zu spielen und sang dazu „Highway to Hell“ von AC/DC. Doch er sang es nicht mit der rauhen Stimme des Sängers, sondern in einer sehr weichen, langsamen, fast traurigen Version. Ich sahs da und hörte fasziniert zu. Nie hätte ich gedacht, dass er – mein Schatz – so gut singen konnte! Und während ich so vor mich insinierte, dachte ich daran, dass ich den „Highway to Hell“ beschritten hatte. Zweimal. Ein mal hin und einmal wieder zurück. Epilog: Epilog -------------- Mein Schatz und ich, wie lagen nebeneinander im Gras. Es war Sommer, wieder waren Ferien. Ich hatte die Augen zum Schutz gegen die Sonne geschlossen und döste vor mich hin. Irgendwie musste ich an die Ferien vor einem Jahr denken. Ein Lächeln huschte über meine Züge, als ich mich daran erinnerte, wie meine Mutter reagiert hatte, als ich ihr erklärte, dass ich mit Tim zusammen war. Bestürtzt hatte sie reagiert, sprachlos. Lange Gespräche hatte sie mit mir geführt. Ich war standhaft geblieben, hatte immer und immer wieder erklärt, dass Tim das und der Beste für mich sei. Ich hatte ihr auch klargemacht, dass ich trotzdem mit Tim zusammenbleiben würde, selbst wenn sie es verbiete. Irgendwann war sie dann einsichtig geworden. Tims Mum hatte es sehr locker genommen. „Dann ist es halt so“, hatte sie mit einem Zwinkern gemeint und uns einen Eistee eingeschenkt. Nicht viel hatte sich in meinem Leben grundlegend verändert. Ich und Tim, wir sahen uns jetzt nur noch öfter, so weit das möglich war. Aber sonst ... Eine Hand berührte mich sacht an der Schulter. Ich zuckte zusammen, hatte nicht gehört, wie er aufgestanden war. Er lächelte, als er meine Reaktion sah, dann küsste er mich, sanft und lange. Hatte ich mich bei seiner Berührung leicht aufgesetzt, so lag ich jetzt wieder. Ich spürrte seine Lippen und es war unbeschreiblich schön. Alles schien aus den Fugen geraten zu sein, wirkte unwichtig. Die Geräusche der Vögel, die in den Bäumen vergüngt zwischerten, rückten in den Hintergrund. Ich spürrte das Gras, das mich an meinen nackten Armen und Waden kitzelte, kaum noch. Ich spürrte nur ihn, der er halb auf mir lag. Vielleicht war nur eine Sekunde vergangen, vielleicht auch eine Ewigkeit, ich hätte es nicht sagen können, da löste er sich wieder sanft von mir und ich wurde mit einen Ruck in die Realität zurückversetzt. Der Gesang der Vögel drang laut zu mir durch. „Komm, lass uns gehen“, flüsterte er, beugte seinen in meinen Augen perfekten Oberkörper zu mir runter und hielt mir eine Hand hin, um mir hochzuhelfen. Ich ergriff sieund zog mich an ihr hoch. Wir gingen nebeneinander, Hand in Hand, von unserem Lieblingsplatz, einer Lichtung im Wald, Richtung Zuhause. Vorbei an dem Ort, wo vor zwei Jahren noch eine Blume des Unheils geblüht hatte, welche jetzt jedoch schon lange verwelkt war. Es war ein weiter Weg, immer an der Straße entlang, bis zu unserem einstöckigem Haus, welches wir uns gekauft hatten. Doch der Weg machte uns nichts aus. Verbunden durch das unsichtbare Band der Liebe gingen wir immer weiter, dem Sonnenuntergang entgegen, der alles in ein sattes Rot tauchte. Hosted by Animexx e.V. 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