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Die Herzschwert-Saga

Die Hüterin des Herzschwertes
von

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Prolog

Mit ausdruckslosem Gesicht starrte der alte Mann aus dem Fenster des riesigen Saals. Das Gesicht, bereits vom Alter und unzähligen Schlachten gezeichnet, blieb eine ausdruckslose Miene. Niemand vermochte nur einen Regung aus diesem zu lesen. Die gnadelosen Augen beobachten den Fall der unzähligen Regentropfen, die auf die Stadt niedergingen, die er von dem Fenster aus sehen konnte. Ein Blitz zuckte aus den dichten schwarzen Wolken, dicht gefolgt von einem lauten Donner, der die Nacht für kurze Zeit zum Tage machte.
 

Der Saal, in dem er sich aufhielt, war von unzähligen Fackeln erleuchtet. Wandteppiche, Rüstungen, Waffen und Schilder aus allen Herren Ländern dekorierten die gewaltigen Wände und Säulen des Raumes, der für mindest zweihundert Menschen Platz hatte. An der Südseite des Saals befand sich eine gigantische Flügeltür, die wie für einen Riesen gemacht worden war. Mindestens ein dutzend Männer konnte nebeneinander dort hindurch gehen, um sich nicht gegenseitig anzurempeln. Auf der gegenüber liegenden Seite stand ein prachtvoller Thron, gefertigt aus dem dunklen Stein des Schwarzsteingebirges, das nur wenige Meilen von Otomor, der Hauptstadt des Otomorischen Imperiums, entfernt lag. Der Steinthron wurde geziert von unzähligen Runen und Namen vergangener Herrscher. Gepolstert war er mit Daunenfederkissen, deren Stoff aus feinster Seide bestand. Über dem Thron prangte ein riesiger Schädel aus purem Stahl an der Wand. Gekreuzte Klingen befanden sich hinter dem detailgetreuen Bildnis und funkelten in einem unheilvollen silbrigen Schein. Das Wappen Otomors.
 

Der alte Mann wand sich dem Fenster ab und warf dem Thron einen kurzen Blick zu, bevor er langsamen Schrittes zu der Tür ging, die nicht weit ab des Herrschersitzes eingelassen war. Er spürte die Blicke seiner Leibwächter, der Imperialen Gardisten, die zwischen den Rüstungen standen, in ihren rot-silbrigen Rüstungen, mit den hohen Helmen und den tödlichen Lanzen und Langschilden in den gepanzerten Händen. Sie standen so regungslos wie Statuen da, doch wusste der Imperator, dass sie lebten und sich unter dem geformten Stahl Männer aus Fleisch und Blut befanden.
 

Der alte Herrscher des Imperiums schritt durch die Tür und betrat den Flügel der Festungsburg, der allein seiner Familie bestimmt war. Eine Fackel erhellte sein Gesicht und bot einen Blick auf sein längst ergrautes Haar. Vor langer Zeit hatte er es lang und offen tragen können, denn zu jener Zeit hatte er sich keine Sorgen um seine Haarpracht machen müssen, die so schwarz wie die Nacht gewesen war. Doch nun war es kurz geschnitten und so grau wie die Klinge eines alten Schwertes. Sein Gesicht wurde von einem sauber gestutzten Bart geziert, der ihn erwürdig erschienen ließ. Seine Augen waren von tiefstem Blau, erschienen fast schon so, als wären sie Schwarz. Trotz seines Alters war der Imperator ein großer Mann von zwei Metern. Seine Muskeln waren noch stark und fest, doch sein Körper hatte in der langen Zeit, in der nicht mehr in die Schlacht zog, an einigen Stellen Fett angesetzt. Dennoch würde er noch heute einem Bären aus den Höhlen das Genick mit bloßen Händen brechen können.
 

Seine Schritte halten durch den verlassenen Flur – wenn man von den Gardisten einmal absah, die an jeder Ecke standen. Seine Schritte waren zielstrebig und führten ihn an den Gemächern seiner Kinder vorbei, die alle etwa schliefen oder irgendwo in seinem Imperium unterwegs waren. Seine Gedanken hingen dabei an seiner ältesten Tochter, die zur Zeit sogar das Imperium verlassen hatte, um einen seiner größten Feldherren aufzusuchen, um sich über den Verlauf seines Feldzuges zu erkundigen. Ob sie schon angekommen war, fragte sich der alte Herrscher Gedankenverloren, während seine Füße ihn weiter führten. Sicher würde sie längst mit Droun Schattenklinge, dem Obersten der Schwarzen Ritter und Herrn des Klingenheers, darüber diskutieren, wo die Truppen entlang ziehen sollten, um schneller an ihr Ziel zu kommen.
 

Schnell vertrieb er diese Gedanken. Er brauchte sich keine Gedanken um seine Tochter machen, denn sie wusste, was sie tat und wenn sie sich irren sollte, würde Droun sie längst zu Recht gewiesen haben, wie er es immer zu tun pflegte. Seine Schritte wurden langsamer, als der Imperator seine eigenen Gemächer erreichte. Neben der Tür salutierten die beiden Gardisten und schlugen ihre Hände auf die Brustpanzer. Das Zeichen ihrer Ehrerbietung ihrem Herrscher gegenüber. Er achtete gar nicht darauf, ging einfach durch die große Tür und schloss sie wieder hinter sich. Sein Blick flog einmal quer durch den Raum. Eine Angewohnheit, die ihm schon so manches Mal das Leben gerettet hatte. Zu viele Meuchelmörder waren schon ausgesandt worden und hatten im Namen benachbarter Reiche nach seinem Leben getrachtet.
 

Sadrojor verschwendete keinen Gedanken mehr an alte Geschichten, sondern ging zu seinem Bett. Dort begann er sich auszukleiden und warf die kostbaren Kleider achtlos über einen nahen Stuhl, bevor er sich unter die dicke Pelzdecke legte und sich von deren Wärme einlullen ließ.
 

Er erhob sich noch einmal und sah zu den Fackeln, die immer noch brannten in dem Fensterlosen Zimmer. Er klatschte einmal in die Hand und schon erlosch das Feuer wie durch Geisterhand. Ein Geschenk der Schwarzmagier von Lorn Grenon.
 

Kaum hatten sich seine Augen geschlossen, flammten um ihn herum alle Fackeln auf. Sadrojor schreckte sogleich auf und griff nach seinem Schwert, das neben dem Bett immer bereit stand. Zwar war es nicht das imperiale Schwert, das er schon in unzählige Schlachten mitgeführt hatte, wie seine Ahnen zuvor auch, dennoch würde es seinen Zweck erfüllen.
 

Die Flammen um ihn herum erloschen sogleich wieder, dafür flammte das magische Feuer in den Fackelhaltern auf. Verwirrung und Überraschung spiegelte sich deutlich im Gesicht des Imperators wieder, als er dieses Geschehnis beobachtete. Doch seine Überraschung wuchs weiter an, als auf einmal ein alter Mann in Robe und mit langem silbernem Bart mitten in seinem Schlafgemach stand, sich dabei auf einen knorrigen Stab stützte und ihn ansah.
 

Das Gesicht des Alten war hager und von Falten übersäht. Eine Harkennase krönte das ganze Bild noch zusätzlich, wie auch der lange, silber-graue Bart, der bis zu der Brust des Mannes reichte. Die Augen des Eindringlings waren von tiefem Azurblau und strahlten warmherzig. Die Robe bestand aus blauem Stoff, auf dem unzählige Zeichen und Runen aufgestickt wurden. Der Stab des Alten wirkte, als wäre er aus der Wurzel eines alten Baumes geschnitzt worden. Er schien fast so, als würde er jeden Moment in Zwei brechen.
 

„Wer bist du?“, herrschte ihn Sadrojor finster an, sprang aus seinem Bett und richtete, ungeachtete seiner Nacktheit, sein Schwert auf den Eindringling. Er hoffte, dass jeden Moment seine Leibwache durch die Tür kommen würde und den Alten nieder rang. Doch nichts geschah. Hatten die Wachen ihn nicht gehört?
 

„Keine Angst, Sadrojor Schädelmeister“, sagte der Alte freundlich und lächelte sein Gegenüber an. „Ich führe nichts Böses im Schilde. Ich bin kein Meuchelmörder, der dir nach dem Leben trachtet.“ Er ächzte kurz und schlürfte zu dem gepolsterten Sessel, der vor dem Kamin stand. Dort ließ er sich hinein sinken und legte den Stab auf seine Beine. „Diese Steherei geht einem ziemlich in die Knochen. Das kann ich dir sagen, Jungchen.“
 

Ungehalten knurrte der Imerator und machte einen bedrohlichen Schritt auf den Alten zu. „Ich will nichts über deine alten Knochen hören, alter Narr!“, herrschte der Herrscher Otomors den sitzenden Mann an. „Raus mit der Sprache! Was willst du hier?“
 

Ein Seufzer entrang sich der Kehle des alten Mannes. „Immer so Ungeduldig“, brummte er und warf dem Imperator einen tadelnden Blick zu. „Genau wie dein Vater. Das muss wohl in der Familie liegen, was?“
 

Die Erwähnung seines längst verstorbenen Vaters ließ das Gesicht Sadrojors nur noch finsterer werden. Doch sagte er nichts dazu, denn sein Vater war nicht mehr der Imperator, sondern er und niemand sonst. „Halt mich nicht zum Narren, alter Mann“, drohte er dem anderen, „sonst bohre ich dir meine Klinge durch den Hals und sehe zu, wie dir das Blut in Strömen hinaus fließt.“
 

„Immer diese Ungeduld“, brummte der Alte erneut. Dieses Mal warf er Sadrojor einen warnenden Blick zu, der sogar den Kampf erfahrenen Herrscher zurück weichen ließ. „Und droh mir nicht, Jungchen, sonst könnte ich mich gezwungen sehen, dir eine Lektion zu erteilen, die du nie mehr vergessen wirst.“
 

„Wer bist du?“, stieß der Imperator unter zusammen gebissenen Zähnen hervor und beäugte den Alten genau. Irgendwas stimmte mit dem Mann nicht. Wie war er in seine Gemächer eingedrungen, ohne das er etwas gehört hatte oder das die Wachen Alarm geschlagen hätten? Wo war das seltsame Feuer hergekommen? Warum war seine Leibgarde nicht längst an seiner Seite? Dieser Mann vermochte ihn, dem mächtigsten und gefürchtesten Mann Otomors Angst ein zu jagen. Seit Jahren hatte dies keiner mehr vermocht. Kein Mensch, kein Ungeheuer, kein Dämon. Warum grade dieser Alte?
 

Das Lächeln erschien wieder auf dem faltigen Gesicht. „Wer glaubst du denn könnte ich sein?“, fragte ihn der Alte grinsend. Sadrojor runzelte die Stirn. Wer konnte dieser alte Mann nur sein? Diese Frage stellte er sich der Imperator schon die ganze Zeit über, fand aber keine passende Antwort darauf. Er war bereits auf den Gedanken gekommen, das es sich um einen Magier handeln könnte, doch dies schein schier unmöglich zu sein. Die Schwarzmagier von Lorn Grenon hatten vor Jahrhunderten einen magischen Schutz über die Gemächer gelegt, der jeden Reisezauber oder magisches Portal neutralisieren konnte. Ein mächtiger Zauber, denn es lebte kein Zauberer auf Konass, der mächtig genug war, um diesen Zauber aufzuheben. Außer…
 

Das Gesicht des otomorischen Herrschers wurde bleich, bleicher, als es jetzt schon war. „Der Magus“, kam es leise über seine Lippen. Der Mächtigste der Magier war in seinen Gemächern und machte es sich gemütlich in einem seiner gepolsterten Sessel! Was suchte dieser hier? Was wollte er von ihm? Der Magus war zwar der mächtigste Magier, der auf Konass wandelte, aber er mischte sich für gewöhnlich in die Angelegenheiten der Sterblichen nicht ein. Es war das erste Mal, seit Bestehen des Imperiums, das der Magus Otomor wieder aufsuchte. Es mussten Jahrhunderte seit seinem letzten Besuch vergangen sein.
 

Der alte Mann sah ihn freundlich an und nickte zustimmend. „Genau der bin ich“, sagte er zu ihm, als wäre dies nichts besonders. „Und nun mach den Mund zu und zieh dir was über. Ein großer Herrscher, wie du, kann sich doch nicht nackt dem Magus zeigen. Was sollen die Leute von dir denken?“
 

Schon wieder machte sich der Magier über ihn lustig, doch Sadrojor sagte nichts dagegen. Schnell streifte er sich seinen Morgenmantel über und legte das Schwert auf sein Bett. Es würde ihm nichts bringen, weiterhin die Klinge in Händen zu halten. Der Magus konnte ihn mit einem einzigen Blick vernichten. Und dies wollte er verhindern.
 

„So“, meinte der Magus und zeigte auf den anderen Sessel, der vor dem Kamin stand, „und nun setz dich, damit wir in ruhe reden können.“ Als Sadrojor platz genommen hatte, schnippte der Magus mit einem seiner krummen Finger und ließ ein Feuer im Kamin aufflammen. Kurz darauf erschein ein kleiner Schemel vor den Füßen des Alten und der Magus legte diese auf das Möbelstück, um seine Füße am Feuer zu wärmen.
 

Der Imperator sah den Magus misstrauisch an. „Worüber willst du mit mir reden, Magus?“, fragte Sadrojor murrend.
 

Der Magus antwortet nicht sofort, sondern betrachte den Imperator eingehend. Als er antwortete, war seine Stimme vom Ernst erfüllt. „Ich will dich nur warnen“, sage der Magus zu ihm. „Ich hab gehört, dass du planst in Helios einzurücken. Vergiss das lieber, wenn dir dein Leben lieb ist.“
 

Die Augen des Imperators weiteten sich vor Überraschung. Wie hatte der Magus von den geheimen Plänen über den Feldzug gegen Helios erfahren? Sadrojor und seine besten und treuesten Generäle hatten viele Monate lang über den Schlachtplänen gebrütet und kein Wort war an einen Außenstehenden weiter gegeben worden. Der Angriff sollte ganz überraschend stattfinden. Helios war schon Jahrhunderte lang ein hartnäckiger Gegner gewesen und hatte jede Bemühung, ins Landesinnere zu gelangen zu Nichte gemacht. Doch jetzt hatte Sadrojor einen Plan geschmiedet, der so ausgeklügelt war, das nicht mal die besten Taktiker des benachbarten Reiches darauf kommen mochten. Skorm hatte ihm eines Tages den Plan, im Schlaf, eingeflüstert und der Imperator, der ein großer Verehrer des Gottes der Eroberung und Zerstörung war, hatte ihm mit einem Liter seines eigenen Blutes dafür gedankt. Doch jetzt verlangte dieser alte Narr, dass er den Angriff abblassen sollte. Er würde niemals von seinen Plänen ablassen, denn nur Skorm allein konnte ihm dies befehlen. Und Skorm war seiner Meinung.
 

„Niemals“, knurrte Sadrojor den Magus an und sprang dabei aus seinem Sessel. Der Glaube an die Macht seines Gottes gab ihm den Mut, dem Magus entgegen zu treten. „Helios wird ein Teil des Imperiums und deine Worte können mich nicht davon abhalten, die Pläne meines Gottes und die meinen zu verwerfen. Soll dich der Zorn des Skorm treffen, alter Narr!“
 

Ein trauriger Seufzer entrang den welken Lippen des Magiers. „Du bist ein sturer Hund“, meinte er und sah ihn in die blauen Augen. Er erhob sich und stützte sich auf seinen knorrigen Stab. „Aber sei gewarnt. Es wird jemand kommen und Rache für deinen Angriff auf Helios nehmen. Und dieses Mal wirst du den Tot finden.“
 

Der Herrscher des Imperiums lachte spöttisch auf. „Wem sollte dies gelingen, was hunderten zuvor nicht gelungen war?“, fragte er voller Hohn in der Stimme.
 

„Demjenigen, der das Zeichen des Herzschwertes trägt“, sagte der Magus ernst und wand ihm den Rücken zu. Hinter ihm erstarte Sadrojor vor Unglaube und Schreck. Das Zeichen des Herzschwertes? Das war nicht möglich! Das konnte nicht sein!
 

„Unmöglich“, knurrte der Imperator. „Das Herzschwert ist eine Legende, ein Singsang der Barden, die von falschen Hoffnungen singen, um sich eine Kupfermünze zu verdienen.“
 

„Glaubst du das wirklich, Sadrojor Schädelmeister?“, fragte ihn der Magier und wand sich ihm ein letztes Mal zu, mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen. Er ließ seinen Stab einen kurzen Schwenk machen, worauf ein magisches Portal vor dem Magus erschien. Die Blauglühende Magie des Tors weitete sich immer weiter aus, bis es groß genug für den greisen Magier war. Mit nur einem einzigen Schritt durchwanderte er es und verschwand vor den Augen des otomorischen Imperators. Bald verblasste die Magie und verwischte jede Spur des mächtigsten Erzmagiers Konass.
 

Die Augen Sadrojors hafteten auf der Stelle, wo der Magus noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte. Er stand wie erstarrt da, seit der Alte seine letzten Worte an ihn gerichtet hatte. Glaubst du das wirklich, waren sie gewesen. Die Selbstsicherheit war wie weggewischt aus dem mächtigen Mann. Hatte der Magus die Wahrheit gesprochen, fragte er sich, oder wollte er ihn nur verunsichern? Die Worte des Magiers hatten ernst geklungen, obwohl ein amüsiertes Funkeln in den alten Azurblauen Augen zu sehen gewesen war. Der Imperator musste Gewissheit haben, dass die Worte des Alten nicht der Wahrheit entsprachen. Zuviel hing von der Eroberung Helios ab. Wenn Helios fallen würde, gäbe es kaum noch jemanden, der das Otomorische Imperium aufhalten könnte.
 

Sadrojor kleidete sich an und rief nach einem Kurier. Die Diener Skorms mussten ihm helfen.
 

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1. Akt: Beginn einer Geschichte

1. Akt

Beginn einer Geschichte
 

Den Wert eines Kriegers erkennt man nicht an der Schärfe seines Schwertes,

Sondern an seinem kämpferischen Talent in der Schlacht.

Und eine Frau an der Stärke ihres Herzens.

Denn ihr Herz ist mächtiger als jede Waffe Konass.
 

Garn Jokoss,

reisender Barde aus den Ländern des Drachenkönigreichs
 

***
 

Das Klirren von Stahl auf Stahl erfüllte die kleine Schmiede. Im gleich bleibenden Takt hämmerte der schwere Hammer auf das glühende Stück Eisen, das auf dem schmiede eisernen Amboss lag. Der Schmied, ein großer Mann mit muskulösen Körper und dessen Haupt durch die jahrelange Arbeit in der Hitze seiner Schmiede kahl geworden war, stand aufrecht an seiner Arbeit und bearbeitet das Stück Eisen unermüdlich. Sein Gesicht schien wie aus Stein gemeißelt zu sein, denn sein Blick war hoch konzentriert und ernst. Es bildeten sich bereits Falten auf dem Gesicht, denn er war nicht mehr der Jüngste und kam seinem fünfzigsten Lebensjahr immer näher.
 

Mit geübtem Griff um die Zange, die das glühende Eisen hielt, hob er es von dem Amboss und schob es in den großen Wasserbotisch. Sofort zischte Dampf, als das erhitzte Stück Eisen auf das kalte Wasser traf. Schnell zog der stämmige Mann es aus dem Wasser und warf einen prüfenden Blick auf seine Arbeit. Ein zufriedenes Grunzen entrang sich seiner Kehle. Er schob das Eisen in die Esse zurück und ließ es sich wieder erhitzen, bis es wieder rot glühte. So machte der Schmied weitere Male, bis man dem Eisen seine zukünftige Form ansehen konnte. Eine Sichelklinge.
 

Das Knarren des alten Tors der Schmiede erregte seine Aufmerksamkeit und lenkte ihn vorübergehend von seiner Arbeit ab. Seine braunen Augen, die unter einer wulstigen Stirn und buschigen Brauen lagen, wanderten zu dem Tor und erblickten eine schlanke Gestalt, deren Rücken von der warmen Herbstsonne beschienen wurde. Der Mann musste etwas blinzeln, denn die Sonne blendete ihn, bevor er erkannte, wer ihm da einen Besuch abstatte.
 

Ein warmes Lächeln umspielte sein hartes Gesicht, doch es wich einem besorgten Ausdruck, als er das leise Schluchzen vernahm, das von seinem Besuch her an seine Ohren drang. Er ließ seinen Schmiedehammer auf den Boden fallen und marschierte der zierlichen Person entgegen, die zu ihm gerannt kam. Mit weit gespreizten Armen warf sie sich an seine stämmige Brust und weinte bitterlich.
 

Beruhigend schloss er seine muskelbepackten Arme um das junge Mädchen und strich ihm über das rabenschwarze Haar, das ihr lang über den Rücken fiel. „Was ist passiert?“, fragte der große Mann sie. Sie zögerte noch mit einer Antwort, denn ihre Stimme wurde immer wieder von einem Wimmern oder Schluchzen geschüttelt.
 

Als sie ihre Stimme einigermaßen wieder im Griff hatte, stotterte sie unter Tränen: „Die anderen haben mich wieder geärgert.“ Das Mädchen hob seinen Kopf und sah den Schmied mit tränennassem Gesicht an. Der kahlköpfige Schmied wusste sofort, wenn sie meinte. Die Dorfkinder. Sie ärgerten sein Mündel tagein und tagaus. Und das nur, weil sie nicht so war, wie die anderen.
 

Denn das Mädchen war eine Halbork, ein Wesen halb Mensch, halb Ork. Jeder der sie das erste Mal sah, fiel ihre grünliche Haut auf, wie auch die leicht spitz zulaufenden Ohren, die für gewöhnlich von ihrem schwarzen Haar verdeckt waren. Ihre Augenbrauen waren um einiges buschiger, als es bei einem Kind üblich war und in ihre Zähne ähnelten dem eines jeden Orks, waren sie doch wesentlich gepflegter. Doch sonst ähnelte sie einem gewöhnlichen Kind. Sie war genau so groß wie alle Kinder von vierzehn Wintern, hatte dasselbe unschuldige Gesicht und die neugiereigen Augen, deren Iris von gelber Färbung waren. Ihr Körper war zierlich und wies alle darauf hin, dass sie zu einer Frau heranreifte. Ihr Busen zeichnete sich bereits unter dem Stoff ihres langen Kleides ab und ihre Lippen wurden allmählich voller. Trotz ihres Erbes war sie ein Kind wie jedes andere, das gerne spielte und herum tobte. Doch das Leben unter Menschen machte dies nicht immer einfach.
 

Dem Schmied fiel das geschwollene Auge auf, als er das Gesicht des Mädchens ansah. Sein Gesicht rötete sich vor Zorn und er fragte: „Haben sie gewagt dich zu schlagen?“ Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe. Dem Mann entging nicht, dass ihre Lippen bluteten. „Sei ehrlich, Fynn.“ Der Mann sah ihr eindringlich in die gelben Augen.
 

Unter diesem Blick schien das Halbork-Mädchen noch kleiner zu werden. Sie senkte den Blick und presste ihr Gesicht wieder gegen die Lederschürze des Schmiedes. „Ich bin nur gefallen, Onkel“, meinte sie kleinlaut. Er wusste, dass seine Nichte log, damit er sich nicht zu viele Gedanken ihretwegen machte. Doch Berold machte sich immer Gedanken um die Tochter seiner verstorbenen Schwester. Schließlich war Fynn alles, was ihm von ihr geblieben war und sie lag ihm sehr am Herzen.
 

„Fynn“, brummte er leise und strich ihr wieder über das rabenschwarze Haar. Er schob sie auf Armeslänge von sich weg und kniete sich vor sie, damit sie ihm ins Gesicht sehen musste. Das Mädchen erwiderte seinen Blick etwas widerwillig, hielt ihm aber stand. „Nun sag, was passiert ist. Und flunkere mich nicht wieder an.“
 

Ein leises Wimmern entrang ihrer Kehle, bevor sie leicht nickte. Berold merkte, das es ihr schwer fiel, darüber zu sprechen, doch sie gehorchte. „Ich wollte dir etwas zu essen bringen“, fing sie an zu sprechen. „Die anderen haben mir aufgelauert und mir den Weg versperrt. Ich wollte einfach an ihnen vorbei gehen, doch sie ließen mich nicht. Der dumme Garyn wollte mir dein Essen wegnehmen, aber ich hab ihn einfach weg gestoßen und gesagt, das es für dich ist, Onkel.“ Berold schnaubte, als er den Namen des Jungen hörte. Genau wie sein Vater Garynal, war auch Garyn ein übler Bursche, der mit jedem Streit suchte, nur um zu beweisen, wie stark er doch war. Und Fynn war sein liebstes Opfer, schon seit klein auf. „Aber er wollte wie immer nicht aufhören und begann dich als stinkenden Scheißeschaufler zu beschimpfen. Und da hab ich mich auf ihn gestürzt und wir haben uns geschlagen.“
 

Berold sah seine Nichte an und musste lachen. Eigentlich hätte er wütend sein sollen, doch die Geschichte, wie Fynn sich auf den stämmigen Garyn stürzte und zu Boden rang, war zu komisch. Der Junge war mindestens einen Kopf größer als sie und hatte jetzt schon gehörig Kraft im Leib. Wenn das sein Vater hörte, der würde vor Scham rot anlaufen. Berold würde dies nur zu gerne sehen.
 

„Wirklich, Fynn“, schmunzelte der Schmied und tätschelte seiner Nichte die Schulter. „Eine gute Geschichte. Das Gesicht von Garyn sah sicher zum Lachen aus, als du ihn zu Boden gerungen hast.“ Sein Gesicht wurde nun ernst und sein Blick eindringlich, wie man es von dem stämmigen Mann gewohnt war. „Dennoch hast du falsch gehandelt, Kind. Ein Kampf löst keine Probleme, sondern macht viel mehr welche. Versuch einem Kampf immer aus dem Weg zu gehen und hör nicht darauf, was diese Trottel sagen. Nicht einmal, wenn sie mich als einen stinkenden Scheißeschaufler beschimpfen. Stell dich taub und geh einfach weiter.“
 

Fynn sah ihn nicht grade begeistert an. „Das kann ich nicht“, sagte sie und schniefte einmal. „Wenn sie so abfällig über dich reden, dann sehe ich nur noch rot. Wie kann ich einfach weghören, wenn sie deine Ehe so beschmutzen?“
 

Er zwinkerte ihr zu und sagte: „Ganz einfach. Ruf mich und ich versohle ihnen mit meinem besten Hammer gehörig den Hosenboden.“ Ein leises Kichern kam von Fynn und erwärmte das Herz des Mannes. Ja, so mochte er das. Das Mädchen sollte immer lächeln und lachen, dann wäre der Schmied um einiges glücklicher gewesen.
 

Eine laute Stimme drang den beiden an die Ohren. Berold und Fynn traten vor die Schmiede und entdeckten einen großen, stämmigen Mann, dessen Haar so blond wie Weizen und sein kantiges Gesicht vor Wut rot angelaufen war. Auf seiner Schulter trug er eine Axt, die fürs Fällen von Bäumen wie geeignet war. Neben ihm stand ein Junge, der ihm bis aufs blonde Haar glich, denn seins war von dunklem Braun und er war einen Kopf kleiner, als der andere. Die blutige Nase und die geschwollene Lippe des Knaben verrieten dem Schmied, das der Kampf zwischen ihm und seiner Nicht für den großen Jungen nicht weniger schmerzhaft zu Ende gegangen war.
 

„Garynal“, begrüßte ihn der Schmied und nannte den Mann beim Namen. Berold konnte sich denken, warum der Holzfäller hier war. Sein Junge hatte ihm sicher eine Lüge aufgetischt und der stämmige Mann würde sicher verlangen, das Berold Fynn raus rückte, damit er sie bestrafen konnte.
 

Es sammelten sich mittlerweile Schaulustige, die wissen wollten, was da vor sich ging. Die Bewohner Steindorfes wussten alle, das es etwas mit Fynn zutun haben musste. Schließlich lagen Berolds und Garynals Familie seit langen im Streit, nur, weil Garyn die kleine Halbork immer wieder ärgerte und terrorisierte. Doch achtet Berold, wie immer, nicht auf sie. Allein Garynal galt seine Aufmerksamkeit. Hinter ihm versteckt stand Fynn, die hinter dem breiten Rücken ihres Onkels hervor lugte, um alles mit zu bekommen, was jetzt geschehen würde.
 

„Spar dir deine falsche Freundlichkeit, Schmied“, knurrte der Holzfäller und funkelte Berold Unheil verkündend an. „Was fällt deinem kleinen Bastard ein, meinen Sohn anzugreifen?“
 

„Hüte deine Zunge, Garynal Holzfäller“, brummte Berold, der sich von dem anderen Mann nicht einschüchtern ließ. Außerdem loderte in ihm der Zorn auf, weil er es gewagt hatte, seine Nicht zu beleidigen, „sonst zeig ich dir, wie ich mein Eisen forme.“
 

„Komm nur her, alter Mann“, höhnte der andere, doch war er einen Schritt zurück gewichen. Trotz Berolds Alter war der Schmied noch in beachtlicher Verfassung und hatte so einige Kämpfe gewonnen. Besonders bei den Ringkämpfen im Herbst, wo sich die Steindörfer zu den traditionellen Spielen trafen, war er immer wieder als Sieger hervor gegangen. Niemand war stärker als er und das wusste Berold auch. „Meine Axt wartet nur.“
 

„Red nicht so wirres Zeug, Holzfäller“, sagte Berold kalt und funkelte den anderen an. „Du wolltest reden, so erschien es mir eben zumindest. Also rede. Ich will nicht zuviel von meiner kostbaren Zeit vergeuden, nur weil dir dein Knabe dummes Zeug erzählt hat.“
 

„Beleidige nicht meinen Jungen, Bastardtreiber“, warnte Garynal wütend und richtete seine schwere Axt mit nur einem Arm auf den Schmied und dessen Nichte. „Das Mädchen wird zum wilden Tier und greift schon Kinder an.“
 

„Ach, meinst du?“, fragte Berold und stemmte seine Arme in die Hüften. „Ich hätte dem Jungen auch eine verpasst, wenn er meine Nicht auf übelste beleidigt hätte.“
 

Garynal und sein Sohn wechselten einen kurzen Blick, bevor der Holzfäller den Schmied wieder ansah. „Verdreh nicht die Tatsachen“, fuhr ihn der Holzfäller an. Seine Sicherheit wankte bereits, wie Berold auffiel. „Das kleine Biest hat meinen Jungen angefallen und das aus keinem Grund! Sogar gebissen hat sie ihn!“
 

Berold hob eine Augenbraue und warf Fynn, die weiterhin hinter ihm stand, einen fragenden Blick zu. Das Halbork-Mädchen erwiderte seinen Blick und errötet leicht. Da müssten die beiden nachher ein ernstes Wort wechseln, dachte er und wand seine Aufmerksamkeit wieder dem anderen Mann zu. „Gebissen? Und was hat dein Junge gemacht? Er hat ihr mal `wieder´ aufgelauert und belästigt. Dazu hat er mich als“, er sah einmal kurz auf den Jungen an, der unter dem strengen Blick des Schmiedes zusammen zuckte, „stinkender Scheißeschaufler bezeichnet.
 

Von den Umstehenden erhob sich leises Gemurmel. Sie konnten nicht glauben, dass jemand die Dreistigkeit besaß, den angesehenen Schmied derartig zu beleidigen. Den zornigen Garynal verstanden sie, denn allein aus Wut und Zorn waren ihm die Beleidigungen über die Zunge gekommen. Garynal wand sich seinem Jungen zu und funkelte ihn sogleich an. Der Knabe zuckte vor seinem Vater zurück.
 

„Was hast du gesagt?“, herrschte ihn sein Vater an und wenig später erklang ein lautes Klatschen und der Bursche lag im Straßen Staub und hielt sich wimmernd die linke Wange, auf die die Hand seines Vaters getroffen war. „Na warte bis wir wieder zu Hause sind! Dann kannst du was erleben! Deine Mutter wird schäumen vor Wut!“
 

„Garynal“, sagte Berold, worauf der Holzfäller ihm einen mürrischen Blick zuwarf.
 

„Was ist?“
 

„Dein Junge soll sich bei meiner Nichte entschuldigen“, verlangte der Schmied und sah ihn mit warnendem Blick an. So einfach würden ihm der Holzfäller und sein missratender Sohn nicht davon kommen. „und ich verlange von dir Wiedergutmachung.“
 

„Was?“, herrschte ihn Garynal an und kam direkt auf den Schmied zu, bis sich beide Gesichter nur noch wenige Zoll voneinander befanden. „Eine Wiedergutmachung? Hat dir die Hitze in deiner Esse schon das Hirn durch geschmort?“
 

„Gewiss nicht“, sagte Berold ruhig und erwiderte den Blick des Manns eisern. „Es ist sogar mein gutes Recht. Wegen dir musste ich meine Arbeit unterbrechen und es gibt noch viel zutun, Holzfäller.“ Garynal knurrte leise und nickte. Er erinnert sich an die alten Gesetze von Steindorf. „Dann will ich, dass dein Junge einen Monat in meiner Schmiede aushilft.“
 

„Mein Junge?“, fragte Garynal überrascht und sah Berold mit großen Augen an. Wie auch alle anderen. Besonders Fynn, der der Gedanke daran, den Sohn des Holzfällers nun täglich sehen zu müssen, gar nicht gefiel. Zudem wusste jeder, das Berold den Jungen überhaupt nicht mochte.
 

„Ja, dein Junge“, erwiderte der Schmied und verschränkte die kräftigen Arme vor der stämmigen Brust. „Du brauchst ihn doch im Moment nicht, soweit ich weis. Erst im Winter muss er dir doch wieder zur Hand gehen, oder?“ Garynal nickte zögerlich. „Also kann er ruhig einen Monat bei mir arbeiten. Dann wird er dir auch nicht weitere Sorgen bereiten.“
 

Garynal schien der Gedanke, dass sein Junge bei dem Schmied arbeiten sollte, nicht zu gefallen. „Na gut“, willigte er schließlich ein, was alle Anwesenden verwunderte, besonders Fynn und Garyn, die beide Männer mit ungläubigen Augen anstarrten. „Aber auch nur einen Monat, verstanden?“
 

Berold nickte. Beide Männer reichten sich als Zeichen ihres Einverständnisses die Hände und drückten feste zu. Dabei sahen sie sich die ganze Zeit über an. Als sich beider Hände voneinander lösten, wanden sich beide voneinander ab und gingen voneinander weg, Berold mit Fynn in die Schmiede zurück und Garynal mit seinem Sohn die Straße herunter zu seinem Haus.
 

Als der Schmied und seine Nichte in der Schmiede standen, fragte ihn das Mädchen: „Warum holst du Garyn in die Schmiede?“ Deutlich hörte der alte Mann den Unglauben in der Stimme des Mädchens, das schon bald zu einer jungen Frau heran reifen würde. Einer Frau, die seiner toten Schwester so sehr ähnelte.
 

Ein Schnauben entrang seiner Kehle, als er Fynn zur Seite schob und zu dem Amboss ging, auf dem noch immer die Sichelklinge lag, die er für einen der hiesigen Bauern fertig machen musste. „Ich brauche nur etwas Hilfe“, meinte er, als er am Amboss stand und seinen am Boden liegenden Hammer aufhob. „Es liegt viel Arbeit an und der Herbst ist nicht mehr fern. Da kann ich ein paar kräftiger Hände gut gebrauchen.“
 

„Dann helfe ich dir“, sagte das Mädchen, als es zu ihm trat und ihn trotzig ansah. „Ich kann das Feuer schüren, wie du es mir beigebracht hast. Außerdem kann ich gut zu packen.“
 

Berold sah Fynn mit leichtem Lächeln an. „Das weis ich“, sagte er zu ihr und schwang seinen Hammer, der klirrend auf das Eisen traf. „Aber du kannst keinen Hammer schwingen. Garyn kann das sicher. Außerdem, wer bringt mir dann das Essen, wenn du mir hilfst?“ Er sah sie an, war neugierig auf ihre Antwort.
 

Berold war einst verheiratet gewesen, doch seine Frau war an einer Lungenentzündung gestorben, lange, bevor Fynn überhaupt geboren worden war. Kinder hatte er keine gehabt, auch keinen Gesellen, der ihm zu Hand hätte gehen können. Fynns Mutter, Kary, war seine einzige Verwandte gewesen. Im Dorf war der Schmied zwar angesehen, doch hatte er nicht all zu viele Freunde, die ihm helfen konnten oder dazu in der Lage waren. Die anderen Dörfler kamen nur zu ihm, wenn sie etwas brauchten, doch ihre Hilfe boten sie ihm nur selten an oder auch gar nicht.
 

Fynn zögerte mit einer Antwort, wie Berold geahnt hatte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn ihr war ebenso wie ihrem Onkel bekannt, dass keiner ihnen helfen würde. Statt zu antworten, sah sie ihn einfach an, mit flehendem Blick und zog die Unterlippe etwas hoch. Der Schmied kannte dieses Gesicht. Sie versuchte ihn damit immer herum zu kriegen, was ihr auch allzu häufig gelang. Doch dieses Mal hatte sie damit kein Glück.
 

„Dein Gesicht wird mich auch nicht umstimmen können“; sagte der alte Mann und lächelte sie gutmütig an. „Ich werde Garyn nur einen Monat hier behalten. Dann wirst du ihn los sein, versprochen.“
 

Ein enttäuschter Seufzer kam von Fynn und sie nickte. „Na gut“, sagte das Mädchen und senkte den Blick. Der Schmied wusste, dass sie enttäuscht war, doch ließ er sich nicht von seinem Entschluss abbringen, den jungen Holzfällersohn zu sich zu nehmen. Nicht allein die viele Arbeit hatte ihn dazu bewogen Garyn zu sich zu nehmen. Er wollte ein Auge auf dem Jungen haben, während er bei ihm arbeitete. So konnte Berold sicher gehen, das der Bursche seine Nichte nicht belästigte. Fynn würde über einen Monat Ruhe vor den Gemeinheiten Garyns haben und die Freunde des Jungen würde sie ebenso in ruhe lassen, wusste er. Sie waren nur Mitläufer, die allein zu feige waren, jemand anders zu piesacken.
 

„Gut so, Kind“, sagte der große Mann und strich Fynn über das rabenschwarze Haar. „Dann geh und hol mir doch bitte was im Gasthaus zu essen.“
 

„Ja, gut“, sagte Fynn und nickte leicht, doch ihre niedergeschlagene Miene blieb nach wie vor. Der Schmied seufzte. Er zog aus seiner ledernen Schürze einen kleinen Beutel und zog eine Silbermünze daraus. Diese gab er seiner Nichte.
 

„Kauf mir was Ordentliches“, bat Berold sie. „Und dir selbst kannst du auch etwas holen.“ Das überraschte Gesicht seiner Nichte brachte ihn zum kichern. Nur selten hatte sie von ihm Geld bekommen, um sich selbst etwas zu kaufen, denn Berold musste sparsam mit dem Geld umgehen. Zwar verdiente er als einziger Schmied in Steindorf ganz ordentlich, hatte aber auch einige Ausgaben, wie zum Beispiel der Kauf von neuem Erz, das er zur Herstellung seiner Waren benötigte. Und dieses war teuer.
 

Das Mädchen sah ihn immer noch überrascht an, bevor sie breit lächelte und den Schmied stürmisch umarmte, wobei ihm beinah das Eisen und der Hammer aus den Händen viel. „Danke, Onkel“, sagte sie jauchzend und drückte sich dicht an ihn. Berold lachte und strich ihr über den Kopf.
 

„Ist ja schon gut“, sagte er schmunzelnd. „Deswegen musst du nicht gleich so stürmisch sein, Kind. Na mach dass du weg kommst. Ich habe Hunger und mit leeren Bauch lässt es sich schwer arbeiten.“
 

Das musste er Fynn nicht zweimal sagen, denn sie löste sich von ihm und drückte dem alten Mann einen dicken Kuss auf die Wange, bevor sie hopsend aus der Schmiede eilte, um ihren Auftrag zu erledigen. Berold sah ihr nach, während er sich über die haarlose Wange strich, wo ihn seine Nichte geküsst hatte. Sie war wirklich ein Energiebündel, dachte er und kümmerte sich wieder um seine Arbeit, wobei seine Gedanken zu Kary, seiner Schwester, geleiteten, die nun seit vielen Wintern nicht mehr unter den Lebenden weilte.
 

Ach, Schwester, dachte er, während er die Sichel in die heiße Esse schob und dabei zusah, wie sich wieder das Eisen erhitzte. Wenn du nur sehen könntest, wie sich deine kleine Fynn entwickelt hat. Der traurige Gedanke ließ ihn eine einzelne Träne vergießen, die schnell von der Hitze des Feuers verdampft wurde. Er vertrieb schnell die Gedanken an seine Schwester. Schließlich hatte er noch viel Arbeit vor sich und die musste erledigt werden.
 

***
 

Summend hopste Fynn über die lange Straße von Steindorf, auf dem Weg zur Taverne `Eberspieß´, der einzigen im ganzen Dorf. Die schlechte Laune von eben, als ihr Onkel entschieden hatte Garyn in seine Dienste zu nehmen, war wie weg geblasen. Das kleine Geldgeschenk Berolds hatte sie sehr überrascht, denn ihr Onkel achtete für üblich haargenau darauf, dass er nicht zuviel Geld ausgab. Die Erlaubnis sich etwas zu kaufen, kam genau so häufig vor, wie das Fynn keinen Ärger mit den andern Kindern des Dorfes hatte. Also kaum.
 

Sie dachte schon darüber nach, was sie sich kaufen sollte. Vielleicht ein Stück Blaubeerkuchen, den die Frau des Wirtes immer backte oder einen Krug des köstlichen Traubensaftes, den der Wirt ausschenkte? Sie konnte sich einfach nicht entscheiden. Schließlich mochte sie beides sehr.
 

Letzten endlich entschied sie sich für den Kuchen, worauf ihr Bauch anfing zu knurren. Sie kicherte leise. Ihr viel ein, das sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, außer am Morgen, zusammen mit Berold, bevor er in seine Schmiede gegangen war. Bevor sie an diesem Tag mit Garyn zusammen getroffen war, hatte sie die Hütte, in der sie mit ihrem Onkel lebte, ordentlich durchgefegt und Wasser aus dem nahen Teich geholt. Das wenige Geschirr hatte sie rasch gewaschen und geschrubbt, damit es für den Abend sauber war. Sobald es Mittag wurde, hatte sie sich einen Leib Brot, Käse, Schinken und Obst in einen Korb getan, um es ihrem Onkel zu bringen. Und auf den Weg zur Schmiede war sie halt auf Garyn und seine Freunde getroffen und es war zu der kleinen Prügelei gekommen.
 

Die Gedanken daran verflogen rasch, als sie den `Eberspieß´ sah, aus dessen Schornstein der Rauch stieg und aus seinen offenen Fenstern der Duft nach guten Essen zu ihr wehte. Genießerisch schloss das Mädchen die Augen und zog fast schon gierig den Duft nach Eintopf und saftigen Braten ein. Ihr war schon in frühen Kindertagen aufgefallen, dass ihr Geruchssinn um einiges besser war, als der der anderen Dörfler. Sie konnte unter all den Leuten ihren Onkel ohne Probleme heraus wittern, wie auch Garyn, was ihr schon einige Mal die Chance gegeben hatte, sich rasch aus dem Staub zu machen, wenn der Junge nahte. Auch in der Dunkelheit konnte sie besser sehen, als andere. Das verdankte sie allem ihrem orkischen Erbe.
 

Doch sie verfluchte es auch häufig genug. Ihr war kein ruhiges Leben vergönnt gewesen. Immer wieder wurde sie von anderen Leuten beschimpft, nicht nur von den Kindern. Sie hatte viele der auffälligen Merkmale ihres Ork-Vaters geerbt, wie die grüne Haut und die spitzen Zähne. Wie gerne wäre sie ein normales Mädchen, wie anderen auch. Dann hätte sie sicher auch Freunde gehabt, die mit ihr spielten oder scherzten. Doch dies war ihr nicht vergönnt. Immer wieder war sie das Objekt der üblen Späße der Kinder gewesen. Als sie klein gewesen war, war sie jeden Tag zu ihrem Onkel gerannt und hatte sich an seiner starken Brust ausgeweint, seit ihre Mutter tot war.
 

An ihre Mutter konnte sie sich nicht mehr richtig erinnern. Doch erfüllte es ihr Herz mit Wärme, wenn sie an die Person dachte, die sie auf die Welt gebracht hatte. Sie konnte sich an blondes, wallendes Haar erinnern, ein sanftes Gesicht, das sie immer warmherzig angelächelt und zu Bett gebracht hatte. An den warmen Körper, der sie oft gewiegt hatte, wenn sie nicht einschlafen konnte. Ihr Onkel hatte schon oft gesagt, dass sie ihrer Mutter zum Verwechseln ähnelte sah. Doch Fynn war nicht überzeugt davon. Ihre Mutter war kein halber Ork gewesen. Sie war ein Mensch gewesen, etwas, was Fynn niemals sein würde.
 

Das Einzige, das sie noch von ihrer Mutter hatte, war eine kleine Kette, an der ein Schwertförmiger Anhänger hing. Diesen Anhänger trug sie immer unter ihrem Hemd, wenn sie raus ging. Zu groß war die Angst, das Garyn oder einer der anderen Jungen ihr den Anhänger stehlen könnte. Manchmal glaubte sie, wenn sie Nachts in ihrem Bett lag, die sanfte Stimme ihrer Mutter zu hören, obwohl sie sich nicht mehr richtig an diese erinnern konnte, die ihr ein Lied vorsang, um ihr die Sorgen des Alltags zu nehmen und ruhige Träume zu schenken.
 

Sie fühlte den eisernen Anhänger unter dem Stoff an ihrer Brust hin und her baumeln, während sie sich immer weiter der Taverne näherte. Er fühlte sich immer warm an, als würde er ihr Herz erwärmen wollen. Wenn sie bei Berold war, wurde das Eisen ganz besonders warm, etwas, was sie bis zum heutigen Tage noch nie verstanden hatte. Sie wusste, das Eisen für gewöhnlich sich kalt anfühlte, doch glaubte sie, dass ihr Körper den kleinen Schwertanhänger erwärmte. Vielleicht lag noch ein Teil der Liebe ihrer Mutter in dem Anhänger, der ihr zeigen sollte, dass sie ihrer Mutter sehr am Herzen gelegen hatte.
 

Hufgetrappel weckte ihre Aufmerksamkeit. Fynn wand sich um und sah die Straße hinauf, auf der sich zwei Reiter auf schnellen Pferden näherten. Die Männer waren in dunkle Farben gewandet, trugen lange Umhänge mit Kapuzen. Einer der Männer hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, so, das keiner sein Gesicht sehen konnte. Der andere zeigte ganz offen sein Gesicht und sich an den warmen Sonnenstrahlen zu ergötzen.
 

Fynn sah diesen Mann mit großen Augen an, als er und der andere an ihr vorbei ritten. Sie fand ihn überaus attraktiv. Sein Gesicht hatte ebenmäßige Züge, seine Haut war leicht blass, was ihn nur noch anziehender wirken ließ. Das Gesicht wurde von einer graden, leicht spitzen Nase, einem Paar dunkler Augen – Fynn glaubte, das sie blau waren - und einem feinen Mund geziert. Das blonde Haar hatte er sich zu einem langen Zopf zusammen gebunden, der im Wind wehte. Unter den Kleidern, so vermutete Fynn, war ein geschmeidiger Körper versteckt, der sicher jede Frau entzücken würde.
 

Die beiden Fremden hielten vor der Taverne. Sie stiegen von ihren Tieren und banden sie fest, um in das Gasthaus einzukehren. Fynn, die nicht weit abstand, sah, das beide sich umsahen und sich leise miteinander unterheilten. Der Blick des Schönlings fiel auf die Halbork, die sogleich errötet. Er sah sie an! Ihr Herz fing wie wild an zu klopfen, so aufgeregt war sie. Der Mann schein sie einmal genau zu mustern, bevor ein feines Lächeln seine Lippen umspielte. Fynns Gesicht wurde nur noch röter und sie musste den Blick abwenden, damit er ihr Gesicht nicht sah. Ihre Hände legten sich auf ihre Wangen und sie spürte die Wärme, die von diesen ausging.
 

Als sie ihren Blick wieder hob, verschwanden die beiden Fremden gerade in der Taverne. Das Mädchen nahm die Beine in die Hände und rannte zum `Eberspieß´, denn sie wollte in Erfahrung bringen, was die beiden nach Steindorf gebracht hatte. Mit einem Mal wollte sie alles über den schönen Fremden, mit dem blonden Haar und dem feinen Lächeln, wissen. Am Gasthof angekommen, spähte sie durch eins der zwei Fenster und sah, wie Roland, der Wirt, mit dem dicken Bauch und dem langen Schnurbart mit dem Schönling sprach. Fynn könnte fluchen. Sie hörte kein einziges Wort, was gesprochen wurde. Über was unterhielten sich die beiden da nur?
 

Ihr fiel wieder ein, dass sie etwas zu Essen für Berold kaufen sollte. Fynn nutzte die Chance und ging zur Tür, um in die Taverne zu gelangen. Sie merkte, dass ihre Hände angefangen hatten zu zittern und zu schwitzen. Was war bloß mit ihr, fragte sie sich und legte ihre Hand auf die Klinke und drückte die Tür auf.
 

„… ler kommen in zwei Tagen, glaub ich“, brummte Roland, als Fynn die Taverne betrat und hinter sich die Tür schloss. Der Wirt sah kurz zu ihr und winkte ihr zum Gruß, bevor er sich weiter mit den beiden Fremden befasste. Der Fremde, dessen Gesicht von der Kapuze seines Umhanges verdeckt war, sah zu ihr rüber und ein kalter Schauer lief ihr über das Rückrad. Der Anhänger ihrer Mutter wurde mit einemmal kalt und sie fing an zu frösteln. Irgendwas stimmte nicht, dachte sie, während ihre Hände sich um den vom Stoff verborgenen Anhänger legten und diesen fest drückten, damit er wieder seine gewohnte Wärme erlangte.
 

Der Fremde musterte sie abfällig, bevor er sich wieder umdrehte und den anderen aufforderte, mit ihm zu kommen. Der Schönling sah ihn kurz an, bevor sein Blick auf Fynn fiel, die immer noch an der Tür stand und den Schwertanhänger weiter umklammert hielt. Wieder lächelte er sie an, ihr Herz klopfte wieder vor Aufregung und ihr Gesicht färbte sich rot.
 

Die beiden Männer gingen wieder auf die Tür zu, worauf das Halbork-Mädchen hastig zurück wich, denn der Kapuzenträger funkelte sie an und die Eiseskälte kehrte zurück. Die beiden Reisenden gingen an ihr vorbei und verschwanden nach draußen. Zuvor warf der gut aussehende Mann ihr einen neuerlichen Blick zu, wie auch ein Lächeln, das ihr Herz wieder vor Freude aufspringen ließ, bevor er verschwunden war.
 

Der Blick Fynns haftete auf der zugehenden Tür, bevor sie Rolands Stimme aus ihren Träumereien riss. „Grüß dich, Kind“, sagte er, als sie sich ihm zu wand.
 

„Grüß dich auch, Roland“, sagte sie, während sie zur Theke kam und dabei immer wieder zur Tür sah, in der Hoffnung, das ihr Traummann wieder in die Taverne kam, nur um sie noch einmal anzulächeln.
 

Der beleibte Wirt warf ihr einen wissenden Blick und ein breites Grinsen zu. „Hat sich da unsere kleine Fynn etwa verguckt?“, fragte er sie neckisch, worauf ihn das Mädchen erschrocken ansah.
 

„Nein!“, quiekte Fynn auf und ihr Gesicht verfärbte sich vor Scham.
 

Roland lachte und hielt sich den dicken Bauch. „Kein Grund, sich zu schämen, Kindchen“, sagte der Wirt und lehnte sich auf die Theke. „Ist ganz normal, hab ich mir von meiner Frau sagen lassen.“ Er kicherte noch etwas, bevor er sich so weit im Griff hatte und fragte: „Was darf es denn sein?“
 

„B-berold hat Hunger“, stotterte das noch immer zutiefst verlegende Mädchen. „Ich möchte etwas kaufen…“
 

Der Wirt nickte. „Ah, verstehe“, sagte er und pfiff einmal kurz. „Der alte Geizkragen scheint endlich mal wieder daran gedacht zu haben, mal wieder eine Münze hier zu lassen, damit ich über die Runden komme, wie?“ Wieder lachte der Wirt auf, worauf Fynn etwas lächeln musste. Roland und Berold waren gute Freunde, die sich seit ihrer Kindheit kannten. Beide waren hier in Steindorf aufgewachsen. Die Männer neckten sich tagein und tagaus, damit jeder wusste, wie sehr beide sich schätzten und mochten. Fast wie Brüder. Roland war auch einer der wenigen Menschen im Dorf, der über Fynns Erbe hinweg sah, und sie wie jeden anderen behandelte. Wie auch seine Frau Marta und sein Sohn Ian.
 

Hinter der Theke ging eine Tür auf und Ian kam aus der Küche. Als er Fynn sah, lächelte der junge Mann breit und kam an die Seite seines Vaters. „Sei gegrüßt, Fynnchen“, begrüßte er das Mädchen mit ihrem Spitznamen, der er ihr einst gegeben hatte.
 

Das Mädchen hob eine Augenbraue und sagte: „Hallo, Stalljunge.“ Der Mann musste lächeln, während sein Vater gutgelaunt lachte und mit einer Hand auf die Theke klopfte.
 

Im Gegensatz zu seinem Vater, war Ian ein drahtiger Bursche, der sich das brauen Haar für üblich kurz stutzte. Scheinbar war ein Haarschnitt wieder nötig, denn die ersten Strähnen vielen ihm bereits ins freundliche Gesicht, das von einer leichten Harkennase geziert wurde. Ian hatte die breiten Lippen seines Vaters geerbt, unter denen ein feiner Lippenbart sprießte, dafür aber die grünen Augen seiner Mutter. Wie üblich trug er eine lange Leinenhose und ein Hemd, darüber eine Lederweste, die auch schon bessere Tage gesehen hatte.
 

„Los, Junge“, sagte sein Vater. „Such mal ein ordentliches Mittagessen für Berold zusammen. Der alte Knabe hat Hunger, und wie ich ihn kenne, nicht zu wenig.“ Er gab seinem Sohn einen Klaps auf den Rücken, worauf dieser zurück in die Küche eilte, um seinen Auftrag zu erledigen.
 

Als beide wieder alleine waren, fragte Fynn: „Roland, was wollen die beiden Fremden hier?“ Steindorf wurde nur selten von Reisenden besucht. Es lag abgelegen zwischen den Ausläufern des Durgawaldes und des Antigas-Schlange-Gebirges, das sich im Osten weit in den Himmel türmte. Händler kamen höchstens im Frühling vorbei, um ihre Wahren anzubieten und bei den Dörflern einzukaufen. Zweimal im Jahr kam der Wanderzirkus der Trödler vorbei, um die Bewohner Steindorfes mit ihren Kunststücken und Geschichten zu erfreuen. Die wenigen Reisenden, die hier vorbei. kamen, waren meist auf ihrem Weg nach Taurin oder Großhafen den falschen Weg gegangen und hatten sich einfach nur verirrt.
 

„Die wollen hier auf die Trödler warten“, sagte der Wirt zu ihr, zuckte dann aber mit den Schultern. „Ich glaube aber, die armen Teufel haben sich einfach nur verirrt und wollten sich nicht lächerlich machen.“ Wieder lachte er. Es gab sicher niemanden in ganz Helios, der das Lachen des Wirtes übertreffen konnte, dachte Fynn und lächelte wieder. Roland lachte eigentlich immer, wenn er nur einen Grund dafür fand. „Na ja, zumindest bleiben sie jetzt erstmal hier, bis die Zirkusleute hier eintreffen. Das wird meiner Kasse ganz gut tun, denke ich.“ Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht und kündigte ein weiters Lachen an.
 

Die Tür zur Küche schwang auf und Ian erschien mit einem Korb voller Essen und einem kleinen Fass. Der junge Mann stellte schnaufend den Korb auf die Theke und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Roland sah zu ihm rüber und brummte: „Was? Schon geschafft? Du solltest wirklich mehr arbeiten, Junge.“
 

Ian sah zu seinem Vater und meinte: „Mutter hat mich aus der Küche gescheucht, weil sie unser Abendbrot schon am machen ist und ihre Ruhe haben will.“
 

„Abendbrot?“, fragte Roland und rieb sich über den wuchtigen Bauch. Er sah Fynn an und meinte: „Also entschuldige mich bitte mal, ja? Ich muss sehen, ob Marta nicht zu viel Kräuter dran macht.“ Mit diesen Worten verschwand er in die Küche und wenig später hörte man das empörte Gezeter Martas, die ihren Mann sicher davon abhalten wollte, von dem Essen zu naschen.
 

Fynn und Ian kicherten etwas. Beide kannten das nur zu gut. Denn die beiden Wirtsleute neckten und ärgerten sich seit dem Tag, als sie sich trauen ließen. Eine aufregende Ehe, nannte Roland das immer, worauf er immer in Gelächter verfiel und von Marta eins hinter die Ohren bekam, wenn sie dies mitbekommen hatte.
 

Als Fynn den Korb nehmen wollte, schritt Ian ein und schnappte sich diesen. „Lass mal“, sagte der Wirtssohn und kam mit dem Korb um die Theke herum. „Den trag ich dir. Ist viel zu schwer für dich.“
 

Das Mädchen hob eine Augenbraue und sah den jungen Mann an, als würde er nicht mehr ganz bei Trost sein. „Zu schwer?“, fragte sie und knuffte ihn in die Seite. „Hast wohl vergessen, wer mein Onkel ist, wie?“
 

Ian grinste breit und ging mit Fynn zusammen zur Tür. „Nein, das nicht;“ sagte er, als die Halbork die Tür für ihn aufmachte. Zusammen traten sie hinaus und Fynn bemerkte, das die beiden Pferde der Fremden verschwunden waren. Sie sah sich um, doch war keine Spur von den beiden Männern aus zu machen. Enttäuscht seufzte sie. Der gut aussehende Fremde war also schon wieder unterwegs. Aber es gab Hoffnung. Heute Abend war er sicher wieder in der Taverne. Dann würde sie ihn wieder sehen, den Mann, der ihr Herz so zum Klopfen gebracht hatte, wie keiner zuvor.
 

***
 

Die behandschuhte Hand strich sachte über den Hufabdruck, der vor dem Mann im Staub deutlich zu sehen war. Sein Blick viel auf einem kleinen Dunghaufen, der mitten auf dem Weg lag. Er stand auf und ging zu diesen und kniete sich davor hin. Er hielt seine rechte Hand über diesen und schloss die Augen.
 

Ein Tag, dachte er und erhob sich wieder, bevor er einen flüchtigen Blick auf die Bäume warf, die rings um ihn herum standen. Der Mann war den Spuren bis in den Durgawald gefolgt, bevor er sie an einem kleinen Teich verloren hatte. Es hatte ihn einen halben Tag gekostet die Spur wieder zu finden. Und schon hatten sie einen Tag Vorsprung.
 

Missmutig wand er sich von der Spur ab und eilte zu seinem Pferd, einem schwarzen Hengst, der die ganze Zeit über geduldig auf seinen Herren gewartet hatte. Mit wehendem Umhang griff die rechte Hand des Mannes nach dem Sattelknauf und zog sich in den Sattel des Tieres. Sofort saß er sicher im Sattel, schnappte sich die Zügel des Pferdes. Er gab dem Hengst die Sporen und sofort preschte das Tier mit freudigem Wiehern die Straßen entlang.
 

Sein Umhang, der aus groben, braunen Stoff, flatterte ungehalten im Wind, während der Reiter einhändig die Zügel hielt und sein Tier führte. Der Grund für den wagehalsigen Ritt war, dass ihm der linke Arm vollständig fehlte. Etwas, was ihn aber nicht weiter daran hinderte, sein Pferd zu einem schnellen Ritt zu treiben.
 

Sein langes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar flatterte ungestüm mit dem Umhang um die Wette, während seine schmalen, braunen Augen stur auf den Weg gerichtet waren. Das Gesicht wurde von einer schmalen Nase geziert, die die Narbe eines Nasenbruches aufwiesen, der sauber wieder zusammen gewachsen war. Seine Haut war von bronzener Farbe und wies auf seine Herkunft aus den Wüstenländern süd-östlich vom Antigas-Schlange-Gebirge aus. Ein Jerisane. Seine Brust wurde von einem langen, luftigen Hemd bedeckt, wovon der linke Ärmel hochgekrempelt war und mit Nadel und Faden an Ort und Stelle gehalten wurde, und einem ledernen Harnisch, der zusätzlich mit kleinen Stahlschienen versehen wurde, um einen besseren Schutz zu gewährleisten. Die lederne Hose, die er trug, schmiegte sich eng um seine kräftigen Beine. Seine Füße steckten in braunen Reitstiefeln, die schon recht bald eine neue Sohle bedurften. An seinem Gürtel, dessen Schnalle einer zischenden Schlange ähnelte, wippte ein langer Krummsäbel, wie auch ein langer Dolch. Beide übliche Waffen für die Wüstenreiter aus Jeris.
 

Der Reiter hob leicht den Blick, um den Stand der Sonne zu ermitteln. In weniger als einer Stunde würde die Abenddämmerung einsetzen und die Sonne würde für den Mond platz machen. Er gab seinem stolzen Wüstenhengst erneut die Sporen und trieb ihn zu einem schnelleren Tempo. Das Tier reagierte nur mit einem Schnauben, während es schneller über den Weg hinweg fegte, um den Wunsch seines Herren folge zu leisten.
 

Laute Stimmen erregten seine Aufmerksamkeit, als er an einer Weggablung angelangte, der jegliche Ausschilderung fehlte. Er ließ sein Pferd halten und erhob sich im Sattel, um in Erfahrung zu bringen, wenn er da hörte. Nicht weit ab von ihm erblickte er mehrere Feuer. Er ließ sein Pferd im gemächlichen Tempo auf die Stimmen und das Feuer zuhalten, um nicht bedrohlich zu wirken.
 

Als der Reiter dem Feuerschein näher kam, entdeckte er Planwägen und Menschen, die durch das Lager wuselten, wo mehrere Wach- und Kochfeuer brannten und die aufkommende Dunkelheit erhellten. Er ließ den Hengst halten und betrachtet die Leute eingehend. Fahrendes Volk, erkannte er sofort und runzelte die Stirn. Was machten diese so Tief im Wald? Dafür konnte es eigentlich nur einen Grund geben. Hier irgendwo musste eine Ortschaft sein.
 

„Wer ist da?“, ertönte eine schroffe Stimme nicht weit ab seiner Position. Ohne den Blick zur Seite zu wenden, wusste der Jerisane sofort, wo der Sprecher stand. Auf einem niedrigen Ast hockte ein dunkel gekleideter Mann, der mindestens einen Kopf kleiner war, als er selbst. In seiner Hand ruhte eine Armbrust, dessen Bolzen auf ihn zielte. Der Reiter vermutete, dass der Mann nicht alleine war. Schon bald wurde sein Verdacht bestätigt, durch das Klicken von Armbrüsten, die geladen wurden.
 

Um ihn herum schien der Wald zum Leben zu erwecken, denn eine große Zahl von dunkel gekleideter Männer und Frauen kam aus dem Wald zum Vorschein und richteten ihre Armbrüste und Schwerter auf ihn. Die fahrenden Leute im Lager schienen es nicht mit bekommen zu haben, denn sie gingen immer noch ihren Arbeiten nach.
 

Der Jerisane erkannte, das er keine Zeit haben würde zu entkommen, weshalb er die Zügel los ließ und aus dem Sattel rutschte und den rechten Arm in die Höhe hob, um zu zeigen, das er keine Bedrohung dar stellte. „Ich bin nur ein Durchreisender“, antwortet er schließlich dem Wächter, der ihn zuvor angesprochen hatte. Dabei hörte man deutlich den jerisanischen Akzent aus seiner Stimme heraus.
 

Der Wächter sprang aus dem Baum und landete leichtfüßig auf der Straße und stemmte die Hände in die grätenschlanke Taille. „So, so“, sagte der andere, „ein Durchreisender also. Und wo soll es denn hin gehen, Herr Durchreisender?“
 

„Das hat euch nichts zu interessieren, Gaukler“, erwiderte der Wüstenreiter missgestimmt. Seine braunen Augen fingen an bedrohlich zu funkeln, doch sein Gegenüber wich keinen Zoll zurück. Er grinste nur.
 

„Ist ja schon gut, mein Bester“, sagte der Mann und gab den anderen das Zeichen, ihre Waffen weg zu stecken. „Ich wollte euch nicht verärgern, aber nur selten treffen wir jemanden in den Wäldern alleine an. Hier lungert sonst nur Diebesgesindel und wilde Hunde herum.“
 

Der Jerisane gab keine Antwort. Der Gaukler legte leicht den Kopf schief und musterte ihn genauer. „Außerdem“, fuhr er fort, „trifft man hier noch seltener jemanden von den Wüstenleuten an.“ Er betrachtet den anderen noch etwas, bevor er sagte: „Als kleine Entschuldigung biete ich euch an unserem Feuer zu sitzen und etwas zu essen. Na, wie klingt das?“
 

Eigentlich wollte der bronzehäutige Mann weiter reiten und die Spur bis zu ihrem Ende verfolgen, dennoch klang das Angebot des anderen Mannes zu verlockend. Schon lange hatte er keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen und an einem Feuer wärmen können. „Ich nehme euer Angebot an“, sagte er schließlich, klang dabei abweisend.
 

Der kleine Mann kicherte und nickte ihm freundlich zu, schien den eisigen Ton des Wüstenbewohners einfach überhört zu haben. „Dann folg mir, Wüstensohn“, bat der Gaukler ihn. Zusammen gingen sie in das Lager, wo dem Jerisanen sofort neugierige Blicke zugeworfen wurden, der seinen Wüstenhengst hinter sich her führte. Der kleine Mann bat einen anderen Mann, dessen Arme so dünn waren, dass man schon das Weiß der Knochen sehen konnte, sich um das Tier zu kümmern. Der Reiter gab ihm etwas widerwillig die Zügel und sah dabei zu, wie der dürre Mann mit erstaunlicher Kraft das Tier hinter sich her zog. Diesen sollte er nicht unterschätzen, dachte er, als man ihm zu einem der Feuer brachte.
 

Eine junge Frau stand an diesem und rührte in einem großen Topf herum, während eine Horde Kinder um sie herum saßen und darauf warteten, endlich etwas zu essen zu bekommen. Als sie die nahenden Männer bemerkte, sah sei auf und lächelte. Die Kinder folgten ihrem Blick und sahen sogleich den Wüstenbewohner. Die Kleinen sprangen sofort auf und rannten zu den beiden Männern.
 

Umzingelt von unzähligen Kindern, die ihn hunderte von Fragen an den Kopf warfen und an seiner Kleidung herum zogen, wusste der Jerisane nicht, was er tun sollte. Sein Gastgeber schien sich über die prekäre Lage seines Gastes zu amüsieren, denn ein breites Grinsen lag auf seinem freundlichen Gesicht.
 

Ein kleines Mädchen nahm die Hand des Mannes, der mit gerunzelter Stirn auf sie herab sah. Eine Augenbraue hob sich, als er erkannte, was da wirklich seine Hand hielt. Eine Halbling-Frau, die nicht größer als ein kleines Kind war. Ihr Haar war rot-braun, wie Herbstblätter, die von den Bäumen rieselten. Ihre Augen glänzten in einem freundlichen Grün, während ihr Lächeln praktisch dazu einlud, sich mit ihr anzufreunden. Sie trug ein einfaches Kleid, an dem unzählige Taschen befestigt waren, wie auch an dem breiten Gürtel, um ihre schmale Taille. Sie lief barfuss, wie es für ihr kleines Volk üblich war. „Keine Angst, großer Mann aus der Wüste“, sagte die kleine Frau und führte ihn zum warmen Feuer und den verlockend duftenden Eintopf, der seelenruhig vor sich hin kochte. „Die Kinder sind einfach nur neugierig. Das ist alles.“
 

Er blieb ihr eine Antwort schuldig, als er sich an das Feuer setzte. Die Kinder scharten sich um ihn, während die Halbling-Frau zu der anderen ging und einen prüfenden Blick in den Topf warf. Mit zufriedenem Nicken gab sie der anderen zu verstehen, die Kinder rasch zu versorgen, die mit ihren Fragen dem Jerisanen bereits wieder in den Ohren lagen. Die junge Frau nickte und rief die Kinder zu sich, die sofort reagierten und sich in einer langen Reihe aufstellten.
 

„Also wen hast du mir da mitgebracht, Buck?“, fragte sie, während ihr Blick auf den Reiter gerichtet war.
 

„Ein Durchreisender“, sagte der Gaukler und setzte sich zu den anderen ans Feuer und hob seine Hände an die Flammen, um sie zu wärmen. „Zumindest hat er das gesagt.“
 

„Ah ja“, meinte die kleine Frau und betrachtet den bronzehäutigen Mann weiterhin. Ihr fiel scheinbar auf, dass ihm ein Arm fehlte, was er an den geweiteten Augen sah. Doch das störte ihn nicht. Schon viele hatten ihn so angesehen und mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt. „Oh, ein Einarmiger. Wie ist das denn passiert, großer Mann aus der Wüste?“
 

Er warf ihr einen Blick zu. „Im Kampf“, war alles, was er dazu zu sagen hatte. Die kleine Frau warf dem Gaukler mit dem Namen Buck einen fragenden Blick zu, den er nur mit einem Schulterzucken erwiderte, bevor er eine Schale mit Eintopf gereicht bekam und sich darüber her machte.
 

Die junge Frau reichte dem Jerisanen ebenfalls eine Schale mit dampfendem Eintopf, wobei sie ihn ganz besonders neugierig ansah. Doch er störte sich nicht weiter daran, stellte sie Schale auf eins seiner Knie und nahm mit seiner rechten Hand den Löffel, um zu essen.
 

Die Halbling-Frau runzelte leicht die Stirn, bevor sie sich zu ihm setzte und beim Essen beobachte. Sich in seiner Ruhe gestört fühlend, warf er der kleinen Frau einen mürrischen Blick zu. Diese reagierte mit einem leichten Anheben ihrer Augenbrauen darauf und hielt seinem Blick stand.
 

„Was treibt dich in diese Wälder?“, fragte sie schließlich.
 

„Wie ich bereits gesagt habe“, erwiderte der Jerisane monoton, „bin ich nur auf der Durchreise.“
 

„Und wohin?“
 

„Ich wüsste nicht, was es euch angehen sollte, Halbling-Frau“, antwortet er ihr darauf. Sie schien amüsiert über seine schroffe Art zu sein, denn ein Lächeln erschein in ihrem kindlichen Gesicht.
 

„Svenja Stümply“, stellte sie sich vor und reichte ihm ihre Hand, damit er diese schütteln konnte. Der Einarmige sah diese kurz an, bevor er wieder ihren Blick suchte. Sie seufzte und ließ ihre Hand sinken. „Ihr scheint nicht sonderlich gesprächig zu sein, wie?“
 

Er sah sie bloß an, bevor er wieder sprach. „Es gibt nicht viel zum reden.“
 

„Ach ja?“, fragte sie verwundert und strich über ihre rot-braunen Locken. „Ich finde schon, dass es einiges zum Reden gibt.“ Sie sah die anderen an, die sich um das Feuer versammelt hatten. Die Kinder, die zufrieden ihr Essen aßen, die junge Frau, die den Jerisanen betrachtet, Buck, der kauend dem ganzen folgte. „Oder wollt ihr nicht reden?“
 

„So ist es“, sagte der Jerisane und stellte die Schale, die nun leer war, neben sich ab. „Ich bin in Eile und hab keine Zeit für lange Reden.“
 

„Wenn das so ist“, sagte Svenja und gab ihm einen Klaps auf das rechte Knie. „Dann kommt einfach mit uns. Sicher sucht ihr den nächsten Ort, wie?“ Sie grinste, als sie das Gesicht des Wüstenbewohners sah. „Der ist nur noch eine Tagesreise von hier entfernt.“
 

In ihm stieg Misstrauen auf. Warum wollte die Frau vom kleinen Volk, das er mit kam? Unweigerlich hatte er seine Hand auf den Griff seines Dolches gelegt. Eine Schutzreaktion, die er sich im Laufe der Jahre angewöhnt hatte.
 

„Na, na“, sagte die kleine Frau auf einmal. „Lass die Finger besser von deinem Dolch, denn wir wollen dir nichts Böses. Wir sind bloß Gaukler und Händler, die bloß die einfachen Leute mit unseren Kunststücken und Geschichten erfreuen wollen.“
 

„Und dabei noch die eine oder andere Münze verdienen“, rief jemand, der nicht weit weg stand. Die junge Frau und Buck lachten zustimmend, während Svenja ein amüsiertes Lächeln auflegte.
 

„Siehst du“, fuhr sie fort. „Wir sind Spaßvögel, keine Räuber oder Meuchler. So was können wir nicht. Außer, man bedroht uns.“ Sie lächelte weiterhin. „Also gib dir einen Ruck und komm mit uns. Zusammen macht die Reise ganz gewiss mehr Spaß.“
 

Spaß, dachte der Wüstenreiter spöttisch. Was sollte daran so witzig sein, die ganze Zeit von solchen Hampelmännern und Tunichtguten umgeben zu sein, dazu von überneugierigen Kindern, die einen keinen Moment in ruhe ließen. Dennoch. Irgendwie schein ihm der Gedanke nicht ganz so abwegig zu sein. Er könnte sich vielleicht als einer der ihren ausgeben und so seine Beute unerkannt aufspüren.
 

Schließlich nickte er. „Ihr habt mich überzeugt“, sagte er, wobei er immer noch ziemlich mürrisch klang. „Ich werde mich euch anschließen. Vielleicht wird es wirklich… lustig.“
 

Svenja klatschte begeistert in die Hände und rief laut: „Hört mal alle her! Wir haben einen Gast bei uns! Und vielleicht einen zukünftigen Gaukler!“ Lauter Jubel schwoll um sie alle herum an. „Lasst uns ihn alle bei den Trödlern willkommen heißen!“ Sie wand sich ihm zu und fragte: „Wie ist dein Name noch gleich?“
 

„Der das Schicksal sucht“, antwortete er der Halbling-Frau.
 

***
 

Berold runzelte verwundert die Stirn, als er Fynn dabei zusah, wie sie durch die kleine Küchenstube huschte und ihre Arbeit verrichtete. Seit sie vom `Eberspieß´ zurückgekommen war und ihm das Mittagessen gebracht hatte, benahm sie sich recht eigenartig. Ian, der bei ihr gewesen war, hatte ihm auch keine Antwort darauf geben können, da sie sich scheinbar schon in der Taverne seines Vaters so seltsam benommen hatte. Der Schmied kannte seine Nichte nicht so aufgedreht, denn für gewöhnlich war sie wesentlich ruhiger und versuchte keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
 

Die Teller flogen regelrecht in den Küchenschrank, nachdem sie gesäubert waren, wie auch der Topf, der scheppernd landete. Hastig rannte Fynn zum Tisch zurück und stellte ihrem Onkel einen Becher mit kalten Bier vor die Nase, das noch vom Fass Rolands übrig geblieben war. Der alte Mann beachtete diesen nicht weiter, sondern richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf die kleine Halbork.
 

„Fynn?“, fragte er, als das Mädchen an ihm vorbei lief, um das dreckige Wasser auf dem Hof auszuschütten.
 

Sie hielt nicht in der Bewegung inne, als sie antwortet: „Ja?“
 

„Geht es dir gut?“, fragte Berold besorgt, als sie zur Tür hinaus huschte und mit leerem Eimer wieder herein kam. Sie stellte den Eimer in einer Ecke ab und schnappte sich den Besen, um etwas zu fegen.
 

„Mir geht es gut“, sagte sie. „Wieso?“
 

„Du wirkst sehr…“, Er suchte die richtigen Worte, „aufgeregt.“
 

„Ach was“, wehret Fynn ab und fegte den Dreck aus der Hütte hinaus auf den Hof. „Ich möchte nur etwas früher fertig sein.“ Sie sah ihn an und bemerkte seine gerunzelte Stirn. „Ich möchte noch einmal in den `Eberspieß´. Ich darf doch, oder, Onkel?“
 

Berold betrachtet sie eingehend. Zögerlich antwortet er: „Sicher. Aber wieso willst du um diese späte Stunde noch da hin?“ Der Schmied bemerkte das Zögern seiner Nichte. Das erweckte sein Misstrauen. Was hatte sie vor, fragte er sich. Hatte sie sich mit Ian noch einmal verabredet? Nein, das hätte ihm Roland sicher erzählt, als er nach der Arbeit bei seinem Freund vorbei geschaut hatte, um ihm den Korb zurück zu bringen und ihm rasch sein Geld zurück zu zahlen. Der beleibte Wirt hatte sich auch merkwürdig aufgeführt. Besonders, als er ihn auf Fynn angesprochen hatte. Sein stets gutgelaunter Freund hatte amüsiert gelacht und gemeint, dass das Mädchen allmählich zur Frau wurde. Die Worte Rolands hatte Berold nicht ganz verstanden.
 

„Ich wollte mich noch mal mit Ian treffen“, sagte sie zu ihm. Wieder runzelte der alte Mann die faltige Stirn. Was hatte das zu bedeuten, fragte er sich. Erst ihr seltsames Benehmen und dann Rolands merkwürdigen Worte. Da kam ihm sogleich ein Gedanke, der ihm sehr gefiel. Hatte sich seine kleine Fynn etwa in den Sohn seines besten Freundes verliebt? War es etwa das, was Roland gemeint hatte? Wenn das zutreffen würde, dann wollte Berold seiner Nichte nicht im Weg stehen wollen.
 

„Aha“, brummte er, wobei er ein leichtes Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte, nicht ganz verbergen konnte. „Wenn es nur das ist, dann geh ruhig.“ Er lehnte sich zurück und nahm den Becher Bier in die Hand und nahm einen kräftigen Schluck davon.
 

„Danke, Onkel“, sagte das Mädchen und eilte in ihre Kammer und schloss die Tür hinter sich. Er hörte, wie sich ihr Kleiderschrank öffnete und sie in ihren wenigen Kleider wühlte. Es schien wirklich so, als wenn sich seine kleine Fynn für Ian fein machen wollte. Ob der Bursche das gleiche auch gerade machte? Sicher würde Roland dabei stehen und seinem Sohn einige Tipps geben, wie er seiner Angebeteten gefallen konnte. Das würde sicher in die Hose gehen, dachte Berold amüsiert. Er konnte sich nur zu deutlich daran erinnern, wie sein alter Freund immer bei den Frauen abgeblitzt war, die er zu umwerben versucht hatte. Allein Marta hatte ihn genommen, so wie er war und war recht bald seine Frau geworden. Ob es auch so bei Fynn und Ian so sein würde?
 

Die Tür flog auf und Berold wand sich dieser zu. Er riss vor lauter Staunen die Augen auf, als er erkannte, was seine Nichte aus sich gemacht hatte. Sie hatte sich ihr langes Haar zu einem ordentlichen Zopf geflochten, der nun über ihre rechte Schulter fiel. Sie hatte eins der alten Kleider ihrer Mutter angezogen. Ein blaues Kleid, dessen Schultern frei lagen.. Darüber trug sie eine lederne Weste, die nur einen geringen Blick auf ihre zarten Schultern gewährte, wie Berold mit Erleichterung erkannte. Sie hatte ihre Stiefelchen gegen Sandalen getauscht, die Berold das letzte Mal an ihr gesehen hatte, als sie mit ihm auf eins der wenigen Dorffeste gegangen war.
 

Wie sehr sie doch Kary ähnelt, dachte der alte Schmied und legt ein sanftes Lächeln auf, als er in Erinnerungen versank, aus einer Zeit, als seine geliebte Schwester noch lebte und in der Wirtsstube von Roland ausgeholfen hatte. Genau dieses Kleid hatte sie immer getragen und hatte sich durch ihre rasche Arbeit den Spitznamen `die flotte Kary´ erworben. Vielleicht würde Fynn eines Tages auch in der Taverne arbeiten oder vielleicht mit Ian dieses führen, wenn Roland zu alt dafür wäre.
 

„Onkel?“, fragte Fynn und riss den Schmied aus seinen Gedanken. Als er ihren Blick erwiderte, fragte sie: „Warum lächelst du so seltsam?“
 

„Mach dir keine Sorgen, Kind“, sagte Berold und lächelte sie warmherzig an. „Sieh lieber zu, dass du Ian nicht zu lange warten lässt.“
 

Die Halbork errötet etwas und nickte darauf. „Ja“, sagte sie und kam zu ihm rüber. „Bis später, Onkel.“ Mit diesen Worten drückte sie ihm einen Kuss auf die haarlose Wange und eilte schon zur Tür hinaus.
 

Berold erhob sich und folgte ihr mit seinem Blick. Fynn wurde so schnell erwachsen, dachte er etwas traurig. Wie lange würde es noch dauern, dass er eines Tages in seine kleine Hütte kommen würde und Fynn wäre nicht mehr da, sondern in der Taverne, bei ihrem Mann. Bei diesem Gedanken wurde es ihm dann doch etwas bang. Könnte er sie ziehen lassen, wenn es so weit wäre? Er glaubte nicht, denn er hing zu sehr an dem Mädchen, der Tochter seiner Schwester. Dem Einzigen, was ihn noch an die flotte Kary erinnerte, die mit einem gutmütigen Lächeln durchs Leben gegangen war.
 

Für heute Abend wollte er all diese Gedanken verdrängen. Er wünschte seinem Mädchen innerlich einen schönen Abend und viel Erfolg mit Ian. Sollte Humine, die Göttin der Liebe, ihre sanften Hände auf die Herzen der beiden legen und sie in eine glückliche Zukunft führen.
 

***
 

Fynn schämte sich für ihre Lüge, die sie ihrem Onkel aufgetischt hatte. Sie konnte selber nicht glauben, wie leicht es ihr gefallen war, den alten Mann zu hintergehen. Und das nur wegen eines Mannes, bei dem ihr Herz entzückt zu klopfen begann. Sie fragte sich, ob dies normal wäre. Wenn es so wäre, würde es ihr in Zukunft wieder gelingen?
 

Das Mädchen eilte die Straße, die sie nach Steindorf führen würde, entlang. Die Hütte ihres Onkels lag etwas Abseits des eigentlichen Dorfes, nah bei den Höfen der Bauern der Umgebung. Sie brauchte nicht lange, bis sie im Dorf war. Der Mond war längst aufgegangen und beleuchtete mit den unzähligen Sternen am Himmel die Welt unter sich.
 

Bald erreichte die Halbork die Taverne und mit einemmal wurde sie nervös. Sie umschloss den Schwertanhänger, der gut sichtbar über ihrem Kleid lag, mit ihrer zitternden Hand und betete, dass der fremde Schönling in der Taverne sei und sich nicht schon längst zur Nacht zurückgezogen hatte. Sie wollte ihn unbedingt wieder sehen und ihm gefallen. Deshalb hatte sie eins der schönsten Kleider ihrer Mutter angezogen. Ihr Onkel hatte ihr einmal erzählt, dass die Männer ihrer Mutter nachgesehen hatten, weil sie grade dieses Kleid getragen hatte. Würde es ihm auch gefallen, sie darin zu sehen? Sie konnte es nur hoffen und zu allen ihr bekannten Göttern beten, damit sich ihre Hoffnung erfüllte.
 

Mit einem leisen Gebet auf den Lippen nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und öffnete die Tür rasch. Ein Schwall warmer Luft und verschiedener Gerüche kam ihr entgegen geweht. Die Stimmen der Dörfler drangen zusätzlich an ihre Ohren. Zu dieser Stunde fanden sich die Männer für üblich im `Eberspieß´ ein, um sich über verschiedene Dinge zu unterhalten und ein kühles Bier zu trinken.
 

Schnell trat sie in den Schankraum ein, schloss die Tür hinter sich und sah sich um. Fast jeder Mann des Dorfes war hier anwesend. Auch einige der Frauen waren vor Ort, um sich der abendlichen Gesellschaft anzuschließen. Jeder war bester Laune und aus den Gesprächen um sie herum hörte Fynn, das alle sich über den Vorfall von heute Mittag unterhielten. Es wunderte sie nicht, dass sich dies so rasch um gesprochen hatte. Schließlich war Steindorf ein kleines Örtchen, wo sich jedermann kannte und ein Geheimnis nie lange eins blieb.
 

Hinter der Theke erblickte Fynn Roland, der sich mit einigen der Männer unterhielt, dabei ein Bier nach dem anderen ausschenkte und herzhaft lachte. Bei weiterem Umsehen erblickte sie Marta, die das genaue Gegenteil ihres Mannes war, zumindest was das Aussehen anging. Sie war eine schmale Frau, einen Kopf kleiner als ihr dicker Mann und hatte braunes Haar, was Ian eindeutig von ihr geerbt hatte. Sie huschte zwischen die Tischen herum und verteilte neue Krüge mit Bier und Wein an die Gäste und unterheilt sich gelegentlich mit einer der Frauen des Dorfes. Ian war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war er in der Küche und passte auf, dass das Essen nicht anbrannte.
 

Mit schnellen Schritten suchte sich die Halbork ihren Weg zwischen den Tischen hindurch, bis sie auf Marta traf. „Hallo, Kleines“, begrüßte sie die ältere Frau und drückte zum Gruß sanft ihre Schuler. Dabei betrachtet sie eingehend das Mädchen. „Du hast die Kleider deiner Mutter an?“
 

„Ähm.“ Fynn errötete und fand in diesem Moment ihre Füße eindeutig interessanter als das Gesicht Martas. Als sie aufblickte, lächelte die Frau. „Wo ist Ian? Ich wollte ihn sprechen.“
 

„Der ist in den Ställen und versorgt die Pferde“, sagte Marta. „Geh ruhig durch die Küche und vergiss nicht, Roland zu sagen, er soll sich mehr auf seine Arbeit konzentrieren, als auf das Geschwätz der Männer.“
 

Fynn konnte das Kichern nicht unterdrücken und nickte. Das war Marta, wie sie jeder kannte. Immer die ernste Frau, die sich wegen jeder Kleinigkeit aufregen konnte. Manchmal fragte sich die kleinen Halbork, wieso die Frau den beleibten Wirt geheiratet hatte. Das war ihr bis heute immer noch ein Geheimnis. Bei Gelegenheit musste sie Marta danach fragen.
 

Schnell huschte sie an der älteren Frau vorbei, zur Theke, wo Roland sich weiterhin mit den anderen Männern unterhielt und ausgelassen lachte, als einer der Männer ihm erzählte, wie Garynal mürrisch davon gezogen war und seinen Sohn hinter sich her geschleift hatte.
 

Sie klopfte dem beleibten Mann auf die Schultern und erregte so seine Aufmerksamkeit. „Oho, Fynnchen“, sagte Roland lächelnd und grinste breit. Fynn roch den Alkohol, der aus seinem Mund strömte. Da hatten sich wohl nicht alleine die Gäste am Bier gütig getan, dachte sie. „Wieder hier? Muss ich mir etwa Sorgen machen?“
 

„Nein, nein“; kicherte sie amüsiert. Egal ob betrunken oder nüchtern, Roland war immer liebenswert. „Ich wollte nur zu Ian. Ach ja, Marta sagte, du sollst dich mehr auf deine Arbeit konzentrieren, als den Geschichten der anderen zu lauschen.“
 

„Na das mache ich doch schon“, sagte er und lachte wieder. Wahrscheinlich würde Roland eines Tages mit einem Lachen abdanken, dachte Fynn, und so die Götter überraschen und zum Lachen bringen.
 

Sie nickte und verschwand durch die Küchentür. In der Küche kochten zwei große Töpfe auf Feuern, während eine rothaarige Frau zwischen diesen hin und her eilte. Als sie Fynn bemerkte, lächelte sie und grüßte sie freundlich. „Grüß dich, Kind“, sagte sie, während sie an einen der Töpfe probierte und schließlich einige Kräuter hinzufügte.
 

„Hallo, Mimi“, erwiderte Fynn den Gruß und ging zu der Frau und sog den köstlichen Duft des Essens durch die Nase ein. „Das richt ja gut.“
 

Die Frau lächelte zufrieden. „Danke“, sagte sie und rührte in einem der Töpfe. „Wenn du Ian suchst, der ist noch bei den Pferden.“
 

Fynn nickte und eilte zur Hintertür, die sie auf den großen Hinterhof der Taverne führte, wo sich die Ställe der Pferde befanden, sowie eine große Scheune, in der das Futter gelagert wurde und seit Ewigkeiten ein alter Wagen stand. Aus den Ställen hörte die Halbork das Wiehern der Pferde und das Pfeifen einer Person.
 

Mit schnellen Schritten war sie bei den Ställen und lugte hinein, um Ian aus zu machen. Sie fand ihn recht schnell. Der junge Mann lag gemütlich im Stroh einer Koppel und pfiff zufrieden, während er die Augen geschlossen hielt. Das Mädchen konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, das Ian dennoch nicht hörte. Er war längst mit seiner Arbeit fertig geworden und gönnte sich eine lange Pause, bevor er von seinen Eltern neue Aufgaben bekam, die es zu erledigen galt.
 

Fynn räusperte sich geräuschvoll, worauf Ian die Augen erschrocken aufriss und eiligst aufsprang und nach der Mistgabel griff, um vor zu gaukeln, er würde noch immer bei der Arbeit sein. Die Halbork konnte sich nicht zurück halten und lachte los. Das erschrockene Gesicht des jungen Mannes war einfach zu komisch gewesen.
 

Ian sah auf und erkannte, dass es nur Fynn war, die sich da über ihn lustig machte. Der Bursche stemmte die Hände in die Hüften und schnaubte mürrisch. „Sehr witzig“, brummte er sie an, was aber nicht half, ihr Lachen zu mindern.
 

„Ach mach ruhig weiter“, schmunzelte Fynn, während sie sich einige Tränen aus den Augenwinkeln wischte. „Ich wollte dich nicht bei der Arbeit stören.“ Wieder musste sie lachen und Ian konnte nur grinsend den Kopf schütteln. Er konnte ihr deswegen nicht lang genug böse sein.
 

Als sich Fynn beruhig hatte, sah sie ihn lächelnd an. „Wie lange liegst du da eigentlich schon?“, fragte sie neugierig, während ihr Blick durch den Stall schweifte, um zu sehen, wesen Pferde hier unter gebracht waren.
 

„Nicht lange“, sagte der Wirtssohn und kletterte aus der Koppel heraus. „Glaube seit Einbruch der Nacht.“ Er sah zum Himmel, dann zur Taverne und nickte schließlich, da er sich in seiner Vermutung bestätigt fühlte. Er sah die Halbork neugierig an und fragte: „Was führt dich zu so später Stunde denn zurück?“
 

Das Mädchen sah ihn kurz an, bevor sie verlegen den Blick senkte. „Nun ja“; sagte sie und wand ihren Blick wieder dem jungen Mann zu. „Heute sind Fremde gekommen und die haben meine Neugier erregt.“
 

Ian überlegte kurz. „Ach, meinst du diese beiden Krieger?“, fragte er, worauf Fynn die Stirn runzelte. Krieger? Das hatte sie nicht gewusst, dennoch mochte sie den Gedanken, dass der Mann ihrer Träume in der Lage war sich zu verteidigen. Und vielleicht auch sie.
 

Schließlich nickte sie. „Genau die beiden“, sagte sie und nickte eifrig. „Sind die beiden denn schon wieder da?“
 

Der junge Mann lehnte sich gegen eine der Koppeltüren. „Ja.“ Er nickte. „Noch vor Sonnenuntergang eingetroffen.“ Er sah sich kurz um. „Halt dich lieber von denen fern. Die sind mir nicht geheuer.“
 

Fynn sah ihn überrascht an und legte den Kopf etwas schief. „Wieso denn nicht?“, fragte sie ihren langjährigen Freund.
 

„Der mit der Kapuze“, murmelte Ian, „der bewirkt bei mir eine Gänsehaut, wenn er mich ansieht.“ Ian schien zu frösteln bei dem Gedanken. „So was ist mir zuvor noch nie passiert.“.
 

Bei der Erwähnung des Kapuzenträgers lief es Fynn unweigerlich selbst kalt den Rücken herunter und ihre Hand schloss sich wieder um den Schwertanhänger, als könnte er sie davor schützen. Sie erinnerte sich, wie kalt der Anhänger geworden war, als der Mann sie angesehen hatte. So etwas war zuvor noch nie geschehen. Das Mädchen rätselte immer noch, was das zu bedeuten haben könnte, doch hatte sie keine Antwort darauf gefunden.
 

„Halt dich besser fern von denen“, sagte Ian eindringlich und sah ihr in die Augen, um sie innerlich darum zu bitten. Fynn wich einen Schritt zurück und sah Ian überrascht an. So ernst hatte sie ihn bisher noch nie erlebt. Sollte sie seiner Bitte folge leisten und sich fern halten von den beiden Fremden? Nein, er hatte sich allein auf den Kapuzenträger bezogen, also galt dies nicht für ihren Traummann.
 

„Werd ich machen“, sagte sie daher und lächelte ihn offen an. „Ich kann auf mich aufpassen.“
 

Ian lächelte zufrieden. Schließlich fiel ihm auf, dass das Mädchen andere Kleider trug. Er sah sie überrascht an und fragte: „Neue Kleider?“
 

Sie schüttelte leicht den Kopf, wobei ihr Gesicht etwas an Farbe gewann. „Das sind Kleider meiner Mutter“, erklärte sie ihm. „Ich wollte sie mal anprobieren. Stehen sie mir?“
 

Ian legte leicht den Kopf schief und musterte sie intensiv. Er nickte und sagte: „Ja, sie sind hübsch, aber an einigen Stellen liegen sie noch nicht richtig an.“ Er deutete auf die entsprechenden Stellen, wobei sein Finger auch auf ihren Busen zeigte und ihr die Röte richtig ins Gesicht schoss.
 

„Danke“; brummte sie und sah ihn beleidigt an. Warum musste er auch so ehrlich sein, fragte sie sich selber und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

Ian bemerkte seinen Fehler und legte einen Arm um ihre Schulter. „Verzeih mir“, bat er sie und lächelte sie freundlich an. Fynn schnaubte und sah weg. Er hob eine Augenbraue und versuchte es vom neuen. „Ich wollte nicht gemein sein. Kannst du mir verzeihen?“
 

Sie sah ihn wieder an, aber ihr Gesicht war ernst, fast wie bei Berold, was Ian etwas erschauern ließ. „Nur, wenn du mir einen Gefallen tust“, sagte sie zu ihm.
 

Ian ließ sich sogleich breit schlagen und fragte: „Und der wäre?“
 

„Wenn dich mein Onkel fragt, wo ich diese Nacht war, sag ihm, ich wäre bei dir gewesen“, sagte sie zu ihm. „Die ganze Nacht.“
 

Ian runzelte verwirrt die Stirn. „Und wieso?“, fragte er sie sofort. Irgendwas kam ihm da seltsam vor.
 

Nun zögerte Fynn mit ihrer Antwort. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und sah auf ihre Füße. „Ich möchte mich mit jemanden unterhalten“, sagte sie kleinlaut und sah Ian direkt ins Gesicht. „Einem Mann... Dem mit dem freundlichen Gesicht.“ Bei den Gedanken an ihn, erwärmte sich sogleich das Herz des Mädchens und sie glaubte in den Wolken zu schweben.
 

„Aber…“, setzte Ian an, wollte sie auf ihr Versprechen hinweisen, doch Fynn ließ ihm keine Chance fort zu fahren.
 

„Du bist mir einen Gefallen schuldig“, sagte sie schroff. „Oder ich könnte mich aus versehen verplappern und deine kleine Pause deinen Eltern gegenüber erwähnen.“ Der junge Mann sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er konnte einfach nicht glauben, was er da hörte. Die kleine Fynn drohte ihm mit seinen Eltern! Und dazu mit diesem ernsten Gesicht. Doch dieses blieb nicht lange bestehen und wich einem bittenden Blick. „Bitte, Ian“, bat sie ihn und legte eine ihrer zierlichen Hände auf seine Brust. „Ich werde dich auch nie wieder um etwas bitten.“
 

Ein Schnauben entrang seiner Kehle, als er versuchte dem bittenden Blick des Mädchens stand zu halten. Es war ihm nicht möglich. „Na gut“, seufzte er und sah sie an. „Aber pass auf dich auf. Wenn dir was passiert, würde ich mir das nie verzeihen können und dein Onkel mir sicher auch nicht.“
 

Fynn lächelte und drückte Ian herzlich. „Danke“, sagte sie zu dem jungen Mann, der sie wieder überrascht ansah. Als sie die Arme von ihm löste, trat sie einen Schritt zurück und sah den jungen Mann an. „Noch mals danke.“
 

Noch bevor Ian was sagen konnte, drehte sich Fynn um und rannte zurück zur Küchentür, durch die sie sogleich in die Küche schlüpfte. Mimi war nicht mehr da. Sie schien bereits damit beschäftigt zu sein, die Gäste mit den Speisen zu versorgen, die sie vorbereitet hatte. Fynn hielt sich nicht lange in der Küche auf, sondern betrat den Schankraum.
 

Roland stand in einer Ecke gedrängt und wurde von seiner Frau aufs ordentlichste zusammen gestaucht, während die Männer an der Theke in spöttisches Gelächter ausgebrochen waren. Zwar lachte Roland selber noch, doch klang es um einiges erzwungen, als sonst. Das Halbork-Mädchen schüttelte amüsiert den Kopf und kam hinter der Theke hervor, auf der Suche nach dem Fremden, dessen Lächeln sie so nervös machte.
 

Überall sah sie nur die altbekannten Gesichter der Dorfbewohner, die sich unterhielten und sich am frischen Bier erquiekten. Kein Mann ihrer Träume und auch nicht der unheimliche Kapuzenträger. Enttäuscht sah sie sich um. War er etwa schon zu Bett gegangen? Wenn dem so war, war sie umsonst in den `Eberspieß´ gekommen.
 

Als sie sich zum Gehen umwand, prallte sie mit jemanden zusammen. Erschrocken taumelte sie zurück und plumpste auf ihr Hinterteil. Ein leiser Fluch lag auf ihren Lippen, denn sie dem anderen entgegen schleudern wollte, weil er so unachtsam gewesen war. Als sie ihren Blick hob, erstarrte sie sogleich.
 

„Oh, verzeiht mir“, entschuldigte sich der blonde Mann und reichte Fynn seine Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. „Habt ihr euch wehgetan?“ Als Fynn nicht reagierte, sondern ihren Traummann mit weit geöffneten Mund und großen Augen anstarrte, runzelte er leicht die ebenmäßige Stirn.
 

Das Mädchen sammelte sich wieder und stotterte: „N-nein. Es ist a-alles in Ordnung.“ Sie griff nach der ausgestreckten Hand des Mannes und ließ sich auf die Beine ziehen. Als sie die Haut des Mannes berührte, überlief sie eine Gänsehaut. Wie sanft sie sich anfühlte, dachte das Halbork-Mädchen schwärmerisch und hätte am liebsten nie wieder los gelassen. Sie wusste, das sie das nicht machen konnte, doch wünschte sie sich, er würde ihrem Wunsch folge leisten.
 

Sie löste die Hand von seiner und strich sich hastig über den Stoff ihres Kleides, um ihn zu glätten. Der große Mann betrachte sie dabei, wie sie merkte und eine feine Röte bildete sich auf ihren Wangen.
 

Es schien ihrem Angebeteten aufgefallen zu sein, denn ein Lächeln schlich sich auf das schöne Gesicht. Das Gesicht Fynns wurde nur noch röter, als sie das sah, und beschämt senkte sie den Blick, weil die Scham sie zu überwältigen drohte.
 

„Sind eure Füße so viel interessanter?“, fragte sie der Mann, worauf das Mädchen peinlich berührt zusammen zuckte. Sie glaubte unter seinem Blick kleiner zu werden. Warum verspottete er sie so sehr? Mit einem Mal spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und unweigerlich sah sie auf. Es war die Hand des Fremden, dessen Gesicht ein gutmütiges Lächeln zierte. Ihr Herz klopfte wie zuvor schon, voller Aufregung und sie erwischte sich dabei, wie sie in Träumereien abdriftete, in der sie mit diesem Mann alleine war.
 

„Schon besser“, sagte er schließlich, als sein Blick den ihren traf. Er betrachte sie eingehend. „Ihr seit eine Halbork, oder?“ Unweigerlich zog Fynn den Kopf ein, als er ihr Erbe erwähnte und ein niedergeschlagenes Nicken gab sie zur Antwort. „Seit doch nicht betrübt“, sprach er weiter und drückte sanft ihre Schulter. Wieder durchlief sie ein Schauer und alle Anspannung fiel von ihr wie eiserne Ketten, die sie viele Jahre lang getragen hatte.
 

Sie sah auf und fragte leise: „Stört euch das denn nicht?“
 

„Wieso sollte es das?“, fragte er sie, wobei er leicht eine seiner feinen Augenbrauen an hob. Fynn fühlte sich bei dem Mann an einen Elfen erinnert. Es fehlten nur noch die spitzen Ohren, dann wäre das Bild komplett. „Ich sehe nur eine junge Maid vor mir, wie sie überall anzutreffen ist. Und so eine entzückende dazu.“
 

Mit großen, ungläubigen Augen sah das Mädchen den Mann an, konnte nicht glauben, was er da grade gesagt hatte. Er fand sie entzückend, hallte es ihr durch den Kopf und innerlich machte sie bereits gewaltige Freudensprünge, genau wie ihr Herz, das gar nicht mehr daran dachte wieder normal zu klopfen. Er sah einfach über ihr Erbe hinweg und sah nur einen Menschen in ihr, wie jeden anderen auch. Besser konnte es gar nicht mehr kommen. Jetzt wusste sie, dass dieser Mann ihr Prinz in der strahlenden Rüstung war, der sie vor allem beschützen würde.
 

„Gesellt euch doch zu mir“, bat er sie und wies auf einen einsamen Tisch in einer der Ecken des Schankraumes. „Ich würde mich über eure Gesellschaft sehr freuen.“ Das ließ sich das Halbork-Mädchen nicht zweimal sagen und sie nickte. Zusammen gingen sie zu dem Tisch und setzten sich an diesen.
 

Erst spät in der Nacht kehrte Fynn zur Hütte zurück, wobei sie ausgelassen über die Straße sprang und glücklich vor sich hin summte. Endlich hatte sie jemanden gefunden, bei dem sie sich wohl fühlte – ausgenommen ihres Onkels und ihrer Freunde.
 

Als sie an der Hütte ankam, flüsterte sie leise ein Wort, einen Namen: „Jakob.“ Er hatte ihr seinen Namen gesagt und dieser hörte sich wie die himmlischen Fanfaren der Götter an. Sie musste ihn immer wieder sagen, damit sie wusste, dass das alles kein Traum war. Und wenn. Es wäre der schönste, den sie seit langen wieder hatte.
 

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2. Akt: Begegnung mit dem Schicksal

Der Schein kann trügen.

Etwas Hässliches kann von innen schön sein,

Etwas Schönes kann von innen hässlich sein.

Höre auf die Stimme,

Die dich vor allem Übel zu schützen vermag.

Dann wirst du die Wahrheit erkennen.
 

Der Magus,

mächtigster Magier von Konass
 

***
 

Die Neuigkeit der Ankunft der Trödler verbreitete sich wie ein Laubfeuer durch Steindorf aus. Ein kleiner Gauklertrupp war voraus geeilt, um den fahrenden Zirkus anzukündigen und hatten in der Dorfmitte, wo sich alle wichtigen Läden – wie Berolds Schmiede – befanden, einiges von ihrem Können präsentiert und die Leute zum Applaudieren gebracht. Die Dörfler hatten sofort damit begonnen alles für die Ankunft der Trödler her zu richten, damit diese sich, wie jedes Jahr, wohl bei ihnen fühlen konnten. Am Mittag war schließlich der Zirkus der Trödler angekommen und hatte außerhalb des Dorfes sein Lager aufgeschlagen. In einem großen Halbkreis hatten die fahrenden Gaukler und Händler ihre Wagen aufgestellt, eine große Feuerstelle ausgehoben und ihre Waren aufgestellt, damit die Leute sich umsehen und etwas kaufen konnten.
 

Fynn hatte sich über die Ankunft der Trödler ganz besonders gefreut, wie all die Jahre zuvor. Doch dieses Mal hing sie viel mehr mit ihren Gedanken bei einem stattlichen Mann, mit blonden Haar, blauen Augen und einem Lächeln, das ihr die Beine weich werden ließ. Jakob, der fremde Krieger aus den Schneeländern. Er ging ihr nicht mehr aus den Kopf, seitdem sie ihn in Steindorf hatte einreiten sehen. Der schöne Mann mit der leicht blässlichen Haut hatte ihr Herz gewonnen und Fynn glaubte, er wäre der Mann ihrer Träume.
 

Das hatte sich sogar bestärkt, als sie sich mit ihm am gestrigen Abend unterhalten hatte. Die anfängliche Scheu war mit einemmal von ihr Abgefallen, als sie ganz offen miteinander geredet hatten. Die kleine Halbork hatte von ihm erfahren, dass er aus dem weiten Norden stammte, wo der Schnee einen Monat länger liegen blieb, als in ihrer Heimat. Jakob hatte ihr erzählt, dass er aus einfachem Hause stammte, eine kleine Armee Geschwister hatte und seine Eltern rechtschaffene Leute waren. Den Weg des Kriegers hatte er eingeschlagen, da ihn das Abenteuer, die weiten Konass zu erkunden, vom elterlichen Hof getrieben hatte. Er war schon weit herum gekommen, hatte die verschiedensten Völker und Rassen getroffen und gegen üble Kreaturen, wie Orks und Trolle, gefochten. Fynn hatte ihr Staunen nicht vortäuschen müssen. Sie hatte jedes seiner Worte begierig in sich gesogen, wobei sie ihm die ganze Zeit über in das feine Gesicht gesehen hatte, das an einen edlen Elfen erinnerte. Sie hätte sich eigentlich an diesem Abend an Jakobs atemberaubendem Gesicht satt sehen müssen, doch sie drängte der Wunsch, den Mann so schnell wie irgend möglich wieder zu sehen.
 

Das Mädchen sah sich das Kleid an, das sie gestern Abend noch getragen hatte. Sollte sie es wieder anziehen? Allein in ihrer kleinen Kammer stehend, den Kleiderschrank weit aufgerissen, stand Fynn nur in ihrem leichten Nachthemd und sah das Kleid ihrer Mutter an, das diese mit dem Titel `die flotte Kary´ getragen hatte, als sie vor vielen Jahren als Schankmaid in der Taverne `Eberspieß´ gearbeitet hatte. Sicher, das Kleid hatte seine Wirkung nicht verfehlt, so glaubte Fynn. Jakob hatte sie schließlich bemerkt. Dennoch konnte sie den Gedanken nicht abtun, dass sie etwas anderes tragen sollte.
 

Ein Klopfen an der Tür erweckte ihre Aufmerksamkeit. „Fynn?“, erklang die Stimme ihres Onkels.
 

„Ja?“, fragte sie und ging zur Tür. Sie öffnete diese einen Spalt breit und spähte hinaus, direkt in das besorgte Gesicht ihres Onkels. „Was ist denn, Onkel?“
 

„Ich wollte nur wissen, wo du steckst“, sagte der Schmied mit dem kahlen Haupt. „Du bist heute so schnell verschwunden.“ Er musterte sie durch den kleinen Spalt und bemerkte, dass sie nur ihr Nachthemd trug. „Bist du krank?“
 

Fynn sah an sich herab und schüttelte leicht den Kopf. „Nein, Onkel“, sagte sie lächelnd, gerührt von der Sorge ihres alten Onkels. Schon als kleines Kind, nach dem Tod ihrer Mutter, hatte sich Berold immer zu viele Sorgen um das Mädchen gemacht und jeden Tag gefragt, wie es ihr ging. Mit der Zeit hatte das aufgehört, doch immer, wenn sie sich etwas anders benahm, als es üblich für sie war, fragte er nach. „Ich mache mich nur für heute Abend zurecht. Ich will zu den Trödlern.“
 

Berold schien sich damit zufrieden zu geben und sagte: „Gut. Wenn du fertig bist, gebe ich dir etwas Geld.“ Mit diesen Worten wand er sich von der Tür ab und überließ Fynn sich allein. Das Mädchen schloss hinter sich die Tür und verriegelte diese. Sie kehrte an ihren Schrank zurück und sah sich die wenigen Kleider an, die sie dort vorfand. Einst hatten sie alle ihrer Mutter gehört. Jedes Kleidungsstück lag einst an der Haut und der Wärme ihrer Mutter. Einige hatte sie bereits getragen, aber nie etwas von der mütterlichen Wärme gespürt. Das Halbork-Mädchen glaubte, die Wärme wäre in den vielen Jahren längst verflogen.
 

Das Mädchen griff nach einem der Kleider, das aus rotem Stoff gemacht war. Was hätte sie jetzt nicht alles für einen Spiegel gegeben, um zu sehen, ob das Kleid ihr stand. Sie drückte das Kleidungsstück dennoch an ihre zierliche Gestalt und versuchte abzuwägen, ob er ihr stand. Unsicher legte sie es auf ihr Bett, um sich das nächste Kleid zu nehmen.
 

Über eine Stunde war sie damit beschäftigt, sich das richtige Kleid raus zu suchen, bis sie sich für ein grünes entscheiden hatte. Es hob sich besonders gut von ihrer blass- grünen Haut ab und es passte an den richtigen Stellen sogar. Ob ihre Mutter dieses Kleid auch in ihrem Alter getragen hatte, fragte sich Fynn, als sie den Stoff, der sich an ihre Haut schmiegte, glatt strich. Doch das Wichtigste war, würde es Jakob gefallen?
 

Obwohl Fynn den Mann grade mal einen Tag kannte, drehte sich ihre kleine Welt nur noch um ihn. Er war so ein wunderbarer Mann: Er verstand sie. Er erahnte, was sie sagen wollte und zeigte echtes Interesse an ihr. Ihm war egal, ob sie zur Hälfte eine Ork war. Er sah nur die Frau in ihr, die sie bald sein würde. Ob er vielleicht im selben Moment an sie dachte, so wie sie an ihn? Der Gedanke daran zauberte ein feines Lächeln auf ihr Gesicht.
 

Als sie fertig war, räumte sie unter höchster Sorgfalt die Kleider ihrer Mutter in den Schrank zurück. Schnell streifte sie sich ihr gutes Schuhwerk über, das sie am gestrigen Abend zuvor schon getragen hatte, denn mehr als dieses und einem paar abgetragener Stiefel besaß sie nicht.. Wieder wünschte sie sich einen Spiegel herbei, um sich zu bewundern und zu vergewissern, ob alles richtig saß.
 

Sie eilte zur Tür und endriegelte diese, um ihre Kammer zu verlassen. Ihr Onkel saß am Tisch in der Küchenstube und polierte einen alten Dolch, denn er mit zu jedem Fest nahm, wenn denn eins stattfand. Er sah wie jeder andere aus, doch auf dem Endstück des Knaufes thronte ein kleiner Amboss. Berold hatte ihr einmal erklärt, das dieser Dolch seinen Stand darstellen sollte. Ob das stimmte, bezweifelte sie, denn man sah ihrem Onkel deutlich an, welches Handwerk er ausübt, dennoch hatte sie ihre Meinung dazu nie geäußert.
 

Als der alte Mann sie bemerkte, hob er seinen Blick und sah sie mit großen Augen an, als würde er einen Geist sehen. „Kind“, stieß er hervor und erhob sich, wobei er den Dolch und den Polierlappen einfach auf dem Tisch liegen ließ. Er trat auf sie zu und nahm sie ganz genau in Augenschein. „Du… du siehst ja bezaubernd aus.“
 

Von dem Kompliment tief berührt, wand Fynn verlegen den Blick ab und lächelte. „Danke, Onkel“, sagte sie schüchtern, bevor sie ihn wieder ansah. Sie sah, dass sein Gesicht von einem sanften Lächeln geziert wurde.
 

„Wenn dich nur deine Mutter sehen könnte“, seufzte er und bat sie, sich einmal zu drehen. Sie gehorchte nur zu gerne, denn die Erwähnung ihrer Mutter schein ihr den nötigen Mut zu geben und erfüllte sie mit Stolz. Der ehrfürchtige Blick ihres Onkels blieb die ganze Zeit auf ihr haften, als sie sich drehte. „Du siehst ihr so ähnlich, Kind.“
 

„Wirklich?“ Er nickte stumm und blinzelte. Fynn runzelte die Stirn, als sie glaubte, Feuchtigkeit in den Augen des alten Mannes aufblitzen zu sehen, bevor er mit seiner Hand darüber fuhr. Sie schüttelt innerlich den Kopf. Ihr Onkel und Tränen. Das passte einfach nicht zusammen.
 

„Kind, da wird Ian sicher Augen machen“, sagte der alte Schmied schließlich und entlockte dem Mädchen einen verlegenden Blick. Ian hatte Wort gehalten und ihrem Onkel erzählt, sie wäre die ganze Nacht über bei ihm gewesen und sie hatten geredet. Sie musste ihm dafür noch danken, bevor sie Jakob aufsuchte und fragte, ob er mit ihr nicht zusammen zu den Trödlern gehen wolle. Da sie wusste, das der Mann mit diesen weiter ziehen wollte, ging sie davon aus, das er ihrem Angebot sicher gerne folge leisten würde. Vielleicht würde er es auch nur tun, damit er bei ihr wäre. Dieser Gedanke ließ sie innerlich wieder aufjauchzen. Sie und Jakob, Hand in Hand, auf dem Trödlerfest.
 

Sie nickte leicht zur Antwort und wollte schon gehen, als ein Klopfen von der Tür kam. Sie runzelte die Stirn. Wer war das, fragte sie sich, als sie an ihrem Onkel vorbei ging und die Tür öffnete. Zu ihrem Schreck stand da Garyn, mit finsterer Miene und einem großen Sack über der Schulter. Als der Bursch die Halbork erkannte und sah, was sie da trug, weiteten sich seine Augen dermaßen, das man glauben mochte, sie würden gleich aus den Höhlen fallen und am Boden herum kullern. Dabei klappte ihm der Mund weit auf.
 

Fynn erholte sich von ihrem Schrecken und erinnerte sich, das der Holzfällersohn für einen Monat Berold zu Dienste sein würde. Zudem fand sie es überaus amüsant, dass er sie so schockiert ansah. Sie legte ein Lächeln auf und stemmte die zierlichen Hände in die Hüften. „Was guckst du so, Garyn?“, fragte sie den Jungen spöttisch. „Noch nie eine Frau im Kleid gesehen?“
 

Bevor er was erwidern konnte, brummte Berold von hinten: „Fynn, ärger ihn nicht. Garyn sollte mir etwas mitbringen.“ Das Mädchen wand sich ihrem Onkel kurz zu, sah darauf Garyn wieder an und musterte den Sack, denn er bei sich trug. „Garyn, hast du alles dabei?“
 

„J-ja“, stammelte der Junge kurz, bevor er seine Fassung so weit zurück erlangt hatte, um seinen Mund wieder zu bekommen und seine Stimme wieder unter Kontrolle zu haben. „Ich hab alles dabei, Meister.“
 

Wieder runzelte Fynn die Stirn, während die Garyn hinein ließ. Als der Junge bei ihrem Onkel angefangen hatte, hatte der stämmige Schmied von ihm verlangt, als Meister angesprochen zu werden. Der Bursche hatte sich anfangs dagegen gesträubt, bis er erkannt hatte, das Herummurren bei dem alten Mann nichts brachte. Zwar erweckte er immer noch den Anschein, das es ihm nicht gefiel, den Alten als Meister zu bezeichnen, doch schein er sich schnell damit abzufinden.
 

„Stell ihn da ab“, sagte Berold und wies in eine Ecke der Küchenstube, wo Garyn ätzend den großen Sack ablud.
 

„Was ist denn da drin?“, fragte Fynn neugierig und trat näher heran.
 

Berold trat ihr in den Weg und meinte: „Sei nicht so neugierig, Kind. Du wirst morgen schon sehen, was sich darin befindet. Also mach, dass du weg kommst. Du wolltest doch zu den Trödlern.“
 

Fynn nickte, obwohl sie nur zu gerne, was sich in dem Sack befand. Sie wand sich zum Gehen um, bemerkte dabei noch Garyns finsteren Blick. Sie beachtet ihn nicht weiter, denn solche hatte der Junge ihr schon zur genüge hinterher geworfen.
 

„Ach, Fynn“, hielt sie ihr Onkel an der Tür auf. Sie wand sich um und sah ihn ungeduldig an. Sie wollte schnell zum `Eberspieß´, um Jakob zu treffen. Wenn sie weiter trödelte, wäre er vielleicht gar nicht mehr da und sie würde den ganzen Tag damit verbringen, heraus zu finden, wo er sich herum trieb.
 

Ihr Onkel kam auf sie zu und drückte ihr einen kleinen Beutel in die Hand. Als sie diesen öffnete, sah sie die vielen Kupfermünzen, die darin waren. Mit großen Augen sah sie ihn an. „Roland hat mir bereits erzählt, dass du dir nichts geholt hast“, sagte er zu ihr und lächelte. „Das und ein paar Münzen extra müssten für den besuch der Trödler sicher reichen.“
 

„Danke, Onkel“, sagte sie und drückte sich an den Schmied, der ihre Umarmung kurz erwiderte. Sie löste sich von ihm und eilte aus der Hütte, um schnell ins Dorf zu kommen. Schnell wollte sie zu Jakob, sein Lächeln sehen und mit ihm einen schönen Tag verleben. Allein mit Jakob, dachte sie schwärmerisch und beschleunigte ihre Schritte.
 

***
 

Die Dörfler fanden sich recht früh bei den Trödlern ein und wanderten von Stand zu stand, wenn sie nicht grade den Kunststücken eines Gauklers beiwohnten. Überall hörte man begeisterten Applaus oder Jubelrufe, wenn einer der Straßenkünstler erfolgreich sein Kunststück vorgeführt hatte. In der Zwischenzeit wechselte viel Geld die Besitzer, wenn die Händler mit den Dorfbewohnern feilschten oder handelten.
 

Kinder sahen dabei zu, wie der Schwertschlucker eine lange Klinge in seinen Rachen gleiten ließ, ohne sich daran zu verletzen. Männer bewunderten die Beweglichkeit einer jungen Frau, die ohne weiteres ihren Körper verdrehte, als wäre sie eine Schlange. Frauen keuchten bewundernd, als ein stämmiger Mann Gewichte stemmte, die mindestens das Doppelte wogen, als er selber. Und dazwischen rannten geschminkte Männer und Frauen herum, die mit kleinen Alberrein die Leute zum Lachen brachten
 

Mit wachsamen Augen beobachte der Jerisane das Treiben der Schausteller und der Bewohner Steindorfes. Er musterte jedes unbekannte Gesicht eingehend, auf der Suche nach seiner Beute. Doch niemand machte den Anschein, als wäre er das Objekt der langen Suche des Mannes aus der Wüste. Seit er in dem Dorf war, hatte er noch niemanden ausgemacht, der sich in irgendeiner Weise verdächtig benahm. Höchstens, das die Leute ihn unbedingt sehen wollten, den einarmigen Mann aus der Wüste Jeris.
 

Er fand es ungemein störend, wenn ihn ununterbrochen irgendwelche Leute angafften, als hätten sie noch nie zuvor einen Jerisanen gesehen. Er wusste zwar, dass die Leute hier selten einen zu Gesicht bekommen hatten, doch fand er es überaus unschicklich, dass man alle guten Manieren einfach so über den Haufen warf und einen ansah, als wäre man ein exotisches Tier. Er konnte nur hoffen, dass er seinen Auftrag schnell hinter sich bringen konnte, wie es sein Herr von ihm wünschte. Denn sofort würde er von diesem öden Ort verschwinden und in das Dünenmeer seiner Heimat zurückkehren.
 

Dem Sitzen überdrüssig, erhob sich der Wüstenreiter und wanderte von seinem Platz durch die Menge der Leute, um so seine Beute schnell zu finden. Dabei wich er ohne weiteres jedem Körperkontakt aus. Als wäre er gar nicht da, durchwanderte er das Gauklerlager, dabei immer wachsam die Augen auf jedes Gesicht gerichtet, das ihm unterkam. Bisher hatte er keins als das erkannt, welches er suchte.
 

„Meine Damen und Herren!“, ertönte die Stimme der Halbling-Frau nicht weit weg von ihm. Als er nach ihr suchte, sah er sie auf einem der Planwagen stehen und um Aufmerksamkeit bitten. Die umstehenden Leute sahen zu ihr auf und musterten sie mit neugierigen Blicken und flüsterten untereinander. Als es leise genug war, fuhr Svenja sogleich fort. „Wie jedes Jahr, so danke ich euch auch in diesem Jahr für eure Gastfreundschaft, obwohl, das Bier hätte besser sein können!“ Lautes Lachen schwoll unter den Anwesenden an – der Jerisane blieb der einzige, der nicht lachte. „Als dank dafür möchten wir euch eine unserer neuesten Nummern vorführen!“
 

Wie aufs Kommando erklang ein lautes Brüllen weiter abseits der Menge. Die Leute wanden alle ihre Blicke in die Richtung und erblickten einen großen Käfig, der von einigen Gauklern gezogen wurde. Im Inneren des Käfigs lauerte ein großes, abscheuliches Wesen, das jeden anfauchte, der dem Käfig einen Schritt zu nahe kam. Die Leute wichen nur bereitwillig vor dem Käfig zurück, denn keiner wollte in die Reichweite der Krallenbewährten Fänge geraten, die gelegentlich zwischen den Gitterstäben hervor schossen. Der Körper des Wesens war übersäht mit unzähligen, glänzenden und sandfarbenen Schuppen, die die Größe eines Männerkopfes hatten. Der Körper erinnerte an eine große Echse mit langen Stacheln auf dem Rückgrat. Gelbe Augen funkelten die Menschen begierig an, während das mit hunderten von Rasiermesserscharfen Zähnen bestückte Maul gelegentlich auf und zu klappte und der lange Schwanz gegen die Gitterstäbe des Käfigs peitschte.
 

Der Jerisane erkannte die Kreatur sofort. Ein Sandkriecher. Diese Kreaturen lebten in den Tiefen der Wüstenländer, wo sie unvermittelt aus dem Sand schossen und ihre Opfer mit ihren Mäulern schnappten, bevor sie wieder in den Tiefen des Sandes versanken. Es gab selten jemanden, der einen Angriff dieser Bestien überlebte und davon berichten konnte. Doch mehr plagte ihn die Frage, wie es den Gauklern wohl gelungen war, den Sandkriecher zu fangen. So weit er aus den Geschichten der fahrenden Männern und Frauen gehört hatte, waren diese nur in Helios unterwegs und hatten noch die den sandigen Boden Jeris betreten. Zudem kam ihm die Frage, wo sie das Wesen die ganze Zeit versteckt gehalten hatten. Während er mit ihnen nach Steindorf gereist war, hatte er nirgendwo auch nur eine Spur des Sandkriechers ausgemacht.
 

„Habt keine Angst!“, rief Svenja, die mittlerweile von dem Wagen herunter geklettert war und durch die Menge schritt. Die Halbling-Frau blieb einige Schritte von dem Käfig entfernt stehen und warf dem Sandkriecher einen kurzen Blick zu, bevor sie sich an die Schaulustigen wand. „Das Ungeheuer wird keinem von euch etwas tun! Allein in den Wüstenländern, wo der Sand so hoch wie Berge türmt, stellte er eine richtige Gefahr für uns dar! Der harte Boden unserer Heimat behindert es ungemein!“
 

Sie trat näher an den Käfig und wich einer nach ihr schlagenden Pranke auf. Erschrockenes Gekeuche und Schreie halten durch die abendliche Luft. Selbst der Wüstenreiter hatte die Luft angehalten, da er geglaubt hatte, dass das Wesen die kleine Frau erwischen würde. Doch die Flinkheit der Halblinge war legendär und Svenja machte dieser alle Ehre.
 

„Also wirklich“, beschwerte sich Svenja bei dem Monster, das ihr nur ein lautes Brüllen zur Antwort gab. „Da füttert man den Großen so lange durch und er will einen immer noch fressen. Hat man da Töne?“ Sie wand sich an Buck, der nicht weit ab stand und gab ihm ein kurzes Zeichen. Der Gaukler holte eine Flöte aus den Falten seines kunterbunten Kostüms und legte diese sich an die Lippen, um eine sanfte Melodie zu spielen. Die Melodie schien über alle Anwesenden hinweg zu schweben und der Wüstenmann bemerkte, wie einige der Dörfler ein Lächeln aufsetzen und dabei die Augen schlossen, um ihr genauer zu lauschen. Er musste zugeben, dass der Gaukler hervorragend spielte, doch sprach ihn die Musik nicht wirklich an.
 

Aber den Sandkriecher, wie er merkte. Als er zurück zu dem Käfig sah, sah er, dass das große Wesen angefangen hatte im Takt zu schaukeln und leises, zufriedenes Zischen von sich zu geben. Seine Augen wirkten schläfrig, nicht mehr angriffslustig, wie es zuvor die ganze Zeit der Fall gewesen war. Seine Bewegungen waren träger geworden, als würde er jeden Moment einschlafen.
 

Überrascht bemerkte er, das Svenja die Tür des Käfigs öffnete und zu dem Sandkriecher hinein kletterte. Andere bemerkten dies auch und keuchten erschrocken und panisch auf. Rufe erklangen, man sollte die kleine Frau dort weg holen, doch keiner bewegte sich, kein Gaukler, kein Dörfler.
 

Svenja ließ sich von nichts aufhalten, stellte sich mutig dem Ungetüm, das sie aus schläfrigen Augen her anstarrte. Die Halbling-Frau tätschelte dem Wesen die breite Schnauze, als würde es sich dabei nur um einen Hund handeln. Kurz darauf drückte sie das Maul des Wesens weit auf und wieder erklang panisches Geschrei von den Leuten.
 

Der Jerisane, konnte nicht glauben, was nun zu sehen bekam. Die kleine Frau schob ihren Kopf in das Maul des Sandkriechers, der bloß weiter vor sich hin und her schaukelte. Svenja grinste von dem Maul her und winkte den Leuten, die sie mit großen, vor Unglauben geweiteten Augen her ansah.
 

Als sie ihren Kopf aus dem Maul des Sandkriechers nahm, jubelten die bis eben noch schockierten Männer und Frauen des Dorfes begeistert auf. Die kleine Frau verneigte sich vor den Leuten zum Dank, während sie aus dem Käfig kletterte. Sie winkte einen anderen Gaukler herbei, der die Robe eines Magiers trug, sicher keiner war, wie der Wüstenreiter glaubte. Der falsche Magier verneigte sich übertrieben, wobei ihm der absurde Hut, den er trug, vom Haupte fiel und die Leute wieder zum Lachen brachten. Er zog einen kleinen Stab aus den Falten der Robe und schwang ihn übertrieben durch die Luft und sprach dabei die geheimen Worte der Macht. Der Mann aus der Wüste erkannte diese als solche.
 

Es gab einen lauten Knall und der Käfig wurde plötzlich von einer Wolke aus weißen Rauch umgeben und verschwand darin. Das Heulen des Sandkriechers erklang noch einmal, bevor er augenblicklich wieder verstummte. Langsam fing der Rauch an sich zu lichten, bis der Käfig wieder zu sehen war. Doch der Sandkriecher war verschwunden und nun stand eine junge Frau, mit sandfarbenen Haar und einem eng anliegenden Anzug dort und streckte die Arme in die Höhe.
 

Sofort erklang Jubel und Applaus der Dorfbewohner, die von diesem Schauspiel mehr als begeistert waren. Nie zuvor hatten sie so eine unglaubliche Nummer sehen dürfen und sie waren auch mehr als bereit dafür zu zahlen, als einige Kinder der Gaukler mit Klingelbeuteln durch die Reihen gingen.
 

Als Svenja auf den Jerisanen zuging, sah dieser immer noch auf den Käfig, aus dem die junge Frau, mit Bucks Hilfe, stieg. Sobald die kleine Frau bei ihm war, fragte er: „Das war eine Illusion, oder?“
 

Die kleine Frau kicherte und strich sich über die rot-braunen Locken. „So ist es“, sagte sie und wand sich dem Käfig zu, der nun weg geschafft wurde. „Ich wäre eine Närrin, wenn ich einen Sandkriecher mit mir herum schleppen würde. Weist du, was mich das Vieh kosten würde?“
 

Der Jerisane konnte ein Zucken des Mundwinkels nicht verhindern. Er sah auf die Halbling-Frau herab, die immer noch auf den Käfig sah. Kurz darauf sah sie zu ihm auf und fragte: „Da wir nun alleine sind“, um die beiden gingen die Besucher des Gauklerzirkus herum, „kannst du mir da nicht sagen, was dich nach Helios getrieben hat?“
 

Die Miene des Wüstenreiters verhärtete sich, als sie fragte. „Nein“, war seine Antwort, bevor er sich umwand und die kleine Frau stehen ließ. Sein Auftrag ging nur ihn alleine und seinen Herrn etwas an. Niemand sollte von seinen Absichten wissen, solange er keinen Befehl erhielt. Und Gaukler erst recht nicht, die für ihre losen Zungen bekannt waren.
 

Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit ließ ihn mit jemanden zusammen stoßen. Als er sich dem Jenigen zu wand, erkannte er, dass es sich dabei um ein Mädchen handelte. Seine Augen verengten sich, als er ihre grüne Haut, die gelben Augen und das schwarze Haar sah. Eine Halbork. So weit er mitbekommen hatte, waren Halbblüter für diese Gegend, nah dem Antigas-Schlange-Gebirge, nichts ungewöhnliches. Die wilden Humanoiden entführten die Frauen und vergewaltigten sie, um ihr Blut mit dem der Menschen zu kreuzen oder einfach nur, um ihre Triebe zu befriedigen.
 

Ein schlanker Mann, in dunklen Kleidern und mit blondem Haar, hatte sie aufgefangen, bevor das Mädchen auf den Boden gestolpert war. Nun sah dieser den Jerisanen finster an, doch der Mann aus der Wüste ließ sich davon nicht beeindrucken. „Es gehört sich nicht, eine junge Frau einfach über den Haufen zu rennen“, sagte der Schönling zu ihm.
 

Der Wüstenreiter warf ihm einen bedrohlichen Blick zu und wand sich ab, ohne ein Wort zu sagen. Er spürte deutlich den Blick des anderen im Nacken, doch reagierte er nicht darauf. Zu viele Menschen waren hier. Als er ein Stück des Weges gegangen war, umspielte ein zufriedenes Grinsen seine Lippen. Er hatte die Beute gefunden, ohne, dass sie ihn erkannt hatte. Nicht mehr lange und er würde sein Schwert gegen sie richten können.
 

***
 

Fynn richtet sich mit Jakobs Hilfe auf. „Tut dir etwas weh?“, fragte der Mann sie und dem Mädchen wurde es Warm ums Herz. Er schien sich wirklich Sorgen um sie zu machen, wenn er schon fragte.
 

Sie nickte. „Es ist nichts passiert“, sagte sie, um ihn zu beruhigen. Sie sah den Weg entlang, den der bronzefarbene Mann gegangen war. Er war ihr gänzlich unbekannt gewesen. War er einer der Gaukler? Wenn ja, wieso trug er dann die Kleider eines Kriegers und schien nicht frohen Mutes zu sein, wie die anderen es waren. Sie runzelte darüber die Stirn, bis sie die Hand ihres Prinzen auf ihrer Schulter spürte.
 

„Ein wirklich ungehobelter Kerl“, brummte Jakob, wozu Fynn nur zustimmend nicken konnte. Der Fremde war ihr etwas unheimlich gewesen, denn sein Gesicht schien wie aus Stein gemacht worden zu sein, als er sie angesehen hatte.
 

„Gehen wir weiter?“, fragte Fynn, die Jakob von dem kleinen Zwischenfall ablenken wollte und sich bei dem Mann einharkte.
 

Dieser sah das Mädchen mit angehobener Augenbraue an, bevor ein feines Lächeln seine Lippen umspielte. Fynn fühlte sich sogleich wohl in ihrer Haut, als das Lächeln auf sie herab strahlte. Sie sonnte sich regelrecht in der Aufmerksamkeit des Mannes. Nie zuvor hatte ihr ein anderer Mann, außer ihrem Onkel, Roland und Ian, soviel Interesse an ihr gezeigt, wie Jakob, der scheinbar alles über sie wissen wollte. Er hatte sich bereits nach ihren Eltern erkundigt, wo Fynn nur mit leiser Stimme, in der Trauer mitschwang, über ihre verstorbene Mutter gesprochen hatte. Die Frage, wer ihr Vater gewesen war, hatte sich Jakob verkniffen, wofür sie ihm sehr dankbar gewesen war. Sie kannte den Ork nicht, der ihre Mutter geschändet hatte, wollte ihn nicht einmal kennen lernen, denn er war einer von den wilden Völkern und diese waren für ihre Grausamkeit bekannt genug.
 

Als sie ihn am Gasthaus getroffen hatte, war er grade auf den Weg zu den Trödlern gewesen. Sein unheimlicher Freund, dessen Namen er dem Mädchen nicht genannt hatte, war nirgendwo zu sehen gewesen. Jakob hatte gemeint, dass er in ihrem Zimmer lag und schlief. Fynn war es einerlei, wo sich der Kapuzenträger herum trieb, solange sie mit ihren Angebeteten alleine sein konnte, ohne, dass einer sie störte.
 

Tief in Gedanken versunken, hatte Fynn nicht mitbekommen, das Jakob das Mädchen vom Lagerplatz der Trödler weg geführt hatte, auf einen einsamen Weg, der sie tiefer in den Wald führte. Als sie eine Eule heulen hörte, erwachte sie aus ihren Gedanken und sah sich um. Sie waren ein weites Stück von den lauten Stimmen der Gaukler und dem hellen Schien der Feuer entfernt. Die Stimmen waren kaum noch zu hören. Was hatte Jakob vor, fragte sich Fynn und sah den attraktiven Mann neugierig an. Wollte er etwa…
 

Ihr Gesicht wurde rot, als sie an die Geschichten der jungen Frauen des Dorfes dachte, denen sie bei Gelegenheit gelauscht hatte. Sie hatten davon gesprochen, wie ungestüm einige der jungen Männer waren, wenn es darum ging, den Frauen beim Ausziehen ihrer Kleider zu helfen. Würde sie an diesem Abend durch Jakob auch ihre Unschuld verlieren? Sie war doch nicht mal eine junge Frau und Jakob führte sie schon in eine entlegene Ecke, wo sie ungestört waren. Ihr Herz hämmerte wie verrückt und ihre Aufregung stieg ins Unermessliche. Sie fühlte sich zu Jakob mehr als hingezogen, doch für so einen gewagten Schritt war sie noch lange nicht bereit.
 

Mit sanftem Druck an seinem Arm bat sie den Mann stehen zu bleiben, doch der reagierte nicht darauf. Als sie schließlich stehen blieben wollte, packte Jakob sie grob am Arm und zerrte sie hinter sich her. „Jakob“, keuchte sie erschrocken, während sie versuchte ihren Arm von seiner Hand zu befreien, „du tust mir weh.“ Doch er antwortet nicht und zerrte sie weiter hinter sich her, als hätte er nichts gehört. „Bitte lass mich los.“
 

Jakob warf ihr einen finsteren Blick zu, der sie zu tiefste erschreckte. Seine Augen waren nicht mehr so dunkel und geheimnisvoll, wie zuvor. Sie waren zu einem kränklichen blau-grau geworden, das sie eisig traf. Das Mädchen schluckte schwer und versuchte unter Aufgebot ihrer ganzen Kräfte sich von ihm zu befreien.
 

Ihre Bemühungen wurden von einer schallenden Ohrfeige belohnt, die Fynns Gesicht traf und zur Seite drückte. Tränen stiegen ihr in die Augen. Was war aus ihrem sanften Prinzen geworden? Wieso war er so grob und brutal zu ihr? Ihre Welt brach ineinander zusammen. Wie hatte sie sich so in die sanften Züge des Gesichtes Jakobs so täuschen können? Wieso konnte so was Schönes, so finster sein?
 

Unvermittelt blieb Jakob stehen und schleuderte Fynn gegen einen nahen Baum. Als sie mit den Rücken gegen diesen schlug, keuchte sie schmerzerfüllt auf und die Tränen rannen unkontrolliert über ihr Gesicht. Sie sah den Mann an, denn sie geglaubt hatte zu lieben, doch er war längst nicht mehr, für den sie ihn gehalten hatte. Doch nichts war von der Wärme, die er einst ausgestrahlt hatte geblieben. Sein Gesicht wirkte finster und kalt.
 

„J-jakob“, stotterte sie ängstlich. Ihre Angst wurde nur noch mehr geschürt, als sie spürte, wie der Anhänger ihrer Mutter, den sie um den Hals trug, kälter wurde. Wie bei seinem Freund, dachte sie und riss weit die Augen auf. Was hatte das zu bedeuten?
 

„Was ist denn, kleine Fynn?“, fragte Jakob spöttisch. Sogar die Sanftheit seiner Stimme war verschwunden und hatte einem hinterhältigen Klang platz gemacht. Seine Augen glitzerten unheilvoll in der Nacht. „Hab doch keine Angst. Ich werde dir nichts tun. Jetzt zumindest nicht.“
 

Wenn Fynn hätte flüchten können, sie wäre sofort weg gewesen. Jakob machte ihr nur noch Angst, eine Angst, die sie zuvor noch nie gespürt hatte. Selbst Garynal, der Holzfäller, war je in der Lage gewesen, sie so zu erschüttern, wie es Jakob vermochte.
 

„Was macht ihr denn da?“, erklang eine spöttische Stimme. Jakob und Fynn sahen zur Seite und erblickten Garyn, der ein schiefes Grinsen aufgesetzt hatte. Der Bursche wirkte, als könnte er nicht mehr richtig stehen können. Hatte er etwa vom Wein der Gaukler gekostet?
 

Auf Jakobs Gesicht erschien ein gefährlicher Ausdruck, doch Garyn schien dies nicht einmal zu bemerken. Er kam vorwärts getorkelt und fragte: „Kann ich mitmachen? Ich hab noch eine Rechnung mit dem Bastrad offen.“
 

Jakob fing an zu lachen, als er dies hörte und winkte den Jungen herbei. „Nur zu, junger Freund“, sagte er mit falscher Freundlichkeit. „Du kannst dich ruhig mit ihr amüsieren, solange mein Freund noch nicht da ist.“ Garyns Gesicht zeigte ein hungriges Grinsen, als er auf Fynn zu steuerte, während Jakob einen Schritt zurück wich.
 

„Garyn, nein“, wimmerte das Mädchen, als der Bursch bei ihr ankam und sie an den Stamm des Baumes drückte. Sie wand den Blick ab, denn sie roch deutlich den Gestank des Alkohols, den der Junge ihr ins Gesicht hauchte.
 

„Na, kneifst du jetzt?“, fragte der Junge spöttisch. „Bei deinem Prinzen da kam es mir vor, du wärst mehr als berei…“ Er stockte und verzog das Gesicht. Fynn sah ihn fragend an. Der Bursch hustet auf einmal und Blut quoll ihm über die Lippen. Er sah Fynn ungläubig an, bevor an sich herunter sah. Sein Blick flog zu Jakob, der plötzlich hinter ihm stand. Der Mann machte eine ruckartige Bewegung und Garyn keuchte gurgelnd auf, bevor er kraftlos zur Seite kippte und regungslos liegen blieb.
 

Fynn schrie auf, als sie erkannte, was passiert war. In Jakobs Hand lag ein langer Dolch, dessen Klinge von Blut besudelt war. Der Mann hatte den Holzfällersohn kaltblütig umgebracht. Dabei grinste er auch noch und schob den Dolch ungerührt in dessen Scheide zurück, ohne das Blut weg zu wischen.
 

„Was für ein abartiger Bursche“, sagte Jakob mit einem Seufzer auf den Lippen. „Überhaupt keine Manieren. Scheint bei euch Bauerntrampeln im Blut zu liegen, wie?“
 

Die verängstigte Fynn antworte ihm nicht. Zu tief war der Schock über den plötzlichen Tot Garyns. Sie hatte ihm schon so manches an den Hals gewünscht, wenn sie wütend war, aber niemals, dass er von einer Klinge durchbohrt wurde. Nicht einmal er hatte ein solches Schicksal verdient.
 

Jakob wand sich um und sah in den dunklen Wald. Aus der Dunkelheit schälte sich eine dunkle Gestalt, die Fynn sofort erkannte. Der Kapuzenträger. Der Anhänger an ihrer Brust wurde nur noch kälter. Er war nun eisigkalt, als hätte er in Eiswasser gebadet.
 

„Wo hast du gesteckt?“, fragte Jakob schnaubend, als der Mann näher trat, vor Fynn stehen blieb und sie mit eisigem Blick musterte. Kurz fiel sein Blick auf den toten Jungen, der mittlerweile in seinem eigenen Blut badete.
 

„Was ist passiert?“, fragte der andere stattdessen, ohne auf die Frage des anderen einzugehen und deutete auf Garyns Leiche.
 

„Der hat uns überrascht“, meinte Jakob ungerührt. Er warf Fynn einen kurzen Blick zu und meinte: „Nun fang an. Ich will weiter. Dieses Kaff langweilt mich.“
 

Der Kapuzenträger knurrte leise und strich die Kapuze seines Umhanges zurück. Es kam Gesicht wie aus Fels gehauen zum Vorschein. Unzählige Narben zierten es und eins seiner Augen wurde von einer Augenklappe geziert. Wie Jakob, so war auch die Haut des Mannes blass, das aber um eine deutliche Spur mehr, als würde hier eine Leiche vor Fynn stehen. Die Augen waren von kaltem Grau und musterten sie ungeniert.
 

Der Mann rieb sich kurz über das unrasierte Kinn, bevor er Fynns Kopf grob zur Seite drückte: Das Mädchen wimmerte schmerzerfüllt auf, wagte nicht, zu schreien. Ihr Mut war längst verschwunden, nach dem Mord an Garyn. Der Einäugige fand die Kette und holte den Schwertanhänger aus dem Ausschnitt ihres Kleides. Er musterte ihn genau, bevor er zufrieden grinste.
 

„Du hast nicht übertrieben“, sagte der Mann, worauf ein empörtes Schnauben von Jakob kam. Der Einäugige drehte den Anhänger etwas in den Händen und schien die Kälte zu spüren, die von Stück ausging. Er nickte leicht. Er packte an den Ausschnitt des Kleides und riss daran. Nun konnte Fynn ein Schreien nicht unterdrücken, doch es verlor sich in ihrer Kehle, als ihr Peiniger ihr eine seiner schwieligen Hände auf den Mund presste und jeden Ton unterdrückte, denn sie von sich geben konnte.
 

Das Reißen von Stoff erklang und wenig später lag ihr Oberkörper frei. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch, während der Mann auf ihre kleinen Brüste starrte. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er das fand, was er gesucht hatte.
 

„Das letzte Zeichen“, sagte er mit heiserer Stimme und wand seinem Kameraden den Blick zu. „Sie trägt das Zeichen.“
 

Jakob kam herbei und warf selbst einen Blick auf das vermeintliche Zeichen. Ein Muttermal, in der Form eines Herzens, das über ihrem Herzen lag. Doch Jakobs Augen blieben mehr an ihrem Busen haften, als auf dem Herzmuttermal. Er grinste lüstern und leckte sich kaum merklich über die trocken gewordenen Lippen.
 

Der andere bemerkte dies und warf ihm einen grimmigen Seitenblick zu. „Schlag dir das gleich aus den Kopf“, knurrte er Jakob an, während er einen langen Dolch, ähnlich dem Jakobs, aus einer versteckten Scheide in seinem Umhang zog. „Du kennst unseren Auftrag.“
 

Jakob schnaubte und meinte: „Unser Auftrag lautet bloß, das wir die Zeichen finden und den Träger verschwinden lassen sollten. Da war nicht die Rede von gewesen, nicht unseren Spaß mit ihm zu haben.“ Er warf Fynn einen begierigen Blick zu. Er erinnerte das Mädchen an ein hungriges Tier, das nur darauf wartete, seine Beute anzufallen.
 

Der andere schnaubte abfällig. „Dann beeil dich damit“, wies er den Schönling an. „Wir müssen hier verschwunden sein, bevor die Dörfler merken, was passiert ist.“
 

Während er sich zurück zog, drängte sich Jakob an sein Opfer, das leise wimmerte und ihn mit bittenden Augen ansah, in der Hoffnung, er würde von ihr ablassen. „Ich kann mich nicht beeilen“, sagte Jakob, während er Fynn ansah. „Ich brauche halt meine Zeit.“
 

Ein Keuchen erklang hinter ihm. Als er sich umwand, sah Jakob noch, wie sein Kamerad mit einem Dolch in Kehle Rücklings in den Dreck fiel. Schnell wich der Schönling von dem verängstigten Mädchen zurück, das sich sogleich am Boden zusammen kauerte und ihre Blöße mit ihren Armen zu verdecken versuchte. Wie durch Geisterhand erschein in seiner Hand ein langes Schwert und Jakob machte sich bereit jeden Angriff abzufangen, der kommen mochte.
 

Aus den Schatten des Waldes rannte wie ein geölter Blitz eine Gestalt im wallenden Umhang auf ihn zu. In der rechten hand hielt der Fremde einen Krummsäbel mit kunstvoll geschmiedeter Klinge, die beim Lauf leicht über den Boden schabte. Der Schönling erschrak und wich einen Schritt zurück, der ihm das Leben rettet. Denn die Klinge des anderen schoss hervor, traf aber klirrend auf das Schwert Jakobs.
 

Fynn sah mit tränennassen Augen dabei zu, wie die beiden Kämpfer miteinander die Klingen kreuzten. Der fremde Angreifer, dessen Gesicht von der Kapuze seines ledernen Umhanges verdeckt war, schien ein Meister des Schwertes zu sein, denn er drängte den anderen ohne weiteres zurück, Schritt um Schritt, indem er immer wieder auf Jakobs Klinge einschlug. Jakob schien verloren. Sein Gesicht zeigte den Unglauben, das er einem anderen unterlegen war.
 

Jakob versuchte einen Ausfallschritt und stieß darauf sofort mit seinem Schwert zu. Er traf den anderen, wo dieser seinen linken Arm hatte, doch es entrang diesem kein Schmerzenslaut. Der Schönling runzelte verwirt die Stirn, bevor er die Klinge des anderen spürte, die sich in seine Lunge bohrte. Jakob stolperte zurück, rutschte dabei von der krummen Klinge und sah an sich herab. Sein Hemd wurde rasch von seinem eigenen Blut getränkt. Ein leises Gurgeln entrang seiner Lippen, als er den anderen wieder ansah. Dieser begegnete seinem, rührte sich aber ansonsten nicht.
 

Mit einem stummen Schrei auf den Lippen, über die sein Blut in Strömen rann, stürzte sich Jakob auf den Fremden, dabei sein Schwert weit über den Kopf erhoben, um seinen Gegner in der Mitte zu durchtrennen. Der andere erahnte, was der Schönling vor hatte und ließ seine Klinge herum wirbeln. Mit einem sauberen Schlag trennte er Jakobs Schwertarm und dessen Kopf von der Schulter. Der kopflose Körper stolperte an dem Fremden vorbei und fiel schließlich zu Boden, wo er still liegen blieb.
 

Fynn, die alles hatte mit ansehen musste, fing wieder an zu wimmern und wand den Blick ab. So viel Blut. Nie zuvor hatte sie gesehen, wie jemand einen anderen getötet hatte. Doch an diesem Tag war sie Zeuge von gleich drei Morden gewesen. Erst Garyn, der einem feigen Anschlag Jakobs zum Opfer gefallen war. Dann der Einäugigem, der ein ähnliches Schicksal erlitten hatte. Und am Ende Jakob selbst, dessen Kopf irgendwo zwischen die Bäume gerollte war und ihrem Blick unzugänglich war.
 

Der Fremde kniete sich neben die Leiche des Schönlings, während er seine Klinge am Mantel des Toten sauber strich und darauf in dessen lederne Scheide zurück schob. Er drehte den Körper auf den Rücken und befreite die Brust des Mannes von dessen Hemd. Er betrachte eingehend die Brust, bevor er aufstand und zu dem anderen Mann sah, der im Dreck des Waldes lag.
 

Schließlich fiel sein Blick auf das zitternde Mädchen. Fynn spürte seinen Blick ganz genau auf sich ruhen. Sie versuchte sich noch kleiner zu machen, während ihr Wimmern zu einem leisen Schluchzen anstieg. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte nicht das Schicksal der anderen teilen, die alle ihr Ende an der scharfen Schneide eines Schwertes gefunden hatten. Sie hörte die leisen Schritte des Fremden. Er kam zu ihr, erkannte sie panisch.
 

Sie zog den Kopf ein, als sie seine Stimme vernahm. „Steh auf“, befahl er schroff, doch sie wollte nicht gehorchen. Es war ein Mann, erkannte sie. Sie kniff weinend die Augen zusammen und verlor sich in ihrem Schlurzen. „Nun auf mit dir“, brummte der Fremde gleich noch mal und zog sie an einem ihrer Arme auf die Beine. Die grobe Behandlung ließ nur noch lauter weinen und sie verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Sie fühlte sich schwach, als hätte sie all ihre Kraft verloren.
 

Die Hand löste sich von ihrem Arm und wenig später spürte sie eine andere, die ihren Kopf anhob. All ihrer Kraft beraubt, konnte sie sich nicht dagegen wehren und hob den Blick. Sie öffnete ihre nassen Augen und blickte in das Gesicht des Mannes. Fynn weitete vor Schreck die Augen. Es war der Mann mit der bronzenen Haut, der sie im Trödlerlager fast über den Haufen gelaufen hätte. Sein Gesicht war ernst, wie versteinert, während er sie musterte. Dabei hielt er seinen Blick nur auf ihr Gesicht gereichtet, ohne auch nur einmal auf ihre Brüste abzuschweifen. Schließlich ließ er die Augen doch sinken, doch sie verharrten nur auf ihrem Anhänger. Fynn fiel auf, das die bekannte Wärme in das Erbstück zurückgekehrt war. Die Eiseskälte, die bei Jakob und seinem Kameraden da gewesen war, schien wie verflogen. Drohte von diesem Mann keine Gefahr, fragte sie sich unweigerlich, doch die Angst blieb bestehen. Sie hatte gesehen, wie er gnadenlos Jakob getötet hatte.
 

„Wir müssen hier weg“, sagte der Mann kurz angebunden, während er sie alleine stehen ließ und zu dem toten Einäugigen ging, um seinen Dolch mit einem Rück aus dessen Gurgel zu befreien. Wie auch sein Schwert, säuberte er den Dolch am Umhang des toten Mannes und schob ihn in seinen Gürtel zurück. Er warf Fynn, die sich noch keinen Zoll bewegt hatte, einen eindringlichen Blick zu.
 

Das Mädchen erwiderte den Blick, doch wagte sie es nicht, ihm blind zu vertrauen. Sie hatte schließlich erst kürzlich eine bittere Enttäuschung durch Jakob erlebt, der sich von einem gutmütigen Mann in ein grausames Monster verwandelt hatte. Würde das gleiche auch mit diesem passieren?
 

„Los, komm“, befahl er ihr und aus seiner Stimme konnte man deutlich hören, dass er eine Verweigerung nicht tolerieren würde. Dennoch weigerte Fynn sich weiter.
 

Sie blieb auf ihrem alten Platz stehen und sah ihn aus ängstlichen und misstraurigen Augen her an. Der Fremde verdrehte etwas die Augen, bevor er sich die Kapuze vom Kopf strich und sie ansah. „Komm schon mit“, sagte er neuerlich, dieses Mal eine Spur sanfter, doch klang seine Stimme auch dann noch hart. „Ich werde dir kein Leid zufügen, wie diese beiden hier.“ Er deutet mit einem Nicken auf den Einäugigen, der nicht weit ab lag. „Ich schwöre es dir bei meinem Blut.“
 

Der Anhänger ihrer Muter begann eine beruhigende Wärme durch ihren Körper fluten zu lassen. Fynn war erstaunt, denn diese Wärme kannte sei nur von ihrem Onkel und ihren wenigen Freunden. Sie sah den Mann mit der Bronzehaut mit großen Augen an, als könnte sie nicht glauben, was da seine Worte bewirkt hatten. Waren es überhaupt seine Worte gewesen oder seine Stimme, die ihren Anhänger so seltsam reagieren ließen?
 

Die Blicke der beiden trafen sich. Fynn musterte ihr gegenüber genau und bemerkte jetzt zum ersten Mal, das ihm der linke Arm fehlte. Daher konnte Jakob ihm also keinen Schaden zu fügen, erkannte sie. Dennoch war sie erstaunt über diesen Mann. Als hätte er einen Zauber gesprochen, reagierte ihr geliebtes Erbstück. War vielleicht Zauberei am Werke?
 

„Komm, Mädchen“, sagte er neuerlich und wand sich zum Gehen um. „Es ist zu gefährlich hier. Ich muss dich fort schaffen, damit du in Sicherheit bist.“
 

Von dem Wort Sicherheit ermutigt wagte sich Fynn einige Schritte vor, auf den Mann zu, wobei sich um die Toten herum ging, um sie nicht berühren zu müssen. Der Fremde kam ihr rasch entgegen und legte ihr, mit einer schnellen Bewegung, seinen Umhang um die bloßen Schultern. Sie erschrak etwas, doch schnell kehrte ihr Mut zurück, als sie die Wärme des Anhängers wieder vernahm. Wenn ihr Anhänger diesem Fremden vertraute, dann konnte sie es auch, beschloss sie.
 

„Ich muss dich sofort aus dem Dorf bringen“, sagte der Fremde, während er sie bei der Hand nahm und durch den Wald führte, ohne seinen schnellen Schritt zu verlangsamen.
 

Fynn riss ungläubig die Augen auf. Aus dem Dorf? „Das geht nicht“, stieß sie hervor, durch die Angst ermutigt, ihre Heimat zu verlassen.
 

Der Mann sah sie mit eindringlichem Blick an. „Es werden noch mehr kommen“, meinte er, „die dir nach dem Leben trachten werden.“
 

Mehr, schoss es ihr durch den Kopf, während sie ihrem Retter hinterher stolperte. „Wer will mich töten?“, fragte sie ängstlich und beschleunigte fast schon automatisch ihre Schritte.
 

Sein Blick war auf den Weg gerichtet, doch sie merkte, wie sich seine Augen zu schmalen Schlitzen verengten. „Otomor.“
 

***
 

Berolds Blick haftete auf dem Mann aus der Wüste, der ihm gegenüber mitten in der Küchenstube stand. Das Gesicht des Fremden wirkte ruhig wie Stein. Kein Muskel zuckte unter dem harten Blick des alten Schmiedes. Ein gut ausgebildeter Krieger, ging es ihm durch den Kopf, während er den Griff um den Dolch unweigerlich verstärkte. Er war in seinem Leben nur wenigen Jerisanen begegnet, diese waren nur Händler oder Karawanenwächter gewesen. Dieser Jerisane hingegen war durch und durch ein Krieger.
 

Als Berold vom Fest zurückgekommen war, war Fynn bereits zurück in der Hütte gewesen. Sie hatte ein anderes Kleid getragen, denn das grüne war zerrissen gewesen. Zu erst hatte er geglaubt, der Fremde hätte seiner geliebten Nichte Gewalt angetan, doch das Mädchen hatte ihren Onkel rasch beruhigt und erzählt, was wirklich vor gefallen war. Nun lag Fynn in ihrer Kammer und schlief tief und fest, während Berold und der Fremde alleine waren und einander nur anstarrten.
 

„Was will Otomor von meiner Nichte?“, fragte Berold, als er aus seiner Starre erwachte. Müde und besorgt strich er über sein faltiges Gesicht.
 

„Ihren Tot“, berichtet der Mann aus der Wüste kurz.
 

„Was bringt ihnen das?“, fragte der Alte nach, diesmal grimmig. „Fynn ist ein Mädchen, das grade erst zur Frau reift.“
 

Der Jerisane wand sich dem Fenster zu, während er mit Berold redete. „Das Mädchen reift nicht nur zur Frau.“ Sein Blick traf den des anderen. Deutlich sah der Schmied den Ernst in den Augen des Mannes. „Es reift zu der einzigen, ernsthaften Bedrohung des Imperiums heran.“
 

„Bitte was?“ Berold starrte den jüngeren Mann ungläubig an. Fynn und eine Bedrohung für das otomorische Imperium? Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Es gab keinen Feind, der hätte Otomor gefährlich werden können. Höchstens im weiten Süden, das Drachenreich. Aber Fynn? Nein, ausgeschlossen.
 

„Fynn ist für niemanden eine Bedrohung“, knurrte Berold und sprang regelrecht aus seinem Stuhl und schlug mit seinen Händen fest auf den Tisch, der darunter erzitterte. „Sie ist dazu nicht in der Lage!“
 

„Ich verstehe deinen Unglauben, Helioser“, sagte der Jerisane, wobei er nicht den Versuch machte verständnisvoll zu klingen. „Dennoch ist es so. Sie besitzt die Macht dazu, das Imperium zu fall zu bringen.“ Er warf dem Fenster wieder einen Blick zu und legte seine Hand auf den Griff seines Schwertes.
 

Berold bemerkte den aufmerksamen Blick und die zusammen gekniffenen Augen des anderen. „Was ist?“, fragte er im Flüsterton. Nahte Gefahr?
 

Der Jerisane winkte ab und deutet ihm an, das Licht zu löschen. Der Schmied gehorchte und blies die Kerze aus, die die ganze Zeit über auf dem Tisch gebrannt hatte. Nur das Licht des Mondes und der Sterne erhellten noch die kleine Stube. Von Draußen hörte der Schmied leise Schritte, die sich seiner Hütte näherten. Der Jerisane schlich zur Tür und zog einen Dolch mit krummer Klinge aus seinem Gürtel und duckte sich.
 

Die Schritte verhallten vor der Tür. Berold fragte sich, wer um diese späte Stunde noch etwas von ihm wollte. Er erinnerte sich nicht, sich für den Abend mit jemand verabredet zu haben. Ob das die Schergen des Imperiums waren, fragte er sich unweigerlich und sein Gesicht verfinsterte sich bei dem Gedanken. Niemand würde seiner Nichte auch nur zu Nahe kommen, so wahr er lebte und atmete.
 

Jemand klopfte an die Tür und eine bekannte Stimme erklang. „Berold? Bist du da?“
 

Der Schmied sah zur Tür und entflammte sogleich wieder die Kerze. Er ging zur Tür, wo sein jerisanischer Gast noch hockte. Dieser warf ihm einen warnenden Blick zu, doch der Schmied reagierte nicht darauf. Er öffnete die Tür und ließ den anderen herein.
 

„Ian“, sagte er, als der Wirtssohn in die Küchenstube trat. „Was ist denn los? Was willst du von mir zu dieser späten Stunde?“
 

Der junge Mann war außer Atem und keuchte: „Berold. Wo ist Fynn?“
 

„Sie ist in ihrem Bett und schläft. Wieso?“
 

Erleichtert atmete Ian auf und senkte den Blick. „Die zwei Fremden. Du erinnerst dich doch an sie. Man hat sie und Garyn tot aufgefunden, nicht weit ab vom Trödlerlager.“
 

Berold nickte leicht, verzog bei der Nachricht keine Miene. „Davon weis ich längst bescheid, Junge“, meinte er und schloss erstmal die Tür, damit es in der kleinen Hütte nicht zu kalt wurde.
 

„Woher?“, fragte Ian erstaunt. Er bemerkte eine Bewegung und wand sich um. Ein erschrockener Schrei entrang ihm, als er den Jerisanen mit dem Dolch in der Hand erspähte. „Berold…“
 

„Ruhig, Junge“, zischte ihm der Alte zu und schob ihn zum Tisch. „Willst du die ganze Nachbarschaft wecken?“ Er warf einen Blick zu dem Mann aus der Wüste und fügte hinzu: „Vor ihm brauchst du keine Angst zu haben. Er wird uns nichts tun.“
 

Ian schien ihm nicht wirklich zu glauben, denn der junge Mann funkelte den Fremden misstrauisch an, während dieser seinen Dolch verschwinden ließ. Er setzte sich und fragte: „Wer ist das?“
 

„Das ist nicht von Bedeutung für dich“, sagte der Jerisane kalt und warf einen Blick aus dem Fenster, bevor er es zu zog. Bevor der Wirtssohn etwas einwenden konnte, sagte er: „Du musst nur wissen, das es dem Mädchen gut geht.“
 

Berold nickte leicht, bevor er sich dem anderen zu wand. „Nun erzähl mir“, forderte er ihn auf, „wieso es grade Fynn ist?“
 

„Was ist mit Fynn?“, fragte Ian besorgt.
 

Bevor Berold antworten konnte, erklärte der Jerisane: „Sie ist die Hüterin des Herzschwertes.“ Berolds alte Augen starrten ihn voller Unglauben an, während Ian nur verwirrt zwischen den beiden Männern hin und her sehen konnte. Unbeirrt fuhr der Wüstenmann fort. „In ihr fliest das Blut des alten Volkes. In ihrer ganzen Familie. Sie trägt beide Zeichen. Den Schwertanhänger, der von Generation zu Generation weiter gegeben wurde, und das Muttermal in Form eines Herzens, das über ihrem Herzen liegt. Es gibt keinen Zweifel daran. In ganz Konass und über seine Grenzen hinaus, sind die Zeichen bekannt.“
 

„Unmöglich“, knurrte der alte Schmied. „Wenn dem so wäre, dann würde in mir auch das alte Blut fließen und ich hätte dasselbe Zeichen an mir.“ Immer noch konnte er nicht glauben, was ihm der fremde Krieger da erzählte. Fynn sollte die Hüterin einer Waffe sein, die vor Jahrtausenden vom alten Volk geschmiedet wurde und irgendwann in Vergessenheit geraten war. Nur noch die Legendenschreiber und Barden redeten davon. „Das Schwert ist eine Legende“, fuhr er den Mann an. „Und wenn nicht, dann ist es vor zu vielen Generationen und Kriegen verloren gegangen, als das noch jemand wissen könnte, wo es verborgen liegt.“
 

Der Jerisane zuckte mit den Schultern. „Wenn dem so ist“, fuhr sein gegenüber ruhig fort. „Wieso trägt sie die Zeichen? Wieso will Otomor ihren Tot?“
 

„W-was?“, stotterte Ian dazwischen. Die anderen beiden sahen den jungen Mann an, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte. „Fynn wäre beinah umgebracht worden? Von den beiden Fremden?“
 

Der Jerisane nickte. „So ist es“, sagte er ungerührt. „Die beiden waren Anhänger des Skorm.“
 

„Dem Eroberer und Zerstörer?“, keuchte Berold. Sein Gesicht war aschfahl geworden.
 

„Ja“, war die knappe Antwort des Wüstenmannes. Nach kurzer Zeit fuhr er fort. „Es waren Mitglieder der Meuchlergilde von Otomor. Die Klingen Skorms.“ Berolds Gesicht wirkte nun kreidebleich. „Es waren nur zwei einfache Meuchler. Keiner von beiden war ein Priester oder ein ernst zunehmender Krieger. Doch sicher hat Otomor nicht nur die beiden entsandt. Es werden mehr kommen, die das Mädchen suchen und töten wollen.“
 

„A-aber“, keuchte Berold, während er sich krampfhaft am Rand des Tisches fest halten musste. Die Klingen Skorms waren in den Weiten Konass sehr bekannt. Brutale und bestialische Männer, die keine Gnade oder Gefühle kannten. Es waren geistlose Marionetten der Kirche Skorms. Sie kannten nichts anderes, als töten und foltern. Sie labten sich regelrecht im Schmerz anderer. Und nun jagten diese Monster sein kleines Mädchen. Warum waren die Götter nur so grausam zu ihr?
 

„Wir haben keine Zeit mehr“, fuhr der Jerisane fort, ohne das entsetzte Gesicht des alten Mannes zu beachten. „Ich muss das Mädchen von hier weg bringen.“
 

„Das kommt nicht in frage“, knurrte Ian auf einmal und sprang von seinem Platz auf. „Fynn wird mit niemanden einfach weg gehen, der solch wilde Gesichten erzählt. Sie bliebt schön hier.“ Er sah den anderen Mann ernst an.
 

„Willst du mich davon abhalten, Bursche?“, fragte der Wüstenmann ohne Spott in der Stimme. Dennoch glaubte Ian, das der anderen herablassend auf ihn herab sah.
 

„Wenn es sein muss“, knurrte Ian und machte sich bereit, dem anderen Mann an die Kehle zu springen.
 

„Ian“, erklang die Stimme Fynns im Raum. Alle drei Männer wanden sich dem Mädchen zu, das im Nachthemd in der Tür ihrer Kammer stand und sie mit traurigen Augen ansah.
 

„Fynn“, keuchte Berold und ging zu ihr herüber. „Warum schläfst du denn nicht?“
 

„Ich habe euch belauscht;“ sagte sie, ohne auf die Frage ihres Onkels einzugehen. Sie sah den Jerisanen an, der seinen Blick auf sie gerichtet hielt. Dann sah sie Ian an. „Er hat versprochen, mir nichts zu tun. Er hat sogar auf sein Blut geschworen.“
 

Ian warf dem andern einen misstraurigen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Fynn richtete. „Fynn“, sagte er. „Der Mann ist ein Fremder. Wie kannst du ihm da nur glauben? Er kann so viele Eide ablegen, wie er will. Ich traue ihm nicht.“
 

Fynn sah die Besorgnis in den Augen ihres langjährigen Freundes und ihr kamen die Tränen, als sie die nächsten Worte aussprach. „Ian… Er wird mir nichts tun. Ich weis es genau. Ich spüre es ganz tief in mir.“
 

Berold und Ian sahen sie voller Unglauben und Überraschung an. „Was?“, fragte Ian, als er seine Stimme wieder fand. „Wie kannst du so etwas sagen?“
 

„Er.“ Sie warf dem Fremden einen unschlüssigen Blick zu, bevor sie sich wieder an Ian wand. „Er hat mein Leben gerettet. Zudem sagt es mir der Anhänger.“ Sie holte das Erbstück ihrer Mutter hervor und zeigte es Ian. Der junge Mann sah es stirnrunzelnd an. Er kannte das Stück, denn Fynn hatte es ihm oft gezeigt, als sie noch Kinder gewesen waren. „Der Anhänger strahlt Wärme aus.“
 

„Wärme?“
 

„Die Wärme des Herzens“, erklärte der Fremde und alle Blicke fielen auf ihn, während er näher trat. Ian nahm Fynn schützend hinter sich, doch dies schien den Mann aus der Wüste nicht zu stören. „Der Schwertanhänger spürt die Wärme und Kälte eines jeden Herzens, das in ihrer Nähe ist. Wenn es sich um ein Herz ohne böse Absicht, aber voller Güte handelt, dann ist er warm. Doch sollte ein Herz voller bösen Absichten in der Nähe sein, dann wird er so kalt wie ein Wintersturm.“
 

Fynn konnte dem nur zustimmen. Sie erinnerte sich deutlich an die Kälte, die von dem Anhänger ausgegangen war, als die beiden Skormklingen sie in ihrer Gewalt gehabt hatten. Doch die Wärme, die nun von dem Anhänger ausging, lullte sie in Wohlbehagen ein. Im Kreis dieser drei Männer – obwohl sie eine gewisse Furcht vor dem Wüstenmann verspürte – fühlte sie sich sicher und geborgen.
 

Die Stimme des Jerisanen riss sie aus ihren Gedanken, als er sagte: „Wir müssen nun aufbrechen.“ Sie sah ihn an und sah die Dringlichkeit in seinen Augen. „Wir dürfen nicht trödeln. Pack deine Sachen, Mädchen.“
 

„Moment mal“, sagte Ian und baute sich vor dem Fremden auf. „Sie geht nirgendwo hin. Und mit dir ganz sicher nicht. Sie ist hier zu Hause und nicht in deinem Land.“
 

„Du solltest lieber darüber nachdenken, was du sagst, Bursch“, knurrte der Fremde ihn an. „Wenn sie hier bleibt, wird sie getötet.“
 

„Dann bringen wir sie in eine der Städte“, meinte Ian, der glaubte, die ideale Lösung gefunden zu haben.
 

„Was glaubst du, wo die Skormklingen nach ihr suchen werden, wenn sie nicht hier ist“, sagte der andere. „Genau da, wo du sie hin führen willst. In ganz Helios gibt es keinen Ort mehr, wo sie sicher ist. Nicht einmal im Palast eures Königs wäre sie vor einem Anschlag sicher.“
 

Ian stockte. Daran hatte er nicht gedacht. Dennoch war er nicht bereit Fynn mit einem bildfremden Mann in ein fremdes Land ziehen zu lassen. Der junge Mann würde nicht zu lassen, dass das Mädchen irgendwo in der Ferne für immer verschwinden würde. Sie lag ihm sehr am Herzen und er fühlte sich für sie verantwortlich, wie ein Bruder für seine Schwester.
 

„Dann komme ich eben mit“, brummte er entschlossen, was sein Gegenüber nur eine Augenbraue anheben ließ. Doch auf Fynn und Berold zeigte es deutlich mehr Wirkung. Er hörte deutlich, wie beide den Atem anhielten.
 

„Ian“, keuchte Fynn erschrocken.
 

Er wand sich ihr zu und legte eine Hand auf ihre schmalen Schultern. „Ich werde dich nicht alleine ziehen lassen, Fynn“, sagte er voller Ernst und sah sie eindringlich an. So schnell würde man ihn nicht von seiner Entscheidung anbringen können, entschloss er im Stillen für sich. „Ich werde dich deine ganze Reise über beschützen, egal was kommen möge.“ Sein Blick traf den des Mädchens und er glaubte so etwas wie Dankbarkeit darin zu sehen. Aber auch die Sorge entging ihm nicht.
 

Sie zögerte, doch dann sagte sie leise: „Danke.“
 

„Schlag dir das gleich wieder aus den Kopf“, sagte der Jerisane scharf und sah ihn finster an. „Du würdest unsere Reise lediglich behindern.“
 

Ian wand sich ihm zu und erwiderte: „Na und? Ich lasse Fynn nicht alleine ziehen. Das musst du respektieren, Fremder. Wenn nicht, dann ist es dein Pech.“
 

Sein Gegenüber musterte ihn einen Augenblick, bevor er sich geschlagen gab. „Das Mädchen scheint sich dabei wohler zu fühlen“; brummte er und ging zur Tür. „Beeil dich und pack deine Sachen. Ich hole meine Habe. Wenn ich zurück bin und du bist nicht da, bring ich sie alleine weg.“
 

Ian nickte entschlossen und hastete zur Tür, vorbei an dem Wüstenmann. „Ian, warte“, hörte er Berolds Stimme. Der Alte hatte sich die ganze Zeit zurück gehalten. Ian wand sich ihm zu und sah ihn neugierig an. „Denk lieber noch einmal darüber nach. Deine Eltern werden nicht verstehen, warum du weg ziehst.“
 

Ian fiel es wie Schuppen von den Augen. Berold hatte vollkommen Recht. Er hatte keinen Gedanken an seine Eltern verschwendet, als er sich aufgedrängt hatte, Fynn zu begleiten. Wie würden sie reagieren, wenn er ihnen sagen würde, er ziehe von Steindorf weg? Ihm wurde das Herz schwer, als er sich die traurigen Gesichter vorstellte, die ihm seine Eltern zu werfen würden, wenn sie die Neuigkeit erfahren würden. Vielleicht sollte er es ihnen nicht sagen. Er könnte Berold darum bitten, das er es ihnen mitteilen solle. Schließlich waren er und sein Vater alte Freunde, die sich schon von Kindertagen her kannten. Nein, diese Bürde würde er dem alten Schmied nicht aufbürden können. Er selber musste dies tun. Aber wie? Er konnte sich nicht vor sie stellen und einfach davon erzählen, er würde mit Fynn in ferne Länder ziehen. Das konnte er nicht. Abschiede waren für ihn immer schon schwer gewesen.
 

„Berold“, seufzte Ian, als er seinen Entschluss gefestigt hatte. „Ich kann Fynn nicht alleine gehen lassen. Sie kennt da draußen doch niemanden.“ Er sah das Mädchen an, das ihn erstaunt entgegen blickte. „Meine Eltern werden verstehen, dass ich so handeln muss.“ Er wand sich ab und huschte davon, bevor den anderen auffiel, dass dem Burschen eine Träne über die Wange lief.
 

***
 

Rasch waren der Jerisane und der junge Mann zurückgekehrt. Ian hatte einen alten Gaul mitgebracht, den er für die Reise als Reittier nutzen wollte. Der Wüstenreiter hatte das Tier kritisch beäugt und seine Zweifel geäußert, das Tier würde einen schnellen Ritt nicht lange durchstehen können. Doch Ian hatte dagegen gehalten und behauptet der alte Bursch würde es locker mit seinem schwarzen Hengst aufnehmen könnten. Der Mann aus der Wüste bezweifelte dies. Es gab kein Pferd, das den Wüstenhengsten von Jeris ebenwürdig wäre.
 

Nun standen sie vor der Hütte des alten Schmiedes und Ian und der Wüstenreiter sahen dabei zu, wie der Alte seine Nichte ein letztes Mal in die Arme schloss. Das Mädchen schmiegte sich dicht an den großen Mann und ihr Körper zuckte unter leisem Weinen. Der junge Mann neben dem Jerisanen fühlte deutlich mit dem Mädchen, das sicher nicht allzu davon angetan war ihre Heimat zu verlassen. Doch der Wüstenreiter hatte seinen Auftrag. Das Mädchen unversehrt nach Jeris zu bringen und in die Obhut der Nu´Rakal, dem alten Kriegerorden des Reiches, zu geben, der es von da an beschützen würde. Die Reise würde zwanzig Tage dauern, denn sie mussten durch die Berge und versteckte Wege nehmen, die nur selten von Reisenden genutzt wurden. Sobald der zwanzigste Tag vorüber sein würde, wären sie in der Wüste von Jeris und mussten nur noch einen Monat zurück legen, bevor sie an ihrem eigentlichen Ziel wären.
 

Als sich Fynn von ihrem Onkel löste, wischte sich das Halbork-Mädchen über die tränennasse Wange. „Kannst du nicht mitkommen?“, fragte sie den Alten, der zur Antwort müde seufzte.
 

„Das geht nicht“, sagte er sanft zu ihr und drückte ihre Schultern. „Ich werde hier gebraucht. Zudem würde es auffallen, wenn der einzige Schmied im Dorf einfach verschwinden würde.“ Ein leiser Schluchzer drang an die Ohren des Jerisanen, bevor das Mädchen von ihrem Onkel einen Kuss auf die Stirn bekam und zu ihren Reisegefährten gedreht wurde. „Nun geh. Ian wird auf dich aufpassen, Kind. Außerdem werden wir uns schon bald wieder sehen. Das verspreche ich dir.“
 

Mit dem Rücken zum Onkel gedreht, fing Fynn wieder an zu weinen. Ian kam rasch herbei und nahm das Mädchen in den Arm, das sich sogleich an ihn klammerte und zu den Pferden führen ließ. Der Jerisane sah sie kurz an, bevor er sich in den Sattel seines Wüstenhengstes schwang. Der Wirtssohn half Fynn in den Sattel einer kleinen, grauen Stute, die der Wüstenreiter Svenja abgekauft hatte. Er hatte einfach behauptet, dass er ein Lastentier benötigte, weil er seine Reise weiter führen musste. Kurz darauf saß der Junge auch schon auf seinem Ackergaul.
 

Der Schmied trat an den Mann aus der Wüste und legte ihm eine Hand aufs Bein. Der sah den anderen sogleich an. „Bitte pass auf meine Nichte auf, Mann aus der Wüste“, bat der Alte ihn. Sein Blick war ernst und warnend. „Wenn ich hören sollte, dass ihr irgendwas passiert, werde ich dich suchen und dafür töten.“
 

„Keine Sorge“, meinte der Wüstenreiter ruhig. „Ich habe bei meinem Blute geschworen sie zu beschützen, alter Mann.“ Er warf Fynn und Ian einen kurzen Blick zu, bevor er sich dem anderen wieder zu wand. „Du hast mein Wort als Krieger darauf.“
 

Berold schien beruhigt zu sein. Er wand sich von ihm ab und wanderte hinüber zu dem jungen Mann. Ihm reichte er ein kleines Bündel, wie der Jerisane sah. Er vermutete, das es sich dabei um zusätzlichen Proviant handeln musste und vielleicht einigen Nutzgegenständen. Der Junge beugte sich vor und bekam von dem anderen etwas ins Ohr geflüstert. Der Mann aus der Wüste konnte nicht hören, über was sie sprachen, vermutete aber, das es etwas mit der Halbork zutun haben musste. Der Junge nickte und richtet sich im Sattel auf.
 

„Wir reiten los“, befahl der Wüstenreiter und gab seinem Pferd die Sporen: Das Tier wieherte freudig auf und trabte die Straße entlang, die sie in den dichten Wald führen würde. Die beiden anderen folgten ihm sofort. Kurz warf er einen Blick über die Schulter und sah, wie das Mädchen ihrem Onkel zum Abschied winkte, während dieser ihr nach sah.
 

Sobald sie außer Sichtweite des alten Schmiedes waren, wendete er sein Pferd und ritt zu dem Mädchen, das wie in Starre im Sattel saß. Sobald er neben ihr war, passte er das Tempo seines Tieres dem ihren an und wand seine Aufmerksamkeit ihr zu.
 

„Wir müssen uns beeilen“, sagte er zu ihr, ohne den grimmigen Blick des jungen Mannes wahr zu nehmen, der auf der anderen Seite des Mädchens ritt. „Wir müssen noch vor Einbruch der Nacht aus dem Wald sein.“
 

„So schnell werden wir nicht da durch kommen“, meinte Ian mürrisch. „Wir werden erst morgen Mittag aus dem Durgawald kommen. Kein Pferd ist schnell genug, um den Ritt schneller hinter sich zu bringen.“
 

Der Jerisane schloss kurz die Augen. Dieser Junge kannte die Wüstenhengste nicht, dachte er mit einem Anflug von Spott. Einer der vielen Unwissenden, denen er auf seiner Reise schon begegnet war. „Wir müssen es versuchen“, sagte er schlicht. „Wir alle.“
 

Fynn schien aus ihrer Trance zu erwachen und sah den Mann an. „Nun gut“, sagte sie, klang mit einemmal ziemlich ernst. „Führe uns heraus.“ Der Wüstenreiter nickte und gab seinem Tier die Sporen. Das Tier wieherte tatenlustig und preschte sogleich über den erdigen Weg davon. Seine beiden Anhängsel folgten ihm sogleich, wobei sie Probleme hatten, sich nicht von ihm abhängen zu lassen. Immer wieder musste der Mann seinen Hengst zügeln, damit er nicht einfach davon ritt und die beiden jungen Leute alleine zurück ließ.
 

Die Sonne ging über den Bäumen langsam unter, als sie eine geeignete Stelle fanden, wo sie rasten konnten. Ein erloschenes Lagerfeuer wies darauf hin, das schon früher Leute hier halt gemacht hatten, um die Nacht über zu rasten. Unter seiner Anleitung und Hilfe bauten sie ihr Lager auf. Keiner der beiden schien je aus dem Dorf heraus gekommen zu sein, dachte der Mann aus der Wüste, als er dabei zu sah, wie Ian seinen Schlafsack ausrollte und neben die Feuerstelle legte, in der nun wieder ein Feuer brannte.
 

Die Nacht brach schnell herein und bald saßen Ian und Fynn am wärmenden Feuer, während der Wüstenreiter sich um die Pferde kümmerte. Als ein Mann, der sein Leben lang mit Pferden zutun gehabt hatte, wusste er genau, wie er die Tiere zu behandeln hatte. Bald waren die Tiere versorgt und er kehrte zu seinen Gefährten zurück. Die beiden jungen Leute saßen dicht vorm Feuer und sahen gedankenverloren hinein. Beide hingen ihren ganz eigenen Gedanken nach.
 

Der Mann aus der Wüste setzte sich abseits der beiden ans Feuer und zog seinen Rucksack heran, um darin zu wühlen und etwas Brot zu Tage zu fördern. Er biss davon ab und kaute gelangweilt darauf herum, während er die Augen schloss und auf die Geräusche der Nacht lauschte. Sie waren zwar in den Tiefen des Durgawaldes, dennoch konnten hier so manche Gefahren lauern. Wilde Tiere und Banditen. Orks und andere Unholde kamen nur noch selten in den Ländern Helios vor. Dank der Bemühungen der Ritterschaft von Helios waren die wilden Humanoide zurück in die Berge vertrieben worden. Dennoch traute der Jerisane dem Frieden nicht. Er empfand ihn als trügerisch und er wollte sich davon nicht einlullen lassen.
 

„Fremder.“ Er sah auf, als er die Stimme der Halbork hörte. Sie war etwas von dem Feuer zurück gerückt und sah ihn mit ihren unschuldigen, gelben Augen an.
 

„Ja, Hüterin?“, fragte er ruhig, erwiderte dabei ihren Blick, der auf ihm lastete. Er bemerkte, wie sie rot wurde, als er sie bei ihrem Titel nannte, der ihr noch so neu war.
 

„Ähm“, stotterte sie, bevor sie sich wider faste. „Nenn mich bitte bei meinem Namen. Das… das ist mir lieber.“ Er nickte bloß. Er würde ihrem Wunsch entsprechen müssen. Zudem entsprach es ihm selbst, andere beim Namen zu nennen. „Wie ist… Wie ist dein Name?“
 

Der Wüstenreiter sah sie eine Weile an. Wieso wollte sie seinen Namen wissen? Was würde es ihr bringen, ihn beim Namen zu kennen. Schließlich würden sie höchstens zwei Monate zusammen reisen, bevor sich ihre Wege wieder trennen würden. Er war nur dem Ruf seines Herren gefolgt, der ihn schließlich in den grünen Wälder von Helios geschickt hatte, um die Hüterin des Herzschwertes zu suchen und sicher nach Jeris zu führen. Er würde diesem Auftrag folge leisten und danach in die Wüste zu seinem Clan zurückkehren. Er war ein Wüstenreiter und als solche war seine Heimat die Weite der Wüste von Jeris.
 

„Mein Name ist für dich nicht von Bedeutung“, sagte er lautlos. Sie sah ihn enttäuscht an. Innerlich sträubte er sich schon, ihr den Namen zu nennen, denn sie würde ihn nie mehr wieder sehen, doch verlangte sein Schwur von ihm, das er ihr jede Frage beantwortete, die er ihr beantworten konnte. „Man nennt mich Lorgren.“
 

„Lorgren“, murmelte sie nachdenklich.
 

„Das ist doch kein Name aus der Wüste, oder?“, fragte Ian, der bis jetzt geschwiegen hatte.
 

„Es gibt keine Namen, die aus der Wüste kommen“, antwortete Lorgren monoton. „Ich kann dir vergewissern, dass mein Name nicht untypisch für meine Heimat ist.“
 

„Wieso das?“ Die Frage kam von Fynn.
 

„Ich bin ein Wüstenreiter und als solcher gehöre ich den Clans der Nomaden der Wüste an“, erklärte er. „Die Leute meines Volkes tragen Namen aus vielen Ländern, nicht nur aus Jeris und den anderen Wüstenreichen. Nicht jeder von unseren Vorfahren stammt aus den sandigen Ländern.“
 

Fynn nickte verstehend und sah wieder ins Feuer. Ian hingegen sah den Wüstenreiter unentwegt an. Dieser bemerkte das Starren und warf ihm einen kurzen Blick kurz. Danach schloss er seine Augen und lehnte sich zurück.
 

***
 

Ian beobachtet den Mann aus der Wüste noch eine Weile, bevor er seinen Blick auf die in Gedanken versunkene Fynn, die vor dem Feuer saß. Er rückte zu ihr herüber und folgte ihrem Beispiel. „Ich vertraue ihm nicht“, murmelte er ihr zu.
 

Fynn sah ihn an und runzelte die Stirn. „Wieso?“, fragte sie ihn. Sie sah zu ihm rüber. Lorgren schien zu schlafen, dachte sie. Daher senkte sie ihre Stimme nur zu einem Flüstern, damit sie ihn auch nicht weckte. „Er hat mein Leben gerettet. Ohne ihn wäre ich längst tot und meine Mörder auf der Flucht.“
 

Ian schnaubte, zuckte dabei leicht zusammen und sah zu dem Wüstenreiter, um sicher zu gehen, dass dieser ihn nicht gehört hatte. Als er sicher war, das dem nicht so war, sagte er: „Was ist, wenn er mit diesen Männern unter einer Decke steckt. Mein Vater hat mir viel über das Imperium erzählt. Und jede dieser Geschichten hat mir die Nackenhaar aufgestellt.“
 

Fynn sah den Wirtssohn überrascht an. So kannte sie ihn gar nicht. Ian war sonst immer ein sonniges Gemüt, das einfach nur in den Tag hinein lebte und jeden so nahm, wie er nun mal war. Das beste Beispiel war sie. Das er dem Mann aus der Wüste nun so viel misstrauen entgegenbrachte, war untypisch für den jungen Mann. Vielleicht irrte sie sich, aber konnte es sein, das Ian Lorgren nicht mochte? Die beiden Männer kannten sich nicht mal eine Nacht lang und schon behielt Ian den andern auf Schritt und Tritt im Auge, als würde er befürchten, Lorgren würde über sie herfallen wollen.
 

„Ich glaube nicht, dass er einer von ihnen ist“, meinte Fynn nachdenklich und warf dem Jerisanen einen nachdenklichen Blick zu. Sie konnte es sich nicht erklären, aber sie hielt den Wüstenmann für einen guten Mann. Er wäre sicher nicht in der Lage jemanden zu töten, der nichts Unrechtes getan hatte. Zwar hatte sie gesehen, mit was für einer Leichtigkeit er Jakob und seinen Partner getötet hatte – dabei lief ihr immer noch ein kalter Schauer über den Rücken -, doch zu einem grundlosen Mord wäre er sicher nicht in der Lage.
 

„Ich weis nicht“, wand Ian ein. „Mein Vater hat mir erzählt, dass die Otomorer sich gegenseitig umbringen, wenn es ihren Zwecken dienlich ist. Vielleicht will er dich einfach nur in Sicherheit wiegen, damit du ihm blind vertraust und in eine Falle läufst, die deinen Tot bedeuten kann.“
 

Wieder konnte sie ihren Ohren nicht trauen. Was war mit Ian passiert, das er solche Sachen aussprach. Sie erkannte ihn schon fast nicht wieder. Zwar riet ihr die Vernunft, Ians Worten glauben zu schenken, aber ihr Herz riet ihr ihren Gefühlen zu vertrauen. Und diese sagten ihr, dass von Lorgren keine Gefahr ausging. Lag es vielleicht am Anhänger? Seit sie wusste, warum von ihm immer diese Wärme ausging, glaubte sie jeden ins Herz sehen zu können. Bei Berold selbst brauchte sie dies nicht mehr, denn seit ihrer Kindheit wusste sie, dass ihr Onkel sie über alles liebte. Bei Roland und seiner Frau war es nicht ganz anders. Ian selbst war ihr auch immer ein guter Freund gewesen, wofür sie immer sehr dankbar gewesen war. Doch nun versprühte auch Lorgren, denn sie nicht einmal richtig kannte, diese wohltuende Wärme, die sie nur von ihren engsten Freunden kannte. Der Anhänger schien dem Mann aus der Wüste zu vertrauen, also tat auch sie dies. Er würde sie warnen, wenn von Lorgren Gefahr drohen sollte.
 

„Bitte, Ian“, bat Fynn ihren Freund und legte ihm eine Hand auf die seine. Der junge Mann sah das Mädchen fragend an. „Bitte vertraue meinem Urteil. Ich spüre, das Lorgren kein Feind ist. Er ist ein Freund, der uns nichts Böses will. Sein einziger Wille besteht darin, mich sicher nach jeris zu bringen.“ Sie sah ihn mit bittenden Augen an.
 

Ian senkte verdrossen den Blick und murmelte: „Nun gut. Ich werde deinen Worten vertrauen. Aber dennoch behalt ich ihn im Auge.“
 

Die Halbork strich ihm über den Handrücken und sagte: „Danke, Ian. Ich wusste, das ich auf dich bauen kann.“ Sie erhob sich und ging zu ihrem Schlafsack. Ian sah ihr kurz nach und sah auf seine Hand, die eben noch von Fynns gehalten worden war. Er seufzte leise. Sie war noch so naiv, dachte er. Er musste wirklich gut auf sie aufpassen. Er hatte es schließlich versprochen und für gewöhnlich hielt er seine Versprechen.
 

Sein Blick fiel auf den schlafenden Wüstenreiter. Dieser schien nichts mitbekommen zu haben, saß da an einem Baumstamm gelehnt und wartet darauf, dass er ihn in der späten Nacht weckte. Ian wusste, dass er in dieser Nacht sicher keinen Schlaf finden würde. Sein Misstrauen dem Mann gegenüber war noch lange nicht überwunden und dies würde solange nicht sein, bis er einen beweis bekam, der ihn sagte, das Lorgren keine Bedrohung darstellte.
 

***
 

Mit besonderer Sorgfalt betrachtet der runzelige Mann die Schale, die mit dem Blut eines Ketzers gefüllte war, auf irgendwelche Zeichen. Schon den ganzen Tag über saß er in seiner riesigen Kammer, die nur vom Fackelschein erhellt wurde, und wartet darauf, dass irgendwas passierte. Doch bisher hatte die glatte Oberfläche des Blutes noch keine Welle gezeigt. Vielleicht hätte ich doch Jungfernblut nehmen sollen, überlegte er schon. Nein, das hätte ihm nur Probleme eingebracht. Ganz besonders, seit der Imperator seine Boten zu ihm sandte, um auf dem Neuesten gehalten zu werden.
 

Der alte Priester hatte den mächtigen Imperator noch nie so besorgt miterlebt. Seit einigen einem Monat benahm der Herrscher von Otomor sich schon so seltsam, als würde er jeden Moment eine Tragödie befürchten. Doch diese lag noch in weiter Zukunft, hatte ihm der Bote des Höchsten gesagt. Und bis dahin konnte noch viel entschieden werden.
 

Kurz schloss er die müden Augen, um kurz darauf erschrocken die Luft anzuhalten. Ein Bild zeigte sich in der Blutschale. Es war zwar noch verschwommen, aber es wurde allmählich deutlicher, je mehr er sich darauf konzentrierte. Noch einmal schloss er die Augen und fing an zu singen. Die Reime waren von göttlicher Macht durchtränkt und bald wurde das Bild so deutlich, als wenn er aus einem Fenster sehen würde. Zwei Männer kämpften miteinander. Zwei weitere lagen regungslos am Boden. Vermutlich tot. An einem Baum kauerte eine junge Frau mit entblößtem Oberkörper und zitterte am ganzen Leib.
 

Unweigerlich musste sich der Alte über die welken Lippen lecken. Das war genau das, was er die ganze Zeit zu sehen erhofft hatte. Einen der kämpfenden Männer erkannte er als eine der Klingen Skorms. Eine von vielen, die er noch vor einem Monat nach Helios geschickt hatte. Aber es schien nicht gut für ihn zu stehen. Der andere Mann drängte den Jünger Skorms immer weiter zurück, bis seine Klinge tief in dessen Brust stieß. Wenig später sah er dabei zu, wie der Skormklinge der Arm und der Kopf von den Schultern geschlagen wurden.
 

Schnaubend tat er seine Empörung kund. Was für ein Versager, dachte er bei sich, während er das Geschehen weiter beäugte. Der Mann untersuchte nun die beiden Toten, während die Frau weiter am Baum zitterte. Sein Augenmerk richtete sich auf diese. Überrascht stellte er fest, das es sich bei ihr um eine Halbork handelte, eine recht hübsche, wie er fand. Selten hatte er eine solche unter den halbblütigen Bastarden gesehen. Ob das was zu bedeuten hatte, fragte er sich und strich sich nachdenklich über das krumme Kinn.
 

Sein prüfender Blick wanderte weiter über den zarten Bastard, der nun vom Mann auf die Beine gezogen wurde. Etwas blitze auf und erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Anhänger. Ein Anhänger in der Form eines Schwertes! Das war eins der Zeichen, das wusste er genau und sogleich suchte er den Körper der Halbork nach dem letzten Zeichen ab. Er fand es schon rasch. Da war das Muttermal in der Form eines Herzens, direkt über ihrem Herzen! Das musste die Trägerin des Herzschwertes sein. Es gab keine Zweifel daran. Alles passte. Der Anhänger und das Muttermal.
 

Doch nun fragte er sich, wer der Mann war, der der Hüterin seinen Umhang über die Schultern legte. Er betrachtete eingehend das Gesicht des Mannes. Einer aus den Wüstenländern, erkannte der alte Priester sogleich. Wie lange hatte er keine Wüstenländer mehr gesehen, fragte er sich. Fünfzig oder sechzig Jahre? Egal wie lange das her war, einen Mann aus der Wüste erkannte man immer, egal wo er war. Doch was tat er in diesem Wald? Und wo lag dieser Wald? Wussten etwa noch andere das Skorm nach dem Leben der Hüterin des Herzschwertes trachtete?
 

Die vermaledeiten Götter, knurrte er innerlich. Wieso stellten sie sich immer wieder gegen Skorm und seine Jünger? Es wurde langsam wirklich Zeit, dass der Eroberer und Zerstörer zum heiligen Krieg gegen seine Geschwister ausrief. Doch erstmal musste die Herzschwerthüterin aus dem Weg geschafft werden.
 

Hastig zog der Alte eine kleine Glocke aus den Falten seiner blau-schwarzen Robe und ließ deren Klang erklingen, der durch Magie verstärkt worden war. Er musste nicht lange warten, denn schon bald schwang eine Tür auf und ein Novize, dessen Gesicht tief in den Falten seiner Kapuze verborgen lag, trat ein.
 

„Ihr habt gerufen, Oberster Obrikhan?“, krächzte der Novize unterwürfig und hielt den Blick gesenkt.
 

Der Oberste der Priesterschaft von Skorm hievte sich unter schwerem Stöhnen und Gliederschmerzen auf die Beine und wünschte sich dabei seine Jugend wieder herbei. „Schieck einen Boten zum Imperator“, wies ihn Obrikhan Skormanbeter an. „Und lass ihm ausrichten, dass wir nun wissen, wie unser Feind aussieht.“
 

Der Novize nickte und verneigte sich tief vor seinem Herrn und Meister, bevor er sich umdrehte und die Tür hinter sich schloss, als er ging. Obrikhan wand sich wieder der Schale mit Blut zu und grinste. Das Gesicht der Halbork hatte sich in seinen Geist eingebrannt. Er würde es nicht vergessen, solange er lebte und sein Herr es nicht wollte. Und er wusste, das sein Herr Skorm nur eins wollte: Ihren tot.
 

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3. Akt: Der Weg der Schlange

Niemand kann genau sagen,

Wohin uns unser Weg führen wird.

Selbst wenn wir die Straßen und Wege auf Karten sehen vermögen,

Weis niemand, ob wir dem Weg weiter folgen

Oder einem anderen Pfad gehen werden.

Nur eins ist sicher:

Wir folgen dem Weg des Lebens bis an sein Ende.
 

Jardion,

Hüter der Hallen von Thorid
 

***
 

Vor ihnen türmten sich die mächtigen Gipfel des Gebirges auf. Wie die Krallen einer wilden Bestie ragten sie gen Himmel, als wollten sie die vorbei fliegenden Wolken einfangen und verspeisen. Doch nie schien es ihnen vergönnt zu sein diese zu erreichen. Doch diese Eigenart gab dem Gebirge seinen Namen, sondern seine Form, die in ganz Konass seines gleichen suchte. Wie eine Schlange schlängelten sich die Berge von den südlichen Winkeln in die nördlichen Winkel des Reiches im Osten. Antigas-Schlange-Gebirge nannten die Bewohner dieses Gebirge, denn einer legende nach, war das Gebirge einst eine riesige, Titanenverschlingende Schlange gewesen, die ganz Konass heim gesucht hatte, bis ein Titan Namens Antiga kam und sie zum Kampf heraus forderte. Der junge Titan wäre beinah von dem Ungetüm verschlungen worden, hätte er seinen Felsenzertrümmernden Hammer nicht bei sich getragen. Dem Hammer seine letzten Kräfte gebend, schwang Antiga ihn und traf den Kopf der Schlange. Das Ungetüm heulte auf und nur in wenigen Momenten versteinerte er die Schlange. Nun für immer in Stein gefangen konnte die Schlange keinen Schaden mehr anrichten. Antiga selber überlebte nur knapp den Kampf. Als er wieder genesen war, baute er sich über dem Ungetüm eine Festung in den Wolken, um dafür zu sorgen, dass die Schlange nie mehr zum Leben erwachen sollte.
 

Ian konnte nur staunen, als er seinen Blick hob, um den höchsten Gipfel des Gebirges aus zu machen. Es gelang ihm nicht, denn einige der Berge ragten weit hoch in den Himmel, wo ihre Gipfel einfach verschwanden. Der junge Mann hatte noch nie die hohen Berge gesehen, denn sein ganzes Leben lang war er in den Durgawäldern zu Hause gewesen und hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, seine Heimat zu verlassen.
 

Er und seine Gefährten den ganzen, nächsten tag nord-östlich gezogen, bis sie nah den ersten Ausläufern des mächtigen Gebirges heraus gekommen waren. Fynn und Ian hatten sogleich vor Staunen die Augen weit aufgerissen und die felsigen Steilwände herauf geschaut, bis ihnen die Hälse steif geworden waren. Lorgren hatte sie sogleich weiter gedrängt, auf die Berge zu und gemeint, das sie sich schon bald an den Bergen satt sehen würden. Er hatte sie von allerlei Gefahren gewarnt, die ihnen in den Bergen begegnen würden. Lawinen und Steinschlägen, Monster und Unholde, die in den Höhlen des Gebirges hausten.
 

Ian hätte dem Wüstenreiter gerne eine Tracht Prügel verpasst, dafür, das er Fynn Angst eingejagt hatte. Doch allmählich verstand er, warum der Mann aus der Wüste dies alles erzählt hatte. Er wollte sicher gehen, das beide auf Schritt und Tritt die Augen auf behielten, damit sie nicht blind in Gefahr rein ritten.
 

Fynn war seit dem ruhig gewesen und hatte sich ängstlich überall umgesehen. Der Wirtssohn hatte dem Wüstenreiter immer wieder böse Blicke zugeworfen, doch dieser hatte nicht darauf reagiert, sondern war einfach weiter geritten und hatte seinen wachsamen Blick auf die Straße vor ihnen gerichtet.
 

Der Hengst Lorgrens hielt unvermittelt an, worauf die anderen ihre Tiere ebenfalls zügeln mussten. Der Wüstenreiter glitt aus dem Sattel und ging ein Stück voraus. Er kniete sich nieder und betrachtet die Straße, die schon seit Jahren nicht mehr bereist wurde. Ian ließ sich aus dem Sattel gleiten und half Fynn dabei, aus dem ihren zu kommen. Zusammen gesellten sie sich zu dem Einarmigen, der am Boden kauerte und den Boden anstarrte.
 

„Was ist los?“, fragte Fynn, als sie hinter ihrem Führer standen.
 

Er hob den Blick und sah die anderen an. „Spuren“, sagte er finster. „Von Orks.“ Die Blicke Ians und Fynns trafen sich, während Ian einen Dolch aus der Scheide an seinem Gürtel zog und Fynn näher an sich zog. Der Wüstenreiter erhob sich und sah beide an. „Die Spuren sind zwei Tage alt und führen in die Berge.“
 

„Dann können wir diesen Weg nicht nehmen“, meinte Ian, der Fynn zurück zu den Pferden führte.
 

Lorgren folgte ihm und schwang sich rasch in den Sattel. „Wir folgen weiter dem Weg“, sagte der Wüstenreiter entschieden.
 

„Da rein, wo Orks lauern?“, fragte Ian und sah den anderen an. „Vergiss es. Da ist es zu gefährlich für Fynn. Wir müssen eine sicherer Straße finden.“ Schnell ging Ian zu seinem Pferd und wühlte in einer der Satteltaschen herum. Rasch fand er, was er suchte. Eine Karte, die er ausrollte und eingehend studierte. „Was ist mit der Küstenstraße?“, fragte er Lorgren.
 

Der Jerisane schüttelte entschieden den Kopf. „Zu gefährlich“, sagte er. „Dort könnten weitere Meuchler lauern. Außerdem lässt man uns mit Fynn nicht passieren. Die Leute von der Küstenstraße mögen Halborks nicht sonderlich. Höchstens tot.“
 

Fynn stockte gleich der Atem, als sie dies hörte. Ian konnte es nur zu deutlich hören. Schnell wand er seinen Blick dem Mädchen zu und lächelte beruhigend, obwohl er selber innerlich aufgewühlt war. Er verstand nicht, was die Leute gegen Halborks hatten. Was war so schlimm an ihnen?
 

Als wenn Lorgren seine Worte gehört hätte, sagte er: „In der Gegend leben viele Banditen, wovon viele Halborks sind. Auch Piraten machen die Küsten unsicher und selbst dort findet man sie.“ Er sah den jungen Mann an, als wären seine Worte besonders an ihn gerichtet gewesen. „Die berge sind noch die beste Entscheidung.“
 

„Und was ist mit Taurin?“, wollte Ian wissen. Die mächtige Festungsstadt, die die Passstraße zwischen Helios und Jeris verteidigte, lag direkt an den Ausläufern des mächtigen Gebirges. Ian wusste, dass die Stadt seit sechshundert Jahren jeden Angreifer hatte abwehren können. Selbst die mächtigen Armeen Otomors waren an den Mauern und Verteidigern Taurins gezwungen gewesen, sich zurück zu ziehen.
 

Wieder verneinte Lorgren die Frage mit einem Kopfschütteln. „Dort werden die Skormklingen sicher schon lange sein“, sagte der Jerisane bestimmt. „Auch wenn die Stadtwache dies verhindern konnte, wage ich es nicht der Stadt zu nahe zu kommen. Die Stadt steht auf Kriegsfuß mit meinem Volk und einen Krieger werden sie sicher sofort einsperren, wenn er der Mauer zu nahe kommt.“ Er sah beide an. „Allein die Händler wissen, wie sie da rein kommen.“
 

Ian sah man deutlich an, dass ihm die Entscheidung, dass sie durch die Berge reisen würden, wo nun Orks auf sie lauern würden, nicht gefiel. Wären die Wesen nicht der Straße gefolgt, der sie jetzt selber folgten, würde Ian sich sicher wohler fühlen. Doch jetzt waren sie auf den Weg in die Berge, wo sie genau in die Arme der Orks liefen, die dort oben sicher schon auf sie warten würden.
 

Die kleine Gruppe ritt bis zum Abend. Unterwegs trafen sie auf niemanden. Keinen Menschen oder Ork, was Ian nur teilweise beruhigte. Sie kamen den Bergen immer näher. Lorgren ließ sie am Abend rasten. Der Wüstenreiter sagte, dass sie an diesem Tag die Ausläufer nicht mehr erreichen würden. Wie in der Nacht zuvor, übernahm Ian die erste Wache, wonach Lorgren die zweite übernahm. Fynn durfte wieder ausschlafen, denn der Einarmige meinte, sie bräuchte auf der langen Reise ihre ganze Kraft.
 

Am nächsten Morgen weckte Lorgren alle früh. Sobald sie gefrühstückt hatten, brachen sie ihr Lager ab und zogen weiter. Am späten Nachmittag erreichten sie die Ausläufer des Antigas-Schlange-Gebirges. Unter Lorgrens Führung drangen sie in die Berge ein, bis sie einem der Bergpfade folgen konnten. Der Wüstenreiter erwähnte, dass sie in einer der Höhlen für die Nacht Unterschlupf suchen würden, bis der Morgen graute. Sobald die ersten Sonnestrahlen den Fels und die Erde erwärmen würden, würden sie weiter ziehen und erst wieder am Abend rasten.
 

Ian war nicht wohl bei dem ganzen. Er fühlte sich von allen Seiten beobachtet. Er wusste nicht wieso. Waren hier schon Orks? Er sah sich immer wieder um, doch erblickte nichts. Ian merkte, wie nervös er war. Jeden Moment erwartete er, das von irgendwo eine Horde Orks hervor brach und über ihn und seine Gefährten her fiel. Er machte sich nicht allein um sich Sorgen. Seine größte Sorge galt Fynns Sicherheit. Nicht, weil sie die einzige Hoffnung darauf war, Otomor untergehen zu lassen, sondern weil sie ein wichtiger Teil seines Lebens war. Sie war für ihn wie die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte. Als sie Kinder gewesen waren, hatte er sie immer vor den anderen Kindern beschützen müssen, besonders vor Garyn, dem Sohn des Holzfällers, der sie am häufigsten schikaniert hatte. Ian war stets größer gewesen als der Bursche, der sogar drei Jahre jünger gewesen war. Doch nun war Garyn tot, ermordet von den Klingen Skorms und Fynn benötigte nun seinen Schutz vor der üblen Meuchlerbande aus Otomor, die ihr nach dem Leben trachteten.
 

Er hatte sich geschworen sie zu beschützen, egal was kommen würde. Jetzt schwor er es erneut, als sie weiter an den Felswänden vorbei zogen. Egal was für ein Übel auf sie zu kommen würde, er würde nicht von ihrer Seite wichen und sie sogar gegen die Orks verteidigen, die irgendwo im Gebirge lauerten. Niemand würde an ihm vorbei kommen. Das schwor er bei seinem Leben.
 

***
 

Sadrojor sah in die Schale, die bis zum Rand mit Blut gefüllt war und musterte genau das Gesicht seines Feindes. Er sah zu Obrikhan, dem welken Oberhaupt der Bruderschaft von Skorm, der neben ihm stand und zufrieden grinste. Ein Grinsen, das ihm deutlich machte, wie mächtig Skorm doch war. Der Imperator richtet sich zu voller Größe auf, bis er den Priester um zwei Hauptlängen überragte. Er trug seine vergoldete Stahlrüstung, die ihn schon durch unzählige Schlachten begleitet hatte, wie auch viele seiner Vorfahren. An seiner Seite hing das Familienschwert der imperialen Familie ruhig in seiner Scheide.
 

„Ein Mädchen?“, fragte der Imperator und wies auf das Bild der Halbork, die sich ängstlich umsah. Der Priester hatte ihm nicht sagen können, wo sie nun war. Nur, das sie unterwegs war. Man konnte lediglich ihr Gesicht und einen Teil ihres Oberkörpers sehen.
 

Der Alte nickte. „Ein Mädchen“, bestätigte er sofort. „Sie ist die Hüterin des Schwertes. Zudem sogar noch eine widerliche Missgeburt.“ Er fing an zu kichern.
 

Sadrojor sah wieder in die Schale und runzelte die Stirn. Wie konnte ihm ein schwaches Mädchen gefährlich werden? Zudem eins, das nicht mal ganz ein Mensch war. Der Magus musste übertrieben haben, als er die Warnung ausgesprochen hatte. Er hatte einen jungen Mann erwartet, dessen Arme so dick wie seine Oberschenkel waren und der über eine Kraft verfügte, die an die eines Gottes heranreichen könnte. Aber ein Mädchen war ihm nie in den Sinn gekommen. Der Magus hatte ihn wohl für dumm verkaufen wollen.
 

Er schnaubte abfällig und wand sich endgültig von dem Gefäß ab. „Allmählich frage ich mich, ob der Magus noch ganz bei Trost ist“, brummte er gering schätzend. Wieder kicherte das alte Oberhaupt der Skormpriesterschaft.
 

Obrikhan räusperte sich und meinte: „Wir sollten dennoch vorsichtig sein. Der Magus ist ein mächtiger Mann und man erzählt sich, er könne in die Zukunft sehen.“
 

„Mir ist egal, was er kann oder nicht“; erwiderte der Imperator barsch. „Der alte Narr hat meine ganzen Pläne durcheinander gebracht. Und das nur wegen eines Mädchens, das angeblich in der Lage sein soll, das Herzschwert zu führen!“ Er wirbelte herum und machte sich auf die Kammer des Priesters zu verlassen.
 

Obrikhan hielt ihn am Arm fest. „Mein Herrscher“, krächzte der Alte und sah ihn mit seinen dunklen Augen in die seinen. „Wir dürfen die Gefahr nicht zu gering schätzen.“
 

Sadrojor sah ihn mit finsterer Miene an. Dennoch wunderte er sich über die Schnelligkeit des alten Mannes. Skorm musste ihn reich belohnt haben, für seine langen Dienste. „Das habe ich auch nicht vor“, knurrte er ihn an. „Schick deine Meuchler weiter aus. Wenn es sein muss, dann heuer noch welche an, die sich da unten in Helios noch besser auskennen. Nur schaff mir den Bastard vom Hals.“ Er befreite sich von den faltigen Fingern des Alten und schritt zur Tür.
 

In der Tür stehend, wand er sich noch einmal um und sagte: „Warte kurz. Befehl deinen Leuten, sie sollen das Mädchen gefangen nehmen und zu mir zu bringen.“
 

„Was ist, wenn sie sich weigert?“, wollte der alte Priester wissen.
 

„Dann tötet sie und bringt mir ihren Kopf.“
 

***
 

Vorsichtig setzte Fynn einen Schritt vor den anderen, während sie ihre Stute hinter sich her führt. Sie und ihre Gefährten wanderten über einen schmalen Pfad, der höchstens drei Schritt breit war, und den man nur hintereinander überwinden konnte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, in den Tot zu stürzen. Denn zu ihrer rechten befand sich eine tiefe Schlucht, die in einem ausgetrockneten Flussbett endete. Fynn konnte nicht genau schätzen wie weit es in die Tiefe ging, aber Lorgren meinte, es wäre tief genug, das sogar ein Sturmriese zu Tode kommen würde, wenn er darunter stürzte. Fynn glaubte ihm.
 

Es war bereits der fünfte Tag ihrer Reise durch das Gebirge von Antigas Schlange und sie waren noch keinem Monster oder Unhold über den Weg gelaufen. Wo auch immer die Ungeheuer waren, sie konnten ruhig dort bleiben, befand die kleine Halbork. Trotz des bisher sicheren Marsches fand sie in der Nacht nicht genügend Ruhe. Immer wieder glaubte sie, dass sie von jemanden beobachtet wurde. Sie wusste nicht, warum, aber das Gefühl wurde seit zwei Tagen immer intensiver. Sie hatte sich oft nach der Ursache umgesehen, aber nichts ausmachen können. Allmählich glaubte sie unter Verfolgungswahn zu leiden.
 

Lorgren führte sie weiter die Steilwand hinauf, bis sie ein Plateau erreicht hatten. Erleichtert endlich festen Boden unter den Füßen zu haben, sank Fynn auf den Boden und legte sich auf den Rücken. Der Aufstieg war für sie erschöpfend gewesen. Sie hatte immer darauf aufpassen müssen, dass sie auch ja den richtigen Fuß vor den anderen setzte. Da diese Strapaze fürs erste gemeistert war, wollte sie sich eine Pause gönnen. Doch Lorgren schein das anders zu sehen.
 

„Wir müssen weiter“, drängte der Jerisane, der bereits weiter ging, seinen Hengst am Zaumzeug haltend.
 

„Lass uns eine Pause machen“, bat Ian, der als letzter angekommen war. Er selber saß auch bereits auf dem Boden und hatte sich seien Stiefel ausgezogen, damit seine Füße etwas Luft bekamen.
 

„Dafür fehlt uns die Zeit“, sagte Lorgren tonlos. „Wir müssen uns beeilen, wenn wir die Berge schnell verlassen wollen.“ Als die andern sich nicht rührten, wand er sich ihnen zu. Er ließ sein Pferd stehen und ging zu Fynn, die er sogleich auf die Beine stellte.
 

„Lass sie ausruhen“, knurrte Ian und sprang sogleich auf, achtete nicht darauf, dass er nur einen Stiefel trug. „Siehst du denn nicht, wie müde sie vom langen Aufstieg ist?“
 

„Sie kann sich weiter oben ausruhen“, erwiderte der jerisane, während er dem jungen Mann starr ansah.
 

Fynn sah den Mann aus der Wüste bittend an. „Bitte, Lorgren“, sagte sie müde. „Nur eine kleine Pause. Dann brechen wir auch sofort wieder auf. Das verspreche ich.“
 

Der Einarmige sah sie schweigend an und schnaubte schließlich. „na gut“, sagte er barsch. „Aber nicht lange.“ Er wand sich von ihr ab und stampfte davon, um sich nach möglichen Gefahren umzusehen.
 

Erleichtert sank Fynn wieder auf ihr Hinterteil. Sie sah hinüber zu Ian, der dem Jerisanen finster hinterher sah, bevor er sich selber setzte. „Ganz ruhig“, sagte das Mädchen zu dem jungen Mann. „Bitte reg dich wegen ihm nicht immer so auf.“
 

„Leichter gesagt, als getan“, erwiderte Ian brummend. Er sah dem Jerisanen weiter nach. „Er legt es regelrecht darauf an, mich zu reizen. Er versucht sicher mich los zu werden.“
 

„Wieso sollte er so etwas machen?“
 

Ian sah sie ernst an. „Damit keiner da ist, um ihn daran zu hindern, dir weh zu tun“, sagte der junge Mann zu ihr.
 

Fynn sah ihn gelangweilt an. Seit beginn der Reise sprach Ian nur davon, das Lorgren ihr Leid zufügen wolle. Sie selber wusste, dass es nicht stimmte. Lorgren hatte bisher nichts in dieser Richtung unternommen und würde es in Zukunft nicht tun. Ians Sorgen erschienen ihr mehr als kindisch. Er befürchtet nur das Schlimmste.
 

Sie machte sich Sorgen um ihren Freund. Er hatte sich in nur wenigen Tagen so arg verändert. Er machte sich zu viele Sorgen, war Lorgren gegenüber ununterbrochen misstraurig und hatte immer etwas zu bemängeln. Er ließ sich von Lorgren recht schnell reizen und schien auf Streit regelrecht aus zu sein. Fynn erkannte Ian nicht wieder. Wieso veränderte ihn diese reise so sehr? Lag es an ihr? Machte die Sorge um sie Ian allmählich verrückt? Wenn dem so war, dann müsste sie ihn zurück schicken, so sehr es auch ihr wehtat. Sie wollte nicht die Schuld daran tragen, dass einer ihrer liebsten Freunde dem Wahnsinn verfiel.
 

Als sie ihn darauf ansprechen wollte, kam Lorgren geduckt herbei gehuscht. „Hier ist irgendwas“, sagte er mit leiser Stimme, während er seine Hand an den Griff seines Krummsäbels legte. Ian machte sich bereit den Dolch zu ziehen, den er bei sich trug, und sah sich hektisch um. Fynn selbst wusste nicht, was sie tun konnte. Sie war die einzige, die keine Waffe bei sich trug.
 

Lorgren half ihr auf die Beine und flüsterte: „Los, zu den Pferden.“ Die beiden gehorchten ihm. Ian führte Fynn zu ihrer Stute, die unruhig mit den Hufen scharrte. Lorgren sah sich weiter um, während Fynn auf steig und Ian nur wenig später ihrem Beispiel folgte.
 

Lautes Geheul erklang um sie herum. Aller Köpfe schossen hin und her, um heraus zu finden, von wo dieser Lärm stammte. Lorgren zog mit einer schnellen Bewegung seinen Krummsäbel aus der Scheide und rannte zu seinem Wüstenhengst, der kampfeslustig wieherte. Ians Gaul und Fynns Stute hingegen wieherten ängstlich und wollten sich davon machen, doch ihre Reiter hinderten sie daran.
 

Lorgren sprang auf sein Pferd und rief: „Weg hier!“ Er ließ die beiden anderen vor reiten, folgten ihnen aber dicht auf. Das Heulen steigerte sich, als sie das Plateau verließen. Sie ritten einen Abhang hinauf und fanden sich wenig später von einer Gruppe buckliger Gestalten umringt. Ihre Haut war so schwarz wie die Nacht. Ihre Gesichter waren übersät mit unzähligen Narben und Wunden, die sie fast bis zur Unkenntlichkeit entstellten. Sie trugen Waffen verschiedenster Arten bei sich und ihre Rüstungen waren nicht weniger wild durcheinander gewürfelt. Das einzige was ihre Kleidung glich machte war, das alles schwarz gehalten wurde und so dreckig war, das man sich fragte, wie dick die Schmutzschicht wohl sein mochte.
 

„Was sind das für Wesen?“, fragte Ian panisch, als die Kreaturen sich anschickten, über sie ehr zu fallen.
 

“Schwarz-Orks!“, brüllte Lorgren. Als wäre es das Zeichen zum Angriff gewesen, sprangen die missgestalteten Kreaturen hervor, um ihre Opfer zu überwältigen. Doch sie hatten nie zuvor mit einem Wüstenreiter und seinem tapferen Hengst zutun gehabt.
 

Einer der Orks sprang mit einem weiten Sprung auf den Jerisanen zu. Der Wüstenreiter schwang die krumme Klinge seiner Waffe über den Kopf und schlug mit Schwung zu. Der ork fiel mit durchtrennter Kehle zu Boden und rührte sich schon nicht mehr. Einer seiner Gefährten kam herbei geeilt, um den Krieger zu überwältigen, doch das Pferd des Wüstenreiters hatte eindeutig etwas dagegen. Es holte mit den Forderlaufen aus und trieb sie dem Unhold gegen den Kopf. Mit einem lauten Knacken brach der Schädel und ließ die Seele der Kreatur entweichen.
 

Ian hatte wesentlich weniger Erfolg mit den buckeligen Orks. Eine kleine Gruppe hatte ihn und seinen alten Gaul umzingelt. Das alte Tier tänzelte panisch im Kreis, während Ian die Unhold mit seinem Dolch halbwegs auf Abstand hielt. Die Orks hatten wesentlich bessere Waffen als er, die dazu über eine größere Reichweite verfügten. Doch die Orks ließen sich von der kleinen Waffe auf Abstand halten.
 

Fynn war zwischen Lorgren und Ian gefallen, wo sie den meisten Schutz vor den Orks hatte. Man sah ihr deutlich die Angst und Panik an, die sich ihrer bemächtigt hatte. Am liebsten wäre sie mit ihrer Stute davon geritten, aber wohin? Die Orks schienen überall zu sein. Sie brüllten und sprangen ihre Gefährten an, während sie nur zusehen konnte. Lorgren und sein stolzes Pferd streckten einen Gegner nach dem anderen nieder, während Ian die Orks nur auf Abstand halten konnte. Er hatte in der Zwischenzeit geschafft einem Ork die Klinge in die Brust zu rammen, doch der geringe Erfolg tat nicht dazu bei, das die Unholde sich zurück schlagen ließen.
 

Fynn bemerkte zu ihrer Linken eine Bewegung. Als sie sich dieser zu wand, erkannte sie, dass es einem Ork gelungen war, an ihren Beschützern vorbei zu kommen. Der Unhold grunzte hungrig und stierte sie gierig an. Sie stieß einen verängstigten Schrei aus. Ihre Stute erschrak und bäumte sich auf. Fynn verlor den Halt und stürzte von dem Tier, das sogleich reiz aus nahm. Sie landete hart auf ihrem Rücken und keuchte schmerzerfüllt auf.
 

Als sie sich aufrichtete, war der Ork bereits über ihr, das gezackte Schwert weit über den Kopf gehoben, um sie zu töten. Fynn riss die Augen weit auf. Ihr wollte kein Laut über die geöffneten Lippen kommen. Nein, sie wollte noch nicht sterben. Sie hielt schützend die Arme über sich, obwohl sie wusste, dass diese die Klinge nicht aufhalten vermochten. Sie schloss die Augen in der stummen Hoffnung, dass noch ein Wunder geschehen mochte.
 

Ein Kreischen erklang und sie öffnete sogleich ihre Augen. Sie sah, wie der Wüstenhengst den Ork mit einem kräftigen Tritt seiner Hinterläufe zu Boden schickte. Das Mädchen sah die ausgestreckte Hand Lorgrens, der auf sie herab sah. Sie sah ihn einen Moment lang an, bevor sie seine Hand ergriff und sich zu ihm in den Sattel ziehen ließ. Als sie hinter ihm saß, klammerte sich das Mädchen sofort an den Mann, der nun wieder seine tödliche Klinge in der Hand hielt und einen weiteren Feind nieder streckte. Wieder spürte sie diese angenehme Wärme, die von dem Anhänger ausging. Sie ließ sich wieder von ihr einlullen und schloss die Augen, denn sie wusste, dass sie bei Lorgren sicher wäre.
 

***
 

„Ian!“, brüllte der Wüstenreiter mit kräftiger Stimme. Als der junge Mann kurz zu ihm sah, reif er: „Weg hier!“ Ian nickte und gab seinem Pferd die Sporen. Der Gaul folgte der Aufforderung nur zu gerne und preschte gleich los, wobei er einige der Orks nieder ritt, ohne es mit zu bekommen. Lorgren gab seinem tapferen Hengst die Sporen und das Tier folgte der Anweisung ohne Mucken. Es bäumte sich einmal auf, traf dabei einen Ork vor die Brust und folgte dem anderen.
 

Der Gaul galoppierte durch die gelichteten Reihen der Kreaturen, die ihm rasch aus dem Weg sprangen, wenn sie die Chance dazu hatten. Einige wenige gerieten dem schweren Pferd vor die Hufe und wurden nieder getrampelt. Lorgren sah dabei zu, wie das Tier immer mehr die Kontrolle übernahm. Ian schaffte es nicht mehr das verängstigte Tier ruhig zu halten. Doch er schien dies nicht einmal zu müssen. Der Gaul rannte genau die Strecke entlang, die sie zu ihrer Flucht nehmen wollten.
 

Ein Pfeil schoss dicht an Lorgrens Ohr vorbei. Der Wüstenreiter sah auf und entdeckte Ork-Bogenschützen, die sich auf Simsen verteilt hatten, um ihre fliehende Beute aus sicherer Entfernung zu töten. Ein leiser Fluch entrang dem Jerisanen. Wenn er alleine wäre, könnte er ohne weiteres entkommen. Doch mit dem Mädchen hinter ihm und dem Burschen war das praktisch unmöglich.
 

Die Bogenschützen nahmen die fliehenden Gefährten unter Beschuss. Lorgren konnte dank der Geschicklichkeit seines Tieres und den schlechten Schießkünsten der Orks allen ausweichen, was aber nicht auf Ian zutraf. Ein Pfeil hatte sich in die Flanke seines Gaules gebohrt, doch das Tier schien den Schmerz nicht zu spüren. Ian selbst war bisher unverletzt geblieben, aber wie lange würde das so bleiben?
 

Der Gaul bäumte sich plötzlich auf und fiel rücklings um. Ian konnte nur mit knapper Not entkommen und verhindern von seinem Reittier zerquetscht zu werden. Ein Pfeil hatte sich in den Hals des Tieres gebohrt und ihm die Luftröhre durchtrennt. Es war sofort tot, noch bevor er am Boden lag.
 

Ian krabbelte unbeholfen davon, wich dabei etlichen Pfeilen aus. Lorgren ritt zu ihm, doch drang er nicht bis zu dem Wirtssohn durch. Fynn, die hinter ihm ritt, schrie ängstlich, als sie das sah.
 

„Lorgren!“, schrie sie. „Wir müssen Ian helfen!“
 

„Unmöglich“, knurrte der Wüstenreiter durch zusammen gebissene Zähne. Er hatte Recht. Eine Gruppe Orks war aus einem versteckten Tunnel gekrochen und hatten Ian von ihnen abgeschnitten. Nun musste er alleine zu Recht kommen. Mittlerweile hatten die Bogenschützen ihr Feuer eingestellt, da Lorgren und die anderen außer Reichweite ihrer Pfeile geraten waren.
 

„Aber wir können ihn doch nicht in Stich lassen“, wimmerte Fynn, die sich schon anschickte vom Pferderücken zu rutschen.
 

„Bleib hier“; knurrte Lorgren sie an und sie gehorchte. „Bring dich nicht unnötig in Gefahr, Mädchen.“ Er sah hinüber zu Ian, der immer weiter in die Enge getrieben wurde. In seinen Augen war der junge Mann längst verloren. Er konnte niemals hoffen, dem Jungen noch irgendwie helfen zu können. Allein die Götter waren dazu in der Lage.
 

Ian sah zu ihnen und brüllte aus Liebeskräften: „Bring Fynn hier weg!“ Man sah ihm deutlich an, das es ihm schwer fiel sie ziehen zu lassen, mit einem Mann, dem er misstraute. „Rette ihr Leben!“
 

„Ian!“, schrie Fynn, die lange schon begonnen hatte zu weinen.
 

„Verschwindet hier!“, brüllte Ian noch einmal, bevor er sich auf den Kampf konzentrieren musste.
 

Lorgren konnte nur leise für den jungen Mann beten. Er wendete sein Pferd und ritt davon, dicht gefolgt von einigen Orks, die ihre Flucht bemerkt hatten. Nun flogen ihnen wieder die Pfeile entgegen, doch diese waren mehr eine Gefahr für die Orks, die ihnen folgten, als für die Fliehenden selber. Der Wüstenhengst schoss, ohne sein Tempo zu mindern, an den Orks vorbei, zurück zu dem Plateau, wo sich immer noch einige der Orks aufhielten. Sie hatten die Stute umzingelt, die panisch wieherte und versuchte zu entkommen.
 

Lorgren knurrte leise, als er seinen Krummsäbel aus der Schiede zog, die Zügel zwischen die Zähne nahm und auf die missgestalteten Kreaturen zu ritt. Die schwarzhäutigen Unholde bemerkten den Reiter erst, als einer von ihnen dessen Klinge zum Opfer fiel. Sie wichen erschrocken zurück, kletterten Steilwände empor oder schlüpften in versteckte Erdlöscher.
 

Die Stute wollte wieder ausbrechen, doch Lorgren pfiff schrill, was das Tier inne halten ließ. In seinen Augen stand immer noch Angst und Panik geschrieben, doch auch eine gewisse Ruhe war zurückgekehrt. Lorgren wies Fynn an auf seinem Hengst zu bleiben, denn er würde sie vor den Orks beschützen. Er selber wechselte auf die graue Stute.
 

„Reite davon, Mädchen“, befahl er ihr.
 

„Wohin?“, fragte Fynn ängstlich, während sie immer zum Weg zurück sah, wo Ian alleine mit den Orks kämpfte.
 

“Mein Hengst wird dich leiten“, sagte er und wendete die Stute.
 

„Wohin willst du?“, fragte Fynn panisch.
 

„Ich versuche Ian zu retten“, rief er ihr zu, als er der Stute die Sporen gab. Das Tier bäumte sich auf und galoppierte zurück. Die Orks, die sie eben noch verfolgt hatten, erreichten sie, doch wichen hastig auseinander, als Lorgren auf sie zukam. Einige suchten lieber den Tot in der Tiefe, als sich von der Stute niedertrampeln zu lassen.
 

Lorgren wusste, das sein stolzer Wüstenhengst Fynn sicher von diesem Ort weg bringen würde. Das Tier hörte wie er den Ruf der Wüste. Dort wäre sie sicher vor den Schwarz-Orks, die die Hitze der Wüste nicht vertrugen und deshalb tief in den Bergen lebten. Sobald Fynn in der Wüste wäre, würde sie sicher von einer Karawane gefunden werden, die sie in die Heimatstadt seines Meisters bringen würde.
 

Bald erreichte er die Stelle, wo Ian alleine zurück geblieben war. Die Bogenschützen der Orks waren verschwunden, wahrscheinlich wollten sie sich am Kampf der anderen beteiligen, um etwas von der Beute ab zu bekommen. Als Lorgren um die letzte Biegung bog, sah er Ian, lebend, gefangen in einem Kreis von Orks, die versuchten ihn mit Speeren zu treffen. Doch der Junge hielt sich wacker und wehrte mit einem erbeuteten Schwert die groben Waffen ab. Vor ihm lagen drei tote Orks, einer davon hatte einen Dolch in der Brust stecken. Ian sah abgekämpft auf. Der Wüstenreiter wusste nicht, wie lange der junge Mann noch durchhalten würde, war eigentlich erstaunt, dass er überhaupt noch lebte.
 

Er wusste, dass er schnell handeln musste, wenn Ian überleben sollte. Gab der Stute die Sporen und sie wieherte auf, als sie auf die Orks zuschoss. Die Kreaturen wandten ihre Aufmerksamkeit dem Jerisanen zu. Sie rissen überrascht die Augen auf, waren aber nicht so feige, wie ihre anderen Artgenossen. Die vorderster Reihe wand sich ihm komplett zu und richtet seine Waffen auf ihn. Lorgren hob seinen Krummsäbel gen Himmel und ließ die Stute mitten in die üblen Geschöpfe springen.
 

Nun verloren die Orks doch ihren Mut und wichen panisch zurück. Einigen wurden von der Stute nieder gedrückt, als sie auf ihnen landete. Lorgrens Klinge wirbelte in einem tödlichen Kreis hin und her und streckte Orks nieder, die nicht schnell genug weg kamen.
 

Keuchend sah Ian ihn an, als der Jerisane ihn erreichte. Er humpelte zu ihm herüber, denn sein linkes Bein war von einer Ork-Klinge verwundet worden. Ein langer Schnitt war zu sehen, aus dem unentwegt Blut quoll. Lorgren half dem Wirtssohn rasch auf den Pferderücken und wendete die Stute, die mehr als begeistert davon war, das sie endlich von den Orks weg kam.
 

Die Orks waren schnell wieder mutig geworden und behinderten Lorgren und Ian nun daran zu entkommen. Ein Speer wurde nach ihnen gestoßen, doch Lorgren wehrte ihn einfach ab und drückte ihn weg. Er verfluchte sich. Wieso war er zurückgekehrt? Der Junge war schon lange dem Tode geweiht. Nun würde er sein Schicksal teilen und Fynn würde alleine reisen und wohlmöglich wieder von den Orks überfallen werden. Er hatte seinen Auftrag nicht erfüllt, wie er es geschworen hatte. Sein Herr wäre sicher enttäuscht von ihm. Sogar mehr als das. Seine Seele würde für immer durch die Länder ziehen, auf der suche nach Erlösung.
 

Plötzlich spürte Lorgren, wie sich Ian bewegte. Er warf einen Blick über die Schultern und sah, das der Bursch aus dem Sattel rutschte. „Was machst du da?“, brüllte der Jerisane ungläubig.
 

„Mach, dass du weg kommst“, knurrte Ian durch zusammen gebissene Zähne. Er sah den Mann aus der Wüste einen stummen Moment an, bevor er sich brüllend auf die überraschten Orks stürzte und wild mit dem Schwert um sich schlug. Die Orks wichen zurück, versuchten nur teilweise Ian zu stoppen, doch es brachte ihnen nichts.
 

Lorgren wusste, das Ian ihm eine Möglichkeit zur Flucht eröffnete. Dennoch rührte er sich nicht. Als er Ians Blick begegnete, sah er eine stumme Bitte in ihnen. Er verstand sie sofort. Kümmre dich um Fynn, war sie. Leicht nickte er, bevor er die Stute wendete und davon ritt.
 

***
 

Ian sah dem Mann aus der Wüste nach, als dieser davon ritt. Doch seine Aufmerksamkeit wurde gleich darauf von einem Ork erregt, der sich anschickte seinen Speer in Ians Rippen zu stoßen. Der erschöpfte Mann wich rechtzeitig aus, doch geriet er ins Stolpern. Er fing sich rasch wieder, als ein anderer Ork mit seiner Axt auf ihn losging. Er wehrte grade so die Waffe ab, drückte sie weg und wich weiter zurück.
 

Die Orks wurden immer hartnäckiger. Sie verloren allmählich die Geduld. Sie wollten Blut sehen, das nicht von ihnen stammte, erkannte Ian beunruhigt. Wie lange würde es dauern, bis sie über ihn her fielen? Er wusste es nicht und wollte es auch nicht wirklich. Er wollte nur hier weg. Um Fynn musste er sich keine Sorgen mehr machen. Lorgren würde sich um sie kümmern. Er hatte gesehen mit was für einer Einfachheit der Wüstenreiter seine Gegner niedergestreckt hatte. Bei ihm wäre Fynn sicher.
 

Aber er würde bald den Tot finden. Der Gedanke daran beflügelte seine letzten Kraftreserven. Er schlug nur umso wilder um sich, ließ die Orks zurück weichen, doch selber wich er auch zurück. Er musste einen Weg in die Freiheit finden. Doch wie mit einem verwundeten Bein und vor Müdigkeit protestierenden Knochen? Er wusste es nicht.
 

Ian riss die Augen auf, als eine Ferse keinen Boden fand. Der junge Mann warf einen Blick über die Schultern und riss noch weiter die Augen auf. Er war bis an den Rand einer Schlucht zurück gewichen. Wie sollte er jetzt noch an Flucht denken? Die Orks versperrten ihm alle Wege.
 

Wütend knurrte er. Warum spielte das Schicksal so übel mit ihm? Was hatte er getan, das er ein solches Los erhalten hatte? Seine Gedanken drifteten zu Fynn, die irgendwo in den Bergen vor den Ungeheuer flüchtete, behütet von Lorgren, dem Mann aus der Wüste. Mögen die Götter sie beschützen und behütet aus den Bergen führen, betete er stumm.
 

Ein Ork sprang vor und überraschte Ian. Der Unhold packte den Jungen an den Schultern. Ian sah ihn panisch an. Schnell trieb er dem Wesen sein Schwert in den bauch. Der Unhold heulte auf, doch ließ er ihn nicht los. Ian versuchte sich von ihm zu befreien, doch gelang es ihm nicht. Er versuchte noch einmal seine Klinge in den Wanst des Monsters zu treiben, doch sie ließ sich nicht heraus ziehen.
 

Der Ork, dessen Tot schon fest stand, funkelte ihn triumphierend an. Er öffnete das Maul, das von krummen und verfaulten Zähnen bestückt war und biss zu. Die widerlichen Zähne bohrten sich in die Schulter des jungen Mannes, der gequält aufschrie. Wie eine Schnappschildkröte verbiss sich der Unhold in ihn, sogar, als seine Lebenslichter erloschen.
 

Ian stiegen die Tränen in die Augen, während er sich des toten Körpers zu entledigen versuchte. Doch es gelang nicht. Der Kiffer des toten Wesens hatte sich verkrampft und die Zähne ließen sich nicht von seiner Schulter lösen, die wie Feuer brannte.
 

Die anderen Orks heulten auf, gerieten allmählich in einen Blutrausch, denn sie näherten sich dem Jungen. Ian wich zurück, geriet dabei wieder an den Rand des Abgrundes. Er versuchte sich von dem Ork zu befreien, mit aller Kraft, die er noch hatte. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn, als eine Speerspitze sich in seine Seite bohrte. Wieder schrie er auf. Blind vor Schmerz merkte er nicht, wie er einen weiteren Schritt zurück wich. Er verlor den halt und taumelte zurück. Seine Füße verloren den festen Boden unter den Füßen und er fiel.
 

Doch sein Sturz wurde gebremst, als die Orks herbei stürmten und die Beine ihres toten Artgenossen packten. Ian sah zu ihnen auf. Reflexartig hatte er sich an dem Leichnam festgehalten. Doch nun sah er seinen Tot kommen. Langsam wurden er und die Leiche hoch gezogen, doch Ian war nicht bereit von diesen üblen Geschöpfen gefressen zu werden.
 

Er schloss die Augen und bat Fynn um Vergebung, das er sie nicht hatte beschützen können. Er ließ den Ork los und kurz darauf spürte er, wie sein Gewicht ihn von dem festen griff des Ork-Kiffers befreite. Er schrie ein letztes Mal auf, als er mit einer klaffenden Wunde in der Schulter in die Tiefe stürzte.
 

***
 

Als Lorgren Fynn erreicht, hörte er den Schrei zu ihnen hallen. Kurz darauf erklang das empörte Heulen unzähliger Schwarz-Orks. Fynn riss die Augen weit auf und sah zu dem Wüstenreiter, der alleine zurückgekehrt war. „I-ian“, wimmerte sie. Lorgren wand den Blick ab und sah den Weg zurück, den er gekommen war. Der Junge war tot, dachte er und betet für dessen Seelenheil.
 

Als er zu Fynn sah, weinte das Mädchen bitterlich und hatte sich gegen den Hals des Wüstenhengstes gedrückt. Er konnte nur erahnen, wie tief ihr Schmerz war, nach dem Verlust des Wirtssohns. Das Gesicht des Mädchens war tränennass und von tiefem Schmerz verzerrt. Der Wüstenhengst wand seine Aufmerksamkeit dem Mädchen zu, als wolle er versuchen sie zu trösten.
 

Lorgren wand sich erneut dem Pfad zu und kniff die Augen leicht zusammen. Er selber konnte sich nicht mit dem Verlust eines Gefährten beschäftigen. Seine Aufgabe war es für die Sicherheit des Mädchens zu sorgen. Sie war die Hoffnung seines Reiches und unzähliger anderer. Sie musste schnell aus dem Gebirge geschafft werden, bevor die Orks sie noch erreichten.
 

„Wir müssen weiter“, sagte er ernst, führte die Stute neben seinen Hengst und berührte die bebende Schulter des Mädchens. Sie sah ihn verweint an, schluchzte bitterlich, während ihr die Tränen in Bächen über die Wangen liefen. Lorgren hielt dem Blick mit einiger Mühe stand. Er erkannte, dass ihr die Kraft für den langen Ritt fehlte.
 

Der Wüstenreiter wechselte auf sein Tier zurück, nahm Fynn zwischen sich und den Hals des Wüstenhengstes. Die Zügel der Stute befestigte er am Sattel und ritt so weiter. Den ganzen Weg über schluchzte Fynn, während sie sich gegen den Mann aus der Wüste presste, um etwas Trost zu finden. Lorgren wusste nicht, ob er der Richtige dafür war, der ihr dies geben konnte, doch merkte er, dass das Mädchen sich allmählich beruhigte und der Müdigkeit wegen einschlief.
 

So verlief der gesamte Tag, bis zum Abend. Lorgren ritt weiter. Sie waren zwar weit von dem Platz des Überfalls entfernt, dennoch konnte er das Risiko nicht eingehen, das die Orks sie immer noch verfolgten. So ließ er sie weiter reiten. Tier und Reiter waren erschöpft. Spät in der Nacht ließ Lorgren sie schließlich doch rasten. Fynn fand rasch wieder schlaf. Hengst und Stute legten sich ebenso schnell zur Ruhe. Nur der Wüstenreiter blieb auf, um Wache zu halten.
 

Trotz seiner eigenen Erschöpfung hielt Lorgren stur Wache. Er hatte Ian das Versprechen gegeben auf Fynn zu achten und er würde diesen Schur folge leisten, bis sein Leben ausgehaucht war. Bisher hatte er noch jeden Eid und Schur gehalten. In seinem Clan galt jeder Eidbrecher als Feigling und wurde verband. Jemand, der einen Eid nicht erfüllen konnte, konnte in der Wüste auch nicht überleben, sagte man. Lorgren zweifelte an diesen Worten, doch wäre eine Verbannung für ihn Schlimmer als der Tot. Der Clan war seine Familie, die er über alles schätzte und verehrte. Bei seinem Clan war er geboren worden, war zum Mann gereift und wurde zu einem Wüstenreiter ausgebildet, einem *Überlebenskünstler und Krieger, der hohes Ansehen genoss. Der Gedanke, dass er vielleicht irgendwann nicht zu seinem Clan zurückkehren könnte, ließ ihn immer wieder erschauern.
 

Lorgren schreckte aus seinen Gedanken auf, als er leise Geräusche hörte. Besorgt stellte er fest, dass sie sehr nahe waren. Er war zu unaufmerksam gewesen, tadelte er sich sofort, während er aufsprang und zu Fynn schlich. Das Mädchen schlief immer noch, schien zu träumen, denn eine kummervolle Träne lief ihr über die Wange. Sie träumt von Ian, erkannte der Jerisane.
 

„Wach auf“, flüsterte er ihr ins Ohr.
 

Die Halbork öffnete flatternd die Augen, denn der Schlaf hatte sie noch fest in seinem Griff. „Was..“, setzte sie an zu sprechen, doch Lorgren legte ihr einen Finger auf die Lippen, damit sie Schwieg. Fynn sah ihn verwirrt an, bis sie selber erkannte, dass Gefahr in Vollzug war. Ihre Augen weiteten sich vor Angst, als auch sie mit ihrem feinen Gehör die Geräusche hörte.
 

Lorgren wies sie an zu den Pferden zu gehen, während er darauf achtete, dass sie nicht überfallen wurden. Er schlich zu einer der Biegungen, von der die Geräusche kamen. Er lehnte sich dicht an die Felswand, um den Gegnern nicht die Gelegenheit zu geben, ihn zu entdecken und frühzeitig gewarnt zu werden.
 

Die Geräusche kamen immer näher und der Jerisane hörte Schritte und Stimmen, die näher kamen. Er lauschte genauer hin. Es war ein Gespräch im Gange, aber Lorgren konnte nicht verstehen, was die Fremden da sprachen. Sie sprachen in einer ihm unbekannten Sprache. Waren es wohlmöglich Händler die aus Helios kamen und sich in den Bergen verirrt hatten? Nein, das waren sicher keine Händler, erkannte er von selbst. Sie wären durch den Querpaß, der durch das Gebirge verlief und Helios und Jeris verband gereist. Dort konnte man sich unmöglich verirren. Doch wer nahte dann da? Freund oder Feind?
 

Die Schritte halten nur noch wenige Schritte von Lorgren wieder und der Wüstenreiter zog den Krummsäbel aus der Scheide. Eine Gestalt kam um die Biegung gebogen. Lorgren sah, das sie ihm nur bis zum Bauch reichte, dafür über aus breit und stämmig war. Im Mondlicht blitzte der Stahl auf, der den Körper des Fremden umhüllte, wie auch die schwere Axt, die auf dessen Schultern ruhte und der gehörnte Helm. Doch besonders fiel der lange Bart auf, der dem Fremden bis zur Hüfte ging.
 

Schnell sprang Lorgren aus seinem Versteck und richtet die Klinge seiner Waffe auf das kleine Geschöpft. Dieses, wie auch seine Kameraden, die grade um die Biegung kamen, schraken überrascht auf und zogen ihre Waffen. „Wer bist du?“, knurrte der erste, dem der Mann aus der Wüste gegenüber stand. „Was machst du hier?“
 

Der Wüstenreiter antwortet nicht sofort, sondern nahm die Gestalten genauer in Augenschein. Als er erkannte, wen er vor sich hatte, senkte er nur minimal seine Klinge. „Zwerge“, murrte er zur Antwort.
 

Die Zwergengruppe sah den Mann einige Augenblicke misstraurig an, bevor sie ihre Waffen sinken ließen. „Ein Wüstenbewohner“, brummte der Zwerg vor Lorgren und stemmte sich auf den Stiel seiner Waffe. „Euch trifft man verdammt selten hier oben an.“ Der Zwerg sah ihn kritisch von oben bis unten an. „Ist vielleicht auch besser so.“
 

Lorgren hätte sich beleidigt fühlen sollen, doch wusste er, dies zu unterdrücken. Es waren schließlich Zwerge und die hatten keine Ahnung von guten Manieren. Er funkelte lediglich den Zwerg kurz an, bevor auch er seine Waffe verschwinden ließ. Er wand sich von den kleinen Kriegern ab und marschierte zu Fynn.
 

Das Mädchen saß bereits auf ihrer Stute und war bereit sofort davon zu reiten. Als sie Lorgren sah, fragte sie: „Was ist los?“
 

„Es sind nur Zwerge“, meinte der Wüstenreiter und deutet ihr an, dass sie aus dem Sattel kommen sollte. Das Mädchen gehorchte, hielt sich aber weiter bei den Pferden auf.
 

„Da ist ja noch einer“, hörte der Wüstenreiter den Zwerg sagen, während die Zwergengruppe in das kleine Lager der beiden einmarschierte. „Los, Jungs. Wir schlagen hier unser Lager auf. Die beiden werden sich sicher über Gesellschaft freuen.“
 

„Ihr braucht euch nicht erst die Mühe machen“, sagte Lorgren und wand sich den Zwergen zu. Ein erster Überblick ließ ihn zehn bis an die Zähne bewaffnete Zwerge zählen. „Ich und meine Gefährtin werden sofort aufbrechen.“
 

„Hm?“ Der Zwerg sah ihn neugierig an. Sein Blick fiel auf Fynn und er erkannt sofort ihr Erbe. „Ah, verstehe. Bist wohl Sklavenhändler, wie? Na, keine Angst: Wir werden dir dein Mädchen schon nicht wegnehmen, obwohl wir nicht viel übrig haben für Sklavenhändler. Ist schließlich nur ne Halbork.“
 

Lorgren funkelte den Zwerg an, dessen Bart so grau wie Stein war. „Sie ist nicht meine Sklavin, Zwerg“, zischte er ihn an.
 

„Nicht?“, fragte der Zwerg und sah zwischen den beiden hin und her. „Hast Recht. Dafür trägt sie zu gute Kleider.“ Er runzelte darauf die Stirn. „Aber was suchst du dann hier oben? Kann mich nicht erinnern, dass das hier einer der üblichen Wanderwege der Menschen ist.“
 

„Wir sind auf dem Weg in die Wüste“, erwiderte der Jerisane nur, bevor er sich umwand und zu Fynn ging.
 

„Aha“, kam der trockene Kommentar des Zwerges. „Dennoch versteh ich nicht, was ihr hier oben sucht. Es wäre das Beste, du würdest uns das mal rasch erklären, Mann aus der Wüste.“
 

„Dafür habe ich keine Zeit“, knurrte Lorgren, als er Fynn wieder auf das Pferd half.
 

„Die musst du dir wohl nehmen“, sagte der Zwerg seelenruhig, während seine Kameraden das Lager aufschlugen. Er deutete zwei von ihnen an, Lorgren und Fynn zu umzingeln. „Das ist mein Sicherheitsbereich und ich kann euch nicht einfach ziehen lassen, ohne zu wissen, was ihr hier macht.“
 

Lorgren beachtete die beiden Zwerge nicht, die ihn und Fynn umstellten. Sein Blick hing allein auf ihren Anführer, der sich ruhig durch den grauen Bart strich. Dieser bedrohte so eben seine Mission, die für das Schicksal aller Völker so wichtig war. Er vermutete stark, dass den Zwergen dies ziemlich egal war. Lieber lebten die Zwerge unter der Erde und wühlten nach Schätzen, die sie in ihren Schmieden veredelten.
 

„Das geht dich nichts an, Zwerg“, sagte Lorgren kalt und legte die Hand an den Griff des Krummsäbels, Die Zwerge zu beiden Seiten machten sich kampfbereit.
 

„Ganz ruhig, Großer“, sagte der Zwergenanführer. „Wenn dir dein leben lieb ist, solltest du lieber kooperieren. Ich will nur wissen, was du in unseren Bergen suchst.“
 

„Lorgren“, hörte der Wüstenreiter die ängstliche Stimme Fynns. Er wand sich ihr zu und begegnete ihrem Blick. Er sah die stumme Bitte, keine Dummheiten zu begehen. Er nickte leicht, wand sich wieder den Zwergen zu, doch löste er nicht den Griff um seiner Waffe.
 

„Na raus mit der Sprache“, wies ihn der Zwerg an. Lorgren zögerte noch. Er wusste nicht, ob er diesen Zwergen vertrauen konnte. Schließlich könnte es sich um Agenten Otomors handeln, die auf der Suche nach Fynn waren. Zwar wusste er, das Otomor keine Mitglieder anderer Völker in den Reihen Skorms Klingen hatte, doch man konnte nie wissen.
 

Zu seiner Überraschung hörte er Fynn sprechen. „Wir sind auf dem Weg zum Herzschwert.“
 

***
 

Fynn saß am großen Feuer der Zwerge und genoss die Wärme, die davon ausging. Sie hatte dem Zwerg, der sich als Broko Nuggetbeiser vorgestellt hatte, den Sinn und Zweck ihrer Reise durch die Berge in wenigen Worten geschildert. Sie hatte genau die gleichen Worte dafür verwendet, die Lorgren einst verwendet hatte, um ihren Onkel aufzuklären. Broko und seine Zwerge hatten neugierig ihren Worten gelauscht und gelegentlich genickt. Lorgren hatte sich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten und geschwiegen. Sie wusste, dass er wütend auf sie war. Schließlich sollte die Reise geheim blieben. Doch Fynn hatte die freundliche Wärme der Zwerge im Schwertanhänger gespürt. Sie vertraute den kleinen Männern.
 

Broko hatte gesagt, das er und seine Leute sie in eine Siedlung ihres Volkes bringen würde, wo sie ihren Proviant aufstocken und sich ausruhen konnten. Fynn hatte ihm dafür gedankt. Lorgren hatte nur widerwillig zugestimmt. Fynn vermutete, das der Wüstenreiter lieber wieder unterwegs wäre, statt mit den Zwergen zu gehen. Als sie ihn gefragt hatte, was sei, war er ihr ausgewichen und hatte sich um die Pferde gekümmert. Niedergeschlagen hatte sie ihm nach gesehen.
 

Nun saß sie allein am Feuer und hing ihren Gedanken nach. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange, als sie an Ian dachte. Er war tot. Sie schloss die Augen und unterdrückte ein Schlurzen. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Der immer gutgelaunte Ian weilte nicht mehr unter ihnen. Er hatte sie auf Ewig verlassen. Nun weilte er unter den ewigen Seelen anderer Verstorbener, in den Sphären der Götter. Der Schmerz des Verlustes saß tief in ihr. Noch vor einem Tag hatte er sich noch mit ihr unterhalten und nun war er weg, für immer. Wie hatte das alles nur geschehen können? Wie konnte das Schicksal nur so grausam zu ihr sein? Wie sollte sie ohne die aufbauenden Worte des Wirtssohnes nur die lange Reise überstehen können?
 

Ihre Gedanken schweiften zu Roland und Marta, die ihr Leben in Steindorf führten. Sie wussten nichts von dem Schicksal ihres Sohnes, gingen sicher davon aus, dass der junge Mann an der Seite der Halbork saß und sich vergnügt mit ihr unterhielt. Wenn sie nur wüssten, dachte Fynn. Marta würde es das Herz brechen, von dem Verlust ihres Sohnes zu hören. Und Roland? Er würde nicht mehr lachen können, wie man es von ihm gewohnt war. Beide wären sicher am Boden zerstört. Ian war ihr einziges Kind gewesen und beide hatten gehofft, Ian würde eines Tages das Gasthaus übernehmen. Doch so würde es nie kommen. Ian war ihnen genommen worden, von einer Horde Schwarz-Orks, die ihre Blutgier an dem jungen Mann gestillt hatten.
 

„Hier“, erklang eine Stimme wie polternde Steine zu ihrer rechten. Sie wand sich dem Sprecher zu und erkannte einen der anderen Zwerge. Er trug keinen Helm, wie die anderen Zwerge. Er war der einzige, dessen Bart so weiß wie Schnee und dessen Haupt kahl, wie das ihres Onkels war. Sein Gesicht wirkte Hart wie der Stein, den er unter der Erde abbaute, doch seine Augen strahlten in einem freundlichen Blau. Er hielt in einer Hand eine Schüssel mit dampfendem Eintopf und in der anderen einen Leib Brot.
 

„Danke“, murmelte das Mädchen und nahm den Eintopf entgegen. Der Zwerg nickte stumm und setzte sich zu ihr. Er brach das Brot und reichte ihr eine Hälfte, während er sich über die andere her machte. Schweigend aßen die beiden und sahen in das flackernde Feuer.
 

„Du bist die Hüterin“, brach der Zwerg mit seiner tiefen Stimme das Schweigen. Dabei sah er sie an, als wollte er versuchen in ihr Innerstes zu sehen.
 

Fynn senkte die Augen unter diesen eindringlichen Blick. Ihr war es unangenehm, plötzlich so viel Aufmerksamkeit zu genießen. Sie war es nicht gewohnt. „Lorgren sagt, ich wäre es“, sagte sie schüchtern. Als sie es wagte den Blick zu heben, sah der Zwerg längst wieder ins Feuer und schien nach zu denken. In der Miene des Zwerges konnte sie keine Regung ausmachen. Sie wirkte wie eine Maske aus Stein. Sie wusste, dass die Zwerge den Stein liebten und fragte sich, ob sie vielleicht aus welchem bestanden.
 

Der Zwerg räusperte sich und sah sie wieder an, diesmal nicht mehr so eindringlich. „Das ist unglaublich“, brummte er. „Eine Halbork soll die Hoffnung Konass sein. Zudem eine, die dem Volk ihres Vaters nur so wenig ähnlich ist. Da soll mich doch ein Stein überrollen.“ Der Zwerg grinste und schüttelte leicht den Kopf. „Wirklich unglaublich.“
 

Der Zwerg sah sie wieder an, während er von seinem Brot abbiss. „Und wieso?“, fraget Fynn, die sich im Moment etwas beleidigt fühlte. Sie wusste, dass sie nicht kräftig war, aber sie konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass man sie verspottete.
 

Der Zwerg sah sie wieder an, während er von seinem Brot abbiss. „Weil davon nichts in den Legenden steht“, sagte er schlicht. „Und es gibt hunderte von Legenden über das Herzschwert, Mädchen. Das kann ich dir sagen. Ich kenne zwar nicht alle, aber die ich kenne, erwähnen kein Mädchen, das Konass Hoffnung bringen wird.“
 

„Legenden?“ Sie sah ihn fragend an.
 

Der Zwerg nickte. „Jupp. Das Herzschwert ist eine legendenumwobene Waffe. Wir Zwerge, ob jung, ob alt, kennen sehr viele. Unseren Kindern erzählen wir sie und unsere Priester studieren sie.“ Er wand seine Aufmerksamkeit dem Feuer zu. „Und nicht nur die unseres Volkes. Die Legenden der Menschen studieren sie auch genau. Du musst wissen, alle magischen Waffen erregen die Aufmerksamkeit der Zwerge. Im Grunde alle magischen Werkarbeiten, die aus Erz gemacht wurden. Die restliche Magie interessiert uns nicht im Geringsten.“
 

Sie nickte verstehend. Fynn konnte sich erinnern, das einer der Trödler mal erzählt hatte, das die Zwerge große Handwerker und Schmiede waren. Mit Magie konnten sie gar nichts anfangen. Höchstens mit der, die man zur Herstellung von Waffen und Rüstungen gebrauchen konnten. Die einzige Magie die das stämmige Volk ausübte war die ihrer Götter.
 

„Fynn“, erklang die Stimme Lorgrens hinter den beiden. Die zwei wandten sich um und erblickten den Wüstenreiter, der auf sie zukam.
 

Als er bei ihnen stehen blieb, fragte das Mädchen: „Ja? Was ist?“
 

„Du solltest dich schlafen legen“, sagte der Jerisane ernst, wobei er den Zwerg keine Beachtung schenkte. „Es wird morgen ein langer Weg werden. Der Zwerg will früh aufbrechen.“
 

„Das ist eine gute Idee“, brummte der Zwerg mit dem weißen Bart. Er erhob sich und streckte sich einmal, bevor er sich würdevoll vor Fynn verneigte. „Du solltest auf den rat deines Freundes Hören, Hüterin. Selbst mit dem Pferd wird es nicht weniger erschöpfend.“ Er verneigte sich noch einmal, wünschte eine ruhige Nacht und ging davon.
 

Fynn sah dem Zwerg nach. Sie mochte ihn. Er schien ein freundlich Geselle zu sein und ihr Anhänger riet ihr, ihm zu vertrauen. Das würde sie tun. Darauf wand sie sich Lorgren zu, der ungerührt an Ort und Stelle stand, wie zuvor. Sie erhob sich und nickte ihm zu, bevor sie zu ihrem Schlafsack ging.
 

Sie legte sich zur Nacht nieder und kuschelte sich in den warmen Schlafsack rein. Sie wusste nicht, ob sie ruhen konnte. Nicht mit der Gewissheit, das sie von Ians Tot träumen würde. Doch die Wärme ihres Anhängers vertrieb rasch diese Zweifel, denn die Wärme lullte sie von neuen ein und ließ sie rasch einschlafen. Die Götter meinten es gut mit ihr, denn sie wurde von keinen Träumen in dieser Nacht geplagt.
 

***
 

Von seinem Platz aus betrachte die in eine weite braune Robe gewandete Gestalt das Lager der Zwerge. Niemand hatte seine Gegenwart gespürt, nicht einmal der aufmerksame Jerisane, der nah am Schlafplatz der kleinen Halbork Wache hielt. Das Mädchen selbst schlief schon tief und fest, was die Gestalt von ihrem Aussichtspunkt, einem hohen Sims, der in einer der unzähligen Steilwände lag, sehen konnte. Ihr kleines Abenteuer mit den Schwarz-Orks hatte sie sehr erschöpft, besonders, als ihr Freund, der junge Mann, die Klippe abgestürzt war. Die gestalt fühlte mit ihr. Jeden traf es schwer, wenn ein geliebter Mensch einem so brutal genommen wurde.
 

Nachdenklich strich sich die Gestalt über den langen weißen Bart, der aus der Kapuze seiner Robe hervor lugte. In ihr ruhte die Hoffnung aller freien Völker, das wusste er genau, doch konnte er nicht mehr unternehmen, als sie zu beobachten und ihr etwas auf die Sprünge zu helfen. Wie gerne würde er sich jetzt zu ihr begeben und in seien Obhut nehmen, doch sie war noch nicht so weit. Sie musste noch viel lernen und viele Gefahren auf sich nehmen, bevor sie den Weg zu ihm antreten konnte. Die Hüterin des Herzschwertes hatte eine lange Reise vor sich, dessen Ende selbst ihm verborgen blieb.
 

Mit einem Ächzen erhob sich der Alte und rieb sich die steif gewordenen Gelenke. Er nahm den knorrigen Stab, denn er zuvor auf seinem Schoss hatte liegen gehabt, in die Hand und stützte sich auf diesen. Langen Schritten suchte er seinen Weg herunter von dem Sims. Kleine Stufen ragten aus dem Stein, die er geschwind herunter huschte. Er hätte es einfacher gehabt von dem Sims zu kommen, doch ein kleiner Spaziergang würde seinem alten Körper sicher nicht schaden. Schnell hatte er die Stufen überwunden und erreichte eine Talsenke. Er klopfte mit seinem Stab auf eine der Stufen und wie durch Geisterhand versanken sämtliche Stufen in der Felswand.
 

Der Magus sah zufrieden dabei zu, wie seine Magie den Stein veränderte. Kurz darauf wand er sich von der Felswand ab und folgte einem verlassenen Trampelpfad, der seit Jahrhunderten von niemanden mehr benutzt worden war. Nicht einmal die Zwerge kannten ihn, die behaupteten, ihre Berge besser zu kennen, als jeder andere. Über diesen Fehler sah der alte Magier gerne hinweg, denn wie auch die Menschen, konnten sich auch die Zwerge irren.
 

Der Weg führte ihn tiefer in die Berge hinein, weiter runter in dessen dunkle Tiefen, in denen viele lichtscheue Geschöpfe hausten. Als die Dunkelheit immer weiter zunahm, ließ der Magus eine Lichtkugel vor sich erscheinen, die ihm den Weg beleuchten sollte. Rotglühende Augenpaare wichen vor dem ungewohnten Licht zurück in ihre Verstecke. Nur wenige blieben, um den fremden Gast zu beäugen. Der Magus ließ sich davon nicht beunruhigen, denn keins dieser Wesen konnte ihm im Entferntesten gefährlich werden.
 

Der Weg führte ihn bis in eine Schlucht, in der ein ausgetrocknetes Flussbett lag. Er ließ das Licht noch heller scheinen, um einen besseren Überblick zu erlangen. Sein prüfender Blick entdeckte nichts ungewöhnliches, weshalb er weiter wanderte. Lange Zeit schritt er den Lauf des trockenen Flusses ab, bis er das fand, was er gesucht hatte.
 

Mit schnellen Schritten war er bei dem regungslosen Körper, der verkrümmt auf einem Felsen lag und von dem man nur erahnen konnte, was es einst gewesen war. Der Blick war gen Himmel gerichtet. Sämtliche Knochen im Leib waren gebrochen, wie man auf den ersten Blick schon feststellten konnte. Einige der hiesigen Tiere hatten sich bereits an seinem Fleisch gütig getan, bevor der Magus erschienen war. Als der Alte sich vorbeugte und sein Ohr an den Mund des geschundenen Wesens legte, spürte er kaum merklich den Atem der armseligen Kreatur. Er lebte noch, zwar grade so, aber es würde reichen.
 

Der alte Magier stieß den Leib mit seinem Stab an, worauf ein gurgelnder Laut aus der Kehle des Geschöpfes kam. Sie lebte und spürte noch etwas. Es wurde immer besser. Rasch krempelte der alte Magier die Ärmel seiner Robe hoch und schloss die Augen. Leise fing er an einen aufwendigen Zauber zu sprechen. Plötzlich aufsteigender Wind bauschte den Stoff seiner Robe auf. Blaue Energie knisterte in den Händen und dem Stab des Magus auf, während seine Worte immer lauter wurden, das sie durch die ganze Schlucht halten.
 

Die gesamte Energie fing an sich im Stab des alten Magiers zu sammeln. Als er die letzte Silbe seines Zaubers gesprochen hatte, glühte der knorrige Stab in einem fahlen, blauen Licht. Der Alte öffnete seine Augen und sah sich das alte Stück genau an. Sein Zauber hatte wunderbar gewirkt. Nun musste er ihn nur noch anwenden.
 

Er stieß das geschundene Wesen leicht mit der Spitze seines Stabes an und das Licht des Stabs ging auf dieses über. Kein Laut kam von dem Wesen, als die Energie in es überging und seinen Körper das fahle Licht ausstrahlte. Der Magus beugte sich vor und betrachtet jede Stelle des Lichtes, bis er zufrieden nickte. Der gesamte Zauber war auf den Körper über gegangen. Nichts war in seinem Stab zurück geblieben.
 

„Nun, mein Junge“, sagte der Magus und tätschelte einen der gebrochenen Arme des Mannes. „Weiter kann ich dir leider nicht helfen. Aber sei unbesorgt. Mein Zauber wird dich vor allen Gefahren schützen, bis Hilfe eintreffen wird.“ Er legte ein freundliches Lächeln auf, wobei er wusste, dass der Mann kein Wort hören und ihn nicht sehen konnte. „Ach ja. Und deiner Freundin und dem Mann aus der Wüste geht es auch gut. Sie sind von verbündeten aufgelesen worden, die sich jetzt um sie kümmern werden. Du wirst sie bald wieder sehen, mein Junge.“ Noch einmal tätschelte er dem andern den Arm, bevor er sich abwandte und durch ein magisches Portal verschwand, das er mit einem Schwenk seines Stabes herbei gerufen hatte. Er musste sich keine Sorgen um den Burschen machen. Er würde bald von erfahrenden Männern und Frauen gefunden, die ihm die beste Pflege und Heilung zukommen lassen würden.
 

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4. Akt: Verlorene Erinnerungen

Viele Legenden ranken sich um das Herzschwert.

Doch welche ist die wahre?

Ich kann es euch sagen.

Jede von ihnen ist es.

Keine von ihnen ist frei erfunden,

Sondern entsprich der Wahrheit.

Glaubt jeder von ihnen,

Denn dann werdet ihr das Ziel nie aus den Augen verlieren.
 

Der Magus,

mächtigster Magier von Konass
 

***
 

Neugierig lauschte die junge Frau den Worten der beiden Meister, die in graue Roben gewandet, auf einem der kreisrunden Gänge standen und sich leise unterhielten. Sie stand versteckt hinter einer der großen Rüstungen, die stur grade aus sahen und sich auf ihre gewaltigen Schwerter stützten. Dank eines einfachen Zaubers konnte sie jedes gesprochene Wort so deutlich hören, als würde sie dabei stehe.
 

„Es ist ein Wunder, das er noch lebt“, sagte einer der beiden Magier, ein alter Mann mit faltigen Gesicht und einem langen, ungepflegten Bart, der längst ergraut war. Er stützte sich auf einen Eichengehstock, in den unzählige Runen eingraviert worden waren. „Der Sturz hätte eigentlich seinen Tot bedeuten müssen. Niemand kann einen solchen Sturz überleben.“
 

„Außer“, fiel ihm der andere Meister ins Wort, eine Frau im mittleren Alter, mit schwarzem Haar, das von einer silbernen Haarsträhne geziert wurde. Sie war eine hübsche Frau, mit einem freundlichen Gesicht und warmen, braunen Augen, „er ist begabt in der Magie. Erinnere dich an die Energie, die von ihm ausging, als wir ihn fanden. Selten habe ich so viel bei einem Menschen gesehen.“
 

Der alte Meister nickte zustimmend. „Wie wahr“, brummte er, während er sich über den Bart strich. „Aber trotzdem. Er hätte tot sein müssen. Alle Knochen im Leib waren gebrochen. Dazu kommen noch seine Wunden. Ich bezweifle, das er überhaupt durch kommt.“
 

„Ach, Malcolm“, seufzte die Meisterin und verdrehte die Augen. „Du alter Schwarzmaler. Vielleicht solltest du mal wieder in den Garten gehen und dem Gesang der Vögel lauschen, statt die ganze Zeit über in deiner stickigen Kammer zu hocken und über deinen Büchern zu brüten.“
 

Zur Antwort kam ein unwilliges Brummen, was die Frau hinter der Rüstung zu einem Schmunzeln hin reizen ließ. Sie fragte sich immer wieder, wie die anderen Meister es nur mit dem griesgrämigen Magier aushalten konnten. Immer hatte er etwas zu bemängeln oder murrte wie ein alter Zwerg herum. Vielleicht floss ja etwas von dem Blut des bärtigen Volkes in seinen Adern. Verwundern würde sie es nicht.
 

„Wie dem auch sei“, fuhr die Magierin fort. „Erstmal sollten wir zusehen, dass es ihm recht bald besser geht und er uns berichten kann, was ihm widerfahren ist.“ Sie und der alte Meister wandten sich dem Gang zu und gingen im gemütlichen Gang auf eine nahe Wendeltreppe zu, die sie in das unterste Stockwerk des Turms bringen würde. „Und vielleicht habe ich wirklich Recht und er ist ein Magier.“
 

Als die beiden Meister die Treppe herunter gestiegen waren, kam die junge Frau aus ihrem versteck hervor. Sie hatte die Kapuze ihrer grauen Robe übergestreift, um zu verhindern, dass niemand ihr rotes Haar entdecken konnte. Als sie sich sicher fühlte, strich sie die Kapuze ab und ließ das zu einem Zopf gebundenes Haar über ihren Rücken fallen. Das schmale Gesicht sah sich aufmerksam um, während sie zur Tür schlich, an der eben noch die beiden Erzmagier gestanden hatten. Vorsichtig legte sie ein Ohr an die Eichenholztür und lauschte. Sie hörte eine Stimme unentwegt leise Worte murmeln.
 

Schnell sah sie sich noch zu beiden Seiten um. Niemand war zu sehen. Sie drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür. Sie betrat das Zimmer, das von einem Bett, einem großen Schrank und einer Wanne beherrscht wurde. Ansonsten war das Zimmer schmucklos, wurde höchstens von einigen Blumen geziert, die auf dem Balkon standen.
 

In dem Bett lag eine regungslose Gestalt, eingewickelt in Verbände und mehreren dicken Wolldecken. Neben dem Bett, auf einem Schemel, saß einer der Heiler des Turms und sah sie überrascht an. Er hatte sein Lied beendet, um zu sehen, wer ihn da besuchen kam. Als er erkannte, um wen es sich handelte, lächelte er müde.
 

„Abigail“, begrüßte er sie beim Namen. „Was suchst du denn hier? Haben die Meister denn nicht verboten, das sich die Schüler hier aufhalten dürfen?“
 

Sie hob eine Augenbraue und meinte: „Den Schülern, aber nicht den Magiern.“ Sie lächelte. Ihr Lächeln wich aber rasch einem neugierigen Blick, als sie hinter sich die Tür schloss und zum Bett trat. „Wie geht es unserem Gast?“
 

Der Heiler sah zu seinem Patienten und seufzte. „Er lebt“, berichtet der Heiler. „Fast all seine Knochen sind wieder verheilt, während seine Wunden nur langsam verheilen. Sein Rückgrat ist versehrt geblieben, was mich doch sehr wundert.“ Er sah sie an. „Aber ich weis nicht, ob er in nächster Zeit erwachen wird.“
 

Abigail nickte verstehend. Sie erinnerte sich nur zu genau an den Aufruhr, den der Fund des Mannes ausgerufen hatte. Die Leute waren kreuz und quer durch die Turmburg gerannt und hatten alles vorbereitet. Einer der Meister und einige Magier waren mit dem verletzten Mann in den Turm zurückgekehrt und hatten ihn in die Obhut der Heiler gegeben. Abigail hatte ihn zuvor gesehen, bevor er in die Kammer gebracht worden war. Sein Körper war zertrümmert gewesen und wilde Tiere hatten sich bereits gütig an seinem Fleisch getan. Es war ein schrecklicher Anblick gewesen. Er hatte einem Menschen nur im Entferntesten geähnelt. Der jungen Magierin war von dem Anblick übel geworden, doch hatte sie ihn nicht abgewandt. Von dem Fremden war eine seltsame Aura ausgegangen, eine die von der Magie stark durchflutet gewesen war. Es hatte Abigail sofort in ihren Bann gezogen. Sie wollte unbedingt wissen, wer dieser Mann war und woher er stammte, das die Meister der Grauen Roben, den neutralen Magiern, die in den Bergen des Antigas-Schlange-Gebirge heimisch waren, nicht zuvor schon von ihm gewusst hatten.
 

Wie Meister Tailia, die Magierin mit der Silbersträhne, glaubte Abigail daran, das sich hinter diesem Mann ein mächtiger Magiewirker versteckte. Doch warum hatte er in der Schlucht gelegen? War seine Magie etwa nicht so mächtig gewesen, das er sich vor einem Sturz hatte retten können?
 

Als hätte der Heiler ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Er muss hart gekämpft haben.“
 

„Gegen wen?“, fragte Abigail neugierig und sah auf den Heiler herab.
 

„Schwarz-Orks“, sagte er grimmig. „Die Biester müssen ihn überrascht haben. Sein linkes Bein wurde von einem ihrer Schwerter verletzt. Und ich glaube, man hat ihm einen Speer in die Seite getrieben.“ Er sah den bewusstlosen Mann eingehend an, als wollte er in dessen Innerstes sehen. „Einer der Orks hat ihn sogar gebissen.“
 

Die junge Magierin schluckte. „Gebissen?“
 

Der Heiler nickte. „Ja“, sagte er. „Sie haben ihn gezeichnet.“
 

Abigail sah voller Mitleid auf den zerschundenen Mann herab. Er wurde gebissen, gezeichnet, ging es ihr durch den Kopf. Schwarz-Orks waren dafür bekannt, das sie alles und jeden angriffen, egal ob es ein Mensch oder eine andere Ork-Sippe war. Die schwarzhäutigen Teufel waren wie Tiere, die nur darauf aus waren Beute zu machen. Wenn einer von ihnen einen Feind biss, egal wohin, war die gesamte Sippe darauf aus, die jenige Person zu töten und ihn zu fressen. Der Fremde hatte es also geschafft sich beißen zu lassen. Das würde bedeuten, die üblen Kreaturen würden ihn in alle Himmelsrichtungen verfolgen, bis sie ihn hatten.
 

„Glaubst du, sie werden sich hier her wagen?“, fragte die Magierin besorgt. Es lag Jahrhunderte her, dass die Orks die Grausteinburg überfallen hatten. Damals hatten die Magier sie mit ihrer Magie zurück treiben können und die Unholde hatten sich nie mehr bei ihnen blicken lassen. Doch nun könnten die Wesen vom Geruch des Mannes hier her gelockt werden und versuchen die Burg zu stürmen.
 

„Wenn es so kommen sollte“, erklang eine ruhige Stimme hinter den beiden, „so sind wir darauf gefasst.“ Heiler und Magierin wanden sich um und erblickten Meisterin Tailia, die ruhig vor der Tür stand. Wie hatte sie es geschafft sich unbemerkt in das Zimmer zu schleichen, fragte sich Abigail, bis sie sich daran erinnerte, wie geschickt die Frau war.
 

„Meister“, sagte Abigail hastig und verneigte ehrfürchtig den Kopf vor der Erzmagierin, während der Heiler mit einem Lächeln ihr zu nickte.
 

„Wird es einmal den Tag geben, wo du dich nicht über die Befehle des Rates hinweg setzen wirst, Abigail?“, fragte die Meisterin seufzend, während sie an die Seite der jungen Frau trat und auf den schlafenden Mann herab sah. Die junge Frau sah sie an und wurde rot vor Verlegenheit. Immer wieder hatte sie den Meistern nicht gehorcht und hatte ihren Dickkopf durchgesetzt. Dennoch hatte man sie in der Grausteinburg behalten und sie zur Magierin ausgebildet.
 

„Entschuldigung“, sagte sie verlegen.
 

Die andere Frau lächelte nur und sah sie kurz von der Seite an, bevor ihr Augenmerk wieder auf den Gast gerichtet war. „Er hat dich also auch neugierig gemacht“, stellte die Erzmagierin fest, während sie den geschundenen Leib, der vom Verband verhüllt war, weiter betrachtete.
 

Abigail nickte. „Ja“, sagte sie ehrlich, denn vor Meisterin Tailia musste sie nie flunkern. Die Frau kannte sie von allen am besten und würde jede Lüge erkennen, die von ihr kam. Sie hatte die junge Frau von Kindesalter her unterrichtet und sie der Magie nahe gebracht. Sie war für Abigail in all den Jahren wie eine Mutter geworden. Obwohl ihre richtige Mutter noch lebte, fühlte sich die junge Frau der Meisterin verbundener, als wäre sie die Frau, die ihr vor vielen Jahren das Leben geschenkt hätte. Mit ihr konnte sie über jedes Thema sprechen, das aufkommen mochte.
 

Die junge Frau setzte sich vorsichtig an den Rand des Bettes und betrachtet den Mann eingehend. „Er strömt ein hohes Maß Magie aus“, sagte sie. „Sein ganzer Körper ist davon erfüllt.“ Sie sah die Meisterin an, die zustimmend nickte. „Aber da ist noch etwas anderes.“
 

„Etwas anderes?“, fragte die ältere Frau mit dem Silberschopf und sah ihre Schülerin eingehend an.
 

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte die junge Frau unschlüssig, während sie mit einer ihrer feuerroten Strähnen spielte und schließlich an dieser herum kaute. Eine Eigenart von ihr, wenn sie konzentriert nachdachte. „Es ist, als würde ich diesen Mann von irgendwoher kennen. Ich bin mir aber sich, ihn nie zuvor gesehen zu haben.“ Sie sah ihre Lehrerin fragend an. „Was kann das zu bedeuten haben?“
 

Tailia sah die junge Frau nachdenklich an. Schließlich fiel ihr Blick auf dem bewusstlosen Mann. „Es kann verschiedene Erklärungen dafür haben“, überlegte sie. „Etwa eines Traumes wegen, einer Vorhersage, göttliche Fügung und ganz anderen Sachen. So genau kann ich dir das leider nicht beantworten, Abi.“
 

Die junge Frau seufzte und sah den geschundenen Mann an. Das Gefühl, das sie ihn kannte war erst kürzlich aufgetreten, als sie ihn eingehend betrachtet hatte. Sie konnte es sich selber nicht erklären und das es auch nicht Meisterin Tailia konnte, ließ sie innerlich verzagen. Wer war dieser Mann nur, fragte sie sich. Woher kannte sie ihn bloß? Was auch immer dies zu bedeuten hatte, es hatte etwas mit der Magie, die dem Fremden inne war, zutun. Sie musste diesem Rätsel auf den Grund gehen und darauf hoffen, dass sie einen Hinweis darauf finden würde, der ihre Fragen beantworten würde.
 

Plötzlich schoss die Hand des Mannes vor und packte die ihre. Abigail erschrak schrecklich und schrie. Tailia war sogleich an ihrer Seite und versuchte den Griff des Mannes zu lösen, doch dieser ließ nicht locker und hielt die junge Magierin eisern fest. Ein Stöhnen entrang seiner Kehle. Er wand sich unter der Decke und strampelte sie von sich.
 

„Haltet ihn fest“, wies der Heiler, der längst aufgesprungen und um das Bett herum gerannt war, die beiden Frauen hektisch an. Sie gehorchten. Schnell hielten sie den geschundenen Leib des Mannes fest, der sich dagegen wehrte, doch nicht für lange. Seine Kräfte schwanden rasch und er blieb stöhnend und wimmernd liegen.
 

Abigail befreite ihre Hand von seiner und versuchte erst einmal ihr schneller schlagendes Herz zu beruhigen. Die plötzliche Bewegung des Mannes hatte sie zutiefst erschrocken. Damit hatte sie nicht gerechnet, da sie ihn für zu schwach gehalten hatte. Aber da hatte sie sich eindeutig geirrt.
 

„Er ist wieder ohnmächtig geworden“, stellte der Heiler, der selber nicht weniger überrascht war, als die andern, fest, als kein Laut mehr von seinem Patienten kam.
 

Abigail kam vorsichtiger an das Bett heran getreten und sah den Mann an. Er lag wieder friedlich in den Lacken seiner Ruhestätte, als wäre nichts geschehen. Nur die zerwühlten Decken zeugten von seinem Ausbruch. Bei dem Ausbruch hatte sie einen Anstieg von Magie feststellen können. Sie war von dem Fremden gekommen. Also war er doch in den arkanen Künsten bewandert, dachte die junge Frau, als sie ihren Blick zu Tailia wandern ließ, die mit einem stummen Nicken bezeugte, das auch sie die Magie gespürt hatte.
 

Als die junge Magierin den Mann wieder ansah, fragte sie ihn leise: „Wer bist du?“
 

***
 

Nach dem kurzen Erwachen des Mannes hatte Tailia die anderen Erzmagier zusammen gerufen und ihnen davon erzählt. Das Abigail zu Gegen gewesen war, hatte sie verschwiegen, um der jungen Frau Ärger zu ersparen. Die Magierin hatte ihr versprechen müssen, schnell die Kammer zu verlassen, um den Heiler seine Arbeit weiter fortführen zu lassen. Abigail war nur widerstrebend gegangen und die Meisterin wusste sogleich, dass ihr Schützling sich nicht all zu lange fern von dem Objekt ihres Interesses bleiben würde.
 

Die Meister hatten den Worten der Frau genau gelauscht. Sie hatte ebenfalls den Anstieg seiner magischen Kräfte erzählt, doch einigen der Meister war es deutlich anzusehen, das sie ihren Worten keinen Glauben schenkten. Sie glaubten nicht, dass es jemanden geben könnte, der über solche Macht verfügte – außer dem Magus selbst. Tailia hatte aber geschwiegen und erwartete jetzt die Worte ihrer Kollegen.
 

Der erste, der sprach, war der alte Malcolm. „Das klingt sehr…“, er suchte nach den richtigen Worten, „abenteuerlich, Tailia. Nur du hast es gespürt, doch keiner von uns. Bist du dir ganz sicher?“
 

Die erfahrende Magierin nickte ernst und entschlossen. „Ja, Malcolm“, sagte sie. „Es war ein Hauch von Magie gewesen, doch war sie deutlich zu spüren. Da in der Burg seit Jahrhunderten Magie ausgeübt wird, geh ich davon aus, das ihr den kurzen Anstieg vielleicht für ein Rückstand alter Zauber oder ein Experiment eines Schülers gehalten haben könntet.“
 

Einige der Meister nickten, doch waren es nur wenige. Der Rest zeigte keine Regung, zu der Behauptung der Erzmagierin. Sie nahm es einfach hin.
 

„Wenn deine Behauptung stimmt“, meinte ein anderer Magier, dessen Gesicht unter der Kapuze seiner Robe verborgen lag und seine Stimme von Jugend durchflutet war, „sollten wir dem nachgehen, um uns selbst davon zu überzeigen.“ Er erhielt zustimmendes Gemurmel.
 

„Ich bin eurer Meinung“, sagte Tailia und freute sich innerlich, dass sie einen möglichen Verbündeten gefunden hatte. Sie wand sich an die andern Meister. „Überprüft dies. Ich bin davon überzeugt, das in unserem Gast große Macht verborgen liegt.“
 

Ein anderer Meister brummte: „Ich weis nicht. Es ist sicher nur Zeitverschwendung. Es kann sich um die Restmacht eines orkischen Zaubers handeln. Er hätte von einem solchen getroffen worden sein und in die Schlucht gefallen sein.“
 

„Nein“, meinte der Kapuzenträger. „Die Schwarz-Orks haben keine Magier unter sich, geschweige denn richtige Schamanen, die sich auf die Macht ihrer Götter verlassen können. Sie sind wie Tier, zu keinem klaren Gedanken fähig.“
 

Tailia konnte dem nur zustimmen. Ihr Kollege sprach weise. Mal wieder hatte er seine Weisheit unter beweis gestellt. Die Magierin fragte sich allmählich, ob der junge Mann seines Alters nicht Lügen strafte. Nicht das sich der Magus hinter der Kapuze des Meisters J´Kar versteckte. Schließlich hatte noch niemand zuvor das Gesicht des Mannes gesehen, der vor einigen Jahren in die Reihen der Grauen Roben eingetreten war. Er war eins der vielen Geheimnisse der Grausteinburg und Tailia wollte es lösen.
 

Ein weiterer Meister, ein Gnom, dessen Gesicht so runzelig war, das man sich schwer daran tat, die kleinen Augen darin zu finden. Er ging gestützt auf einen hölzernen Spazierstock und man sah ihm deutlich das Alter an, das ihn plagte. „Ich schließe mich den Worten J´Kars an“, krächzte der alte Gnom mühselig. Sein Atem ging rasselnd und er musste hektisch nach Luft schnappen, wie ein Fisch, der auf dem Trockenen lag. „Überprüfen wir den Fremden eingehend.“ Wieder schnappte er nach Luft. „Ich melde mich freiwillig.“
 

„Ich danke euch, Meister Knoll“, sagte Tailia aufrichtig. Der alte Gnom nickte nur, da er mühselig nach Atem rang. Eine der Meisterinnen trat zu dem Meister und half ihm auf einen Stuhl, wo er sich von den Anstrengungen erholen konnte. Der alte Gnom war bereits uralt. Er sollte über sechshundert Jahre alt sein, erzählte man sich. Einst war er ein mächtiger Magier gewesen, der sich in unzählige Abenteuer gestürzt hatte. Doch das Alter hatte ihn eingeholt und daran erinnert, dass auch er nicht unsterblich war. Seine Macht war geschrumpft. Es fiel Knoll immer schwerer einen Zauber zu wirken, egal wie schwer oder einfach er auch war. Selbst die Verjüngungszauber, die er gelegentlich auf sich sprach, wirkten kaum noch. Sein Körper war für die Maßstäbe der Gnome schon zu alt. Im Alter von dreihundert Jahren hätte er längst unter der Erde liegen müssen, doch er hatte sich wiederholt dagegen gesträubt.
 

Tailia wand sich an die anderen Magier. „Ihr habt es gehört, verehrte Kollegen“, sprach sie ruhig. „Selbst Meister Knoll ist bereit dies zu überprüfen. Mit J´Kar sind es nun zwei. Ich würde aber gerne noch eine dritte Meinung einholen.“ Suchend sah sie sich unter den anderen um, die schweigend um sie herum standen.
 

„Ich werde es machen“, schnaubte Malcolm unwillig. Tailia hörte es genau. „Ich bin sicher, das wir nichts finden werden. Selbst mit Knolls Hilfe.“
 

Die Frau mit der silbernen Strähne nickte zufrieden. „Nun gut“, sagte sie zu dem anderen. „Nehmt ihn ganz genau unter die Lupe.“
 

Ihr alter Freund sah sie mit gehobenen Augenbraue an, bevor er sich abwandte und davon schlich, gefolgt von J´Kar und Knoll, der auf dem Stuhl saß, der durch einen Zauber eines anderen Meisters zum Leben erweckt wurde, damit sich der alte Gnom nicht so anstrengen musste. Sie nickte jedem dankend zu, bevor sie mit ihnen die anderen Magier verließ. Es gab noch ein Geheimnis mehr in der Grausteinburg, das Tailia unbedingt lösen wollte. Und dafür wollte sie keine Zeit verschwenden.
 

***
 

Die Sonne sank langsam, um sich für die Nacht zur Ruhe zu legen. Die Tiere des Tages zogen sich in ihre Schlupflöcher und Nester zurück, während die Kreaturen der Nacht allmählich aus ihrem Schlaf erwachten. Broko führte die Gruppe unermüdlich weiter, bis sie in der Ferne schon die ersten Lichter des Zwergendorfes sehen konnten. Fynn, die auf ihrer grauen Stute ritt, sah sehnsüchtig zu den fernen Lichtern, die von Wärme und einem weichen Bett erzählten. Es waren nun zwei Tage vergangen seit dem Treffen mit der Zwergengruppe. Broko hatte ihr und Lorgren angeboten sie in sein Dorf zu bringen, wo sie ihre Vorräte aufstocken und ausruhen konnten.
 

Broko wies den Trupp an zu halten und wand sich den beiden Nichtzwergen zu. „Was ihr da hinten seht ist Zwergenstein“, verkündete der Zwerg feierlich. „Meine stolze Heimat, die den Bergen und seinen Ungeheuern seit Jahrhunderten tapfer trotz.“ Der graubärtige Zwerg verneigte sich tief, so das sein Bart über den Boden strich. „Ich heiße euch herzlich willkommen.“
 

Einige der anderen Zwerge folgten dem Beispiel ihres Anführers, während die anderen auf die Umgebung achteten. Fynn fühlte sich auf seltsame Weise gerührt. Diese Zwerge hatten bereits verdeutlicht, dass sie Orks nicht mochten, doch hießen sie eine Halbork willkommen. Nirgendwo sonst wäre sie so freundlich empfangen worden, wie hier, vermutete das Halbork-Mädchen.
 

Der Zwerg kam zu ihr herüber und brummte: „Noch vor Sonnenuntergang werden wir durch die Stadttore schreiten.“
 

Sie nickte nur zur Bestätigung und sah wieder zum Dorf der Zwerge. Zwar sah sie noch keins der Häuser, doch konnte sie sich im etwa vorstellen, wie Zwergenstein aussehen könnte. Broko führte die Truppe weiter. Es kam Fynn wie eine Ewigkeit vor, als sie die Tore des Zwergendorfes erreichten.
 

Vor Staunen weiteten sich die Augen des Mädchens, als sie die Dorfmauer sah. Sie bestand aus festem Granit, der aus dem Boden heraus ragte. Mindestens zehn Manneshöhen hoch war sie. Auf ihr schritten in Stahl gehüllte Zwerge mit Laternen und Armbrüsten bewaffnet auf und ab. Doch was das Mädchen wirklich ins Staunen versetzte – die Mauer allein war schon ein einmaliger Anblick – war ein Turm, der selbst über die Mauer hinaus zu sehen war. Er musste mindestens dreimal so hoch ragen, wie die Mauer selbst. In unzähligen Fenstern schien Licht. Der Turm war, wie auch die Mauer, aus Granit gehauen worden. Doch wirkte er wesentlich kunstvoller bearbeitet, als der Schutzwall an sich. Dazu glaubte Fynn das Leuchten von Edelsteinen zu sehen, die in der Außenwand des riesigen Gebäudes eingelassen wurden.
 

Broko bemerkte ihr Starren und sagte voller Stolz: „Das ist der Edelturm, das Heim unseres ehrwürdigen Priesters und Bürgermeisters, Vater Barador.“ Als das Granittor sich öffnete, von versteckten Zahnrädern bewegt, fügte Broko hinzu: „Er erwartet euch bereits.“
 

„Das gefällt mir nicht“, hörte Fynn Lorgren murmeln. Als sie sich dem Jerisanen zuwandte, hatte sich sein Gesicht verdüstert. Seine wachsamen Augen huschten von einer Seite zur nächsten, als würde er jeden Moment einen Angriff erwarten. Fynn selbst fühlte in Zwergenstein nur Wärme.
 

„Ganz ruhig“, flüsterte sie dem Mann aus der Wüste zu, um ihn zu beruhigen. „Die Zwerge sind unsere Freunde.“
 

Als sich ihre Blicke trafen, sie seine braunen Augen erblickte, senkte Fynn verlegen den Blick. Was maßte sie sich an, einen Mann beruhigen zu wollen, den sie nicht einmal richtig kannte. Er war, obwohl sie mit ihm schon so lange reiste, noch völlig fremd. Sie wusste nur seinen Namen und seine Heimat, doch alles andere blieb ihr verborgen. Lorgren sprach nicht viel mit ihr, nur die nötigsten Worte kamen ihm über die Lippen. Er hatte nicht einmal versucht sie zu trösten, als sie nach Ians plötzlichen Tot getrauert hatte. Sie erinnerte sich unwillkürlich an das Gefühl der Wärme, das der Wüstenreiter ausgestrahlt hatte, als sie sich weinend gegen ihn gedrückt hatte. Diese Wärme hatte Fynn schnell beruhigt und eindösen lassen, als würde sie in den Armen ihres Onkels liegen, der sie sanft in den Schlaf wiegte, wie er es immer getan hatte, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Das Mädchen wusste nicht, was dies zu bedeuten haben könnte. Sie spürte, dass ihr Herz schneller zu schlagen begonnen hatte. Das erinnerte sie wiederum an Jakob, als sie den Meuchler das erste Mal gesehen hatte. Ihr Herz hatte ebenfalls so schnell geschlagen. Doch sie war sich sicher, dass ihr Herz nicht für den Mann schlug, sondern vor Aufregung und Verlegenheit.
 

Als sie ihren Blick wieder hob, war der Wüstenreiter bereits neben sie geritten und sah stur grade aus. Das Mädchen folgte seinem Beispiel und riss die Augen weit auf, als sie Zwergenstein sah. Um sie herum standen dutzende von Häusern aus purem Granit. Jedes von ihnen war wie ein Quadrat gehauen worden, doch wiesen die Wände unzählige, kunstvolle Muster und Bildnisse auf. Fynn hatte geglaubt zu wissen, was sie hier erwarten würde, doch sie hatte sich getäuscht. Das Dorf, das in ihren Augen mehr einer Stadt glich, war ein einziges Kunstwerk aus Stein und Granit. Der Respekt vor den Zwergen stieg ins Unermessliche. Das bärtige Volk war ein wahrer Meister im Bearbeiten von Gestein jeder Art, was ihr schon der Edelturm gezeigt hatte, das Wahrzeichen Zwergensteins.
 

Nur wenige Zwerge waren um diese Zeit auf der Straße unterwegs. Doch als sie die Halbork und ihren Begleiter erblickten, blieben sie stehen und beobachten sie voller Misstrauen. Als Broko und seine Männer ihnen berichteten, wen sie da mitgebracht hatten, wich das Misstrauen und nur tiefe Bewunderung blieb zurück. Einige der Zwerge klopften an die Türen der Häuser und erzählten, dass die Hüterin des Herzschwertes ihr Dorf besuchte. Fynn wunderte sich, wie schnell die Straßen gefüllt waren, nachdem sich die Neuigkeit herum erzählt hatte. Männer und Frauen, Kinder und Greise waren auf die Straßen heraus getreten und sahen die Halbork mit ehrfürchtigen Augen an. Einige verneigten sich sogar vor ihr, bis ihr Bärte über den Boden strichen. Andere murmelten aufgeregt miteinander, während andere dem Trupp folgten, um sich an Fynn satt zu sehen.
 

Die plötzliche Aufmerksamkeit der Zwerge beunruhigte das Mädchen. Sie war dies nicht gewohnt. Zumindest nicht so, das sie von Fremden mit freundlichen Blicken begrüßt wurde. Die einzige Aufmerksamkeit von anderen hatte sie durch die Dorfkinder daheim erfahren, die sie immer schikaniert hatten, wo sie nur konnten. Doch hier hieß man sie Willkommen. Sie sollte sich eigentlich gerührt fühlen, doch das war ihr nicht möglich. Unter den Blicken der Zwerge glaubte sie zu schrumpfen.
 

Sie zuckte erschrocken zusammen, als sie die Hand Lorgrens auf ihrer Schulter spürte. Sie sah den Jerisanen mit großen Augen an. Er sah sie nicht an, hielt den Blick nur auf den Weg gerichtet und sagte: „Ganz ruhig, Mädchen. Ich werde über dich wachen.“ Fynn konnte schon beinah nicht glauben, was sie da hörte. Sie dankte dem Mann innerlich. Doch sie erinnerte sich, wieso er dies sagte. Es war seine Pflicht. Zu seinen Worten nickte sie schließlich nur, da sie im Augenblick nicht die Lust verspürte ein Wort mit ihm zu wechseln.
 

Ihr Leibwächter sah sie schließlich doch an und ihre Blicke trafen sich neuerlich. Fynn wusste nicht wieso, aber von neuen klopfte ihr Herz wieder schneller, als sie in die schmalen, braunen Augen Lorgrens sah. Ihr Anhänger verströmte wieder diese wohltuende Wärme, die sie nur von ihrem Onkel gekannt hatte. Wieder fragte sie sich, was dies zu bedeuten hatte. Unwohl fühlte sie sich nicht, nein, sondern geborgen. Sie könnte fast in den Augen versinken.
 

„Wir sind da“, brummte Broko und riss Fynn so aus ihrem Starren. Das Mädchen sah den Zwerg verwirrt an, bevor sie merkte, wo sie angekommen waren. Der Edelturm erhob sich vor ihnen in die Höhe und hüllte das Mädchen in sein warmes Licht. Der Schwertanhänger an ihrer Brust ließ Wärme aufsteigen, die sie einlullte, wie Lorgrens Nähe selbst. Dieser Ort wurde von guten Wesen bewohnt, wusste sie sofort. Hier würde sie sich sicher fühlen können, egal was kommen möge. Nun sah sie, dass in den Turm wirklich Edelsteine eingelassen worden waren. Das Licht der Fackeln erhellte sie und ließ den Turm in einem regenbogenartigen Licht erscheinen.
 

„Wie schön“, murmelte Fynn, die von dem atemberaubenden Anblick gefesselt war. Nie zuvor hatte sie so etwas zu Gesicht bekommen. Nie hatte sie etwas Schöneres gesehen.
 

Der graubärtige Zwerg bemerkte dies und lächelte breit und stolz. „Das ist der Edelturm in seiner ganzen Pracht. So etwas gibt es bei den Menschen nicht, oder?“ Fynn konnte nur nicken, obwohl sie es nicht wusste. Sie war bisher nur in ihrem Dorf gewesen und dies war ihre erste große Reise. „Na warte mal ab, bis wir drin sind, Hüterin.“
 

Die Zwerge führten sie und Lorgren um den Turm herum, zu einem großen Tor, das im Gegensatz zum Rest Zwergensteins, aus Holz bestand. Dieses wurde von innen heraus geöffnet. Eine Abteilung Zwerge kam heraus marschiert, die allesamt in wallende, weiße Roben gehüllt waren. Sie trugen nur einen eisernen Brustpanzer und einen Hammer oder Streitkolben in ihren Gürteln.
 

„Die Priester Bartax“, erklärte Broko Fynn im ehrfürchtigen Ton, die die anderen Zwerge mit neugierigen Blicken mustert.
 

Die Priester reihten sich vor dem Trupp in ordentlicher Reihe auf. Sie sahen die Halbork mit neutralem Blick an, legten eine Hand auf Herz und Waffe und verneigten sich so tief vor ihr, das ihre Bärte über den staubigen Boden wischten. „Wir heißen die Hüterin des Herzschwertes in Zwergenstein willkommen! Sei Bartaxs Segen mit dir und den deinen!“, erklangen die kräftigen Stimmen der Zwerge laut im Chor.
 

Fynn sah die Zwerge verlegen an. „Danke“, murmelte sie.
 

Als hätte man ihre Worte gehört, hoben die Priester ihre Köpfe gleichzeitig und sahen das Mädchen mit ehrfürchtigen und herzlichen Blicken an. In ihrer Mitte wurde platz gemacht, so das zwei Zwerge hindurch schreiten konnten. Einer von ihnen trug die weiße Robe der Priester, hatte aber einen Harnisch aus purem Gold angelegt und trug einen Hammer und einen Streitkolben im Gürtel. Sein Bart war so weiß wie der Schnee in den Bergen. Sein Gesicht war faltig, doch noch so steinern, wie die der jüngeren Zwerge. Der andere trug die Kleider eines einfachen Bürgers. Sein feuerroter Bart war zu zwei kunstvollen Zöpfen geflochten worden, während sein Haupthaar frei über seinen Rücken fiel. Ihm sah man deutlich seine Jugend an.
 

Broko und seine Zwerge verneigten sich tief vor den beiden Zwergen, doch begrüßten sie nur den Priester. „Wir grüßen dich, Vater Barador“, sagte der graubärtige Zwerg voller Respekt und Ehrfurcht.
 

Der alte Zwerg lächelte und erwiderte den Gruß: „Ich grüße dich, Broko Nuggetbeiser, und deine tapferen Jungs.“ Die Häupter der Zwerge senkten sich noch weiter. „Na hoch mit euch“, brummte Barador schließlich. Die Zwerge gehorchten ihm. Der Priester wand sich der jungen Fynn und ihrem Begleiter zu und neigte sein Haupt zum Gruß. „Ich heiße euch willkommen in Zwergenstein, Hüterin des Herzschwertes. Und auch dich grüße ich, Mensch aus der Wüste.“
 

Lorgren nickte bloß, während Fynn ihrerseits das Haupt vor dem Zwergengeistlichen senkte. „Ich danke euch, Vater Barador“, sagte sie mit leiser Stimme.
 

Der Zwerg lachte auf und lächelte sie freundlich an. „Ihr braucht nicht ängstlich zu sein, Kind“, sagte er. „In meinem Dorf müsst ihr keine Angst haben. Niemand wird euch ein Leid zufügen.“
 

„Ich weis“, murmelte Fynn, der es schwer viel, vor einem so wichtigen Mann gleichberechtigt zu wirken. Sie sah sich immer noch als das kleine Mädchen aus Steindorf, das nie etwas Besonderes gewesen war. Doch sie war die Hüterin einer geheimnisvollen Waffe, die für ganz Konass die letzte Hoffnung bedeutete. Mit dieser Rolle konnte sie sich noch immer nicht anfreunden. Wie sollte sie, ein Mädchen, Halb Ork, Halb Mensch, der Welt Frieden bringen? Sie konnte nicht einmal auf sich selbst aufpassen, wie sie bei dem Zusammenstoß mit den Schwarz-Orks hatte schmerzlich feststellen müssen.
 

„Bitte kommt mit in meine Hallen“, bat sie der Zwergenpriester im väterlichen Tonfall. Sie wusste nicht wieso, aber Fynn mochte den alten Zwerg jetzt schon.
 

Sie und Lorgren stiegen von ihren Pferden ab, die von den Zwergen übernommen wurden, und folgten dem Priester und seinen jungen Begleiter. Broko und der weißbärtige Zwerg, mit dem Fynn sich einst am Lagerfeuer unterhalten hatte, folgten ebenfalls ins Innere des Edelturms.
 

Als Fynn die Vorhalle des Turms betrat, stockte ihr der Atem. Die Halle vor riesig, ein Riese hätte ohne weitres auf den Schultern eines anderen hier stehen können, ohne sich den Kopf zu stoßen. Die Wände wurden von unzähligen Fackeln erhellt. Wie auch die Außenwände des Turms zierten Edelsteine sie und unzählige Bildnisse, Muster und Runen waren in die Wände gehauen worden. Doch auch Gemälde waren hier zu finden. Sie zeigten Zwerge, Menschen und auch Elfen. Sicher alles wichtige Leute, dachte Fynn, die die Bilder bewunderte. Einige der Gemälde zeigten große Schlachten, fast ausschließlich von den Zwergen geführte. Auf jedem dieser Bilder war ein Zwerg in einer goldenen Rüstung zu sehen, der einen mächtigen Hammer in Händen hielt und mit einem Kriegsschrei in die Höhe hob. Der Hammerkopf glänzte golden und silbern. Ein Drache hatte seine Schwingen um diesen gelegt, als wolle er ihn mit seinem Leib schützen. Unzählige Runen waren auf der Waffe zu sehen, die in einem blauen Licht zu leuchten schienen.
 

Selbst Lorgren war von dem Blick gefesselt, wie Fynn bemerkte. Sie und der Jerisane waren stehen geblieben, um den Hammer auf einem der Gemälde genauer zu betrachten. Der alte Barador bemerkte dies und erzählte: „Das ist Drakobans Drachenfaust.“
 

„Drakoban?“, fragte Fynn und sah den Priester an, der zu ihr getreten war und selbst das Gemälde betrachtete.
 

„Der erste König von Thador unter dem Berg“, erklärte der Zwerg. „Er war der größte Held der Sippe Drachenhammer. Er allein hat drei schwarze Dachen mit seinem Hammer erschlagen. Leider ging die Waffe damals zu Bruch. Erst sein Urenkel fügte die Teile wieder zusammen, gemischt mit besten Mithril und den Schuppen eines goldenen Drachen. Daraus schmiedete er Drakobans Drachenfaust. Bis heute trägt ihn jeder seiner Nachkommen. Es ist die Erbwaffe des königlichen Geschlechtes von Thador.“
 

„Der Traum eines jeden Zwerges“, erklang Brokos Stimme. Als Fynn und Barador zu dem Zwerg sahen, sah er sie erschrocken an und rieb sich verlegen den Hinterkopf.
 

„Er hat recht“, sagte sein Begleiter und klopfte dem Zwerg auf die Schulter. „Ein jeder Zwerg würde gerne solch eine Waffe tragen. Allein das Schmieden würde das Herz eines jeden Zwerges mit Glück erfüllen.“
 

Barador nickte. „Wie wahr“, stimmte er dem anderen Zwerg zu. „Der Drachenhammer ist eine mächtige Waffe, geschaffen von einem mächtigen Zwerg, der viele Jahrzehnte für die Herstellung dieses Hammers gebraucht hat. Bis heute hat es kein anderer Zwerg mehr gewagt, eine solche Waffe zu schmieden, aus Furcht, er wäre erfolglos.“
 

Fynn sah die Zwerge allesamt an. Sie redeten über diesen Hammer, als wäre er ein kostbarer Schatz, der unerreichbar für sie war. Obwohl sie das Zwergenvolk nicht allzu gut kannte, verstand sie die Bärtigen. Sie spürte fast schon die Macht, die allein von dem Bildnis des Hammers ausging. Vielleicht lag es daran, dass sie bei einem Schmied aufgewachsen war. Zwar hatte Berold nie eine Waffe hergestellt, doch ihr Onkel hatte schon einige schöne Stücke gemeistert, die zwar nicht mit denen der Zwerge zu vergleichen waren, doch er war immer stolz auf seine Leistung gewesen.
 

„Ihr habt sicher Hunger“, meinte Barador schließlich, um alle von dem Hammer abzulenken. „Ich habe ein Abendmahl her richten lassen, das eure Bäuche füllen soll.“
 

Fynn bemerkte erst jetzt, wie hungrig sie doch war. Broko hatte sie zwar einige Male rasten lassen, doch nie hatte jemand die Gelegenheit gehabt etwas zu essen. Ihr Bauch knurrte leise, um seine Zustimmung zu erteilen. Sie sah den Zwergengeistlichen an und nickte. „Ja“, sagte sie nur.
 

Zufrieden nickend führte Barador die kleine Gruppe weiter durch die Halle. Er schwenkte in einen Seitengang, aus dem bereits der köstliche Geruch von gebratenem Fleisch zu ihnen herüber strebte. Fynns Magen knurrte neuerlich, doch sie war nicht die einzige. Sie hörte einen der Zwerge leise schmatzen. Lorgren zeigte indes kein Anzeichen darauf, dass auch er Hunger hatte. Sein Gesicht war wieder wie versteinert. Fynn fragte sich, wieso der Jerisane stets so streng war. Dafür gab es keinen Grund, wie sie fand.
 

Der Gang führte sie höher in den Turm. Fynn spürte deutlich wie der Boden unter ihr anstieg. Der Geruch des Essens stieg immer deutlicher in ihre empfindliche Nase und sie erwischte sich dabei, wie sie sich begierig über die Lippen leckte und über den leeren Bauch rieb. Sie folgten weiter Barador, der sie in einen großen Saal führte. In diesem stand eine riesige Tafel, die reich mit Speisen gedeckt worden war. Braten, Soßen, Früchte, Gemüse und Getränke aller Art standen auf ihr und wartete nur darauf, dass sie verspeist wurden. Diener huschten durch den Saal und stellten sich neben die Stühle.
 

„Bitte nehmt Platz“, bat Barador seine Gäste. Sie alle folgten seinem Wunsch. Als Fynn ihren Stuhl zurückziehen wollte, um sich zu setzen, übernahm das für sie der Diener, der hinter ihrem Stuhl gestanden hatte.
 

„Ihr seit der Gast von Vater Baerador“, sagte der Zwerg zu ihr und Fynn glaubte sich verhört zu haben. Die Stimme des Dieners klang so sanft, als wäre sie die einer Frau. Doch der Zwerg trug einen Bart, zwar nicht so prächtig, wie die der anderen, doch er war deutlich zu sehen. Fynn sah den Zwerg etwas genauer an und erkannte die verräterischen Wölbungen um die Brust des Dieners. Der Zwerg bemerkte dies und meinte: „Ich bin eine Frau, Herrin. Ihr habt wohl noch nie eine Zwergin gesehen, wie?“
 

Fynn setzte sich peinlich berührt. Doch konnte sie ihren Unglauben nicht verheimlichen, darüber, was ihr so eben die Zwergin offenbart hatte. Selbst die Frauen der Zwerge trugen Bärte! So etwas hätte Fynn nie für möglich gehalten. Sie sah die Dienerin wieder an, die in aller Seelenruhe der Halbork von den Speisen auftischte. Als sie fertig war, verneigte sie sich vor Fynn und verschwand aus ihrem Blickfeld.
 

„Esst bitte“, brummte Barador freundlich. Fynn fing zögerlich an zu essen, doch als sie den ersten Bissen sich auf der Zunge zergehen ließ, war ihr Appetit geweckt. Das Essen schmeckte vorzüglich. Nie zuvor hatte sie besser gespeist, als bei den Zwergen. Das bärtige Volk verstand sich scheinbar auch auf das Zubereiten von Essen. Die andern waren bereits beim Essen. Broko schien noch nie etwas von Essmanieren gehört zu haben. Er schob sich einfach alles zwischen die Lippen, schmatzte geräuschvoll und rülpste laut. Die anderen Zwerge waren nicht leise, doch besaßen sie wesentlich mehr Anstand, als der graubärtige Zwerg. Lorgren aß ungerührt von seinem Teller.
 

Als sie mit dem Essen fertig waren, schenkten die Diener ihnen Krüge mit Bier ein. Fynn betrachtete das zwergische Getränk. Sie war zwar oft im Eberspieß zu Gast gewesen, doch hatte sie noch keinen Tropfen Alkohol getrunken. Sie erinnerte sich nur zu gut an die Männer, die sich betrunken hatten und ihre Sinne nach einigen Bechern nicht mehr beieinander hatten.
 

Barador erhob sich von seinem Platz und hob seinen Humpen in die Höhe. „Ein Hoch auf die Hüterin des Herzschwertes!“, rief er aus und die anderen Zwerge folgten seinem Ruf. „Auf die Hüterin!“, riefen sie. Die Zwerge tranken großzügig von ihrem Bier, während Lorgren seins stehen ließ und nur an einem Becher mit Wasser nippte. Fynn folgte dem Beispiel der Zwerge und nahm einen Schluck von dem Hopfengetränk. Erstaunt stellte sie fest, wie köstlich es schmeckte. Schnell kostete sie einen neuen Schluck. Dieses Bier schmeckte nach Hopfen, aber auch nach Honig und ihr unbekannten Kräutern.
 

„Ich stelle fest“, erklang Baradors Stimme, „das dir unser heiliges Wasser mundet, Hüterin.“
 

Die Halbork sah zu dem Zwergenpriester und nickte. „Ja“, sagte sie lächelnd und nahm noch einen Schluck. „Nie zuvor habe ich etwas Besseres getrunken.“
 

„Halt dich lieber zurück, Fynn“, sagte Lorgren. Fynn sah verständnislos zu dem Jerisanen herüber, der sie mit ernstem Blick betrachtete. „Zwergenbier benebelt schnell die Sinne.“
 

Broko lachte auf. „Ach lass das Mädel doch“, meinte er gutgelaunt. „Wenn ihr unser Bier schmeckt, dann soll sie sich gütig daran tun.“ Er selber trank noch einen kräftigen Schluck und rülpste aus Leibeskräften. Die anderen Zwerge lachten darüber und auch Fynn konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
 

***
 

Lorgren sah mit grimmiger Miene zu Broko, der sich neu einschenken ließ. Er konnte die Zwerge nicht wirklich leiden. Für ihn waren die Bärtigen ein ungehobeltes Volk, das sich zwar auf die Herstellung meisterhaften Waffen verstanden, doch denen es eindeutig an Manieren fehlte.
 

Sein wachsamer Blick wanderte zu Fynn, die schon fast begierig von ihrem Kelch trank. Das Mädchen hatte nie zuvor Alkohol angefasst und jetzt wurde sie bereits mit dem starken Bier der Zwerge konfrontiert. Sie würde sicher bald schwanken und dummes Zeug von sich geben, wenn sie weiter davon trank. Und dies musste er verhindern, bevor sich Fynn noch lächerlich vor den Zwergen machte. Sie war die einzige Hoffnung auf Frieden für Konass und als solche durfte sie nicht in Verruf geraten.
 

Fynns Augen trübten sich allmählich, erkannte der Jerisane besorgt. Sie würde nicht mehr lange durchhalten. „Kann ich noch etwas haben?“, fragte sie den Zwergengeistlichen, der zustimmend nickte. Der Zwergendiener, der bei Fynn war, schenkte ihr sogleich von dem Bier ein und Fynn nahm einen großzügigen Schluck, was die Zwerge zu begeistern schien. Das Mädchen setzte den Kelch ab und sah zu den Zwergen und lächelte. Lorgren knurrte innerlich. Sie machte sich jetzt schon zum Gespött. Wenn dies an die Ohren seines Meisters gelangen sollte, würde er von diesen sicher heftig gerügt werden.
 

„Vater Barador“, sagte Lorgren förmlich, während er sich von seinem Platz erhob. „Ich würde die Hüterin gerne auf ihr Zimmer bringen, damit sie sich ausruhen kann. Wir haben eine lange Reise hinter uns und sie benötig dringend Schlaf.“
 

„Ich bin aber noch gar nicht müde“, protestierte Fynn lallend. Lorgren seufzte innerlich auf. Nein, es war bereits passiert. Das Bier verbreitet bereits seine Wirkung.
 

Der Priester sah von dem Wüstenreiter zu der Halbork und nickte. „Sicher doch, Mensch aus der Wüste. Einer der Diener wird euch dort hin führen.“
 

Fynn schnaubte ärgerlich. „Ich will aber nicht“, maulte sie, als Lorgren zu ihr kam und von dem Tisch weg führte, während einer der Diener sie aus dem Saal führte. Sie wand sich den Zwergen zu und lallte: „Gute Nacht.“
 

Die Zwerge erwiderten ihre Worte freundlich, bevor Lorgren mit Fynn aus dem Saal verschwunden war. Das Mädchen torkelte bedenklich, weshalb der Mann aus der Wüste sie festhalten musste, damit sie nicht der Länge nach hinfiel. Dem Mädchen gefiel dies nicht, weshalb es immer wieder versuchte, sich aus seinen Griff zu befreien. Doch Lorgren hielt sie eisern fest.
 

Schließlich ergab sie sich und murrte nur leise herum, wie unfair er doch wäre, sie einfach ins Bett zu bringen. Der Wüstenreiter ließ sich davon nicht berühren. Er tat nur das, was er für das Beste hielt. Und das beinhaltete nun einmal sie ins Bett zu bringen.
 

Der Diener führte sie ungerührt durch den Gang, weiter hoch in den Turm, wo die Zimmer für die Gäste bereits hergerichtet worden waren. Lorgren sah sich um, merkte sich jede Ecke und Gang, an denen sie vorbei kamen, um von alleine hier herausfinden zu können, wenn sie flüchten mussten. Fynn lallte die ganze Zeit nur herum.
 

Plötzlich spürte er ihre Hand, die sich auf seine gelegt hatte. Lorgren sah das Halbork-Mädchen fragend an und sah ihr direkt in die Augen. Sie starrten ihn ununterbrochen an, was ihn beunruhigte. „Was ist?“, fragte er etwas zu schroff.
 

Das Mädchen antwortet erst, als der Diener sie vor ihrem Zimmer gebracht hatte. Er verabschiedete sich und eilte zurück in den Saal, wo seine Dienste weiter benötigt wurden. „Du hast schöne Augen“, sagte sie und klang verträumt. Der Jerisane runzelte die Stirn und sah sie prüfend an. Sie ist betrunken, dachte er. Als er nichts sagte, fuhr sie fort: „Und du bist so stark. Ist das normal?“
 

„Du bist betrunken“, sagte er schließlich, öffnete die Tür und schob sie in das Zimmer.
 

Das Zimmer war recht groß, größer, als Lorgren erwartet hatte. Ein großes Bett beherrschte es, in dem sicher mindestens zehn Menschen Platz finden würden. An den Wänden hingen Bilder großer Zwergenherrscher und der Berge. Ein Balkon befand sich an der Außenwand und ermöglichte es dem Bewohner auf das Zwergendorf hinab zu sehen.
 

„Bin ich nicht“; brummte Fynn trotzig. Als sie sich das Zimmer ansah, jauchzte sie bei dem Anblick des Bettes. Sie befreite sich von Lorgren und rannte taumelnd zu dem Bett und ließ sich in die Lacken fallen. „Wie weich das ist!“ Sie setzte sich auf und sah zu Lorgren. „Und nur ich darf hier schlafen!“
 

Lorgren nickte und sagte: „Dann leg dich schlafen. Ich wecke dich morgen früh.“
 

Als er sich abwandte, rief Fynn: „Du willst schon gehen?“ Sie klang mit einemmal betrübt.
 

Der Jerisane wand sich ihr zu und meinte: „Ja. Ich hab ein eigenes Zimmer.“
 

„Du willst mich genau so alleine lassen wie Ian“, wimmerte sie plötzlich und brach in unkontrolliertes Weinen aus. Lorgren wurde davon regelrecht überrascht. Er sah sie irritiert an. „Alle lassen sie mich alleine. Mutter, mein Onkel, Ian und jetzt auch du. Ich hasse euch alle!“
 

Lorgren war schnell bei ihr und packte sie bei der Schulter. Das Mädchen sah zu ihm auf und er konnte die Tränen sehen, die wie ein Wasserfall über ihre Wangen flossen. „Sag so etwas nicht“, sagte er streng zu ihr. „Keiner läst dich alleine.“
 

„Doch“, erwiderte sie trotzig und mit lautem Schluchzen. Sie klammerte sich and den Jerisanen, der erschrocken zusammen zuckte. „Bitte lass du mich nicht noch alleine, Lorgren. Bitte.“
 

Der Wüstenreiter wurde von dem Gefühlsausbruch des Mädchens völlig überrumpelt. Der Alkohol hatte ihre Sinne verwirrt und ihren Gefühlen erlaubt nach außen vor zu dringen. Lorgren war kein Mann, der tröstende Worte sprach. Er war ein Mann der Wüste und in dieser fand man nicht immer den gewünschten Trost. Doch dieses Mädchen verlangte regelrecht danach getröstet zu werden. Fynn fühlte sich von der Welt in Stich gelassen.
 

Zögerlich legte der Mann aus der Wüste seinen Arm um die bebenden Schultern des Mädchens. Er erkannte, das seine Aufgabe wohl nicht nur darin lag, sie zu beschützen und nach Jeris zu bringen, sondern auch ihr Trost zu zusprechen, um ihr Seelenheil zu gewährleisten.
 

Bis spät in die Nacht hielt er Fynn fest, um sie mit seiner Gegenwart zu trösten. Als sie schließlich schlief, bettet er sie in die weichen Decken und verließ das Zimmer. Den Rest der Nacht würde sie ohne seine Hilfe verbringen müssen.
 

***
 

J´Kar sah seine Kollegen der Reihe nach an. Er, Tailia, Malcolm und der uralte Knoll waren in der Kammer des Fremden und standen um das Bett herum. Sie hatten fast die ganze Nacht über den Körper des Mannes untersucht und erstaunt festgestellt, das in ihm erheblich mehr Macht schlummerte, als sie zuvor geahnt hatten. Der maskierte Magier sah den anderen jetzt noch an, wie erstaunt sie waren. Am deutlichsten las er es aber im Gesicht von Malcolm, der als einziger von ihnen nicht davon überzeugt gewesen war. Doch nun wurde der alte Erzmagier eines besseren belehrt.
 

„Tailias Worte stimmen also“, keuchte der Magier und schüttelte ungläubig den Kopf. „Er ist sehr mächtig.“
 

Tailia sah zu ihrem Freund rüber. „Ich sagte es doch.“ Ihr Blick traf den J´kars. „Doch ich hätte nicht gedacht, wie mächtig er wirklich ist. Als wäre er der Magus.“
 

„Der Magus“, keuchte Knoll, dem das Reden reichlich schwer fiel, „ist noch mächtiger. Ich habe sie schon einmal gespürt, vor vielen, vielen Jahren.“ Er rang nach Luft. „Damals, als ich noch jung war.“
 

„Wer er auch immer ist“, fuhr J´Kar fort, „wir müssen dafür sorgen, das er schnell wieder gesund wird. Ich habe viele Fragen an ihn, die es zu beantworten gilt.“
 

Die anderen nickten zustimmend. Auch sie wollten mehr über den Fremden wissen, den sie tief in den Bergen gefunden hatten. Er war reich mit Magie gesegnet, etwas, was in diesen Zeiten recht selten vorkam. Viele mächtige Magier lebten für sich alleine oder auch in der Grausteinburg, doch die Macht dieses Mannes war atemberaubend. Wenn J´Kar sich den schwarzen Künsten verschrieben hätte, wäre er sich über den Geschundenen her gefallen und hätte ihm all seine Macht entzogen dun sich selber einverleibt. Nur gut, dass er einer der Guten war, dachte er etwas belustigt.
 

„Ich schlage vor, wir teilen es den anderen rasch mit“, schlug Malcolm ernst vor. „Es muss ein Wink des Schicksals sein, das wir ihn fanden.“
 

Die anderen konnten nur nicken, denn auch sie waren davon überzeugt, dass das Schicksal den Mann zu ihnen geführt hatte. J´Kar hingegen war nicht so felsenfest davon überzeugt. Das Schicksal spielte da sicher eine wichtige Rolle, doch der Maskierte glaubte, dass es da jemanden gab, der dem Schicksal etwas nachgeholfen hatte. Ein jemand, der seit Jahrhunderten durch Konass zog und für Frieden zu sorgen versuchte. Ein jemand, der jedem Volk des Kontinents bekannt war. Ein jemand, der den Titel Magus trug.
 

***
 

Abigail sah den Meistern nach, als diese die Kammer des Fremden verließen. Verwundert stellte sie fest, dass sie den Heiler weg schickten. Was hatte das zu bedeuten, fraget sie sich, während sie wieder hinter einer der riesigen Rüstungen verborgen war. War der Fremde etwa in dieser Nacht verstorben?
 

Sie wollte diesem Rätsel schnell nachgehen. Als sie sich sicher war, das niemand mehr im Gang verweilte, huschte sie hinüber zur Tür. Verdrossen stellte sie fest, dass diese verschlossen war. Doch sie wäre keine Magierin geworden, wenn sie so ein Hindernis nicht rasch hätte überwinden können. Sie legt eine Hand auf das Schloss und murmelte einige Worte in der geheimen Sprache. Ein Klicken erklang und sie wusste, dass so eben das Schloss geöffnet worden war. Sie öffnete die Tür und verschwand im Zimmer. Als sie die Tür schloss, verriegelte sich die Tür wieder von selbst.
 

Die junge Frau stellte überrascht fest, dass die Magier vier Kohlepfannen herauf beschworen hatten, die um das Bett verteilt standen. In ihnen brannten kleine Feuer. Ihr Qualm war von rötlicher Farbe und umwaberte den geschundenen Leib des Fremden. Ein Zauber der Heilung, erkannte sie. Die Magier wollten, dass der Mann überlebte. Doch der Zauber verwirrte sie. Nie zuvor hatte sie von einem gehört, bei dem Kohlepfannen benötigt wurden. Doch spürte sie seine heilenden Kräfte. Sie selbst war nicht sehr auf diesem gebiet bewandert, doch erinnerte sie sich an den Unterricht. Es musste einer der alten Zauber sein, die allein die Erzmagier der Turmburg beherrschten.
 

Vorsichtig trat sie näher an das Bett, achtete darauf, nicht in den heilenden Nebel zu geraten. Erschrocken sah sie, dass die Magier den Mann von all seinen Verbänden befreit hatten. Er lag nun vollkommen nackt auf dem Bett und lag in tiefer Ohnmacht. Abigail sah, wie der Qualm in die Wunden des Mannes drang. Einige der Wunden schlossen sich vor ihren Augen rasch, während andere nur langsam verheilten. Das Gesicht des Fremden war schrecklich entstellt. Es war völlig entstellt. Abigail glaubte, das rührte von dem Sturz her. Doch auch die Wunden im Gesicht lichteten sich. Das braune Haar wuchs rasch, während sein Gesicht immer mehr an Form gewann. Abigail sah dabei zu, wie die zertrümmerte Nase wieder ihre ursprüngliche Form annahm. Eine leichte Harkennase. Sein Bartwuchs folgte dem Beispiel seines Haupthaares und wusch. Die letzten zertrümmerten Kochen wuchsen knackend zusammen, bis sein Körper vollständig geheilt war.
 

Vor Abigail im Bett ruhte ein junger Mann, der sicher nicht viel älter als sie selber war. Sein Gesicht war fein geschnitten, während die Lippen etwas zu breit wirkten, doch seinem Aussehen keinen Schaden zufügten. Er war drahtig, doch konnte die Magierin die leichten Wölbungen seiner Muskeln sehen. Seine Nacktheit verdrängte sie rasch, denn sein Gesicht fesselte sie. Wieder kam ihr des Gefühl des Erkennens. Woher kannte sie diesen Mann bloß? Sie würde es nur zu gerne wissen, doch dafür musste der Mann erst einmal erwachen.
 

Die Tür ging auf und eine Stimme fraget verärgert: „Was suchst du hier?“ Abigail wirbelte erschrocken herum und erkannte Meister Malcolm, der in der Tür stand, zusammen mit Tailia, J´Kar und einem der Heiler. Ihre Meisterin seufzte leise und schloss die Augen, während J´Kar sie mit seinen Augen, die zu leuchten schienen, musterte, während sein Gesicht in tiefen Schatten lag. Malcolms Gesicht war vor Zorn gerötet.
 

„Dir und den andern war es verboten in diese Kammer zu gehen“, knurrte der Magier und schritt auf sie zu.
 

„I-ich“, stotterte sie, doch eine andere Stimme unterbrach sie. Alle wandten sich dem Bett zu und erkannten, dass der Fremde erwacht war.
 

„Wo… wo bin ich?“, fragte der junge Mann, während seine Augen - das linke war Grün, während das rechte Grau schimmerte - alle Anwesenden musterten. Sein Blick blieb an Abigail haften. Die junge Frau schluckte und trat einen Schritt zurück. Sie sah die Magie, die in seinen Augen schimmerte, so kraftvoll, wie bei keinen anderen sonst.
 

„Ihr seit in der Grausteinburg“, sagte J´Kar mit seiner jugendlichen Stimme freundlich, während er an das Bett des Fremden trat. Der Fremde schien nicht zu verstehen. „Ihr seit bei den Grauen Roben.“
 

Wieder schien der Fremde nicht zu verstehen und der Maskierte sah zu seinen Kollegen und zuckte unschlüssig mit den Schultern. Die anderen nickten verstehend, während Abigail weiter den nackten Mann ansah. Er schien ihren Blick zu spüren, denn rasch legte er sich die Decke um die Schultern, um sie nicht weiter in Verlegenheit zu bringen.
 

„Ihr seit in den Bergen des Antigas-Schlange-Gebirges“, versuchte es Meisterin Tailia.
 

„Das… das kommt mir bekannt vor“, murmelte der Mann schließlich und sah zum Balkon. „Es ist dunkel?“ Fragend sah er die anderen wieder an.
 

„Es ist bereits über Mitternacht“, erklärte Tailia freundlich. „Wir haben euch vor zwei Tagen gefunden. Ihr wart dem Tode nah, weshalb wir euch hier her brachten und euch gesund pflegten.“ Der Fremde sah die vier Kohlepfannen an und runzelte verwirrt die Stirn. „Wir haben eure Wunden mit Magie geheilt.“
 

„Magie?“ Tailia nickte, als der Fremde fragte. „Ihr seit Magier?“
 

„So ist es“, übernahm Malcolm das Gespräch. „Wir, die Grauen Roben, sind der älteste Magierorden in ganz Helios.“
 

„Helios“, murmelte der Mann nachdenklich. „Ich glaube, ich stamme von dort.“
 

„Wirklich?“, fragte der alte Magier überrascht. „Aber wieso haben wir euch jetzt gespürt?“
 

„Gespürt?“, fragte der Fremde verwirrt. Er verstand nicht, was sie meinten.
 

„Eure magischen Kräfte“, verdeutlichte J´Kar die Worte Malcolms. „Ohne sie hätten wir euch nicht finden können.“
 

„Ich verstehe nicht, was ihr damit meint“, sagte der junge Mann. Er sah wieder Abigail an, sprach aber nicht mit ihr. „Ich weis nur, dass ihr mein Leben gerettet habt. Dafür danke ich euch.“
 

Die Erzmagier sahen sich fragend an. Abigail, die den Blick des Mannes erwiderte, verstand sie. Sie hatten ihn für einen Magier gehalten, doch er hatte mit seinen Worten ihnen verdeutlicht, das er nicht mal den blassesten Schimmert davon hatte, wovon sie überhaupt sprachen. Die junge Frau fragte sich, wieso dieser Mann dann so mächtig war, wenn er keine Ausbildung in den geheimen Künsten genossen hatte. Er warf immer mehr Rätsel auf.
 

„Ich glaube, wir müssen es euch ganz genau erklären“, sagte J´Kar ruhig. „Aber wir würden gerne erfahren, wer ihr seid, junger Freund.“
 

Der junge Mann sah den Maskierten an, als wäre ihm ein zusätzlicher Kopf gewachsen: Sein Gesicht war vor Schreck verzerrt, als er die anderen ansah und sagte: „Ich weis es nicht.“
 

Die Magier sahen ihn bedauernd an, während Abigail all ihr Mitleid, das sie besaß, in ihren Blick legte. Er war nicht nur von den Orks gezeichnet worden, sondern hatte sein Gedächtnis verloren. Vielleicht erklärte dies auch, wieso er keine Ahnung von seiner Macht hatte. Dennoch fand sie dies verwirrend. Er wusste, dass er aus Helios stammte, doch wusste er nicht, dass ihm Magie inne wohnte. Da konnte etwas nicht stimmen.
 

Wieder sah er sie an. Abigail fragte sich allmählich, warum sein Blick immer auf ihr ruhte. Schien er selber zu spüren, das er sie von irgendwoher kannte, wie sie es seit einiger Zeit? Sein grünes Auge musterte sie ununterbrochen, während das Graue sie zu durchleuchten schien. Sie spürte erneut den Anstieg seiner magischen Kräfte. Er setzte, ohne es selber zu wissen, Magiesicht ein, stellte Abigail überrascht fest.
 

Hinter ihr keuchte Tailia auf. Abigail wand sich ihrer Meisterin zu und erkannte, das es auch die anderen bemerkt hatten. Der Fremde hingegen sah sie an, als ob er nicht wüsste, was sie hätten. Unwillkürlich fing Abigail an zu zittern. Sie spürte seine Magie in jeden Teil ihres Körpers, spürte, wie ihr Blut zu rauschen begonnen hatte, ihr Herz schneller klopfte. Sie legte eine Hand auf dieses, um sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht.
 

„Diese Kraft“, keuchte Malcolm leise, während er den jungen Mann mit großen Augen anstarrte. Er sank auf die Knie und murmelte leise Worte, die sie nicht verstand. Sie waren ihr auch egal, denn die Macht des Fremden erschütterte und erregte sie sogleich. Sie suhlte sich innerlich in der Macht, die im Raum lag, während sie sich gequält wand. Seit er wach war, war es kaum zu ertragen, in seiner Nähe zu sein. Es kam ihr fast so vor, als würde sein Blick sie von innen heraus aussaugen. Selbst die Erzmagier mussten sich stark beherrschen, um ihm nicht zu erlegen. Nur Malcolm konnte sich nicht zusammen reißen. Nie zuvor hatte sie den alten Meister so gesehen.
 

J´Kar wirkte als einzige völlig unberührt davon, denn er legte eine Hand auf die Schulter des Fremden und erregte so seine Aufmerksamkeit. „Ich möchte dich darum bitten, dein rechtes Auge zu verbergen“, bat er den jungen Mann, der ihn verständnislos ansah. Aus den Falten seiner grauen Robe zog der Erzmagier eine Augenklappe und reichte sie dem Mann. Dieser sah auf sie herab, verstand eindeutig nicht, was hier vor sich ging, gehorchte aber. Er legte die Augenklappe an, verdeckte damit sein graues Auge.
 

Augenblicklich verschwand das Gefühl dieser unbändigen Macht aus der Kammer. Abigail sank auf die Knie, da diese sie nicht mehr länger zu tragen vermochten. Erleichtert atmete sie aus. Sie wusste nicht, wie lange sie diesem Blick hätte standhalten können, der sie gequält und gleichzeitig so in Verzückung versetzt hatte. Tailia legte ihr die Hand auf die Schulter und Abigail sah die Erschöpfung in den Augen der älteren Frau. Selbst sie war gegen die Macht nicht gerüstet gewesen. Zusammen halfen sie dem am Boden liegenden Malcolm auf die Beine. Der alte Mann hatte nicht an sich halten können und war vollkommen zusammen gebrochen. Er galt als einer der mächtigsten Magier des Ordens, doch er war der Magie erlegen, wie ein junger Schüler.
 

„Was ist passiert?“, fragte der Fremde mit zitternder Stimme. Er selber schien zutriefst schockiert darüber zu sein, über das, was hier so eben geschehen war.
 

Beruhigend legte J´Kar ihm eine behandschuhte Hand auf die Schulter und meinte: „Trag einfach die Augenklappe. Sie wird euch helfen, mit eurer Macht zu Recht zu kommen.“ Als der junge Mann etwas sagen wollte, unterbrach er ihn. „Ihr solltet euch besser hinlegen und versuchen etwas zu schlafen, junger Freund. Die Nacht währt nicht mehr lange und wir brauchen alle etwas Ruhe.“
 

Der junge Mann nickte, wobei er nicht den Eindruck machte, dass er noch Schlaf benötigte. Abigail selbst brauchte dringend Schlaf. Der Ausbruch seiner Magie hatte sie sehr erschöpft, wie auch die beiden anderen Erzmagier. So eine überwältigende Kraft war ihr und den anderen sicher noch nie unter gekommen. Nur J´Kar schien damit vertraut zu sein. Er war der Einzige gewesen, der nicht von dem ‚Blick’ des Mannes überwältigt worden war. Wieder einmal warf der rätselhafte Magier neue Fragen auf.
 

Er schien ihren Blick gespürt haben, denn seine Augen richteten sich auf sie. Geh schlafen, erklang seine Stimme sanft in ihrem Geist. Morgen werden wir deine Hilfe sicher noch benötigen. Abigail erschrak innerlich. Der Magier hatte über seinen Geist mit ihr gesprochen. Doch seien Worte, das man ihre Hilfe noch benötigen würde, schienen sie zu überzeugen. Ihre Müdigkeit steigerte sich weiter und nur mühselig schleppte sie sich aus der Kammer. Sie sehnte sich nah ihrem Bett, das einige Stockwerke tiefer lag.
 

Schlafen, hallte es immer wieder durch ihren Kopf, während sie zu ihrer Kammer schlürfte.
 

***
 

Zufrieden sah J´Kar den anderen Magiern nach, die müde und geschlagen die Kammer verließen. Er selber hatte die ungeheure Macht des jungen Machst selber gespürt, doch er war weniger Anfällig dafür gewesen, als seine Kollegen. Schließlich hatte er einen Ausbruch von solcher Macht bereits am eigenen Leib erfahren und kannte Mittel und Wege, sich nicht neuerlich davon überwältigen zu lassen und, wie Malcolm, wimmernd am Boden zu liegen und nach der Macht eines anderen zu gieren.
 

Er bemerkte, dass der junge Mann Abigail nachsah, sogar dann noch, als sie längst gegangen war. Er hatte sich also nicht getäuscht. Der Bursche schien irgendein Interesse an ihr zu haben. Er hatte ausgesehen, als würde er versuchen sie von irgendwoher wieder zu erkennen. Doch J´Kar wusste, das der Fremde die junge Frau unmöglich kennen konnte. Den gleichen Blick hatte er auch in Abigails Gesicht lesen können. Irgendetwas verband diese beiden miteinander. Er konnte nur erahnen, was dies zu bedeuten hatte.
 

„Sag mir“, begann der Maskierte zu sprechen, „woher stammst du wirklich?“
 

Der junge Mann sah ihn an und murmelte: „Aus Helios. Ich weis aber nicht mehr woher.“
 

J´Kar nickte leicht. Der Bursche sprach die Wahrheit. Er spürte es genau. Sein Gedächtnis war bei dem Sturz verloren gegangen. Es gab keinen ihm bekannten Zauber, der dies rückgängig machen konnte. Selbst mit seiner Gabe, mit dem Geist anderer Wesen zu kommunizieren, war es ihm nicht möglich, so weit in die Seele vor zu dringen, um anderen ihre Geheimnisse zu entlocken. Doch es gab Zauber, um die Seele eines Wesens zu erforschen. J´Kar kannte sie alle. Doch an diesem wagte er sie nicht einzusetzen. Zu groß war das Risiko, das ihm die Seele aus dem Leib gerissen werden konnte und für immer durch die Grausteinburg zu geistern, auf der Suche nach Erlösung.
 

„Was hat er nur mit dir gemacht?“, fragte sich J´Kar leise.
 

Der Mann hatte ihn gehört und fragte: „Wer?“
 

Erstaunt sah J´Kar den Fremden an. Wie hatte er ihn hören können? Er hatte doch leise genug gesprochen, das nicht mal die feinen Ohren eines Elfen ihn hätten verstehen können. Er rügte sich rasch einen Narren, als er sich entsann, dass der Mann von der Magie eines anderen durchflutet wurde, der bereits viele Generationen lang durch Konass gereist war.
 

Er seufzte und erhob sich. „Das musst du nicht wissen, mein junger Freund. Ruh dich jetzt aus.“ Er drückte die Schulter des jungen Mannes erneut und fügte hinzu: „Es wird ein langer Tag auf dich zukommen.“ Mit diesen Worten schritt er zur Tür. Doch bevor er ging, wand er sich dem Fremden noch einmal zu. „Da wir deinen Namen noch nicht wissen, werde ich dich solange Niemand nennen.“
 

Niemand sah den Magier mit fragenden Augen an. „Wieso Niemand?“
 

„Weil niemand weis, wie du heißt“, sagte J´Kar lächelnd. „Gute Nacht, mein junger Freund.“ Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Der Heiler, der vor dem Ausbruch der Magie sicher gewesen war, da er nicht von Magie berührt war, sah ihn fragend an. „Geh ruhig zu Bett. Unser Gast ist wieder bei bester Gesundheit.“ Der Mann nickte und ging.
 

J´Kar sah ihm nach, bevor er sich abwandte und seine Kammer aufsuchte, die über diesem Stockwerk des Turmes lag. Er würde diese Nacht nicht zur Ruhe kommen, denn er musste die Herkunft von Niemand heraus bekommen. Dafür würde er in die Geisterwelt reisen müssen, damit seien Fragen beantwortet werden konnten. Der maskierte Magier konnte nur hoffen, dass er einen gesprächigen Geist fand.
 

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5. Akt: Ein langer Weg

Ein alter Freund von mir sagte einst:

„Lieber einen Schluck klares Wasser,

Als einen Humpen schlechtem Bier.“

Ich weis bis heute nicht, was er mir damit sagen wollte.

Doch ich bin mir sicher, dass es ein guter Rat war.

Wenn irgendwer da draußen ihn kennt,

Dann kann es nur ein Zwerg sein.

Denn mein Freund war ein Zwerg und ein großer Held dazu.
 

Dorn Schwarzbär,

Barbarenkrieger aus den Nordländern Konass
 

***
 

Der Tag brach an. Bereits um die frühen Morgenstunden, wo die Bergluft noch kühl und eisig war, ging es in Zwergenstein geschäftig zu. Die Zwerge, von Natur aus ein geschäftiges Volk, waren längst auf den Beinen und gingen ihren Geschäften nach. Sie waren bereits bei dem ersten Sonnenstrahl aus den Betten gestiegen und nach einem reichhaltigen Morgenmahl ihre Geschäfte geöffnet. Die Wachen auf der Wehrmauer wurden durch Kameraden ausgewechselt, die für sie die Morgenschicht übernehmen würden, während die Nachtschicht sich zur Ruhe begeben würde. Die Kinder rannten frohen Mutes durch die Straßen und spielten lautstark zusammen.
 

Selbst im Edelturm war alles auf den Beinen. Die Zwergenpriester kümmerten sich um ihre Aufgaben, wie sie es jeden Morgen nach dem Gebet an ihren geliebten Gott, Bartax, dem Zwergenvater, taten. Obwohl sie Männer des Glaubens waren, betätigten sie sich ebenfalls an der Arbeit in den Schmieden. Doch sie sangen während der Arbeit geheiligte Reime, die dem Eisen mehr Kraft geben sollten.
 

Lorgren kümmerte sich um die Ausrüstung und den Proviant, den Vater Barador ihm und Fynn für ihre lange Reise überlassen hatten. Dank der Hilfe einiger Diener gingen die Vorbereitungen schneller voran, als der Jerisane es sich erhofft hatte. Eins musste er dem bärtigen Volk schon lassen: sie waren schnelle und sorgfältige Arbeiter.
 

Lorgren sattelte seinen Wüstenhengst, der zufrieden seinen Hafer kaute. Als er den Sattel fest gemacht hatte, sah er zu der einsam, an einen Pflock gebundene Stute, die ebenfalls sich ihren Hafer schmecken ließ. Fynn war noch nicht erschienen, obwohl Lorgren sie längst geweckt hatte. Das Zwergenbier hatte ihr eindeutig nicht gut getan. Als er in ihr Gemach gekommen war, hatte sie noch tief und fest geschlafen. Als er sie weckte, war sie mit starken Kopfschmerzen erwacht und hatte sich darüber ausgelassen, wie schlecht es ihr ginge und das sie nie wieder Bier anrühren würde. Ihr Gesicht war blass gewesen und kurz darauf war sie von Übelkeit übermannt worden und zum Nachttopf gestürzt, wo sie ihren Magen entleert hatte. Der Jerisane hatte sie zu Barador gebracht, der sich in diesem Moment wohl noch um sie kümmerte.
 

„Guten Morgen, großer Mann“, erklang die Stimme des Zwerges Broko nah bei ihm. Lorgren wand sich dem Zwerg zu und nickte leicht zum Gruß, sprach aber kein einziges Wort. Der Zwerg störte sich nicht daran, sondern streckte sich ausgiebig. „Ach, was für ein herrlicher Tag. Wie gemacht für einen Spaziergang durch die Berge, meinst du nicht auch?“
 

„Vielleicht“, erwiderte Lorgren trocken, da ihm an kein Gespräch mit dem Zwerg lag. Ihm war der Zwerg zu wider, worum er auch keinen Heller machte. Er sah wieder zum Tor des Edelturms und hoffte, das Fynn endlich auftauchen mochte, doch zu seiner Enttäuschung erschein bloß ein Zwerg, der weiteren Proviant brachte.
 

„Das Mädel ist noch beim ehrwürdigen Vater“, sagte der Zwerg, der das Starren des Jerisanen richtig gedeutet hatte. „War ziemlich blass um die Nase, die arme. Verträgt wohl kein gutes Bier, obwohl ich fand, das sie schon ordentlich was herunter gebracht hat, für jemanden, der nie zuvor das Bier meines Volkes gekostet hatte.“
 

Die Lobsagungen drangen nicht bis zu dem Wüstenreiter vor. Die Sitten und Bräuche des bärtigen Volkes interessierten ihn nicht im Geringsten. Selbst das Volk an sich war für ihn von geringem Interesse. Das einzige, was ihn jetzt interessierte, war, wann Fynn endlich erscheinen würde. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich, der mindestens einen Zehntag dauern würde, bis sie in der Wüste selbst ankommen würde. Und jede Minute, die ungenutzt verstrich, verringerte die Chance unbehelligt ans Ziel ihrer reise zu gelangen. Sicher waren andere Meuchler hinter ihnen her. Skorms Diner waren dafür bekannt, das sie ihre Beute nicht so schnell aufgaben.
 

Er wollte so schnell wie möglich in der Heimat seines Herren ankommen und Fynn in die sicher Obhut seines Meisters geben, der vermochte, sie vor aller Augen zu verstecken, bis sie heraus fanden, wo sich das Herzschwert befand. Denn er zweifelte daran, dass man es bereits herausgefunden hatte, wo es versteckt lag. Zu viele jahrhunderte hatte man danach gesucht, doch nie hatte ein Sterblicher es gefunden.
 

„Bist ja heute wieder so gesprächig wie ein Fels“, brummte der graubärtige Zwerg, der aus einer Gürteltasche eine Pfeife zog und diese gemächlich mit Pfeifenkraut stopfte. Kurz darauf hielt er ein Streichholz, dessen Kopf bereits brannte, in den Pfeifen kopf und zog an dessen Ende, bis das Kraut entflammt war. „Vielleicht solltest du mehr unter Leute kommen, Mann aus der Wüste.“
 

„Vielleicht“, murrte Lorgren den Zwerg an, „solltet ihr auch weniger Reden, Zwerg.“
 

„Da ist aber einer mit dem falschen Fuß aus dem Bett geklettert“, gluckste der Zwerg amüsiert. Es war klar, dass er keine Angst vor dem Jerisanen hatte. Eigentlich hatte ein Zwerg vor nichts Angst, außer, das die Esse in ihrer Schmiede ausgehen könnte. „Oder hast du nicht genug Schlaf bekommen? Man munkelt, du wärst verdammt spät aus den Gemächern der Hüterin gekommen.“
 

Mit vor Zorn funkelnden Augen fuhr der Jerisane zu dem Zwerg herum und hätte beinah seinen Dolch gezogen, um ihn zu töten, konnte sich aber noch so weit beherrschen. „Hüte deine Zunge, Zwerg“, zischte Lorgren Broko an, der ihn bloß mit angehobener Augenbraue ansah, „sonst wirst du keine mehr haben.“
 

„Ach?“, gab der Zwerg ungerührt von sich. „Und du einarmiger Hampelmann willst der jenige sein, der sie mir heraus schneidet? Mit welcher Armee?“
 

„Sei unbesorgt“, erwiderte der Jerisane eine Spur ruhiger, doch sein Zorn war längst nicht erloschen. „Dafür werde ich keine benötigen.“
 

Broko lachte auf und schüttelte amüsiert den Kopf. „Bist ein echter Spaßvogel, Mensch“, kicherte er belustigt. Doch rasch wurde seine Miene hart wie Felsgestein. „Aber ich würde einem Kampf mit dir nicht aus dem Weg gehen, Mann aus der Wüste. Meine Axt würde sich über etwas Abwechslung freuen und dein Blut würde sie sicher gut schmieren.“
 

Beide funkelten sich Unheil verkündend an. Man spürte regelrecht den Zorn, der zwischen den beiden brodelte. Keiner der Anwesenden kam ihnen freiwillig zu nah. Denn zu groß war die Gefahr, dass beide aufeinander losgingen.
 

„Auseinader ihr beiden Streithähne“, erklang die grollende Stimme eines anderen Zwerges. Als beide Krieger sich dem Zwerg zuwandten, erkannten sie den jungen Zwerg mit dem feuerroten Bart. Er stand nicht weit ab von ihnen und funkelte sie mit zusammen gekniffenen Augen an, während er seine Hände in die breiten Hüften gestemmt hatte. „Ich hab keine Lust euch auseinander zu drängen.“
 

„Dann misch dich besser nicht ein, Junge“, brummte Broko unbeeindruckt, bevor er seinen Blick wieder auf den Jerisanen richtet, der ihn sogleich erwiderte.
 

Der andere Zwerg brummte ungehalten und stampfte mit einem Fuß auf den Boden auf. „Jetzt hört mit dem Blödsinn auf, ihr beiden!“, knurrte er ungehalten dun ging dazwischen. Mit seinen stämmigen Armen schob er beide voneinander weg. Zwerg und Wüstenreiter waren erstaunt über die Kraft des jungen Zwerges. „Ich sag es nicht noch einmal. Wenn ihr nicht hören wollt, dann werde ich euch gehörig die Köpfe durchrütteln. Und ich verspreche euch, das wird sehr schmerzhaft werden.“
 

Die Augen des Zwerges streiften die der beiden anderen und jeder von ihnen wusste, dass der Zwerg nicht scherzte, sondern jedes Wort ernst meinte. Lorgren glaubte fast, der Zwerg wäre ihm gewachsen.
 

„Schon besser“, brummte der rothaarige Zwerg und trat einen Schritt von den beiden zurück.
 

In diesem Moment kamen Fynn, in Begleitung von Barador und dem weißhaarigen Zwerg, der Brokos Truppe angehörte, aus dem Edelturmtor geschritten. Das Mädchen hatte wieder an Farbe gewonnen und wirkte kräftig genug die lange Reise auf sich zu nehmen. Statt dem Kleid, das sie zu Anfang der Reise getragen hatte, hatte sie Hosen und Hemd angelegt. Über dem Hemd trug sie eine lange Weste, die schon faste in Mantel war. Ihre Füße steckten in langen Reiterstiefeln, die sich ihren Bewegungen perfekt anpassten. Ein langer Umhang lag um ihre Schultern und auf ihrer Brust ruhte der Schwertanhänger.
 

Als sie bei ihnen ankamen, betrachtet Lorgren sie eingehender. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie solche Kleider mitgenommen hatte. Wo hatte sie diese also her? Sein Blick fiel schließlich auf Barador, der zufrieden lächelte.
 

„Diese Kleider haben einst einer Heldin aus Helios gehört“, erklärte der Zwerg auf Lorgrens Blick hin. „Sie hat Zwergenstein immer wieder mal besucht. Sie hat einige Sachen hier gelassen. Schon seit vielen Jahren kommt sie uns nicht mehr besuchen. Ich gehe davon aus, das sie längst zu den Göttern aufgestiegen ist, was mein altes Herz sehr traurig stimmt. Doch sollte sie noch leben, wäre sie sicher damit einverstanden, das Fynn einige ihrer Sachen trägt.“
 

Der Wüstenreiter sah nun wieder die Halbork an. Es schien ihm fast so, als hätte man die Kleider allein für sie gemacht. Tatsächlich lagen sie perfekt an. Diese Heldin musste ein genau so zierliches Persönchen wie Fynn gewesen sein, überlegte er.
 

Das Mädchen erwiderte verlegen seinen Blick und senkte ihren sogleich. Der Mann aus der Wüste störte sich nicht weiter daran. Als er sich ab wand, fiel ihm der Dolch auf, der an dem Gürtel hing, den sie um die Hüften trug. Die Waffe war eindeutig nicht von Zwergenhand geschaffen worden. Zwar kam ihm die Machart der Klinge nicht bekannt vor, doch wusste er, dass keiner der Zwerge einen schlichten Dolch herstellen würde.
 

„Dann können wir wohl aufbrechen“; stellte der Jerisane schlicht fest und begab sich zu seinem Hengst, der schon ungeduldig auf ihn wartete.
 

„Einen Moment bitte“, bat Barador ihn. Der Mann aus der Wüste wand sich ihm zu und runzelte fragend die Stirn. Der alte Priester trat zu Fynn und sagte: „Verehrte Fynn. Darf ich dich um einen gefallen bitten?“
 

Das Mädchen legte den Kopf schief und sah auf den Zwerg hinab. „Abers ich doch“, sagte sie offen. „Was wünschst du von mir?“
 

„Bitte nehme einige meiner Leute mit dir“, sagte er zu ihr.
 

Lorgren sah den Zwerg ungläubig an. Zwerge sollten mit ihnen ziehen? Nein, das würde er nicht zu lassen. „Das ist nicht möglich“, sprach er rasch dazwischen. „Zwerge sind in Jeris unerwünscht, schon seit Generationen.“
 

„Das weis ich, Mensch aus der Wüste“, brummte der Zwergengeistliche, „doch in Zeiten, wie diesen, wird man die alten Fehden sicher vergessen können. Schließlich liegt uns allen an der Hoffnung von Konass etwas. Wir alle wollen endlich wieder Frieden haben. Selbst wir kriegerischen Zwerge lieben den Frieden.“
 

Fynn sah zwischen den beiden Männern hin und her und sagte schließlich: „Ich würde mich geehrt fühlen, einige deiner tapferen Krieger mit mir zu nehmen.“
 

Lorgren konnte das enttäuschet Stöhnen nicht unterdrücken. Wie konnte Fynn nur so naiv sein? Kannte sie die alten Fehden zwischen den Zwergen und dem Volk der Wüste nicht? Sicher nicht. Sonst würde sie nicht so dumm handeln. Diese Zwerge würden ihnen mehr Probleme bereiten, als sie verhindern würden. Jeder Wüstenmensch würde sie angreifen, weil er eine Bedrohung in ihnen sah.
 

„Ich danke dir, oh Hüterin des Herzschwertes“, sagte der alte Zwerg feierlich dun verneigte sich so tief, das sein Bart, der seit Jahrzehnten den Boden nicht mehr gestreift hatte, darüber fegte. „Möge Bartax schützend seinen Hammer über dich und deine Gefährten halten, damit deine Reise sicher verläuft.“
 

Fynn nickte lächelnd. „Ich danke dir, Vater Barador“, sagte sie zu ihm und verneiget sich vor dem Zwerg. Dieser fühlte sich peinlich berührt und senkte verlegen den Blick.
 

Als er wieder aufsah, traf sein Blick auf den rothaarigen Zwerg und auf den mit dem weißen Haar. „Ihr beide werdet sie begleiten und auf ihrer Reise mit allen euch erdenklichen Mitteln unterstützen“, wies er beide Zwerge an, die sofort nickten. Als sein Blick auf Fynn traf, sprach er weiter. „Diese beiden sind gute Männer, die euch sicher durch die Berge führen werden.“
 

Die beiden Zwerge traten vor. „Es ist uns eine Ehre, dich zu begleiten“, sagte der weißhaarige Zwerg und senkte das Haupt. „Ich bin Flint Felsspalter.“
 

„Und mich nennt man Valzar“, stellte sich der andere Zwerg vor, dessen beiden Bartzöpfe über den Boden fegten, während er sich vor Fynn verneigte. „Mein Hammer steht dir jeder Zeit zu Diensten.“
 

„Moment mal“, mischte sich Broko ein. „Also ohne mich wird hier keiner eine Hüterin in die olle Wüste schaffen.“ Der Zwerg wand sich der jungen Halbork zu und verkündete feierlich: „Egal ob Ork, Wüstenräuber oder Riese, ich werde dich mit meinem Leben beschützen. Mögen ach so viele Feinde uns den Weg versperren, meine Axt wird eine große Schneise in ihre Reihen schlagen, damit du sicher an dein Ziel gelangst. Ich bin dein Zwerg, Hüterin des Herzschwertes.“
 

Lorgren konnte nicht glauben, was er da eben miterlebt hatte. Gleich drei Zwerge hatten Fynn sogleich die Treue geschworen. Es würde unweigerlich ihre Reise durch die Wüste erschweren, das wusste er. Zwerge waren in Jeris genau so erwünscht, wie Orks in Helios. Das bärtige Volk war seit jahrhunderten mit dem Volk der Wüste verfeindet, allein deshalb, weil es mit Helios verbündet war. Zwar herrschte seit langen Jahren kein Krieg zwischen den beiden Reichen mehr, doch wurzelte der Hass zwischen beiden noch tief. Allein die Händler konnten sicher zwischen beiden Ländern hin und her pendeln, ohne in Gefahr zu laufen, von den Truppen der Reiche überfallen zu werden. Sie mussten sich nur Gedanken um Banditen machen.
 

Fynn wand sich Lorgren zu und schien seinen Groll zu spüren. Sie setzte einen bittenden Blick auf, der ihn zu erweichen versuchte. Es schien zu wirken. Zwar wurzelte seine Wut über ihre zu rasche Entscheidung in ihm, doch hielt er sie so weit zurück, um ihr ruhig zu zunicken. Sie dankte ihm mit einem Lächeln.
 

Lorgren wusste nicht wieso, aber er glaubte in ihren Augen mehr zu lesen, als den Dank für seine stumme Zustimmung. Lag da noch ein viel tiefer verwurzelter Danke? Wenn dem so war, wofür war dieser? Er würde genug Zeit dafür haben, dies heraus zu finden. Denn ein langer Weg lag vor ihnen.
 

***
 

Dank geheimer Schleichwege der Zwerge kam die kleine Gruppe rasch voran und sparte einige Tage. Seit dem Aufbruch aus Zwergenstein waren drei Tage vergangen. Flint, der der älteste der drei Zwerge war, hatte vorgeschlagen, ein kleines Dorf an den Grenzen Jeris aufzusuchen, um sich dort mit neuem Proviant einzudecken. Dort wollten die Zwerge, die auf struppigen Bergponys ritten, ihre Tiere gegen Wüstenponys eintauschen. Lorgren hatte dem zugestimmt. Der Wüstenreiter hatte klar gemacht, dass sie die Wüste im schnellen Tempo durchqueren würden. Die Zwerge hatten sich damit zufrieden gegeben.
 

Es war Abend geworden, als der Trupp sein Lager aufschlug. Schnell war ein Feuer entfacht und ein Zelt aufgeschlagen worden. Das zelt hatten die Zwerge für Fynn mitgenommen, damit sie vor Wind und Wetter geschützt war, während sie schlief. Fynn hatte gemeint, das sie auch ohne schlafen könnte, doch Broko hatte ihr widersprochen dun darauf bestanden, das sie das Zelt aufschlugen. Das Mädchen hatte schließlich nachgegeben und die Zwerge ihre Arbeit verrichten lassen.
 

Flint stand am Feuer und rührte in dem Topf, den sie über der Feuerstelle aufgebaut hatten, während Fynn ihm zur Hand ging. Valzar, der recht verschwiegen war, übernahm freiwillig die erste Wache zusammen mit Lorgren. Broko saß an einem Felsen gelehnt und rauchte in aller Ruhe seine Pfeife.
 

Flint probierte von seinem Eintopf und brummte unschlüssig. „Hmm“, schmatzte er und sah die Halbork an. „Ich glaub, da fehlt etwas.“ Er reichte Fynn den hölzernen Löffel, damit sie kosten konnte. Das Mädchen nahm einen Bissen.
 

Sie nickte. „Ja“, stimmte sie ihm zu. Sie nahm etwas von den Gewürzen des Zwerges und fügte sie dem Eintopf hinzu. „Ich glaube, das müsste reichen.“
 

Als der kahlköpfige Zwerg probierte und grunzte zufrieden. „Also jetzt dürfte nichts mehr fehlen“, verkündete er und lächelte das Mädchen an. Seit den drei Tagen, die sie zusammen reisten, waren der Zwerg und die Halbork Freunde geworden. Flint war stets an der Seite des Mädchens und unterhielt sich mit ihm. Fynn lernte viel von den Bergen, die sie durchwanderte und der Kultur der Zwerge. Er hatte sie sogar über Zwerginnen aufgeklärt. Einigen von ihnen wuchsen Bärte, wie den Männern. Das machte sie ganz besonders begehrenswert bei den männlichen Zwergen, hatte Flint erklärt. Kurz darauf hatte er von seiner Frau geschwärmt, die, seiner Meinung nach, den prächtigsten Bart aller Zwerginnen von Zwergenstein hatte.
 

Der Zwerg holte eine Pfanne hervor und schlug mit einem Löffel auf diese, erzeugte damit ordentlich Krach. „Essen fassen!“, rief er mit kräftiger Stimme, die klang, als würde eine Lawine nieder gehen. Die anderen Mitglieder ihrer Truppe kamen gemächlich zur Feuerstelle. Der einzige, der ausblieb, war - wie nicht anders zu erwarten – Lorgren.
 

„Wo ist Lorgren?“, fragte Fynn Valzar, als der Zwerg ihr seine Schale reichte, in die sie reichlich von dem Eintopf gab.
 

„Er hält weiterhin Wache“, sagte er. „Meinte, er hätte keinen Hunger.“
 

Fynn seufzte, als sie Valzar seine Portion gab. Ihr Blick schweifte zu der Stelle, wo der Wüstenreiter seine einsame Wache hielt. Seit ihrem Aufbruch hatte er noch weniger Worte mit ihr gewechselt und dann auch nur, wenn es sich um ein wichtiges Thema gehandelt hatte. Ansonsten war er ihr wiederholt ausgewichen. Das Mädchen wusste zwar, das er über sie wachte, wenn sie schlief, doch ansonsten hielt er sich sehr zurück. Sicher war er wieder wütend auf sie, dass sie den Zwergen erlaubt hatte, sie zu begleiten. Genau das verstand sie nicht. Was störte den Jerisanen so sehr daran, mit Zwergen zu reisen? Lorgren hatte die alten Fehden zwischen dem Wüstenvolk und den Zwergen kurz erwähnt, bevor sie abgereist waren, doch seitdem war kein Wort mehr darüber gefallen. Das Mädchen hatte sich nicht getraut die Zwerge danach zu fragen, obwohl sie wusste, dass sie sie sicher aufgeklärt hätten. Sie wollte es lieber von dem Wüstenreiter hören.
 

Doch wie sollte sie auf ihn zu gehen? Lorgren wich ihr immer wieder aus, wenn sie mit ihm sprechen wollte. Das schien sein normales Verhalten zu sein, denn als sie auf Brokos Truppe gestoßen waren dun sie mit ihnen gereist waren, war er ihr ebenfalls immer ausgewichen. Der Jerisane war ein Rätsel für sie. Er benahm sich seltsam in ihren Augen. Er benahm sich immer zu förmlich vor ihr, als wäre sie eine Dame von adliger Geburt. Dennoch spürte sie die Wärme, die von dem Schwertanhänger ausging, wenn sie bei ihm war. Der magische Schmuck, der die Herzen der Menschen durchleuchten konnte, erwärmte sich erheblich stärker bei dem Jerisanen, übertraf sogar die Wärme, die sie bei ihrem Onkel spürte. Sie fühlte sich in seiner Nähe geborgen, wie bei keinem anderen zuvor. Sie verstand dies nicht. Was hatte das zu bedeuten? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
 

Valzar erhob sich und brummte: „Ich bring besser dem Wüstenmann etwas, bevor er noch zu hungrig wird.“
 

Fynn sprang auf. „Ich mache das!“, sagte sie etwas zu laut, was die drei Zwerge doch ziemlich überraschte. Sie schöpfte in eine Schüssel Eintopf, schnappte sich Brot und huschte zum Posten des Jerisanen.
 

***
 

„Also wenn ihr mich fragt“, meinte Broko, als er Fynn nach sah, „glaube ich, das das Mädel ziemlich verknallt in den Wüstensohn ist.“
 

Flint, der sich seine Pfeife angezündet hatte und ins Feuer sah, nickte leicht. „Könnte sein“, meinte er nachdenklich. Obwohl er und Fynn sich nur seit kurzer Zeit kannten, hatte er die kleine Halbork schon in sein herz geschlossen. Halbork hin oder her, sie war ein liebes Mädchen, egal was andere sagen mochten. Der Zwerg wagte sogar zu behaupten, dass sie grade deswegen die Hüterin des Herzschwertes geworden war.
 

Valzar, der sich sonst immer recht zurück hielt, wagte zu sagen: „Woher wollt ihr das wissen? Ich kenne die Menschen und es kommt mir nicht wirklich so vor, als wären sie im Liebestaumel gefangen.“
 

Die beiden anderen Zwerge, die einige Jahrzehnte älter waren, als der Zwerg mit den Bartzöpfen, sahen ihn eine Weile an, bevor sie breit grinsten. Der Jüngere erwiderte ihren Blick verwirrt.
 

„Mein Junge“, begann Broko, während Flint amüsiert den kahlen Kopf schüttelte, „du warst nicht oft genug mit Menschen zusammen, scheint es mir. Wohn einmal ein Jahrzehnt unter ihnen, wie Flint und ich, und du wirst ihr überaus kompliziertes Liebesleben verstehen lernen.“
 

„Ich weis nicht“, brummte Valzar verlegen und senkte den Blick. „Menschen sind ziemlich seltsam.“
 

***
 

Lorgren stand allein auf seinem Posten und sah in die einbrechende Nacht. Valzar war von dem Rufen Flints zum Essen gelockt worden. Obwohl der Zwerg recht Wortkarg war, hatte er den Wüstenreiter gefragt, ob er ihm etwas mitbringen solle, doch Lorgren hatte abgelehnt. Der junge Zwerg war schließlich gegangen und hatte ihn alleine gelassen.
 

Diesen ungestörten Augenblick genoss er nun. Doch die Ruhe war rasch dahin, als er sich nähernde Schritte hörte. Er wusste sofort, wer da kam. Jemand, den er im Moment nicht um sich haben wollte.
 

„Lorgren“, erklang Fynns Stimme hinter ihm. Er reagierte nicht darauf, sondern sah weiter stur in die Ferne, „ich habe dir etwas zu Essen mit gebracht.“
 

„Ich hab keinen Hunger“, antwortete er emotionslos. Es stimmte nicht wirklich, das er keinen Hunger hatte, doch sein Stolz, den Fynn zum wiederholten Mal verletzt hatte – so fand er es – verbat es ihm einfach, sich zu ihr zu setzen und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Er sollte die Führung übernehmen und sie sicher nach Jeris bringen, doch immer wieder hatte sich das Mädchen eingemischt und über seinen Kopf hinweg entschieden. Wie sollte wer so seinen Auftrag zur Zufriedenheit seines Herrn erfüllen, wenn man ihm immer wieder Steine in den Weg warf?
 

„Ich glaub dir nicht“, sagte sie. Fynn war näher gekommen, erkannte der Wüstenreiter, doch rührte er sich nicht vom Fleck. „Du bist wieder wütend auf mich. Hab ich recht?“
 

Lorgren wand sich ihr nun zu. Das Mädchen sah ihn aus traurigen Augen an. „Wieso sollte ich wütend sein?“, fragte er tonlos. Seine Miene verriet genau so wenig, was er fühlte und dachte.
 

„Ich spüre es“, sagte sie zu ihm, ohne seinem Blick auszuweichen. „Bitte sag mir, wieso. Ich verstehe es nicht.“
 

Der Wüstenreiter blieb lange Zeit stumm. Ihm fiel auf, das sie ihm Eintopf mitgebracht hatte, sowie etwas Brot. Ihm wurde klar, dass sie dies als Vorwand genutzt hatte, um zu ihm zu kommen. Egal ob sie das Essen mitgebracht hätte oder nicht, Lorgren war wirklich nicht bereit dazu, mit ihr über den Grund seiner Wut zu diskutieren. Sie war ein Mädchen und würde weinend davon rennen, sobald sie den Grund erfahren hätte. Sie glich allen jungen Mädchen, die mit naivem Blick durch die Welt gingen.
 

„Lorgren“, sagte Fynn ernst. Sie stellte die Schüssel mit ihrem dampfenden Inhalt und das Brot weg und trat auf den Mann aus der Wüste zu, „ich werde nicht gehen, bis du mir endlich sagst, was los ist.“ Lorgren konnte deutlich in ihrem Gesicht lesen, das sie es ernst meinte.
 

Der Jerisane schloss kurz die Augen, bevor er sagte: „Deine Naivität bringt uns immer weiter in Gefahr.“
 

Verwirrung spiegelte sich im Gesicht des Mädchens wieder. „Wieso das?“ Sie verstand nicht, was er meinte.
 

„Du hast den Zwergen erlaubt mit zu kommen“, fuhr er fort.
 

„Ja“, erwiderte sie nickend. „Umso mehr wir sind, desto geringer ist das Risiko, das wir überwältigt werden.“
 

„Nein“, unterbrach er sie. „Das genaue Gegenteil ist hier der Fall. Du kennst die Geschichte meines Landes und der Zwerge nicht. Seit Jahrhunderten sind wir Feinde.“ Fynn sah ihn mit fassungslosen Augen an. Bevor sie etwas sagen konnte, sprach er weiter. „Unsere Völker haben sich vor vielen Jahrhunderten bekämpft, bevor es zu einem schwankenden Frieden kam. Zu jener Zeit war mein Volk ebenfalls mit Helios im Krieg verwickelt. Die Zwerge waren schon damals mit den Rittern verbündet und zogen mit ihnen in die Schlacht. Nach dem Friedensbeschluss zogen beide Seiten sich zurück und begannen mit dem Wiederaufbau unserer Städte. In dieser Zeit kam es in den bergen immer wieder zu Auseinadersetzungen zwischen meinem Volk und der Zwerge.“
 

„Das… das hab ich nicht gewusst“, stotterte Fynn, während sie Lorgrens mit großen Augen ansah.
 

„Kaum einer weis das aus deiner Heimat“, meinte er leicht hin. „Nur die Zwerge und die Jerisanen wissen das noch. Deshalb sieht man so selten jemanden aus meinem Volk in den Bergen. Die Zwerge lassen uns kaum passieren.“
 

„Aber wie bist du dann hindurch gekommen, um mich zu finden?“, wollte das Mädchen wissen, dessen Neugier geweckt worden war.
 

„Ich hab darauf geachtet, dass ich keinem Zwerg über den Weg laufe“, erzählte er ruhig. Sein Blick fiel auf das Lagerfeuer, wo die drei Zwerge allein saßen und sich unterhielten. „Doch nun wird es schwer werden, durch die Wüste zu kommen. Meine Leute lassen genau so wenig Zwerge durch die Wüste ziehen. Jeder Jerisane, der seine Heimat liebt, wird sich auf unsere Gefährten stürzen und versuchen sie zu töten oder die Krieger alarmieren.“
 

Lorgren sah den Schreck, der in den Augen des Mädchens geschrieben stand. Sie hatte wirklich nicht gewusst, was sie da angerichtet hatte. Doch der Fehler konnte noch behoben werden. Im Außenposten der Zwerge konnten sie die drei Bärtigen zurücklassen und ihnen mitteilen, dass sie von dort aus alleine zu Recht kommen würden. Fynn und er wären ein wesentlich schwerer zu finden sein, als mit den drei Zwergen zusammen, die die kalte Bergluft gewohnt waren, während der Jerisane in der Hitze der Wüste aufgewachsen war.
 

Er teilte Fynn seine Gedanken mit und sie erwiderte: „Wenn ich dadurch verhindern kann, das den dreien nichts passiert, werde ich deinem rat folgen.“ Das Mädchen klang nicht sehr erfreut die drei Zwerge wieder zurück zu schicken. Lorgren wusste, das sie mit einem der Zwerge bereits Freundschaft geschlossen hatte. Die beiden hingen praktisch immer zusammen und das Mädchen lauschte den Geschichten des alten Zwerges voller Interesse. Doch sie verstand, wie wichtig es für ihre Mission war, das sie nicht auffielen. Ein Mann, der mit einer Halbork reiste viel schon genug auf, doch mit drei Zwergen zusammen noch mehr. Fynn könnte er als Dienerin ausgeben, denn sein Volk hielt sich gelegentlich Halborks als Diener oder gar Sklaven.
 

Zufrieden nickte er. „Gut“, sagte er zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter, worauf sie ihn ansah. „Morgen werden sie davon in Kenntnis setzen.“
 

„Das ist nicht mehr nötig“, erklang eine strenge Stimme. Valzar war zurückgekehrt und stand nun nicht weit ab von den beiden. Er hatte die stämmigen Arme in die Hüften gestemmt und sah beide mit ernster Miene an. „ich habe eure Worte vernommen, Mann aus der Wüste, und respektiere eure Sorge um das Leben der Hüterin, wie auch die Sorge des Mädchens um unser Leben. Doch würde ich davon abraten, uns einfach zurück zu lassen.“
 

„Und wieso sollte ich das?“, fragte Lorgren grimmig. „Mein Auftrag lautet, sie sicher in meine Heimat zu bringen. Doch mit drei Zwergen im Schlepptau wird das schwer werden.“
 

„Ganz einfach“, sagte der Zwerg und trat näher heran. „Weil ich dabei bin.“
 

Lorgren legte die Stirn in Falten. „Was meinst du damit, Zwerg?“, wollte er wissen.
 

„Weil ich der König von Thador unter dem Berg bin.“
 

***
 

Die Enthüllung des Zwerges hatte den ganzen Trupp überrascht. Selbst die beiden Zwerge wurden vollkommen von der Information überrumpelt, dass ihr König mit ihnen gereist war. Flint schien nicht allzu überrascht zu sein, doch deutlich sah man ihm den Schock an, der ihm ins sonst so harte Gesicht geschrieben stand. Der Zwergenkönig hatte Lorgren und Fynn erklärt, das er noch all zu bekannt unter seinem Volk war, weil er erst seit einem Winter der König über sein Volk war. Sein ehrwürdiger Vater, Valzarban Drachenhammer, war vor einigen Monaten bei einem Kampf mit den wilden Schwarz-Orks ums Leben gekommen und hatte seinem einzigen Sohn den Thron überlassen.
 

Nun saßen alle vor dem Feuer, während Valzar, nun in der Rüstung seiner Ahnen gehüllt, vor ihnen stand. Die Rüstung bestand aus Goldmithril, einer Mischung aus Gold und Mithril, die allein dem Zwergenvolk von Thador bekannt war. Die Rüstung schützte den Zwergenkönig von Kopf bis Fuß, gewährte ihm aber erstaunlich viel Bewegungsfreiheit, was sie einem kleinen Zauber zu verdanken hatte, der vor langer Zeit von einem Urahnen Valzars verwendet wurden war. Das Haar, das ihm sonst über den Rücken fiel, hatte er sich zu einem strengen Zopf flechten lassen, der nun über seinen Rücken fiel. Der Kopf wurde von einem Helm in der Form eines Drachenkopfes geschützt, der, wie der Rest der Rüstung, aus Goldmithril bestand. Den legendären Hammer seiner Sippe, Drakobans Drachenfaust, hatte sich der junge Zwerg auf den Rückengeschnallt.
 

„Ich glaub es einfach nicht“, murmelte Broko, als er seinen König vor sich sah, in all seiner Pracht. „Mein König reist mit mir, wie jeder andere. Und ich habe ihn sogar angepöbelt.“ Ein frustriertes Stöhnen entrang seiner Kehle, als er seine Hände beschämt vors Gesicht hielt.
 

Valzar winkte ab. „Mach dir deswegen keinen Kopf, Broko Nuggetbeiser“, meinte der Zwergenkönig leicht hin. „Das kann jedem passieren: Außerdem stört es mich nicht.“
 

Lorgren, der hinter Fynn Stellung bezogen hatte, sah zu dem Zwergenkönig und fragte unverwandt: „Was hat euch aus euren Hallen nach Zwergenstein getrieben, König der Zwerge?“
 

Valzar sah den Mann aus der Wüste offen an. „Ein alter Brauch, der bei meiner Familie üblich ist“, erklärte er. „Ein jeder Drachenhammersohn muss, sobald er die Krone auf dem Haupte trägt, ein Jahr in die Ferne ziehen und sich den Thron verdienen.“
 

„Er muss als Held zurück kehren“, meinte Flint, der an seiner Pfeife zog. „Ein alter Brauch, an den sich einige Zwerge nicht einmal mehr erinnern. Musste dasselbe auch machen, um mir meinen Familiennamen zu verdienen.“
 

Broko schnaubte abfällig. „Ein veralteter Brauch“, meinte er abfällig. „In meiner Familie war er nie geläufig.“
 

„Das liegt daran, dass deine Familie nicht so alt ist wie die meine oder die unseres Königs“, erklärte Flint, der weit älter war als Broko. Er sah hinüber zu seinem König und fragte: „Aber wieso wart ihr in Zwergenstein?“
 

Valzars Blick fiel auf Fynn, die ihn mit großen Augen ansah. „Wegen ihr“, sagte er.
 

„Wegen mir?“, fragte Fynn, die nicht wusste, was sie davon halten sollte.
 

Der Zwergenherrscher nickte. „Vater Barador hat es vorausgesagt“, brummte Valzar Drachenhammer. Er sah die anderen an und fuhr fort zu erzählen. „Eines Nachts ist ihm ein Diener Bartaxs erschienen und hatte ihm von der Ankunft der Hüterin des Herzschwertes berichtet. Doch den genauen Zeitpunkt hatte er ihm verschwiegen. Der ehrwürdige Priester hatte meinen Vater davon berichtet und ich hatte die Aufgabe, sie willkommen zu heißen. Als ich dann aufbrechen wollte, wurde mein Vater getötet. Ich wurde gekrönt und musste in die Ferne ziehen, um als Held zurück zu kehren. Daher entschloss ich mich, dem Wunsch meines Vaters zu entsprechen und die Hüterin willkommen zu heißen.“
 

„Und schließlich habt ihr euch entschlossen, ihr zu folgen, egal wo ihr Weg sie hinführen würde“, endete Lorgren für den Zwerg, der zustimmend nickte.
 

„Sie soll aus dir einen Helden machen“, erkannte Flint. Der Blick des alten Zwerges hing an dem Zwergenkönig.
 

Verlegen nickte Valzar. „Ja“, gestand er dun sah Fynn entschuldigend an. „Ich wollte nicht dein Vertrauen missbrauchen, Hüterin.“
 

Bevor Fynn etwas sagen konnte, mischte sich Lorgren ein. „Das hätte dir früher einfallen können, Zwergenkönig“, knurrte er Valzar an, der seinem zornigen Blick standhielt.
 

„Lorgren“, rügte Fynn den Jerisanen.
 

„Nein, Fynn“, unterbrach er sie. „Selbst ein König, egal von welchem Volk, hat nicht das Recht, jemanden einfach für seine Zwecke zu missbrauchen.“
 

„Du gehst zu weit“, knurrte Broko, der seine Axt zückte und aufsprang. Lorgren zog in einer fließenden Bewegung seinen Krummsäbel und machte sich auf den Angriff des Zwerges gefasst, der die Ehre seines Königs mit seinem Blut rein waschen wollte.
 

Schnell schritt Valzar ein und bellte: „Runter mit deiner Axt!“ Sein Untertan sah ihn ungläubig an und wollte etwas erwidern, doch der Zwergenherrscher schnitt ihm das Wort ab. „Er hat Recht. Ich habe egoistisch gehandelt. Selbst mir ist es nicht erlaubt, jemanden für meine Zwecke zu benutzen.“ Sein Blick fiel auf Fynn und er ging vor ihr in die Knie. „Kannst du mir verzeihen, Hüterin?“
 

Fynn sah den Zwerg verlegen an. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Kein König sollte sich vor ihr, einem einfachen Mädchen, verneigen. Sie stand auf und zog Valzar auf die Beine. „Ich verzeihe dir, aber bitte geh nie wieder vor mir in die Knie“, bat sie ihn. „Kein König soll sich vor mir verneigen.“
 

Der Zwerg räusperte sich verlegen und meinte: „Nun gut. Aber dann bitte ich dich, mich in deine Dienste zu stellen. Ich will so meine Tat sühnen.“
 

Fynn sah unsicher zu Lorgren. Nun wollte sie vorher seinen rat einholen, bevor sie sprach. Nicht noch einmal sollte er wütend auf sie sein, weil sie zu voreilig gehandelt hatte. Der Jerisane erwiderte ihren Blick. Er nickte leicht, um ihr zu verdeutlichen, dass sie nun selbst entscheiden müsste. Hier war allein ihr Wille wichtig. Schließlich handelte es sich um einen König, der sich ihr beugen wollten, und kein einfacher Krieger, der sich ihr aufschwatzen wollte.
 

Als sie wieder ihren Blick auf den Zwergenkönig richtet, sah er sie mit bittenden Augen an. „Ich“, sie stockte, „ich würde mich glücklich schätzen, wenn du mit deinen Männern mich bis zum Rand der Berge begleiten würdest.“
 

Valzar richtete sich auf und nickte. „Wie du wünschst, ehrenwerte Hüterin“, brummte er einverstanden.
 

Fynn wand sich wieder Lorgren zu. Der Wüstenreiter nickte ihr anerkennend zu. Innerlich freute sie sich und sogar ein lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Endlich hatte sie etwas getan, was den Mann aus der Wüste zufrieden gestellt hatte. Ihr Anhänger erwärmte sich wieder und sie spürte sich wieder geborgen in der Nähe des Mannes. Sie beschloss für sich, immer erst den Rat des Jerisanen einzuholen, bevor sie eine Entscheidung fällte. Sie würde sich von ihm leiten lassen, wie von einem Lehrmeister, der ihr seinen Unterricht näher brachte.
 

„Ich schlage vor“, erklang Flints Stimme, „dass wir uns alle zur Ruhe legen. Die Ereignisse dieser Nacht haben uns doch alle recht überrascht.“
 

Lorgren nickte. „Gut. Ich werde mich auf meine Wache begeben.“
 

„Ich komme mit“, brummte Valzar.
 

„Aber mein König!“, empörte sich Broko. „Das ist keine Aufgabe für euch.“
 

„Ach halt den Mund“, knurrte Valzar. „Ich bin nicht nur ein König, sondern auch ein Krieger. Und als solcher kann ich auch Wache halten. Also werde ich das auch tun, wie jeder andere auch. Leg dich hin und nerv mich nicht weiter, Broko Nuggetbeiser.“
 

Dem Zwerg klappte vor Überraschung der Mund auf dun er brachte kein Wort über die Lippen. Flint amüsierte sich darüber, während Fynn zum Zelt hinüber ging und für die Nacht zurückzog. Sie würde wieder die einzige sein, die sich vor der Wache drücken würde. Und im Moment war es ihr sogar ganz recht, denn die Ereignisse dieses Tages hatten sie müde gemacht und sie fiel schnell in einen tiefen Schlaf.
 

***
 

Die wellenlose Oberfläche des Blutes zeigte das schlafende Mädchen. Obrikhan grinste zufrieden. Sein Suchzauber wurde von mal zu mal immer effektiver. Nun hatte er auch feststellen können, wo sich die Hüterin des Herzschwertes aufhielt. Sie war in den Bergen des Antigas-Schlange-Gebirges unterwegs, in Begleitung des jerisanen und dreier Zwerge, von denen einer in eine goldene Rüstung gewandet war. Obrikhan vermutete einen König des bärtigen Volkes, war sich da aber noch nicht ganz sicher. Mit den Zwergen hatte er in all den Jahren nie viel zutun gehabt. Sie sahen für ihn sowieso alle gleich aus. Allein der Halbork galt sein Interesse.
 

Nach langer Suche hatte er sie endlich wieder gefunden. Für vier volle Tage war sie seinem Suchzaubern immer entgangen. Der Hohepriester vermutete, dass sie sich in irgendeinen Tempel der Zwerge versteckt haben mochte. Die dortigen Priester hatten durch ihre Gebete sicher verhindert, dass sein magischer Blick das Mädchen entdecken konnte. Diese heidnischen Kreaturen, hatte er immer wieder gefaucht. Doch nun wurde sie nicht mehr von Zwergengeistlichen beschützt. Nun war sie seinen Blicken wieder ausgeliefert.
 

Er hatte das Geschehen an diesem Abend genau beobachtet. Der Goldengerüstete Zwerg hatte sich vor die Gruppe gestellt und irgendetwas erzählt. Leider war der Zauber nicht in der Lage seine Worte wieder zu geben, aber das störte Obrikhan nicht. Er hatte sich allein auf seine Beobachtungen konzentriert. Ihm war nicht entgangen, dass sich die Halbork häufig in den Schutz des Wüstenmannes zurückgezogen hatte, wenn es ihr nur möglich war. Ebenso war ihm aufgefallen, dass die beiden immer wieder anderer Meinung waren und sich deshalb oft aus dem Weg gingen. Der welke Priester überlegte, ob man dies gegen die Hüterin verwenden konnte.
 

Rasch kam ihm eine Idee. Grinsend sah er das Bild der schlagenden Halbork an. Er setzte sich vor die Schale, die bis zum Rand mit Blut gefüllt war, und fing an zu singen. Es war ein aufwendiges Gebet an seinen geliebten Gott, das Obrikhan schon seit vielen Jahren nicht mehr intoniert hatte. Doch noch immer erinnerte er sich an die altern Verse, als hätte er sie erst heute von Skorm erfahren. Seine Stimme klang finster wie die Nacht und war so kalt und schneidend wie der eisige Wind seiner Heimat.
 

Während er sang, schob er einen Finger in das noch warme Blut, als wolle er die Halbork erreichen. Schließlich war es auch sein Ziel sie zu erreichen, doch nicht mit seinem Körper, sondern mit seinem Geist. Er wusste um seine abgrundtief schwarze Seele, die vom Gott der Eroberung und Zerstörung geformt worden war, bis sie seinen Wünschen entsprochen hatte. Er sendete Bilder aus seinem leben als Jünger Skorms, die Schlimmsten, an die er sich noch erinnerte.
 

Sie sollte sich in einem Alptraum verlieren und so ihr Leben aushauchen. Vor vielen Jahren hatte er denselben Zauber gegen einen Zauberer ausgesprochen, der einen Eroberungsfeldzug Otomors massiv gestört hatte. Der Magier war wahnsinnig geworden und musste schließlich von seinen eigenen Männern gestoppt werden, damit er nicht ihr Feldlager vernichtete. Obrikhan glaubte, das es auch bei dem Mädchen wirken würde. Schließlich war sie von schwachem Verstand und würde den brutalen Bildern Obrikhans keinen Widerstand liefern können.
 

Zufrieden stellte er fest, dass sie sich bereits im Schlaf zu winden begonnen hatte. Er schickte ihr das Bild eines Kleinkindes, dem er vor Jahren das noch schlagende Herz aus der Brust geschnitten hatte, weil seine Eltern nicht an den allmächtigen Skorm geglaubt hatten. Das Gesicht der Halbork verzerrte sich vor Abscheu. Zufrieden mit dem kleinen Erfolg, sendete er ihr bereits das nächste Bild. Eine junge Frau, die von ihm und zwei Mitbrüdern auf übelste Weise geschändet worden war, bis sie vor Erschöpfung gestorben war. Wieder wand sich das Mädchen im Schlaf und kalter Schweiß lief ihr über die Stirn.
 

Obrikhan konnte sich die Qual der Hüterin vorstellen. Niemand konnte seiner schwarzen Seele widerstehen. Schon viele hatte er in den Wahnsinn getrieben, allein mit den abartigen Bildern seines Gedächtnisses. Und auch sie würde nicht davon kommen, schwor er sich.
 

Das Bild eines Mannes, der von einer wilden Bestie zerrissen wurde folgte als nächstes. Dann eine Frau, die als Hexe auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Immer mehr Bilder hagelten auf die Halbork nieder, bis sie zu schreien begonnen hatte. Der welke Priester ergötzte sich an ihrer Qual und dankte seinem Gott für dieses wertvolle Gebet.
 

Er spürte schon, wie ihr Geist zu brechen begann, als plötzlich eine Gestalt im Bild erschien. Es war der Jerisane, der zu der Halbork stürzte und an den Schultern rüttelte. Doch sie wachte nicht auf. „Versuch es ruhig weiter, du Narr“, kicherte Obrikhan amüsiert. Es war bereits zu spät. Niemand vermochte mehr ihr zu helfen.
 

Übergangslos schlug das Blut Wellen. Der alte Priester riss voller Unglauben die Augen auf. Was geschah da so eben? Irgendwas oder wer störte den heiligen Zauber. Obrikhan sang wieder, diesmal intensiver, doch es half nichts. Irgendetwas störte erheblich den Zauber und ließ das Blut in der Schale unkontrolliert Wellen schlagen.
 

Mit einem Mal spritze das Blut aus dem Gefäß und traf Obrikhan. Der Oberste der Bruderschaft von Skorm fiel schreiend zurück und landete auf seinem krummen Rücken. Eine neuerliche Fontäne Blut spritze auf. Dann war alles vorbei.
 

Vorsichtig erhob sich der alte Priester und schlich zu der Schale. Das gesamte Blut war daraus hervor gespritzt und hatte sich auf dem Boden seiner Kammer verteilt. Obrikhan war fassungslos. So etwas war ihm in seinem ganzen Leben noch nie passiert. Er verstand nicht, was da vor gefallen war. Nur ein anderer, mächtiger Zauber hätte seinen aufheben können. Doch ihm war keiner bekannt. War vielleicht einer der Zwerge ein Priester? Unmöglich, entscheid er. Er hätte es gespürt, als er ihre Bilder studiert hatte. Doch wie war das nur möglich?
 

Allein Skorm konnte ihm das sagen.
 

***
 

Weinend hatte sich Fynn an die Brust des Jerisanen gedrückt, während er sie im Arm hielt und zu beruhigen versuchte. Das Mädchen war völlig aufgelöst. Ihr ganzer Körper zitterte unkontrolliert, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Ihre Augen waren vor Angst und Schreck geweitet.
 

Valzar sah ins Zelt. „Wie geht es ihr?“, fragte der Zwergenkönig besorgt.
 

Lorgren sah ihn nicht an, als er sprach: „Sie ist völlig aufgelöst. Irgendetwas muss sie zu Tode erschreckt haben.“
 

Valzar nickte verstehend. Er streckte Drakobans Drachenfaust ins Zelt und schloss die Augen. Der Wüstenreiter verstand nicht, was der Zwerg damit bezwecken wollte. Der junge Zwerg öffnete die Augen und brummte: „Irgendjemand hat einen Zauber auf sie geworfen. Einen ganz üblen.“
 

Lorgren starrte den Zwerg ungläubig an. Nun hatten die Häscher Otomors Fynn doch noch gefunden. Sie hatten auf magischen Weg nach ihr gesucht und erfolg gehabt, wie er feststellen musste. Der Angriff auf das Mädchen hatte ihm gezeigt, das er sie nicht beschützen konnte. Er war kein Magier, der ohne weiteres einen Zauberbann weben konnte, um seinen Schützling zu verteidigen. Wie sollte er sie nur beschützen?
 

Ihm fiel auf, dass ihre Brust wie Feuer brannte. Vorsichtig schob er sie von sich, doch Fynn drängte sich wimmernd an ihn und war nicht bereit sich von ihm zu trennen. Er schnaubte leise frustriert. Er versuchte es nicht noch einmal, um das Mädchen nicht noch mehr zu verängstigen. Schließlich bemerkte er, wie die Hitze allmählich schwand und nur noch ein wohlig warmes Glühen zurück blieb.
 

Sofort wusste der Wüstenreiter, woher das Glühen stammte. Der Anhänger in der Form eines Schwertes hatte seine Magie eingesetzt, um seine Trägerin zu beschützen. Doch wie war das möglich gewesen? Fynn war nicht bewandert auf den geheimen Künsten. Sie hatte bis vor kurzem nicht einmal das Geheimnis um ihr Erbe gekannt. Wie sollte sie da einen Zauber kennen?
 

„Was ist?“, fragte Valzar, der seinen Hammer aus dem Zelt gezogen hatte.
 

Lorgren sah ihn an und sagte: „Fynn ist nicht so wehrlos, wie wir gedacht haben.“ Als sein Blick auf das Mädchen fiel, war Fynn wieder eingeschlafen. Die Erschöpfung hatte sie überwältigt, doch nun wirkte sie ruhiger. Allein ihre Hände, die sich in den Stoff seines Hemdes verkrallt hatten, zeugten vor dem Vorfall.
 

Vorsichtig tastete der Jerisane nach dem Anhänger und hob ihn leicht an, so dass auch Valzar ihn sehen konnte. Der Zwerg musterte den Anhänger ehrfürchtig. Er erwiderte den Blick des Wüstenreiters und stimmte mit einem Nicken seinen Worten zu. Lorgren sah den Anhänger und fragte sich, wie viel macht dieser unscheinbare Gegenstand innehatte. Egal wie viel es war, er vermochte Fynn vor allem Übel zu beschützen und allein das zählte.
 

Für diese Nacht würde Lorgren über das Mädchen wachen, beschloss er und verkündete es auch Valzar, der ihm zustimmte. Der Wüstenreiter legte sich zu Fynn und schloss sie in den Arm, damit sie sich weiterhin sicher fühlen konnte und den Schlaf der Gerechten finden konnte.
 

***
 

Fynn erwachte, als sie die Stimmen der geschäftigen Zwerge vernahm. Vorsichtig öffnete sie die Augen und blinzelte etwas. Langsam erhob sie sich, verharrte mitten in der Bewegung und sah neben sich. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Lorgren! Der Wüstenreiter lag schlafend neben ihr und sein Arm lag um ihre Hüfte. Fynn schoss die Röte ins Gesicht. Was machte er bei ihr? Hatten sie etwa…?
 

Nein, rügte sie sich. Sie erinnerte sich wieder an den Alptraum von letzter Nacht. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. Nie zuvor hatte sie so einen abartigen Traum gehabt. Sie hatte gesehen, wie ein alter, faltiger Mann einem Kleinkind vor den Augen seiner Eltern das Herz aus dem Leib gerissen hatte und noch viel widerwärtige Bilder. Diese Bilder geisterten noch jetzt durch ihren Geist, ließen sie innerlich würgen. Und immer war derselbe Mann der Täter gewesen. Ein alter Mann, dessen Gesicht so runzlig war, das man seine Haut auseinander ziehen konnte. Seine Augen waren klein und hinterhältig gewesen, während sein Lächeln von einer bösartigen Seele erzählte. Sie kannte diesen Mann nicht und sie wollte ihm auch nie begegnen, denn die Angst vor seinen Taten war tief verwurzelt und hätte ihr den Verstand geraubt, wenn da nicht eine tiefe Wärme erschienen wäre.
 

Eine gestalt war erschienen und hatte Fynn schützend in seine Arme genommen. Die herzliche Wärme, die von der Gestalt ausgegangen war, hatte sie sich sicher fühlen lassen. Bilder, die ihr zu nahe gekommen waren, wurden von der Wärme einfach verbrannt, als würden sie bloß aus einfachem Papier bestehen. Als sie aufsah, um ins Gesicht ihres Retters zu sehen, war sie erwacht und hatte unter einem Vorhang von Tränen Lorgren erkannt, der sie an der Schulter gerüttelt hatte. Sofort hatte sie sich schluchzend an den Wüstenreiter geklammert und Schutz bei ihm gesucht. Die Wärme war geblieben und hatte zu ihrer Beruhigung beigetragen, bis das Mädchen schließlich an der Brust des Jerisanen eingeschlafen war. Den Rest der Nacht hatte sie traumlos überstanden.
 

Hatte Lorgren die ganze Nacht bei ihr verbracht, fragte sie sich, während sie das ruhige Gesicht des Mannes betrachtete. Sein Gesicht wirkte so unschuldig im Schlaf, das sie sich unwillkürlich fragte, wie dieser Mann am Tage immer so ernst und verbissen drein sah. Lorgren wirkte so völlig anders, als sie ihn kannte.
 

Unwillkürlich überkam sie der Drang, sein Gesicht zu berühren, bevor die Maske des kalten Kriegers wieder darauf erschien. Vorsichtig streckte sie die Hand nach Lorgren aus. Sie zögerte, als seine Wange nur wenige Zoll von ihren Fingern entfernt war. Sollte sie dies wirklich machen? Was würde Lorgren von ihr denken?
 

Diese Entscheidung traf der Jerisane selbst. Seine Augen klappten auf und sahen die Halbork an. Das Mädchen erschrak und ihr herz klopfte wie verrückt vor Überraschung. Der Mann aus der Wüste erhob sich von seinem Lager, zog dabei seinen Arm zurück und blinzelte etwas. Als er sie wieder ansah, fragte er: „Hast du gut geschlafen?“
 

Wieder war er der kalte Krieger geworden, seufzte Fynn innerlich. Sie nickte. „Ja“, sagte Fynn leise, während sie sich allmählich beruhigte. Sie bedauerte es, dass er erwacht war. Er hatte so friedlich gewirkt, als er geschlafen hatte. Das Bild hatte sich in ihren Geist gebrannt und würde ihr noch lange in Erinnerung bleiben. Schnell fügte sie hinzu: „Danke.“
 

Lorgren betrachte sie eine Weile, bevor er nickte und aus dem Zelt krabbelte, um den Zwergen zu helfen. Fynn sah dem Wüstenreiter bedauernd nach. Gerne hätte sie mehr als nur ein Wort mit ihm gewechselt, ihm gesagt, wie dankbar sie ihm wirklich war, dafür, das er sich um sie gekümmert hatte und in der Nacht über sie gewacht hatte. Doch er hatte sich mit einem einfachen Danke zufrieden gegeben und war gegangen.
 

Fynn suchte nach ihrem Anhänger und zog ihn aus dem Hemd, als sie ihn fand. Sie spürte die wohltuende Wärme, die noch von Lorgrens Nähe herrührte. Nur langsam erkaltete sich der Anhänger, bis nur noch ein Hauch von dem da war, was Fynn eben noch gespürt hatte. Sie sah das Erbstück an und seufzte leise. Sie wünschte sich, sie könnte irgendwie die Wärme des Mannes im inneren des Anhängers bewahren. Leider war dies ihr nicht möglich. Allein seine Nähe konnte ihr das Gefühl von Sicherheit und Ruhe geben.
 

***
 

Obrikhan saß im gepolsterten Sessel seines Arbeitszimmers und sah über den großen Schreibtisch zu den zwei Männern, die die Kleider der Klingen Skorms trugen. Ihre Gesichter lagen in den Schatten der Kapuzen ihrer Umhänge verborgen, wie es üblich war für ihren zwielichtige Orden. Doch wusste der Oberste der Bruderschaft, dass ihre Blicke auf ihm ruhten. Er konnte es deutlich spüren.
 

Der rechte Mann war mit einem muskulösen und hünenhaften Körper gesegnet, während der linke vergleichsweise schlaksig wirkte und von gewöhnlicher Größe war. Der rechte Mann trug kein Hemd, sondern nur eine schwarze Weste, die einen Blick auf die Tätowierung auf seiner Brust gewährte. Ein Totenkopf, der von einer purpurnen Sonne umrahmt wurde. Seine Beine wurden von einer nachtschwarzen Hose bedeckt, während seine Füße in ledernen Stiefeln steckten. An seinem Gürtel hing ein Morgenstern mit bösartigen Stacheln. Der andere war komplett in Schwarz gewandet. Er sah wie jeder andere Meuchler der Klingen aus. An seinem Gürtel baumelten zwei Kurzschwerter, von denen Obrikhan wussten, das sie über eine ganz besondere Gabe verfügten.
 

Nachdem der Oberste seinem Zorn die ganze Nacht über Luft gemacht – ein Novize hatte dabei mit einem Auge bezahlen müssen, als er seinen Obersten beruhigen wollte – und bei Skorm Trost gesucht hatte, hatte er die beiden Skormklingen zu sich rufen lassen. Die beiden Männer waren unter ihren Ordensbrüdern die besten Krieger und Meuchler und verfügten jeder über Gaben, die es ihnen bisher immer erlaubt hatten, ihre Aufträge zur vollen Zufriedenheit Skorms zu erfüllen. Sie standen in der Gunst des Zerstörers und Eroberers.
 

Obrikhan ließ einen Novizen eine Schale mit Blut bringen. Als diese ihm gereicht wurde, stellte er sie vorsichtig auf den Tisch und berührte die Oberfläche mit einem seiner knochigen Finger. Die Berührung ließ Wellen entstehen, die sich rasch wieder legten. Da Obrikhan zurzeit die Halbork nicht ausfindig machen konnte, ließ er ein Bild aus seinen Erinnerungen erscheinen. Schnell war das Bild erschienen.
 

„Seht sie euch genau an“, wies er die beiden Meuchler an. Die Skormklingen traten an den Tisch und sahen in die Schale, wo das Bild der Halbork zu sehen war. Der muskulöse Mann knurrte bedrohlich, als wäre er mehr Tier, als Mensch. Der andere betrachtet ruhig das Bild und merkte sich jede Einzelheit ihres Gesichtes. „Merkt euch ihr Gesicht. Ihr werdet sie in der Wüste von Jeris finden. Diese Missgeburt muss sofort ausgeschaltet werden. Es ist Skorms Wille.“
 

„Für Skorm“, pflichtete der Hüne dem Obersten bei und nickte heftig.
 

„Für den Zerstörer und Eroberer“, sagte der Schlaksige und senkte respektvoll das Haupt.
 

Zufrieden nickte Obrikhan. „Geht und findet sie“, sagte er grinsend. „Bringt sie zu mir, damit wir ihr Herz Skorm opfern können.“
 

„Herz“, knurrte der muskulöse Mann hungrig und der Oberste sah, wie dessen Augen vor Gier aufblitzten.
 

„Ganz ruhig“, meinte der andere und legte eine behandschuhte Hand auf die breiten Schultern des anderen. Er wand sich seinem Herrn und Meister zu und sagte: „Wir sind für die Jagd bereit, mein Oberster.“
 

„Sehr gut“, kicherte der greise Hohepriester und rieb sich die welken Hände begierig. „Dann geht und findet sie rasch. Umso schneller ihr sie hier her bringt, desto besser.“ Bevor beide ginge, fügte er hinzu: „Und es soll nicht euer Schaden sein. Wenn ihr das Mädchen zu mir gebracht habt, erhaltet ihr alles, was ihr wünscht.“
 

Die beiden Meuchler wechselten einen Blick und nickten dem alten Mann zu, bevor sie gingen. Obrikhan sah ihnen nach, auch, als sich die Tür den beiden schloss. Er hatte gut daran getan, diese beiden zu wählen. Mit ihren Fähigkeiten und Talenten würden sie die Hüterin schnell finden und zu ihm bringen. Skorm wäre überaus erfreut über das Opfer, wie auch der Imperator, der mehr als einmal klar gemacht hatte, wie viel ihm am Tot des Mädchen lag.
 

Er würde beide zufrieden stellen, wie er es gewohnt war. Mit diesen Gedanken nahm er die Schale und trank das Blut, um sich an dem Lebenssaft einer Jungfrau gütig zutun und daraus neue Kraft zu schöpfen.
 

***
 

Als die Sonne am Mittagshimmel stand, sahen Fynn und ihre Gefährten von einem großen Plateau auf die Weiten der Wüste von Jeris herab. Das Mädchen konnte nicht fassen, wie viel Sand da vor ihren Augen lag. Lorgren hatte ihr erklärt, das die Wüste ein Meer aus Sand war, doch sie hätte sich nicht mal im Traum vorstellen können, wie weitläufig die Wüste doch war. Bis zum Horizont erstreckte sich der Wüstensand und sie ahnte, dass sie noch weit darüber hinausging. „Ein halbes Jahr würdest du brauchen, um an ihr Ende zu kommen“, hatte Flint erzählt und Lorgren hatte dem alten Zwerg zugestimmt. Fynn konnte es einfach nicht glauben. Ein Land aus Sand.
 

„Morgen müssten wir unten in Sandstein sein“, brummte Flint neben ihr. Ein Zehntag war bereist verstrichen, seit dem Alptraum. Ohne weitere Vorfälle waren sie vorangekommen, hatten dabei weitere Schleichwege der Zwerge genutzt, um noch näher an ihr Ziel zu kommen. Und nun brauchten sie nur noch einen Tag, bis sie Sandstein, den Zwergenaußenposten, erreichen würden.
 

Lorgren, der neben dem Zwerg stand, spähte in die ferne Wüste. Fynn konnte es ihm deutlich ansehen, das er sich auf die Heimkehr freute. Zu lange hatte er im eisigen Westen, wie er es nannte, verbracht. Seine Welt war der Wüstensand und seine heiße Sonne. Sein Hengst hatte bereits freudig gewiehert, als der erste warme Wind sein Fell gestreift hatte. Das Tier wusste ebenfalls, das es schon bald wieder durch den Wüstensand laufen konnte.
 

„Können wir nicht schon heute Abend da sein?“, fragte Lorgren, als er den Zwerg neben sich ansah.
 

Broko schnaufte hinter ihm. „Sicher doch“, meinte er. „Aber dafür müssten wir einen Hang herunter klettern und die Tiere zurück lassen. Aber da du nur noch einen Arm hast, wird das wohl nichts.“ Der Zwerg grinste gemein.
 

Lorgren sah den Zwerg finster an. Die beiden hatten sich immer noch in den Haaren. Seit ihrer Abreise nutzte Broko jede Chance, um den Wüstenreiter zu reizen. Der Zwerg schien es regelrecht darauf anzulegen, mit Lorgren zu kämpfen. Fynn wusste um das Streitgespräch der beiden, das sie vor ihrem Aufbruch aus Zwergenstein gehabt hatten. Valzar hatte sie davon in Kenntnis gesetzt, als Broko und Lorgren sich einander finster angesehen hatten. Fynn wusste nicht, wie lange das gut gehen konnte. Sie wollte keinen Streit unter ihren Gefährten, denn alle waren ihr lieb und teuer.
 

„Nuggetbeiser, zügle deine Zunge“, knurrte Valzar Drachenhammer, als es dem Zwergenkönig zu viel wurde. Er trat zu den beiden und funkelte beide mit warnenden Augen an. „Wenn ich noch einmal einen so abfällig über den anderen reden höre, dann setzte es was. Verstanden?“ Beide nickten unwillig. „Gut. Und jetzt lasst uns weiter. Vielleicht schaffen wir es noch vor dem frühen Morgen den Außenposten zu erreichen.“
 

Die Gefährten steigen auf ihre Pferde und Ponys und ritten weiter. Flint, der sich in den bergen am besten auskannte und schon einige Male in Sandstein gewesen war, führte sie an. Hinter ihm ritten der Reihe nach Valzar, Fynn, Lorgren und Broko. Der weißbärtige Zwerg führte sie über eine alte Handelsstraße seines Volkes, die in ein grünes Tal führte. Die heimischen Tiere flüchteten vor den Eindringlingen, als diese beim Weiden auf der saftigen Wiese gestört hatten. Ohne davon Kenntnis zu nehmen ritt Flint auf seinem struppigen Bergpony weiter. Schon bald verließen sie das Tal und steigen weiter die Berge hinab.
 

Die Stunden verstrichen ohne, dass etwas passierte. Allein Broko beschwerte sich darüber, das nichts passierte. Flint, der sich zu Fynn hatte zurück fallen lassen, flüsterte ihr unter vorgehaltener Hand zu: „Er ist unausgeglichen. Zulange hat er keinen Kampf mehr gehabt.“
 

Fynn konnte ihm nur zustimmen. Broko war am Anfang der reise völlig aus dem Häuschen gewesen. Doch nun murrte er die ganze Zeit nur herum und ärgerte Lorgren, wo er nur konnte. Flint hatte sicher Recht. Broko war ein Zwerg und als solcher liebte er einen ordentlichen Kampf. Die Nuggetbeiser, Brokos Familie, war von allen Zwergen Zwergensteins die kampfwütigste, hatte Flint ihr erzählt. Wenn ein Kampf drohte, waren die Nuggetbeiser immer ganz vorne mit dabei und richteten den größten Schaden unter ihren Feinden an.
 

Der Abend brach heran. Flint wollte die Gruppe zur Rast halten lassen, doch etwas erregte die Aufmerksamkeit des alten Zwerges. „Leise“, zischte der Zwerg den anderen zu, die hinter ihm rasch die Waffen zogen. Etwas kam auf sie zu. Vorsichtig rutschten die Zwerge aus den Sätteln und machten sich auf einen möglichen Kampf gefasst.
 

Flint, der zwei Hämmer, einer golden, der andere silbern, als Waffen nutzte, kniff die Augen zusammen. Die Zwerge waren in der Lage im Dunklen genau so gut zu sehen, wie am Tag. Er entdeckte eine Gestalt, die sich schlürfend auf ihn zu bewegte. Als er erkannte, um was für ein Wesen es sich handelte, schob er die beiden Hämmer in seinen Gürtel zurück und eilte ihr entgegen. Die anderen folgten ihm rasch.
 

Als sie ihn erreichten, hielt er einen verwundeten Zwerg in den Armen. Drei Pfeilschafte ragten ihm aus dem Rücken. Sein Hemd und das Kettenhemd waren getränkt in sein Blut. Sein steinhartes Gesicht war blass wie Kreide. Sein Atem ging stoßweise.
 

„Was ist dir passiert, Junge?“, fragte Flint den anderen Zwerg.
 

Mühselig sah er den Weißbärtigen an. „Sandstein“, keuchte er schwach, „wurde… angegriffen. Sie… über die Mauer… Waren zu viele. Haben… haben alle getötet.“
 

„Wer hat euch angegriffen?“, drängte Valzar den verletzten und trat einen Schritt näher.
 

Der Zwerg sah den König seines Volkes an und seine Augen weiteten sich vor Staunen. „Schwarze…“, jappst er angestrengt, bevor er die Augen verdrehte. Kurz darauf starb er, in den Armen Flints.
 

Fynn wand sich ab, denn sie konnte den Anblick des Zwerges nicht weiter ertragen. Lorgren blieb an ihrer Seite, um die drei Zwerge mit ihrem toten Verwandten alleine zu lassen.
 

Broko kochte vor Zorn. Sein Gesicht hatte sich rot verfärbt und er biss die Zähne zusammen, dass es schon wehtat. Valzar senkte das Haupt und betete im Stillen für das Seelenheil des Zwerges, dessen Namen er nicht einmal gekannt hatte. Flint legte den Leichnam vorsichtig auf den Boden und stand auf. Auch er schloss die Augen, um für ihn zu beten.
 

„Diese Mistkerl“, knurrte Broko zornig, ballte die Hände zu Fäusten. „Das werden sie mit ihrem Blut bezahlen.“
 

„Beruhig dich, Broko“, brummte Flint mürrisch. „Das bringt uns jetzt auch nichts mehr.“
 

„Beruhigen? Man hat Zwerge getötet, Flint! Zwerge!“ Broko trat zu dem anderen Zwerg, bis sich beider Nasen aneinander pressten. „Ich werde diese Hunde jagen und jeden von ihnen töten!“
 

„Wir wissen nicht einmal, wer sie angegriffen hat“, meinte der alte Zwerg, ohne dem wutentflammten Blick des graubärtigen Zwerges auszuweichen.
 

„Na sicher wissen wir, wer es war“, hielt Broko dagegen. „Hast du ihn denn nicht gehört? Schwarze! Es waren diese verdammten schwarzen Orks! Diese schwarzen Teufel!“
 

„Das ergibt keinen Sinn“, meinte Valzar, der bis eben noch geschwiegen hatte. Er kniete neben den toten zwerg und rollte ihn auf den Rücken. „Seit wann stellen Orks so gute Pfeile her?“ Er wies auf die sauber geschnitzten Schäfte. „Das sieht mir eher nach Menschenwerk aus.“
 

Lorgren kam zu ihnen und kniete sich zum Zwergenkönig und sah sich ebenfalls die Pfeile an. Er nickte schließlich. „Ja“, stimmte er Valzars Vermutung zu. „Diese Pfeile wurden von Menschen gemacht und abgeschossen.“ Er sah die beiden anderen Zwerge an. „Aber ich weis nicht, wer euren Außenposten angegriffen haben mochte.“
 

„Das waren sich lausige Wüstenhunde“, knurrte Broko und sah den Jerisanen mit finsterer Miene an, als würde er an dem Tot der Zwerge schuld sein.
 

Schnell schritt Flint ein, bevor sein Freund eine Dummheit begann. „Das glaube ich weniger“, sagte der Zwerg, während er dafür sorgte, dass der graubärtige Zwerg nicht auf den Wüstenreiter losging. „Es gibt keinen Grund dafür, dass die Wüstenmenschen uns angreifen. Sie sind nicht an den Bergen interessiert.“
 

„Pah!“, schnaubte Broko. „Diese gemeinen Hunde wollen doch nur unser Blut vergießen. Die haben noch nie einen Grund fürs Morden gebraucht!“
 

„Wag es nicht so über mein Volk zu sprechen“, knurrte Lorgren den Zwerg an. „Wir sind keine Mörder.“
 

„Komm her, du elender Sandwühler“, herrschte Broko ihn an und wollte sich auf ihn stürzen, doch Flint hielt ihn fest. Valzar sprang vor und verhinderte grade noch, das Lorgren seinerseits auf den graubärtigen Zwerg losging.
 

„Lass mich los!“, brüllte Broko. „Ich werde diesem Mistkerl den Schädel einschlagen!“
 

„Ruhe!“, erklang die laute Stimme Fynns. Alle sahen überrascht zu dem Mädchen, das nicht weit ab von ihnen stand und mit Tränen in den Augen zu ihnen sah. „Bitte streitet nicht.“ Flehend sah sie jeden von ihnen an.
 

Valzar ließ Lorgren los, der ruhig stehen blieb, und ging zu Fynn. „Sie hat recht“, seufzte der Zwerg. „Streit und Beschuldigungen bringen uns hier nicht weiter. Wir müssen handeln.“
 

„Was schlägst du vor, Zwergenkönig?“, fragte der Wüstenreiter.
 

Er wand sich dem Mann aus der Wüste zu und sagte: „Wir gehen nach Sandstein.“
 

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6. Akt: Sandstein

Es gibt Momente im Leben,

Wo kein Wort einen Streit verhindern kann.

In solchen Momenten ist es immer gut ein Schwert zu tragen.

Leider sind diese immer häufiger geworden,

Das man sich nicht mehr ohne eine Waffe auf die Straße trauen kann.

In weiter Ferne wird es eine Zeit geben,

Wo man seine Waffe im Haus liegen lassen kann.

Doch es ist noch ein weiter bis dahin und

Ich werde meinen Teil dazu beitragen.
 

Arthur Helegan,

Kleriker der Kir aus den östlichen Hochländern
 

***
 

Der Morgen graute, als die Gefährten Sandstein erreichten. Nachdem sie den Leichnam des Zwerges zur Ruhe gesetzt hatten, waren sie sofort aufgebrochen, um zum Außenposten zu gelangen. Sie waren die ganze Nacht über unermüdlich durch geritten. Nun standen sie vor den Mauern des Zwergenaußenpostens. Das zu den Bergen führende Tor stand angelweit offen. Schnell waren die Zwerge in den Außenposten gestürmt und standen nun vor einem Bild der Zerstörung.
 

Die Häuser, die aus Sandstein bestanden, teilweise sogar aus Holz und Lehm, waren zerfallen oder bis auf die Grundmauern nieder gebrannt worden. Kaum eins der Häuser stand noch in seiner ursprünglichen Form an Ort und Stelle. Kalter Rauch stieg von einigen der Trümmer auf. An einigen Stellen war die Mauer eingerissen worden, wie die Zwerge herausfanden. Überall lagen tote Zwerge, allesamt tapfere Krieger, die eins dafür gesorgt hatten, dass keine Banditen oder Ungeheuer strömten.
 

Fynn bemitleidete ihre drei bärtigen Gefährten. Sie konnte die drei Gefährten gut verstehen, hatte sie selber einen lieben Menschen verloren. Wie gerne hätte sie ihnen Trost zugesprochen, doch wie sollte es machen, wenn sie selber um die vielen Toten trauerte, die sie in den Überresten von Sandstein sah. Der einzige Trost, denn sie hatte, war, das keine Frauen und Kinder unter den Toten waren. Doch das würde die Zwerge nicht besser stimmen.
 

Valzar wand sich den andern zu. Er hatte eine steinharte Miene aufgesetzt, die verhindert, dass man ihm seinen Schmerz ansehen konnte. „Wir müssen in Erfahrung bringen, wer das angerichtet hat“, brummte er emotionslos. Er schulterte den Drachenhammer und sah die anderen streng an. „Los, auf mit euch.“
 

Flint und Broko hatten auf einer Bank gesessen, die als eine der wenigen nicht zerstört worden war. Flint nickte und erhob sich, während der andere Zwerg sich mit wesentlich mehr Mühe in Bewegung setzte. Man sah ihm am deutlichsten seinen Schmerz an. Denn er hatte in Sandstein einen Vetter gehabt. Seine Leiche hatten sie schon am Tor gefunden und der graubärtige Zwerg hatte lautstark um seinen Verwandten getrauert.
 

Lorgren trat zu Fynn und meinte: „Das gefällt mir nicht.“
 

Sie sah ihn verständnislos an. „Wie meinst du das?“, fragte sie den Wüstenreiter.
 

Er sah sie an. Sie sah die Sorge, die in seinen Augen geschrieben stand. „Es sind keine Aasfresser hier“, sagte er.
 

Flint hatte ihn gehört und sah sich misstraurig um. „Du hast recht“, meinte der Zwerg, der seine Hände auf seine Hämmer legte. „Es ist etwas zu leise hier.“
 

Broko schwang seine Axt vor sich und knurrte bedrohlich, während Valzar Drakobans Drachenfaust fester packte und verstollen umsah. Fynn trat zu Lorgren, sah sich dabei ängstlich um und hoffte. Nun merkte auch sie, wie leise es hier war. Nichts war zu hören. Kein Zwitschern von Vögeln, weder das Wiehern eines Pferdes oder dem Bellen eines Hundes. Es war totenstill.
 

Valzar sah zum Himmel und meinte: „Nicht mal ein Geier ist zu sehen.“
 

Flint konnte dem nur zustimmen. „Wir sind nicht allein“, brummte der Zwerg.
 

Schon hatte Lorgren seinen Krummsäbel in der Hand und suchte die Umgebung nach Gefahren ab. Fynn sah sich ängstlich um. Sie hoffte, das Flint kein Recht behalten würde. Der Gedanke an einen Kampf führte unweigerlich dazu, dass sie sich an Ian erinnerte, der bei ihrem ersten Kampf gegen die Schwarz-Orks sein Leben gegeben hatte, damit sie entkommen konnte. Es durfte nicht wieder dazu kommen. Sie wusste, das Lorgren und die Zwerge erfahrende Krieger waren, doch auch sie waren nicht unsterblich.
 

Die vier Krieger sammelten sich um die junge Halbork, nahmen sie in ihre Mitte, während sie sich langsam, Schritt für Schritt, aus Sandstein zurückzogen. Lorgren führte sie dabei, denn er würde die Gefährten, sobald sie aus dem Außenposten heraus waren, durch die Wüste führen.
 

Doch sie sollten nicht weit kommen. Ein gutturales Heulen erklang, das Fynn einen kalten Schauer über das Rückgrat jagte. Sie kannte diesen Kriegsruf nur zu gut, denn er war ihr in Erinnerung geblieben. Als sie sich umsah, entdeckte sie einen Schwarz-Ork, der auf der Wehrmauer stand, sein Schwert und den Schild in die Höhe hob und aus Leibeskräften brüllte. Aus den Ruinen Sandsteins schlichen, von dem Ruf des Orks angelockt, weitere Schwarz-Orks. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet und trugen Beutegut bei sich. Doch als sie die Gefährten sahen, ließen sie alles stehen und liegen, bis auf ihre Waffen, und umringten allmählich ihre Beute.
 

Broko knurrte. „Verdammte Brut.“ Man hörte ihm deutlich seine Wut an.
 

„Halt dich zurück, Broko“, wies Valzar den schnaubenden Zwerg an. „Wir dürfen nicht überstürzt handeln, nicht mit der Hüterin an unserer Seite. Sie braucht unseren Schutz.“
 

Brokos Gemüt kühlte etwas ab, doch gab er nur einen knurrenden Laut von sich. Valzar nickte zufrieden, währen er die Orks im Auge behielt, die sie mit gierigen Blicken anstarrten und denen der Speichel bereist aus den entstellten Mäulern lief.
 

„Wir müssen Fynn hier weg bringen“, sagte Lorgren ernst. „Sie ist hier nicht länger in Sicherheit.“
 

„Keine Angst, Wüstensohn“, meinte Flint ruhig, während er die Unholde im Auge behielt. „Wir passen auf sie schon auf. Bring uns nur in die Wüste.“
 

Lorgren nickte, obwohl er wusste, dass der alte Zwerg dies nicht sehen konnte. Vorsichtig führte er sie zum Tor weiter, wo sich nur spärlich Schwarz-Orks aufhielten. Die meisten waren aus den Häusern gekommen, die sie geplündert hatten, bevor die Gruppe eingetroffen war.
 

Der Ork auf der Wehrmauer schien ihr Vorhaben zu erahnen, denn er heulte auf, worauf die anderen Orks selbst in Geheul verfielen.
 

„Lauft!“, bellte Flint. Er hätte sich den Atem sparen können, denn schon, als der Ork seine Stimme erhoben hatte, hatten die anderen ihre Beine in die Hände genommen und eilten auf das Tor zu. Lorgren führte sie an, während Flint und Valzar Fynn von beiden Seiten deckten. Broko bildete die Nachhut. Sie stürmten auf das Tor zu, doch schon sprangen ihnen die ersten Orks in den Weg.
 

Lorgren wehrte mit seinem Krummsäbel die gezackte Klinge eines Orks ab. Schnell trat er dem Ork in den Wanst, der keuchend nach Luft rang und sich zusammen krümmte. Sofort folgte sein Knie und schmetterte gegen das Kinn des Orks, der benommen zurück taumelte. Lorgren folgte ihm nicht, denn schon der nächste Ork stürzte sich auf ihn.
 

Der Jerisane wich einem Seitwärtsgeführten Schwerthieb aus und stach selber zu. Die Klinge bohrte sich in den Hals der Kreatur. Gurgelnd ging sie zu Boden. Dort wand sich der Ork, bevor er schlaff am Boden liegen blieb.
 

Hurtig wich er zurück, als ein anderer Ork den Platz seines toten Verwandten einnahm und mit einer Axt nach dem Wüstenreiter schlug. Er entging der tödlichen Klinge nur um Haaresbreite, bevor er wieder einen Schritt vorwärts machte und mit seinem Krummsäbel zuschlug. Der Ork wehrte die scharfe Klinge mit seiner Axt ab und grinste überheblich. Lorgren ließ seine Klinge herum wirbeln und von oben herab auf den Axtgriff sausen. Das Holz konnte der Wucht des Schlages nicht standhalten und brach. Der Ork sah überrascht auf seine Waffe, bevor er den Blick hob, um der Klinge Lorgrens entgegen zu starren, die sich kurz darauf in seinen Schädel bohrte.
 

Als Lorgren sich nach Fynn umsah, sah er, das Flint und Valzar das Mädchen vor den heranstürmenden Orks beschützten. Schnell wand er sich um, denn weitere Orks drangen auf ihn ein und versuchten ihn zu überwältigen. Doch er würde sie nicht gewähren lassen. Schließlich hatte er einen Eid geschworen, Fynn mit seinem Leben zu beschützen und diesen würde er einhalten. Bis in den Tot.
 

***
 

Flint schmetterte einem Ork, der sich zu nah an ihn heran getraut hatte, mit seinem silbernen Hammer zu Boden. Bevor der Unhold aufstehen konnte, zertrümmerte der Hammerkopf ihm den hässlichen Schädel. Der Ork war auf der Stelle tot.
 

Schnell sprang der Zwerg hervor, um einem Schwarz-Ork den Weg zu Fynn abzuschneiden, denn die Kreatur hatte es eindeutig auf das Mädchen abgesehen. Der Unhold knurrte unwillig auf, als der Zwerg ihm den Weg versperrte. Mit seinem groben Speer stieß er nach dem Bärtigen, der geschickt auswich und mit seinem silbernen Hammer zur Seite schlug. Der Goldene schoss vor und traf das Knie des Orks, der schmerzerfüllt aufheulte und zurück hüpfte, da ihm Flint das Knie zerschmettert hatte.
 

Schnaubend stellte Flint fest, das sie von Feinden nur so umzingelt waren. Überall wo sein Blick hin schweifte sah er nur die Fratzen der gierigen Schwarz-Orks, die ihnen nach dem Leben trachteten. Für jeden, den sie töteten, nahm ein anderer seinen Platz ein und bedrängt sie. Obwohl er und seine Gefährten – bis auf Fynn – hervorragende Krieger waren, glaubte der alte Zwerg nicht, das sie diesen Tag lebend überstehen würden. Auf einen von ihnen kam mindestens zehn der entstellten Kreaturen, die dazu ausgeruht waren.
 

Schnell wehrte der Zwerg mit dem weißen Bart eine Axt ab, die auf seinen Kopf gerichtet worden war. Der Ork knurrte wütend, doch das Knurren blieb ihm in der Kehle stecken, als der silberne Hammer seine Luftröhre zerquetschte. Nach Luft ringend ließ der Ork seien Waffe fallen und ging in die Knie, während er mit seinen Händen seine kehle umklammerte und wie ein Fisch auf dem Land nach Luft zu schnappen versuchte. Flint gab sich gnädig und zertrümmerte den Schädel des Orks, damit er nicht zu lange leiden musste.
 

***
 

Mit einem Lied der Wut auf den Lippen schlug Broko einen Ork mit seiner Axt in zwei. Kurz darauf verlor ein übermütiger Ork seinen rechten arm und sein Leben. Ein weiterer wagte sich an ihn heran, schlug mit seiner Keule auf den Helm des Zwerges, doch der eiserne Kopfschmuck hielt locker dem Schlag stand. Brüllend hieb Broko dem Ork den hässlichen Kopf von den Schultern, wand sich bereits seinem nächsten Gegner zu, bevor sein letztes Opfer überhaupt auf dem Boden gelandet war.
 

Tief saß der Schmerz des Zwerges. In Sandstein hatten viele tapfere Zwerge, darunter sein Vetter Grandel, ihr Leben lassen müssen. Und nun hatte sich eine widerliche Ork-Sippe hier nieder gelassen und plünderten die Leichen und taten sich gütig an deren Leibern. Sein Zorn war ins unermessliche gestiegen.
 

Er schwor Rache für all die Zwerge Sandsteins. Rache an die Schwarz-Orks und die Mörder derer, die bis zum letzten ihre Heimat verteidigt hatten. Die Orks würden seine Rachegelüste für eine dämpfen, doch nie würden sie gestillt sein, bis er nicht die wirklichen Täter fand.
 

Brüllend stürzte sich ein Ork, der mit zwei Schwertern bewaffnet war, auf ihn. Eine der Klingen erkannte der Zwerg als Zwergenstück. Erneut flammte in ihm auf. Wie konnte es diese abartige Kreatur nur wagen, ein Zwergenschwert in die Hand zu nehmen? Ohne Probleme wehrte der Zwerg das erste Schwert des Unholds ab, doch die Klinge der Zwergenwaffe riss eine tiefe Wunde in seinen rechten Arm. Broko schnaubte bloß, bevor er den Griff seiner Axt ins Gesicht des Orks hämmerte. Die Nase brach mit einem lauten Knacken. Zufrieden heulend wagte sich der graubärtige Zwerg weiter vor und hieb mit seiner Axt zu. Der Brustkorb des Orks wurde vom Hals bis zu den Lenden aufgeschlitzt und dessen Innereien quollen aus der riesigen Wunde. Die dumme Kreatur versuchte diese aufzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Broko schlug wieder mit seiner Axt zu und erschlug den Ork vollends.
 

„Kommt her, ihr hässlichen Schweinefratzen!“, brüllte er herausfordernd den Schwarz-Ork zu, die in seiner Nähe standen. „Meine Axt verlangt es nach eurem schwarzen Blut!“ Die Orks wagten sich nicht an den vor Zorn brodelnden Zwerg heran. Sie sahen ihm deutlich seine Wut und Rachedurst an und das erschreckte sie. „Dann komm ich halt zu euch!“, verkündete er schließlich.
 

Mit einem wütenden Schrie auf den Lippen trennte sich Broko von seinen Gefährten und stürzte auf die Orks zu. Diese wichen zurück, doch der Zwerg erwischte einen von ihnen mit einem hoch geführten Hieb, der dem Ork den Oberkörper und die Kehle zerfetzte. Röchelnd ging sie zu Boden.
 

Die anderen Orks hielten respektvollen Abstand vor dem wütenden Zwerg. Er entfernte sich immer weiter von seinen Kameraden, bis er in der Mitte der widerlichen Meute war, die ihn nun umzingelte. In einiger Ferne hörte er Valzar etwas rufen, doch er verstand kein Wort, was der Zwergenkönig da sagte. Es war ihm sowie gleich. Er wollte nur das Blut der Orks vergießen, die sich erdreistet hatten eine Zwergensiedlung zu schänden. Und dies würde er ihnen nie verzeihen.
 

Ein lautes Knurren erregte seine Aufmerksamkeit. Als er sich umwand, starrte er direkt auf den Wanst eines riesigen Unholdes. Sein Blick wanderte weiter hoch und er kannte das Gesicht der Bestie, die ihm da entgegen stand. Ein Oger.
 

Der Oger gab heulte ungestüm und hob seine grobe Keule, einen jungen Baum, über den Kopf, um den Zwerg damit zu zerquetschen, doch Broko war zu flink für ihn. Die Keule zerschmetterte dafür einen unglücklichen Ork. Das grauhäutige Ungeheuer sah sich nach dem Zwerg um, doch immer wieder wich dieser seinem Blick aus.
 

Broko hatte schon oft gegen Oger gekämpft. Die großen Unholde waren in den Bergen genau so heimlich, sein Volk. Sie waren überaus dumm, fast schon dümmer als ein Ork, doch da war sich Broko sich selbst nie so sicher gewesen. Dafür waren sie schwerfälliger als die verunstalteten Unholde, aber dafür erheblich stärker. Zusammen mit seinem Wachtrupp hatte er viele Oger zur Strecke gebracht, bevor sie Schaden anrichten konnten. Doch alleine war er noch keinen von ihnen gegenüber getreten.
 

Wieder schlug der Oger nach ihm, doch der Zwerg konnte ausweichen. Als er näher an den Oger heran kam, hieb er auf einen der großen Füße des Monsters ein. Ein lauter Schrei löste sich aus dem Maul des Ogers, als Broko ihm einen Zeh abhakte. Noch bevor Broko zurück weichen konnte, traf ihn der verwundete Fuß des grauhäutigen Unholdes und warf ihn von den Beinen.
 

Broko keuchte schwer. Schnell öffnete er die Augen, doch da sah er schon die Ogerkeule, die auf ihn herab sauste. Wütend wollte er aufspringen, sich gegen die grobe Waffe stemmen, doch die Wucht des Schlages ließ es nicht zu. Der graubärtige Zwerg spürte nur noch, wie ein erdrückender Schmerz seinen Körper lähmt, dann war da nur noch Dunkelheit.
 

***
 

„Broko!“, schrie Valzar voller Entsetzen, als er sah, wie der Zwerg von der Oberkeule zerquetscht wurde. Die wilden Orks grölten begeistert auf, während der Oger seinen Sieg mit ausgestreckten Armen kundtat. Der Zwergenkönig starrte auf die Stelle, wo der zertrümmerte Leib Brokos lag. Doch wegen der vielen Orks, die ihm die Sicht versperrten, konnte er sich nur vorstellen, wie übel zugerichtet der andere war. Dennoch reichte allein der Gedanke an den toten Kameraden, das in dem jungen Zwerg der Zorn hell auf loderte.
 

Durch den Sieg des großen Unholds ermutigt, näherten sich die Orks wieder den anderen Gefährten. In ihren Augen stellten die zwei Zwerge, die Halbork und der einarmige Mensch keine wirkliche Gefahr da. Der wilde Zwerg war ja jetzt tot. Die mordlüsterne Horde näherte sich den restlichen Gefährten, die in einen engeren Kreis zusammen rückten.
 

„Verdammt“, hörte Valzar Lorgren neben sich murren. Kurz sah er zu dem Wüstenreiter und sah, dass dessen Blick auf das Tor gerichtet war, das aus Sandstein heraus führte. Die Orks hatten ihnen nun wieder den Weg abgeschnitten und es wurde deutlich, dass sie es ihnen nun nicht noch einmal so einfach machen würden, aus dem gefallenen Außenposten zu fliehen. Valzar schnaubte nur abfällig, dachte aber nicht ganz ähnlich wie der Mann aus der Wüste. Doch er würde sich nicht so schnell geschlagen geben. Innerlich schwor er Rache für den Tot des tapferen Broko Nuggetbeisers, der sein Leben für seine Gefährten gegeben hatte.
 

Sein Blick blieb auf den Oger hängen, der sich nun auf den Weg zu den verbleibenden Gefährten gemacht hatte. Dabei ebnete er sich unaufhaltsam einen Weg durch die Ork-Meute, die hungrig um die Eingekesselten standen und diese anknurrten und verhöhnten. Das Ungeheuer starrte hungrig auf sie herab, doch Valzar merkte sofort, das nicht alle vier von den Augen des Ogers erfasst worden war. Hinter sich bemerkte er Fynn, die sich panisch umsah, in der Hoffnung, einen Ausweg aus dem ganzen zu finden. Sofort wusste der Zwerg, dass der grauhäutige Unhold es auf die zierliche Halbork abgesehen hatte.
 

„Hüterin“, knurrte der junge Zwerg und erregte so ihre Aufmerksamkeit. Doch nicht für lange. Als sie sich zu ihm wand, blieb ihr der Oger nicht lange verborgen. Sie starrte voller Entsetzen zu dem großen Unhold, der ihnen immer näher kam und seine riesige Keule bereits zum Schlag erhoben hatte. „Lauf weg!“, befahl ihr der Zwerg, doch sie reagierte. Wie erstarrt stand sie da und sah mit großen Augen auf das sich nähernde Unheil.
 

Valzar fluchte innerlich. Wieso rannte sie nicht weg? Sie sah doch den Oger, der unaufhaltsam auf sie zukam, oder etwa nicht? Dann entsann er sich, dass das Mädchen bisher noch nie in den Bergen gewesen war. Er erinnerte sich an die Geschichte ihres ersten Zusammentreffens mit den Schwarz-Orks, bei dem auch einer ihrer vorherigen Gefährten sein Leben verloren hatte. Das musste der erste Oger sein, dem sie je über den Weg gelaufen war, schoss es ihm durch den Kopf, wie auch die Tatsache, das sie keine Zwergin war, die ja schon von Geburt an unerschrocken waren, wie die Männer.
 

Valzar richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Oger. Dieser war nun durch die Meute gestampft und seine stämmigen Beine brachten ihn schnell zu den gefangenen Gefährten. Das Ungeheuer reckte die Keule noch etwas weiter mehr in die Höhe und machte sich bereit seine Waffe auf den Zwerg nieder gehen zu lassen. Valzar machte sich bereit auszuweichen, doch er erstarrte selber. Fynn hatte sich immer noch nicht vom Fleck gerührt. Sie stand immer noch hinter ihm und sah den Oger voller Angst an. Er konnte sie doch nicht einfach von dem Oger erschlagen lassen. Sein Volk würde ihm das nie verzeihen, wenn er die Hüterin des Herzschwertes einfach sterben lassen würde, obwohl er sich ihr als Leibwächter angeboten hatte.
 

Ein blitzender Gegenstand erregte die Aufmerksamkeit des Zwerges. Er wirbelte um sich selbst, dass Valzar nicht erkennen konnte, um was es sich da genau handelte. Aber er erkannte, dass es direkt auf den Oger zu flog, der es erst bemerkte, als es schon zu spät war.
 

Die gekrümmte Klinge des Dolches bohrte sich in die linke Wange des Ungetüms, das überrascht, dann schmerzvoll aufbrüllte und seine Baumstammkeule fallen ließ, um an die Wange zu fassen. Valzar warf einen Blick über die Schulter und entdeckte Lorgren, der seinen Krummsäbel mit der Klinge voran in den Boden gestoßen hatte. Sein Arm war ausgestreckt, was darauf hinwies, das er es gewesen war, der den Dolch geschleudert hatte. Der Blick des Mannes aus der Wüste traf den des Zwergs. Dieser nickte leicht, bevor er sich wieder umwand.
 

Valzar knurrte leise, als er auf den immer noch grölenden Oger zu rannte. Er hielt dabei den Kopf seines Hammers nah an seine Lippen und mit fast zärtlicher Stimme flüsterte er dem Erbstück seiner Familie ein einziges Wort zu. „Drakoban.“ Der Drachenhammer reagierte sogleich auf den Namen des ersten Königs von Thador unter dem Berg. Die Runen im Hammerkopf fingen an blau aufzuleuchten, als die alte Magie in ihnen zu wirken begann. Rasch wurde der gesamte Hammer von dem blauen Leuchten erfasst.
 

Die nachstehenden Orks wichen ängstlich zurück, denn sie verstanden nicht, was da passierte. Sie waren zu dumm, um etwas von Magie zu verstehen. Valzar störte sich nicht daran. Er rannte mit Drakobans Drachenfaust, der Erbwaffe der Sippe Drachenhammer, unaufhaltsam auf den Oger zu, dabei einen lauten Kriegsschrei ausstoßend, wie die Unholde ihn seit langer Zeit nicht mehr gehört hatten. Der Oger sah auf, ließ den Dolch in seiner Wange stecken. Er hob seine Baumstammkeule, um dem Zwerg entgegen zu treten.
 

Valzar machte einen Schritt vor, doch wich er rasch zur Seite aus, al der Oger zu schlug. Die Finte hatte geglückt. Der junge Zwerg rannte um den Oger herum, der seine Keule erneut zum Schlag hob. Doch er kam nicht mehr dazu, diesen auch anzusetzen. Valzar ließ den Drachenhammer über dem Kopf kreisen und ließ den Hammerkopf schließlich mit voller Wucht auf die Kniekehle des Ogers donnern.
 

Ein lauter Knall ertönte, gemischt mit dem gepeinigten Aufschrei des Ogers. Die Magie des Hammers hatte das Knie des Unholds in Stücke gerissen und schleuderte den Unterschenkel quer durch die Luft. Das Monster verlor sein Gleichgewicht und stürzte vorwärts in den Dreck. Jammernd packte sich der Oger an den Beinstumpf, weinte gepeinigt und versuchte den Blutstrom zu stoppen, der ihm unaufhaltsam aus dem Bein floss.
 

Die Orks wichen noch weiter vor dem Zwergenkönig zurück, der den Hammer mit beiden Händen entschlossen hielt und auf den am Boden kauernden Oger starrte, der sich unter großen Schmerzen im Dreck wand. Doch das Gejammer stieß nicht bis zu dem jungen Zwerg mit dem feuerroten Bart zu. Nur Rache für den Tot Brokos war vorhanden und sie würde erst vergehen, wenn er den Kameraden und Untertan gerächt hätte.
 

„Drakoban“, murmelte Valzar erneut und der Hammer leuchtete rasch wieder auf. Mit Schwung holte er aus, hob den Hammer weit über seinen behelmten Kopf und sah auf den Oger herab, der von der Gefahr schon gar nichts mehr mitbekam. „Für Broko Nuggetbeiser!“, brüllte der stolze Zwergenkönig und ließ den Hammer nieder sausen. Die Explosion der Magie und das widerliche Knacken des Ogerkopfes hallte durch ganz Sandstein und drang jedem Anwesenden in die Ohren. Der magiegestärkte Schlag hatte den Kopf des Unholds wie eine Melone gespalten und dessen Inhalt regnete auf alle Nachstehenden herab.
 

„Ruhe in Frieden, Broko“, flüsterte Valzar dem Wind zu, während er den Hammerkopf aus der Maße befreite, die noch vor kurzem der Kopf eines Ogers gewesen war. Schnell wand er sich seinen Gefährten zu, die ihn atemlos entgegen sahen. Mittlerweile hatte sich Fynn aus ihrer Starre befreit und an den Wüstenmann geklammert, der wieder seinen Krummsäbel in der Hand hielt und die nahen Schwarz-Orks im Auge behielt. Flint sah seinen Herrscher voller Ehrfurcht an und senkte für einen kurzen Augenblick den Kopf, um seinen Respekt Valzar gegenüber zu zollen.
 

„Valzar!“, rief ihm Lorgren zu. Der Zwerg verstand sofort. Er stieß einen wütenden Schrei aus und verjagte so die nahen Orks. Diese wichen quiekend und in heller Panik vor dem Bärtigen zurück, hatten Angst seiner Waffe zu nahe zu kommen. Sofort rannte er zu seinen Gefährten und stellte sich an ihre Spitze. Ihm folgte Flint, dann Fynn und den Schluss bildete der Mann aus der Wüste. Allein mit seinem bösen Blick trieb der rotbärtige Zwerg sämtliche Orks zurück, die durch den Sieg des Zwerges verstört waren. Kaum ein Ork wagte sich nah genug an sie heran, das er einen Kampf eingehen würde. Die es wagten, wurden schnell nieder gestreckt.
 

***
 

Das Tor war schnell erreicht. Lorgren sah dennoch die Schwarz-Orks misstraurig an, die allesamt vor dem Zwergenkönig das Fürchten gelernt hatten. Diese Sippe war allgemein ziemlich schreckhaft, hatte der Wüstenreiter erkannt. Broko hatte sie schon in helle Panik versetzt. Er gedachte kurz des toten Zwergs, der trotz seines unversöhnlichen Charakters ein tapferer Krieger gewesen war. Und bei den Wüstenkriegern wurde Mut hoch geschätzt.
 

Die anderen schritten hurtig durch das Tor, während Lorgren ihren Rückzug deckte, obwohl es im Moment nicht nötig war. Die Orks trauten sich nicht an ihn heran, da sie den Zorn des Zwergenkönigs fürchteten. Dennoch blieb er wachsam. Es war nicht sicher, dass die Orks weiterhin eingeschüchtert blieben. Sie könnten rasch ihren Mut zurück gewinnen, indem sie sich ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit wieder bewusst wurden. Dann würde sie kein magischer Hammer aufhalten können, egal wie mächtig er auch wäre.
 

Ein Heulen lenkte seinen Blick nach oben. Erschrocken wich Lorgren zurück, rollte sich dabei ab und stand schon wieder auf den Füßen, als sein Gegner grade erst den Boden erreichte und ihm den Weg zu seinen Gefährten abschnitt. Lorgren sah ihn sich an und erkannte den Ork, der die anderen Orks aus den Ruinen Sandsteins gerufen hatte. Er war größer als seine Artgenossen, zudem auch wesentlich stämmiger. Er trug einen großen Zweihänder bei sich, den er nur mit einer Hand hielt. An seiner Kleidung und der Rüstung trug er unzählige, glänzende Dinge, wie Schmuck, Münzen, Gabeln und Messer. Er war eindeutig der Anführer der Sippe, dachte der Jerisane.
 

Die Spitze seines Zweihänders zeigte auf den Mann aus der Wüste und der Unhold grunzte und knurrte ihn in seiner primitiven Sprache an. Lorgren verstand kein einziges Wort, doch er konnte sich denken, was der Ork sagte. Etwa sollte er für die Leben seiner Männer büssen oder als Mahlzeit enden, weil das Zwergenfleisch zu zäh war.
 

Der Jerisane erwiderte nichts, denn es gab nichts zu sagen. Zudem würde ihn der Ork sowieso nicht verstehen. Der Schwarz-Ork stieß einen wilden Schrei aus und stürzte sich auf Lorgren. Der Mann aus der Wüste wich der niedersausenden Klinge rasch aus, ließ seine Klinge dafür vorschnellen, die auf die Kehle des Unholds gerichtet war. Der Ork wehrte die Klinge rasch ab und trat nach Lorgren. Doch dieser wich einfach aus und entging dem Tritt.
 

Lorgren machte einen Ausfallschritt, wirbelte dabei herum und schlug mit dem Krummschwert nach den Beinen seines Gegners. Der Ork grunzte abfällig, als er dem Schwertstreich auswich und konterte. Der Wüstenreiter rollte sich hurtig zur Seite ab, kam auf die Beine, musste aber wieder ausweichen, denn der Ork hatte ihm nach gesetzt und ließ die Klinge vorschnellen.
 

Der jerisane wehrte den nächsten Hieb tief ab und drückte die Klinge des Zweihänders zu Boden. Auch ohne Waffe war der Ork gefährlich, denn er stieß mit seiner Stirn gegen die Lorgrens. Sein Kopf wurde hart zurück gestoßen und er taumelte zurück. Der Schwarz-Ork heulte triumphierend auf und stürzte sich wieder auf sein vermeintliches Opfer. Doch der Einarmige war geschickter als der plumpe Ork. Wieder rollte er sich ab, sprang aber nicht sofort auf die Beine, sondern blieb auf den Rücken liegen. Der Ork stürmte wieder heran und wollte ihn mit seinem Zweihänder die Brust aufschlitzen, doch Lorgrens Krummsäbel kam ihm zuvor.
 

Ein seitwärts geführter Hieb schlitzte dem Ork den gesamten Unterleib auf. Dessen Gedärme und ein Schwall Blut quoll aus der ekelerregenden Wunde hervor. Der Ork, unfähig einen Laut von sich zu geben, ließ seinen Zweihänder fallen und fiel auf die Knie, wo er verzweifelt versuchte sein Innerstes zurück in den Bauch zu stopfen.
 

Lorgren nutzte die Chance und sprang auf die Beine. Mit einem weit ausgeführten Schwertstreich trennte die krumme Klinge den hässlichen Kopf von den Schultern des Unholdes und ließ ihn in die Reihen seiner Sippe rollen. Reine Verblüffung stand auf dem erstarrten Ork-Gesicht, als er in den reihen der anderen Orks verschwand. Diese starrten voller Unglauben auf das Haupt ihres Anführers, als könnten sie nicht glauben, was sie da eben miterlebt hatten.
 

Bevor sich sein Glück noch wendete, rannte Lorgren zum Tor. Dort wartete Valzar als einziger auf ihn, dessen Hammer von dem magischen Leuchten umwabert wurde. Nicht weit ab saßen Fynn und Flint auf ihren Pferden und warteten nur darauf, dass die beiden anderen Gefährten zu ihnen stießen. Lorgren hätte sie am liebsten angefahren, was sie für Narren waren, einfach hier zu blieben, obwohl Fynn noch in Gefahr war, doch er hielt sich zurück, als er die erleichterte Miene des Mädchens sah, das ihn mit seinen gelben Augen ansah. Er würde ihnen später ordentlich den Kopf waschen, beschloss er im Stillen, als er mit Valzar zu den anderen rannte.
 

Als er sich in den Sattel geschwungen hatte, ertönten schon die wütenden Rufe der Schwarz-Orks. Sie waren aus ihrer Starre erwacht und gierten nach dem Blut des Mörders ihres Sippenführers. Lorgren sah zum Tor, wo schon die wilde Meute heraus strömte und auf ihn und seine Gefährten zu hielt. Einige der Kreaturen spannten ihre Bögen und ließen die Pfeile fliegen. Dank der schlechten Schießkunst der Unholde konnten die Kameraden unbehelligt davon reiten.
 

Ein gellender Schrei ließ Lorgren seinen Hengst zügeln. Fynn, die hinter ihm geritten war und von Flint gedeckt worden war, war im Sattel zusammen gesunken und lehnte gegen den Hals ihrer Stute. Der Zwerg war mit seinem Pony an ihrer Seite, doch konnte er sie nicht wirklich erreichen. Lorgren ritt zurück und sah mit Schrecken, das einer der Orks doch getroffen hatte. Der Schaft eines Pfeils ragte aus der linken Schulter des Mädchens.
 

Vorsichtig berührte er den Schaft, doch sofort zuckte Fynn zusammen und keuchte gequält. Ihr Gesicht war verzerrt vor Schmerz, ein leises Wimmern drang aus ihrer Kehle und Tränen rannen ihr über die Wangen, die blasser geworden waren. Verdammt, dachte er. Und schon folgten die Rufe der nahenden Orks. Schnell zog er sich Fynn auf seinen Wüstenhengst rüber und überließ die Stute Flint, der mit ihr voraus ritt, gefolgt von Valzar.
 

Lorgren drückte Fynn vorsichtig an sich, um ihr besseren Halt zu geben, bevor er den anderen folgte. Er spürte, wie der Leib des Mädchens zitterte, die nicht von Kälte her rührten, sondern von dem Schmerz, den sie jetzt verspürte. „Ganz ruhig“, versuchte er das Mädchen zu beruhigen, während sein Hengst den anderen hinterher eilte. „Wir sind gleich in Sicherheit.“
 

Tatsächlich beruhigten die Worte das Mädchen, dessen Wimmern fast verklungen war und das Zittern nach gelassen hatte. Der Wüstenreiter machte sich darum keine Gedanken, nicht einmal darum, das Fynn sich von alleine gegen ihn gelehnt hatte, um sich von ihm wärmen zu lassen. Das einzige was er mitbekam, war der Sand, der den erdigen Boden der Vorberge ablöste. Mit schnellem Tempo flüchteten sie in die Wüste.
 

***
 

Geduldig sah der Magus auf das Schachbrett, das vor ihm auf dem steinernen Tisch stand. Er selber, in eine braune Robe gewandet, saß auf einem bequemen Ledersessel mit hoher Lehne. Der knorrige Stab lag auf seinen Beinen, während ein Kelch mit einem zarten Wein darin in seiner Hand ruhte und nur darauf wartete von ihm getrunken zu werden.
 

Sein gegenüber brummte nachdenklich, während er sich mit einer schuppigen Pranke über das ebenso schuppige Kinn strich und das Brett und die Figuren darauf genau studierte. Der Gastgeber des Magus war ein riesiger goldener Drache, einer der wenigen, guten Drachen, denen das Wohl der sterblichen Völker noch am Herzen lag. Er war so riesig, das man nur schwer sagen vermochte, wie groß er doch wirklich war. Seine Schuppen glänzten wie pures Gold und seine alten, weisen Augen, die von einem goldenen Glanz erfüllt waren, zeugten von seiner Barmherzigkeit.
 

Der Magus befand sich im gigantischen Hort des goldenen Drachen, einer alten Schlossruine, die irgendwo tief im Süden versteckt lag. Allein dem Magus und einiger weniger Auserwählter war der Standpunkt genau bekannt, denn der Drache nannte nur wenige wirklich Freunde. Schließlich musste er noch seine kostbare Bibliothek beschützen, in der Bücher lagen, die so alt und mächtig waren, das sie ganz Aryn in ewige Schwärze oder ewiges Licht tauchen konnten.
 

Vorsichtig schlossen sich zwei der riesigen Klauen um die weiße Königin des Drachen und ließen sie zwei Felder weiter rücken. „Nun bist du dran“, erklang die sanft donnernde Stimme des goldenen Riesen, der mit seinen Goldaugen den Magus spöttisch ansah.
 

Der alte Magier beugte sich vor und strich sich über seinen langen Silberbart. „Oh“, sagte er überrascht, als er sah, das sein König von der Königin und dem letzten Turm des Drachen bedrängt wurde. „Da hast du mir aber eine schwere Aufgabe gestellt. Wie komm ich da bloß wieder raus?“
 

Der Drache lachte amüsiert und triumphierend zugleich. „Dieses mal gibt es kein Entkommen, Magier“, meinte der Drache und lehnte sich zufrieden zurück. „Ich hab so gut wie gewonnen.“
 

Der Magus sah zu dem Drachen auf und hob eine Augenbraue. „Ach, meinst du?“, fragte er und grinste breit, bevor er seinen König ein Feld weiter wandern ließ und so dem Turm und der Königin entkommen konnte. „Das sehe ich aber ganz anders.“
 

Der riesige Kopf des Drachen neigte sich vor. Er betrachtete eingehend das Spielbrett. „Dein Glück wird nicht ewig anhalten“, brummte er, bevor er seine Königin so aufstellte, dass sie wieder den König des Magus schlagen konnte. „Nun? Wie gedenkst du nun wieder zu entkommen?“
 

Der Magus beugte sich vor und kratzte sich über die Nase. „Hmmm“, stieß er nachdenklich aus, bevor er den König einfach wieder ein Feld weiter setzte.
 

Sein Gastgeber hob eine Augenwülste und sah den Menschen an. „Immer nur weglaufen?“, fragte er, bevor seine Königin wieder die Verfolgung aufnahm.
 

„Nein“, kicherte der Magus und ließ einen Springer den König des Drachen schlagen. „Dich in die Irre führen, mein Freund. Schachmatt.“
 

Erstaunt stellte der Drache fest, dass er seinen König ungedeckt gelassen hatte. Der Magus hatte ihn nach Strich und Faden ausgetrickst. Der Drache stieß ein Stöhnen aus und bedeckte beschämt die Augen, während der alte Magier amüsiert kicherte und die Schachfiguren mit einem kurzen Fingerwink auf ihre Positionen zurück wandern ließ.
 

„Schon wieder“, brummte der goldene Drache missgestimmt und seufzte schließlich, bevor er auf den Magier herunter sah, der ihm mit schelmischem Blick entgegen sah. „Ich frag mich langsam, ob du nicht betrügst, mein Freund.“
 

„Ich und betrügen?“, lachte der Magus und nahm einen Schluck von dem Wein. „Das würde ich mir nie erlauben, Kileneaus. Das macht doch keinen Spaß. Noch ein Spiel?“
 

Der alte Kileneaus schüttelte sein Haupt. „Nein“, sagte er mit seiner donnernden Stimme. „Schließlich haben wir noch einiges zu erledigen.“
 

Der Magus nickte zustimmend. „Ja, leider“, seufzte er und setzte den Kelch ab, bevor er sich aus dem Sessel erhob und um den Steintisch herum schlenderte. Der Drache wand sich ab und trotte in eine andere Kammer der alten Ruinenburg, die einst unter dem Namen Uned bekannt gewesen war. In dieser Kammer liefen viele Bedienstete, Menschen und Elfen, hin und her und erledigten ihre Arbeiten. Als sie ihren Herren und den Magus erblickten, hielten sie kurz inne und verneigten sich ehrfürchtig vor beiden, bevor sie weiter ihren Arbeiten nachgingen.
 

„Ich habe gehört“, fing der Drache an zu reden, „das die Klingen Skorms unterwegs sein sollen. Kann es vielleicht etwas mit dir zutun haben?“
 

„Hm? Wieso mit mir?“, fragte der Magus unschuldig, während er an der Seite Kileneaus her ging.
 

„Weil du den Imperator besucht hast“, meinte der Drache im Plauderton. „Angeblich jagen sie die Hüterin des Herzschwertes.“ Der Drache sah den Erzmagier an. „Du hast Sadrojor doch nicht etwa vor ihr gewarnt, oder?“
 

Der alte Mann seufzte. „Ich hab ihn nur davor gewarnt Helios anzugreifen“, sagte der Magus schlicht. „Mehr habe ich auch nicht getan.“
 

„Ach?“ Der Drache klang nicht überzeugt. „Und wieso flieht sie dann nach Jeris? Soweit ich weis hat ein Wüstenreiter sie aufgesucht und bringt sie nun zu seinem Meister. Du hast nicht zufällig auch etwas damit zu tun, Magus, oder täusche ich mich da?“
 

„Soll das hier ein verhör werden?“
 

„Vielleicht“, brummte der Drache, als sie in eine andere Kammer einbogen. Riesige Regale, voll gestopft mit Büchern und Folianten, standen dort. Selbst den alten Kileneaus überragten sie mühelos. Jedes von ihnen war durch eine uralte Magie geschützt, die noch aus der Zeit vor Uneds Untergang stammte. Alte Männer, die Bibliothekare der Großen Bibliothek von Uned, wanderten zwischen und über den Regalen hindurch, um die Bücher zu ordnen, sie zu pflegen oder zu lesen. Der alte Magus wusste schon lange, dass es sich lediglich um die Schatten der alten Bibliothekare handelte, die vor Urzeiten schon die alten Bücher gepflegt hatten. Durch die Magie Kileneaus wurden sie zum Leben erweckt und gingen ihrer geliebten Arbeit wieder nach. Obwohl sie tot waren, hatten sie nichts von ihrer Freundlichkeit verloren. Denn sie grüßten die beiden würdevoll.
 

Während sie durch das Labyrinth der Regale gingen, veränderte sich der goldene Drache zusehends. Er wurde immer kleiner, veränderte dabei unaufhörlich seine Form, bis neben dem Magus ein nackter Elfenmann her ging, dessen Goldhaar ihm bis zu seinem Hinterteil ging. Leise murmelte der Drachenelf einige Worte und schon bald trug er eine lange Robe, die seine Gestalt umschmeichelte. Dazu kamen ein paar einfacher Sandalen und ein Haarband, das sein langes Haar, wie durch Geisterhand, zu einem kunstvollen Zopf band, der ihm nun fertig über die Schulter fiel.
 

„Du könntest dir aber auch wirklich mal was neues einfallen lassen“, meinte der Magus spöttisch.
 

Der Drache in Elfengestalt sah ihn mit angehobener Augenbraue an und musste lächeln. „Wieso sollte ich?“, fragte er mit der melodischen Stimme der Elfen. „Ich nutze diese Gestalt schon seit Jahrhunderten. Da wäre es doch unlogisch sie jetzt zu wechseln.“
 

„Oder es fällt dir schwer dich von dem hübschen Gesicht zu trennen“, kicherte der Magus, der sich dafür ein empörtes Schnauben des Drachen einhandelte.
 

„Oder er will mir einfach weiterhin gefallen, guter Magus“, erklang eine sanfte Stimme nicht weit ab von den beiden Freunden. Drache und Mensch wanden sich um und erblickten eine junge Menschenfrau, die in ein rotes Kleid gewandet war. Ihr Haar fiel ihr Silbern über den Rücken. Ihr schönes Gesicht zierte ein sanftes Lächeln, wie auch ein paar silberner Augen. Sie kam zu den beiden herüber.
 

„Trynnea“, begrüßte der Magus sie, nahm ihre Hand und hauchte ihr einen Kuss auf diese. „Du siehst mal wieder überaus bezaubernd aus, meine Liebe.“
 

„Alter Schelm“, sagte sie sanft und der Magus grinste nur breit. Sie trat zu Kileneaus und küsste ihn mit ihren vollen Lippen auf die seinen. „Mein Liebster.“
 

„Meine Liebste“, sagte er und sah ihr mit seinen goldenen Augen in die silbernen. Beide schienen in den Augen des anderen zu versinken.
 

„Bevor ihr euch in eure Kammer zurück zieht“, störte der Magus die beiden Liebenden, die ihm beschämt den Blick zu wanden, „wäre es nicht verkehrt an die Arbeit zu gehen.“
 

Trynnea nickte leicht. „Du hast recht“, sagte die Frau und wand sich den Büchern wieder zu. „Wie kann ich euch helfen?“
 

„Die Hüterin“, sagte der Magus. „Sie ist auf dem Weg nach Jeris.“
 

Die Frau wand sich dem Magier überrascht zu. „Jetzt schon?“ Sie sah Kileneaus fragend an.
 

„Der alte Narr hat Sadrojor besucht“, brummte der Drachenelf und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

„Ich verstehe“, sagte sie sofort und seufzte leise. „Sie ist viel zu früh dran.“ Trynnea ging zu einem der Regale und schwebte empor, wurde von dem magischen Wind getragen, der auch die Schattenbibliothekare in der Luft hielt. Als sie eins der obersten Regale erreichte, sah sie die Bücher der Reihe nach an, bevor sie einen alten Folianten heraus zog und wieder gen Boden sank. Sie wand sich den beiden Männern zu und meinte: „Sie dürfte erst beim letzten Wintermond auf Reisen sein, wenn das neue Jahr beginnt.“
 

Der Magus trat vor. „So schlimm wird es doch nicht werden, meine Teuerste“, sagte er leicht hin. „So oder so. Sie wird das Herzschwert finden, es zu führen lernen und Konass neue Hoffnung bringen.“
 

„So einfach ist das nicht“, sagte die Gelehrte und ging zu einem der Tische. Sie nahm an diesem platz und entrollte den Folianten. Runen einer längst vergangenen Sprache standen darauf, wie auch Berechnungen und Diagramme. „Die alten Wahrsager haben vorausgesagt, dass sie in die Wüste zieht, wenn der letzte Wintermond, zu Beginn des neuen Jahres, untergehen wird. Das Schwert wird sie rufen, wie auch die Hoffnung aller Völker. Allein wird sie die Hürde nehmen.“
 

„Alleine ist sie nun auch nicht mehr“, brummte Kileneaus, was ihm einen überraschten Blick von Tyrnnea einbrachte. „Ein Wüstenreiter hat sie geholt und führte sie nun. Der König der Zwerge von Thador und ein Untertan sind ebenso mit von der Partie. Ich glaube, sie haben die Wüste erreicht.“
 

„Das ist nicht gut“, murmelte seine Geliebte und sah auf den Folianten. „Das weicht von allem ab, was hier geschrieben steht.“ Sie sah zum Magus. „Du hättest dich nicht einmischen dürfen.“
 

„Das habe ich auch nicht“, verteidigte sich der Magus und zeigte auf einen Satz auf dem Folianten, worauf Drache und Frau selber einen Blick darauf warfen. „Dort steht geschrieben, dass das Menschenkind seinen Weg finden wird. Doch die Hüterin ist kein Mensch, zumindest nicht vollständig.“ Trynnea sah ihn fragend an. „Sie ist eine Halbork.“
 

„Was?“, stieß die Frau hervor und sprang regelrecht auf. „Das kann nicht wahr sein. Die Hüterin war immer eine Menschenfrau. Solange ich denken kann war das so.“ Sie sah ihren Geliebten an.
 

„So ist es aber“, sagte er und senkte den Blick. „So hat man es mir geflüstert.“
 

„Das kann nicht stimmen“, sagte die Frau und wand sich dem Folianten zu. „Die alten Wahrsager haben sich doch bisher nie geirrt.“ Sie dachte nach. „Ich muss die Bibliothek absuchen, um eine Antwort darauf zu finden.“
 

„Ich werde dir helfen“, bot Kileneaus an.
 

„Ich danke dir“, sagte die Frau sanft lächelnd. An den Magus gewand sagte sie: „Und dich bitte ich, dich nicht mehr einzumischen. Beobachte sie ruhig, aber lass deine Finger von ihr.“
 

Der Magier schnaubte. „Ich mache doch schon gar nichts mehr“, sagte er erbost.
 

„Das weis ich“, sagte Trynnea und tätschelte seine Hand. „Aber ich kenne dich lang genug, um zu wissen, das du nur selten mal ruhig sitzen blieben kannst. Ich bitte dich darum, mein Freund, lass die Hüterin allein ihren Weg finden, bis ich herausgefunden habe, warum die Wahrsager sich bei ihrer Vorhersage so getäuscht haben.“
 

„Keine Angst“, sagte der Magus. „Ich werde sie friedlich ziehen lassen. Außerdem“, er wand sich dem riesigen Eingang der Bibliothek zu, „habe ich da noch etwas, das ich überprüfen muss.“
 

„Und das wäre?“, fragte Kileneaus misstraurig.
 

Der Magus sah ihn nachdenklich an. „Ich muss einen Unfall untersuchen“, erklärte er, „der durch Magie verursacht wurde. Ein Jemand trägt sehr viel Macht in sich und ich glaube, das es etwas mit mir zutun haben könnte.“
 

Bevor die beiden fragen konnten, was er damit meinte, erschein schon ein magisches Portal vor dem alten Magus und er durchschritt es. Kileneaus und Trynneas sahen nur noch, wie die Magie des Portals verpuffe und der Magus verschwunden war.
 

***

Der kleine Gnom sah von dem Buch auf, das er grade am lesen war, als der Magus aus dem Portal trat. „Willkommen zurück, Meister“, begrüßte er den Alten und legte sein Buch zur Seite. „Wie ist es gelaufen?“
 

„Die beiden überprüfen jetzt ihre Bücher“, sagte der Magus und lehnte den knorrigen Stab gegen die Wand der kleinen Stube, die mit allerlei Büchern, Folianten, Gerätschaften, Tischen, Regalen und Stühlen voll gestopft war. Er strich die Kapuze seiner Robe zurück und kratzte sich am Kopf.
 

„Ihr seht müde aus“, sagte der Gnom und rückte einen Stuhl zurecht, so dass sich der Magus auf diesen nieder lassen konnte.
 

Der Magus, der platz genommen hatte, winkte ab. „Ich bin nur etwas erschöpft“, meinte der alte Mann. „Kannst du mir einen Tee machen?“
 

„Selbstverständlich“, meinte der kleine Gnom und huschte wie ein geölter Blitz aus der Stube heraus. „Welchen wollt ihr denn dieses mal trinken, Meister?“, fragte er von der Küchenstube her.
 

„Ist mir egal“, meinte der Magus und massierte sich dabei die Schultern. Sein Blick wanderte zum einzigen Fenster der Stube, das weit offen stand. Ein warmer Wind wehte hindurch und gab seinen alten Knochen neue Stärke.
 

Nur kurze Zeit später war der Gnom zurück und reichte dem Magus einen Becher mit dampfenden Tee. Stumm dankte er dem Gnom, der sich sogleich wieder auf einen der Stühle setzte und nach seinem Buch griff, indem er weiter begierig las. Ein kurzer Schluck verriet dem alten Mann dass der kleine Kerl ihm einen Pfefferminztee gemacht hatte. Er konnte sogar die Süße von Honig heraus schmecken. Zufrieden lehnte er sich zurück und genoss die warme Flüssigkeit, die ihm die Kehle herunter rann.
 

Doch seine Gedanken hingen bei dem kleinen Problem, das ihn seit einiger Zeit plagte. Ein Mann war plötzlich an große Macht geraten, die er zuvor nicht besessen hatte. Allein durch einen Blick hatte er andere in die Knie zwingen können. Es gab dem Magus zu Denken übrig. In all den Jahrhunderten, seit er sein Amt ausübte, war ihm so etwas nie unter gekommen. Seine Bücher hatten keine Erklärung dafür gehabt. Kileneaus große Bibliothek hätte ihm sicher weiter helfen können, doch er wollte seinen alten Freund nicht mit weiteren Problemen belasten. Die falsche Vorhersage der alten Wahrsager hatte ihm und Trynnea bereits genug zum Denken aufgegeben und sie mussten ihre gesamte Kraft auf die Suche nach einer Antwort konzentrieren. Außerdem war er der Magus und für die Geschicke in Konass verantwortlich.
 

Sein Verdacht, dass er an der plötzlichen Machtgewinnung des anderen schuld war ließ ihn nicht los. Wie hatte er das bloß geschafft, fragte er sich immer und immer wieder. Seit Jahrhunderten hatte er anderen mit seiner Magie geholfen, soweit es ihm erlaubt gewesen war. Doch nie zuvor war jemand durch seine Zauberei mächtig genug geworden, um selbst ihm, dem Magus, ebenbürtig zu werden. Konnte es sein, das dieser jemand irgendwann der neue Magus werden würde? Der Alte war sich nicht sicher.
 

„Zook“, sagte er schließlich.
 

Der Gnom sah wieder von seinem Buch auf und fragte: „Ja, Meister?“
 

„Weist du noch, wo die Grausteinburg liegt?“, fragte ihn der Magus, der immer noch zum Fenster hinaus sah.
 

„Gewiss“, nickte der Gnom.
 

„Besuch doch bitte deinen Onkel und erkundige dich, was vorgefallen ist“, bat ihn der Magier.
 

„Wird sofort gemacht“, meinte der Gnom voller Tatendrang und sprang vom Stuhl. „Wie viel Zeit hab ich?“
 

Der Magus dachte kurz nach. „Nehm dir so viel wie nötig“, meinte er schließlich. „Aber vergeude sie nicht. Ich will schließlich wissen, was bei den Grauen Roben vor sich geht.“
 

„Kein Problem, Meister“, grinste der Gnom. „Ich werde rasch wieder zurück sein, bevor du überhaupt merkst, dass ich überhaupt weg war.“ Und schon war der Gnom aus der Stube gehuscht.
 

„Ich nehme dich beim Wort“, murmelte der Magus, obwohl er nun alleine war. Sein Blick huschte kurz zum Platz des Gnoms. Auf dem Stuhl lag noch das Buch, das der kleine Kerl gelesen hatte. Es war eins der Zauberbücher des Magus. „Kleiner Gauner“, brummte der alte Mann und sah zur Tür, durch die eben Zook geschlüpft war. Wieder einmal hatte sich der Gnom an seinen Büchern zu schaffen gemacht und gewiss den einen oder anderen Zauber heraus geschrieben. Doch sie würden ihm kaum nützlich sein. Allein dem Magus war ihre Macht gesichert und das wusste der Gnom auch genau. Doch immer und immer wieder versuchte Zook einen der Zauber zu wirken und bei einigen von ihnen gelang es ihm sogar.
 

Doch er blieb nicht lange bei den Gedanken an Zook, sondern richtet sie wieder auf den Mann, der durch sein verschulden über große Macht nun verfügte. Er musste einen Weg finden, dem Mann diese Macht wieder zu entziehen. Was für ein Unheil konnte dadurch entstehen, wenn dessen Seele so Schwarz wie die Nacht war? Doch was wäre, wenn er der nächste Magus sein sollte?
 

Fragen über Fragen gingen dem Magus durch den Kopf, während er seinen Tee trank und zum Fenster hinaus sah. Seit Jahrhunderten war er nun der Magus und er würde diese ehrenvolle Aufgabe bis ans Ende seiner Tage weiter führen, bis ein anderer kommen möge und ihn ablöste.
 

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7. Akt: Eifersucht

Seit je her wacht der Magus über Konass und seine Völker.

Er war stets ein weiser Mann,

Dessen rat sich viele suchten,

Wenn sie ihn fanden.

Denn der Mächtigste aller Magier lebt sehr zurück gezogen und

Nur wenige kamen in den Genuss seiner Gesellschaft.

Diese wenigen wuchsen zu großen Helden heran,

Die Konass Reiche mehr als einmal retteten.
 

Knoll,

Ehrenwerter Meister der Grauen Roben und Schreiber der Chroniken des Magus
 

***
 

Mit einem erschrockenen Schrei schreckte Niemand aus dem Schlaf auf. Schweißnass saß der junge Mann in seinem Bett und versuchte zu Atem zu kommen. Seine nackte Brust hob und senkte sich hektisch, während er sich zu beruhigen versuchte. Wieder hatte er diesen Traum gehabt. Wieder war er von üblen Schatten angegriffen worden, die ihm das Leben stehlen wollten. Und wieder war er in die tiefe Schwärze gestürzt. Doch dieses Mal hatte er auch etwas anderes geträumt. Er verstand dies nicht, weshalb er sich an jemanden wenden musste, der seinen Traum zu deuten vermochte.
 

Als sich seine Atmung normalisiert hatte, sah Niemand zum Fenster der kleinen Kammer, die ihm J´Kar zur Verfügung gestellt hatte. Die Sonne graute bereits und entsendete ihre ersten Strahlen über die Berge. Die halbe Burg war sicher noch am schlafen, während nur einige eifrige Magier aus ihren Betten stiegen oder die Dienstboten das Frühstück vorbereiteten.
 

Niemand strich sich über die nasse Stirn und streifte dabei die Augenklappe, die sein rechtes Auge bedeckte. Seit vielen Tagen – Niemand wusste nicht, wie viel zeit er schon bei den Grauen Roben war – hatte er sie nicht mehr abgenommen, auf Geheiß von J´Kar, dem maskierten Erzmagier, der sich um ihn kümmerte. Gerne würde er das Ding abnehmen, denn unter ihr hatte es bereits angefangen zu jucken. Doch J´Kar hatte ihn davon abgeraten, sie abzunehmen. Der Magier hatte keine Erklärung abgegeben, nur gemeint, dass es für alle besser wäre und Niemand hatte ihm widerwillig gehorcht.
 

Etwas mühselig stieg der junge Mann aus dem Bett und schlenderte hinüber zu dem kleinen Schränkchen, auf dem die Wasserschüssel stand. Er goss sich Wasser ein und fing an sich zu waschen, eine grobe Katzenwäsche. Als sein Blick auf den Spiegel fiel, erblickte er sein Gesicht. Das Haar war gewachsen und Strähnen fielen ihm ins hagere Gesicht mit den breiten Lippen. Sein Lippenbärtchen, wie auch sein Kinn, bedurften eine Rasur.
 

„Wer bist du bloß?“, fragte er sein Spiegelbild seufzend, bevor er sein Gesicht mit kaltem Wasser aus der Schüssel benetzte. Wieder gab es ihm keine Antwort auf die Frage. Er hatte sein Gedächtnis verloren dun niemand schien in der Lage zu sein, es ihm wieder zu geben.
 

Schnell trocknete er sich ab und schlüpfte in die einfache Robe, die man ihm überlassen hatte. Seine eigenen Kleider waren nicht mehr zu gebrauchen gewesen, denn sie waren in Fetzen gerissen gewesen, hatte man ihm erzählt. Allein seine Stiefel, in die er jetzt steig, waren übrig geblieben. Sie waren das einzige geblieben, das an sein früheres Leben erinnerte.
 

Der junge Mann strich sich durchs Haar und fragte sich wieder, was der zusätzliche Traum zu bedeuten haben mochte. In diesem hatte er eine Mädchen, fast eine Frau, gesehen. Ihre Haut war von grüner Farbe gewesen, während ihre Augen gelb geleuchtet hatten. Ein Pfeil hatte aus ihrer Schulter geragt und sie gequält. Ein bronzener Mann hatte sie zu sich aufs Pferd geholt und war mit ihr davon geeilt, weg von der tobenden Schwärze, die Niemand immer wieder in seinen Träumen erschienen war. Irgendwoher glaubte er sie zu kennen, doch erinnerte er sich nicht. Nicht daran, wie sie hieß, wer sie überhaupt war. Sie musste etwas mit seiner Vergangenheit zutun haben. Das war das einzige, was er wusste. Er müsste sie finden, um endlich sein wahres Ich zu erfahren. Um zu erfahren, wer er wirklich war.
 

Niemand verließ seine Kammer mit schnellen Schritten. Sie lag in den unteren Gängen der Turmburg, in der die Magier der Grauen Roben heimisch waren. Als er diesen durchquerte begegnete er keinem der Lehrlinge, die hier unten untergebracht waren. Etwa schliefen sie noch oder waren bereits mit ihrer Arbeit beschäftigt. Doch dies war ihm recht egal. Er suchte keinen von ihnen, sondern J´Kar, der in den oberen Stockwerken des Turms wohnte.
 

Rasch erreichte er die Wendeltreppe, die in die oberen Etagen führte. Er überflog regelrecht die Stufen, nahm immer gleich zwei von ihnen, um schnell anzukommen. Die anderen Magier waren ihm bis zum heutigen Tag nicht gerade geheuer gewesen. Sie hatten ihn mit misstraurigen Blicken betrachtet, als würde er eine Gefahr für sie darstellen. Niemand wusste, das er hier ein Fremder war, das nicht einmal die Magier wussten, wer er war, doch sie behandelten ihn, als wüssten sie mehr über ihn, als sie zugeben wollten. Nur wenige begegneten ihm freundlich, wie Meister J´Kar. Doch er traf diese wenigen zu selten an.
 

Bis auf eine. Eine junge Frau Namens Abigail, die sich bisher jeden Tag um ihn gekümmert hatte, wenn sie nur konnte. Die junge Magierin mit dem feuerroten Haar hatte ihm die gesamte Burg gezeigt, sogar einiges über sie erzählt. Dabei hatte Niemand sie etwas näher kennen lernen können. Sie war eine überaus feurige Frau, die immer ihren Kopf durchsetzen wollte, etwas, was die höher gestellten Magier oft zur Weisglut brachte. Doch Niemand fand diese Charaktereigenschaft wunderbar. Gerne sah er dabei zu, wenn sie ihren Studien nach ging, sich an der Magie übte oder sich einfach mal entspannte. Zudem fühlte er sich in ihrer Nähe sehr wohl. Der junge Mann glaubte, dass dasselbe auch für Abigail galt, denn einige male hatte er ihren Blick auf sich ruhen gespürt, wenn er über sich nachgedacht hatte oder über einem der Bücher gebrütet hatte, das J´Kar ihm geliehen hatte.
 

Eher unbewusst fragte sich Niemand, wo Abigail wohl nun steckte. Ob sie noch schlief oder schon beim morgendlichen Training war. Sie bevorzugte es jeden Morgen ihren Körper zu stählen, um sich zumindest etwas Bewegung zu gönnen, denn sie kam nur selten aus der Bibliothek, wenn sie sich mit der Magie und ihren Zaubersprüchen beschäftigte. Niemand hatte ihr auch dabei zugesehen und ihren schlanken Körper in den engen Hosen und Hemden bewundert, wenn sie ihre Übungen gemacht hatte. Auch andere Männer hatten ihr dabei zugesehen und Niemand war immer wieder eifersüchtig geworden, ohne zu wissen, wieso überhaupt.
 

Bald erreichte der junge Mann die obersten Stockwerke der Turmburg, wo die Meister ihre Unterkünfte hatten. Er lief den Gang entlang und einmal mehr fühlte er sich beobachtet. Seit er in der Grausteinburg war, kam es ihm vor, dass ihn die großen Rüstungen, die jeden gang der Turmburg zierten, ununterbrochen beobachteten. Oft genug hatte er die Rüstungen genau betrachtet, doch nur festgestellt, dass die Rüstungen recht dürre Arme und Beine hatten. Die Panzerhandschuhe und –stiefel wirkten hingegen übertreiben groß. Nur wenige der Rüstungen hatten eine Waffe bei sich, doch die welche hatten, trugen übergroße Morgensterne oder Streitkolben. Als er Abigail einmal gefragt hatte, welches Volk solch seltsame Rüstungen trug, meinte sie schlicht weg, keins. Diese Antwort hatte ihn verwirrt, ebenso mehr Fragen aufgeworfen, doch der junge Mann hatte sich nicht weiter mit den Zierrüstungen abgegeben, sondern weiter sein erinnerungsloses Leben geführt. Dennoch kam es ihm immer noch vor, als würden die Rüstungen ihn genau betrachten.
 

Bald erreichte Niemand die Tür zu Meister J´Kars Kammer. Er klopfte an die Tür, doch erhielt keine Antwort. Geduldig blieb er vor ihr stehen und versuchte das Gefühl zu verdrängen, dass ihn die Rüstungen weiterhin anstarrten. Er versuchte sich mit den Gedanken an seinen neuen Traum abzulenken, doch so wirklich wollte es ihm nicht gelingen.
 

Schließlich öffnete sich doch die Tür und J´Kar stand Niemand gegenüber. „Guten Morgen, Niemand“, begrüßte ihn der Maskierte mit seiner jungenhaften Stimme freundlich, während er aus seiner Kammer zu dem jungen Mann auf den Gang trat. „Was kann ich für dich tun?“
 

„Ich…“, stieß Niemand, bevor er sich zusammen riss und sich misstraurig im Gang umsah. „Kann ich euch unter vier Augen sprechen?“
 

Die leuchtenden Augen, die unter der Kapuze den jungen Mann her betrachteten, verengten sich leicht. „Gut“, sagte der Magier und hab Niemand in seine Kammer.
 

Einmal mehr konnte der junge Mann nur staunen, wie zugestellt die Kammer des Maskierten doch war. Ein großer Tisch beherrschte das gesamte Bild. Auf ihm standen Unmengen von Flaschen und anderen Behältern, wie auch aufgeschlagene Bücher, die schon mal bessere Tage gesehen hatten. An den Wänden rund herum standen Regale mit Büchern, Zutaten, Flaschen und anderen Dingen. Das Bett des Magiers stand klein und uneinladend in einer Ecke der Kammer. Gegenüber von der Tür, in durch die Niemand gekommen war, stand eine andere, die stets verschlossen gehalten wurde. J´Kar hatte ihm nicht erzählt, was sich dahinter befand, doch Niemand ging davon aus, das es ein Labor war, indem der Erzmagier besonders gefährliche Experimente durchführte. Doch wirklich interessierte ihn dies auch nicht.
 

J´Kar ließ sich auf einen heraufbeschworenen Sessel nieder und erschuf gleich darauf noch einen für seinen Gast. „Wie kann ich dir helfen?“, wollte der Maskierte wissen, während er es sich gemütlich machte.
 

Der junge Mann ließ sich ihm gegenüber in den Sessel sinken. Er zögerte, bevor er begann zu sprechen. „Ich habe wieder den Traum gehabt, doch ein anderer ist ihm gefolgt.“
 

Ein weiterer Traum?“, fragte J´Kar neugierig und beugte sich etwas vor, um Niemand besser lauschen zu können. „Was hast du geträumt?“
 

„Von einer Frau“, sagte Niemand besorgt. „Einer Frau mit grüner Haut und gelben Augen, die vor Schmerzen verschleiert waren. Ein Pfeil ragte aus ihrer Schulter und sie floh vor der Schwärze, die mich in meinem anderen Traum immer wieder in die schwarze Tiefe fallen ließ.“ Er stockte kurz. „Ich glaube, ich kenne sie von irgendwoher.“
 

Nachdenklich lehnte sich der Erzmagier zurück und ließ sich Niemands Worte durch den Kopf gehen. Er schwieg eine Weile, bevor er sagte: „Das könnte wieder eine Erinnerung sein. Nur...“ Er zögerte. „Hast du noch etwas gesehen?“
 

Niemand nickte. „Ja. Einen Mann mit bronzener Haut, von dem ich auch glaube, ihn zu kennen.“ Er sah J´Kar an. „Könnten sie Freunde von mir sein?“
 

„Gut möglich“, meinte der Maskierte und nickte. Er dachte darüber nach und sagte schließlich: „Wenn sie deine Freunde sind, dann sollten wir versuchen sie zu finden, wenn es nicht schon die Schwärze getan hat.“
 

„Aber wie?“
 

„Mit Magie“, meinte der Magier freundlich und erhob sich aus seinem Sessel. „Schließlich bist du unter Magiern, von denen viele die Kunst der Weitsicht beherrschen.“ Er schlenderte zu seinem Bett und holte die Waschschüssel hervor, die er mit klarem Wasser füllte. Er kam zurück und stellte die Schüssel auf den Tisch. Er winkte Niemand heran und sagte: „Dann wollen wir mal sehen, ob wir sie nicht finden.“
 

Neugierig beugte sich Niemand zu dem Erzmagier, der angefangen hatte leise Worte zu murmeln. Der junge Mann wusste, dass es sich dabei um einen Zauber handeln musste, denn sein rechtes Auge, das unter der Augenklappe verborgen hatte, hatte angefangen zu jucken. Dies war bisher immer passiert, wenn er bei einem Zauber zu gegen gewesen war. Immer hatte das Auge angefangen zu jucken und Niemand hatte sich von den freigesetzten Energien fast magisch angezogen gefühlt.
 

Allmählich entstand ein Bild auf der Oberfläche des Wassers. Bergspitzen wurden sichtbar. J´Kar erkannte sie. „Das Antigas-Schlangen-Gebirge“, meinte er. „Sie ist also noch irgendwo hier in den Bergen.“ Er sah sich weiter das Bild an und wand sich dann an Niemand. „Beschreib sie mir mal etwas genauer, damit ich sie ausfindig machen kann.“ Der junge Mann gehorchte und beschrieb das Mädchen so genau, wie es ihm nur möglich war. Dabei murmelte der Erzmagier weiter seinen Zauber und lauschte jedem einzelnen Wort genau. Das Bild im Wasser änderte sich und zeigte eine Siedlung, aus der Rauch quoll.
 

„Hmm… Das ist Sandstein, ein Zwergenposten“, erklärte der Magier seinem jungen Freund, der die Siedlung besorgt betrachtete. „Es scheint so, das der Außenposten überfallen wurde. Na was haben wir denn da?“ Er sah genauer hin und entdeckte eine Meute aufgebrachter Schwarz-Orks, die sich um die Leichen eines Ogers, eines Orks und eines Zwerges gesammelt hatten, den man mit brutaler Gewalt in den Erdboden gestampft hatte. „Scheinbar haben sich die schwarzen Teufel da schon eingenistet.“ Er betrachtete das Bild eingehend. „Aber sie scheinen vor kurzem gekämpft zu haben.“
 

„Woher wisst ihr das?“, fragte Niemand neugierig, während sein Blick auf dem Außenposten haftete.
 

J´Kar sah ihn an. „Sie betrauern ihren toten Anführer und verfluchen ihre Feinde“, erklärte er dem anderen. „Zudem sind diese drei, um die die Orks stehen, noch nicht länger als einen Tag tot. Dem Oger hat man den Schädel zertrümmert, dem Ork den Kopf abgeschlagen und ich glaube, der Oger hat vorher diesen Zwerg da getötet. Jetzt streiten sich die anderen um den Posten des Anführers.“ Er schwieg kurz und meinte dann: „Ah, da sind zwei aber besonders heftig.“
 

Niemand sah auf das Bild und erkannte zwei Orks, die mit Krallen und Zähnen aufeinander losgingen. Einer der Orks biss den anderen in die Schulter, worauf Niemand zusammen zuckte und zurück taumelte. Er packte sich an die Schulter und spürte einen stechenden Schmerz. Das Bild eines Schwarz-Orks, dessen Zähne sich tief in seine Schultern gruben, erschein vor seinem inneren Auge auf. Er schrie gequält auf und sank auf die Knie.
 

„Niemand.“ J´Kar war sofort an seiner Seite dun legte dem jungen Mann die Hand auf die anderen Schulter. „Was hast du?“, fragte er den anderen.
 

„Meine Schulter…“, schluckte der junge Mann, als der Schmerz langsam nachließ. „Ich spüre einen Schmerz, als hätte mich einer dieser Teufel dort gebissen.“ Er sah zu J´Kar auf. „Ich sehe sein Gesicht deutlich vor mir.“
 

„Eine unterdrückte Erinnerung“, murmelte der Magier und sah nachdenklich drein. „Vielleicht sollten wir die Suche nach deiner geheimnisvollen Freundin unterbrechen.“
 

„Nein“, knurrte Niemand, während er sich mühselig auf die Beine kam. „Ich will wissen, wer sie ist.“ Er ging zum Tisch und sah dabei fordernd zum Maskierten. „Bitte hilf mir sie zu finden, Meister J´Kar.“
 

Ein leiser Seufzer stieg aus der Kapuze und der Magier trat wieder an den Tisch. „Nun gut“, sagte er, diesmal ernster. „Aber wenn so etwas noch einmal passieren sollte, brechen wir das sofort wieder ab.“ Zur Antwort nickte Niemand und sah wieder auf das ruhige Wasser in der Schüssel. Der Maskierte nickte leicht und fing wieder mit seiner Beschwörung an. Wieder wanderte das Bild, bis es die Wüste erreichte. Doch ab dort wurde es undeutlicher. Verwirrt runzelte der Erzmagier die versteckte Stirn. Je weiter sein Zauber vordrang, so verschwommener wurde das Bild, bis es sich schließlich komplett auflöste und das Wasser Wellen schlug.
 

„Was ist passiert?“, fragte Niemand, der das ganze nicht verstand. Eben noch hatte der Zauber wunderbar funktioniert, doch jetzt brach er einfach ab.
 

„Ein anderer Zauber blockiert meinen“, stellte J´Kar verwundert fest. Der Magier wurde neugierig und versuchte es noch einmal, doch wieder versagte der Zauber. Er sah auf und klimperte ein-zweimal mit den Augen, bevor er sich Niemand zu wand. „Ein Zauber verhindert, dass man sie findet. Ich weis nur, dass sie irgendwo in der Wüste von Jeris ist.“
 

„Jeris“, murmelte Niemand nachdenklich und wand seinen Blick von dem Wasser ab. Warum kam ihm der Name so bekannt vor? Er wusste von dem Wüstenreich, hatte er sich doch lange genug mit Abigail über Helios und seinem Nachbarn unterhalten. Dabei war ihm der Name nie so bekannt vorgekommen. Doch jetzt… „ich glaube, dort wollte ich hin.“
 

J´Kar sah ihn an. „Erinnerst du dich etwa an weitere Dinge?“
 

„Ich glaube schon.“
 

„Das ist gut“, sagte der Erzmagier zufrieden dun klopfte Niemand auf die Schulter. „Dann sind wir einen erheblichen Schritt weiter gekommen, als wir zu hoffen gewagt haben.“ Niemand sah ihn nicht überzeugt an. „Schau mich doch nicht so an. Wir haben wirklich einen großen Fortschritt gemacht, mein junger Freund. Jetzt wissen wir schon mal, was dein Ziel war und wer dich begleitet hat.“
 

Langsam nickte der junge Mann. J´Kar hatte recht. Sie waren wirklich weiter gekommen, als sie es erhofft hatten. Die ganzen Tage, seit Niemand in der Grausteinburg war, hatte er sich kaum an was erinnern können, außer an kleine Einzelheiten, wie, was er gerne aß oder das er für gewöhnlich das Haar kurz trug. Mehr war da nicht gewesen. Doch nun hatte er sich daran erinnert, das er nicht alleine gewesen war, das er Freunde hatte und wohin er gewesen war, bevor die schwarze Meute der Orks ihn von den Klippen gestoßen hatte.
 

„Ich schlage vor, das wir uns ein kleines Frühstück gönnen“, meinte J´Kar, der zu Niemand getreten war und ihm freundlich auf die Schultern klopfte. „Danach werden wir uns erheblich besser fühlen.“
 

***
 

Langsam streckte Abigail ihr Bein aus, ließ den Fuß über den Boden streichen, während ihre Arme einen weiten Bogen um ihren Körper vollführten. Ihre Augen waren dabei geschlossen, während sie ihre Übungen machte, die sie fit halten sollten. Ihr anderer Fuß folgte und strich, wie der erste, genau so leicht über den Boden, als würde er ihn nicht berühren. Sie streckte die Arme von sich aus, als wolle sie jeden Moment damit anfangen zu fliegen und in die Lüfte entschwinden.
 

Dies waren einfache Übungen, die sie und andere der Grauen Roben von einem der Meister gelernt hatten, der vor langer Zeit auf den Kontinent Aijin gereist war und lange in einem der Länder heimisch gewesen war, bevor er zurückkehrte. Dort hatte er die Übungen des Hu-Jin gelernt, einem großen Meister, der in seinem Land ein gefeierter Held gewesen war. Die Übungen sollten Geist und Körper fürs Leben feilen, hatte der Meister erklärt. Doch so wirklich hatten Abigail und die anderen dies nicht verstanden. Dennoch hatten sie die Übung absolviert und gefallen daran gefunden.
 

Abigail machte eine Drehung und ließ sich fallen. Doch bevor sie auf dem Boden landete, streckte sie ihre Hände aus und verhinderte, dass sie sich die Nase blutig schlug. Rasch sprang sie auf. Sie streckte ein Bein aus, als wolle sie jemanden treten und drehte sich einmal um sich selbst, bevor sie beide Füße auf dem Boden absetzte.
 

Die junge Frau stellte sich aufrecht hin und atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor sie die Augen öffnete. Der Schweiß lief ihr in Strömen über den Körper, tränkte das leichte Hemd, das sie heute trug, wie auch die enge Hose. Sie ließ ihre Schultern einmal kreisen und stellte zufrieden fest, dass sie auch heute ihr Training gut überstanden hatte. Abigail schritt zu dem Bündel Kleider, die auf einer Stufe der Treppe lagen. Sie befand sich im großen Hof der Grausteinburg, wo sie jeden Morgen ihre Übung vollführte, um Fit für den Tag zu bleiben. Sie hatte sich in einer von der frühen Sonne erhellten Stelle aufgehalten, wo sie niemandem im Weg stand.
 

Sie nahm sich ihre Kleider und ging die Treppe hinauf, die sie in einen der kleinen Türme bringen würde, der sich in der Wehrmauer befand, der die Turmburg umgab. Die drückte die Tür auf, die sich am Ende der Treppe befand und betrat die sich dahinter befindende Wachstube, in der zwei der Wachen saßen und in aller Ruhe Karten spielten. Die beiden Männer sahen kurz auf und grüßten sie, während Abigail an ihnen vorbei ging. Sie grüßte rasch zurück, bevor sie durch die gegenüberliegende Tür verschwand, die in die Turmburg führte.
 

Sie kam auf einen der Dienstbotengänger heraus, auf denen sich derzeit eine große Zahl der Bediensteten aufhielt, um den Speisesaal für das Frühstück vorzubreiten. Die Männer und Frauen grüßten sie freundlich, während sie an ihr vorbei huschten. Abigail grüßte zurück. Sie durchschritt den Gang mit schnellen Schritten, bis sie den Speisesaal erreichte.
 

Dieser war eine riesige Halle, einst als Thronsaal erbaut worden war. Doch die Grauen Roben hatten ihn rasch umgestaltet und dort die Bänke und Tische für die Schüler und Meister aufgestellt, damit diese in ruhe dort speisen konnten. Einige der Schüler und Meister waren schon aus ihren Kammern gekommen und frühstückten in aller Ruhe, während sich andere dabei unterhielten, oder wieder andere grade den Saal betraten.
 

Die junge Magierin sah sich um. Er war also noch nicht da, stellte sie fest, als sie Niemand nicht entdeckte, den Fremden, der eines Tages einfach aufgetaucht war und den Magiern der Grauen Roben unzählige Fragen auferlegt hatte. Der Mann, der Abigail ein guter Freund geworden war und mit dem sie sich unterhalten konnte, wie mit keinem der anderen von ihrem Alter. Dem einzigen, dem sie sich verbunden fühlte.
 

Ein leiser Seufzer entrang ihrer Kehle, als sie ihn nicht entdeckte. Schade, dachte sie. Gerne hätte sie mit ihm zusammen das Morgenmahl zu sich genommen und sich bei ihm erkundigt, ob er gut geschlafen hatte. Sie wusste, dass er seit seiner ersten Nacht in der Turmburg von Alpträumen geplagt wurde, denn er hatte es ihr im Vertrauen erzählt. Sie hatte ihm versprochen, mit niemanden darüber zu reden, als mit ihm selbst. Und daran hielt sie sich eisern.
 

Jemand berührte sie an der Schulter und sie wand sich neugierig um. „Niemand“, begrüßte sie den jungen Mann, der zusammen mit Meister J´Kar hinter ihr gestanden hatte und sie an der Schulter berührt hatte. Sie mochte den Namen Niemand nicht. Denn ihr Freund war jemand, nur ihm fehlten die Erinnerungen. Dennoch verwendete sie den Namen, den J´Kar ihm verliehen hatte.
 

Sie umarmte ihn, was er erwiderte. „Guten Morgen“, sagte der junge Mann, als sie die Umarmung lösten. Er hatte ein zufriedenes Lächeln aufgesetzt, wie er es immer tat, wenn er ihr über den Weg lief. „Hast du deine Übungen schon gemacht?“
 

Sie nickte. „Grade eben erst fertig geworden“, sagte sie mit einem ebenso freundlichen Lächeln, wie Niemand. „Und? Hast du diese Nacht gut geschlafen?“
 

Er wusste worauf sie sich bezog und meinte schlicht: „Es ging.“ Er sah sich um. „Lass uns schnell etwas zu essen holen, bevor nichts mehr da ist.“
 

Sie nickte. Als sie etwas sagen wollte, erklang die Stimme J´Kars. „Ich werde euch dann mal nicht weiter stören“, sagte der Maskierte und ließ die beiden alleine stehen. Etwas verlegen sah sie dem Meister nach. Sie hatte ganz vergessen ihn zu grüßen. Niemand hatte ihre gesamte Aufmerksamkeit gehabt, wobei sie J´Kar praktisch übersehen hatte. Hoffentlich war er ihr nicht böse. Sie würde es sich nie verzeihen können, wenn sie den ehrwürdigen Mann beleidigt hätte.
 

„Komm schon“, höret sie Niemand sagen und wand sich ihm zu. Der junge Mann sah sie mit seinem grünen Auge freundlich an. Sie nickte und zusammen holten sie sich etwas zu Essen. Einen Platz fanden sie nicht so rasch. Zumindest Niemand nicht. Abigail wurden Plätze an der Seite ihrer Kollegen angeboten, doch dem Fremden zeigten diese nur die kalte Schulter. Sie misstrauten ihm, seit sie wussten, was im Turmzimmer geschehen war. Am Tag danach hatte sie sich nur mit ängstlichen, sogar zögerlichen Schritten genähert, als J´Kar nach ihr hatte schicken lassen. Doch dank der Augenklappe war nichts mehr passiert. Das Gefühl der unbändigen Macht, das sie erregt, aber auch gequält hatte, war nicht mehr da gewesen. Wie auch das Gefühl, als würde man ihr die Kraft entziehen. Alles war einfach weg gewesen und Abigail hatte sich an den Fremden gewöhnen können und hatte ihn schließlich auch zu einem Freund erkoren.
 

Schließlich hatten sie doch einen Platz gefunden, eine Bank in der Ecke des Speisesaals, an dem noch niemand saß. Abigail schämte sich für ihre Kollegen, die Niemand so unfreundlich gegenüber aufgetreten waren. Sie hätte es nie für möglich gehalten, das ihre Kollegen und Freunde so abschätzend über andere denken konnten. Sie wüsste nur zu gerne den Grund dafür. Doch Niemand schien das nicht zu stören. Er aß in aller Ruhe sein Frühstück und unterhielt sich mit ihr, als wäre nichts passiert.
 

Die beiden unterhielten sich über ganz alltägliche Themen, wie das Wetter oder Abigails Übungen, bei denen Niemand ihr schon einige male zugesehen hatte. Sie hatte die Blicke des Mannes deutlich auf sich ruhen gefühlt, wie er sie aufs Genaueste betrachtet hatte. Ihr war das peinlich gewesen und sie hatte mit ihrer Konzentration kämpfen müssen. Viele Männer, jung und alt, hatten ihr bei den Übungen zugesehen, doch war sie nie so aus der Fassung geraten, wie bei dem mysteriösen Niemand. Sie hatte vermutet, dass es an seiner Macht lag, die tief in seinem Inneren ruhte und nur darauf wartete, wieder heraus zu kommen.
 

Doch dem war nicht so gewesen. Sie hatte ein ausführliches Gespräch mit Tailia geführt und die ältere Frau hatte ihr gesagt, dass dies ganz normal wäre für eine Frau, die sich verliebt hätte. Natürlich hatte Abigail ihrer Meisterin widersprochen, doch innerlich wusste sie, dass die Frau mit der Silbersträhne Recht hatte. Sie hatte ihr Herz an Niemand verloren, nicht an die Macht, die in ihm schlummerte. Sie sehnte sich regelrecht nach der Nähe des jungen Mannes, der sie immer mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen begrüßte und sie mit seinem grünen Auge betrachtete. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, nach seinen Berührungen. Wenn er sie nur leicht berührte, machte ihr Herz schon Freudensprünge.
 

Das Frühstück endete überaus rasch, wie die junge Frau fand. Gerne hätte sie sich weiter mit Niemand unterhalten und seinen Worten gelauscht. Doch sie musste zurück in ihre Kammer und einen Zauber studieren, den Tailia ihr zum Erledigen aufgegeben hatte. Dafür hätte sie die Meisterin gerne geohrfeigt. Durch diese Aufgabe war sie von Niemand getrennt, der sich mit J´Kar und Tailia in irgendeine Kammer zurück zog und dort weiter nach seiner Vergangenheit forschte. Gerne wäre sie dabei, an seiner Seite, um ihm zu helfen. Doch dies war ihr verwehrt.
 

Als beide durch einen der Gänge der Turmburg schritten, erzählte Niemand ihr von seinem neuen Traum, wie auch der grünhäutigen Frau und seinem Ziel. „Jeris?“, fragte sie. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Er war auf dem Weg nach jeris gewesen, auf einer der gefährlichsten Ruhten des Gebirges. „Wieso das?“
 

Er zuckte ungewiss mit den Schultern. „Ich weis nicht“, murmelte er nachdenklich. „Vermutlich habe ich sie dorthin begleitet.“
 

„Wer ist sie?“, wollte Abigail wissen.
 

„Eine Freundin, glaub ich“, meinte er unsicher. Er sah sie an. „Ich spüre nur, dass ich mit ihr irgendwie verbunden bin.“
 

Die junge Magierin schluckte. Verbunden? War sie etwa seine Geliebte oder gar seine Frau? Abigail wollte nicht weiter darüber nachdenken. Wenn ihr Verdacht der Wahrheit entsprach, würde Niemand gewiss nie ihre Liebe erwidern können. Nun hoffte sie, dass er nie wieder sein Gedächtnis zurück erlangen würde. Dann wäre er auf Ewig Niemand, ihr Niemand, den sie lieben durfte, wie sie es wünschte. Sofort rügte sie sich für diesen arroganten Wunsch. Was dachte sie sich bloß dabei? Sie durfte doch sein altes Leben nicht zerstören. Was war, wenn er die große Hoffnung des Landes war oder ein Held auf einer wichtigen Mission? Sie würde aus egoistischen Gründen andere in Gefahr bringen.
 

Niemand sah sie an und legte ihr eine Hand auf die Schulter, die er sanft drückte. „Ich muss sie finden“, sagte er ernst zu der jungen Frau.
 

„Aber wie?“, fragte Abigail, die glaubte sich verhört zu haben. Doch dem war nicht so. „Wie willst du sie in den Weiten der Wüste finden?“
 

„Ich weis es nicht“, murmelte er und lehnte sich an die Wand. Deutlich sah sie ihm seine Müdigkeit an. „Ich weis es wirklich nicht. Das ist eine Aufgabe für einen Mann, der eins mit sich ist, nicht so wie ich. Meine Vergangenheit liegt im Verborgenen meiner Seele. Das einzige, was ich weis, ist, das ich sie finden muss, um wieder der zu werden, der ich mal war.“
 

Die Magierin trat zu ihm und legte eine Ahnd auf seine Schultern. „Du bist eins mit dir, Niemand“, versuchte sie ihn zu trösten.
 

Er schnaubte verächtlich. „Niemand“, brummte er und kniff die Augen zu. „Nicht einmal meinen Namen kenne ich. Ich trage einen Namen, der für mich kaum eine Bedeutung hat, außer, das ich ein Niemand bin, der von irgendwoher stammt.“
 

Abigail schreckte etwas zurück, doch nahm sie ihren Mut zusammen und sagte: „Du bist kein Niemand.“ Er sah sie nicht überzeugt an. „Für mich bist du jemand.“ Jedes ihrer Worte nahm sie ernst und er spürte dies auch. „Ich kenne nicht deinen wahren Namen, dennoch schätze ich dich.“ Sie kam auf ihn zu und sah ihm mit ihren grünen Augen in das seine. „Du bist jemand.“
 

Niemand sah sie mit geweitetem Auge an, als könnte er nicht glauben, was sie zu ihm gesagt hatte. Der junge Mann senkte den Blick, als würde er sich schämen. Schließlich hob er ihn wieder und begegnete dem ihren. „Ich danke dir“, sagte er leise zu der jungen Magierin. Zu ihrer Überraschung küsste er sie auf die Wange und lächelte sie darauf an. „Danke“, sagte er noch einmal, bevor er sie alleine stehen ließ und zu seinem Treffen mit Tailia und J´Kar ging.
 

Mit großen Augen sah Abigail dem jungen Mann nach, auch, als dieser im Gang verschwand. Sie strich sich zögerlich über die Wange, wo er sie geküsst hatte. Die junge Frau spürte jetzt noch die Lippen, die ihre Haut berührt hatten, wie auch die Stoppeln seines nahenden Bartes. Immer noch konnte sie nicht fassen, was grade passiert war. Er hatte sie geküsst, schoss es ihr immer und immer wieder durch den Kopf. Zwar war es kein richtiger Kuss gewesen, dennoch hatten seine Lippen sie berührt.
 

Sie schloss die Augen und erinnerte sich rasch dem vergangenen Augenblick. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie sich sein Gesicht dem ihren näherte und seine Lippen sich auf ihre Wange legten. Doch schnell änderte sie die Erinnerung ab und Niemands Lippen trafen nicht ihre Wange, sondern ihre Lippen, um sie dort sanft zu küssen und ihr seine Liebe kund zu tun. Wie gerne hätte sie den falschen Augenblick erlebt. Dennoch freute sie sich über das kleine Zeichen der Zuneigung, das der junge Mann mit ihr geteilt hatte.
 

Mit dem Wunsch, eines Tages seine Lippen auf den ihren zu spüren, wand sie sich um und schlenderte, fast schon hüpfend, zu ihrer Kammer, in der noch viel Arbeit vor ihr lag. Wenn sie sich besonders intensiv mit dieser befassen würde, dann wäre der Tag sicher schon bald um und sie würde Niemand wieder treffen. Ja, das wünschte sie sich. Mit Niemand, der jemand war, zusammen zu Abend essen.
 

***
 

Grimmig sah Malcolm auf die Kristallkugel, die vor ihm auf seinem Arbeitstisch stand und die ihm das Bild des Fremden zeigte, denn alle Niemand riefen. Reine Eifersucht spiegelte sich in seinen alten Augen wieder. Dieser Bursch, wer er auch immer war, verfügte über eine Macht, die der des magus ebenwürdig war, wenn nicht sogar seine übertraf. Jetzt noch spürte er das Kribbeln in seinem Körper, das von der ungezügelten Macht im grauen Auge des jungen Mannes her rührte.
 

Seit diesem Tag sehnte sich der Erzmagier und Meister der Grauen Roben nach der Macht Niemands. Wieder wollte er von ihr berührt werden, sich in ihr suhlen, um von ihr durchdrungen zu werden. Wie viel besser würde sich Malcolm fühlen, wenn seine alten Knochen von der neuen Macht getränkt wären. Sicher wäre er wieder so agil wie in seiner Jugend, als er noch an zahlreichen Abenteuern teilgenommen und sogar so manches Frauenherz erobert hatte. Wie sehr er sich nach den guten, alten Zeiten sehnte. Doch sie waren vorbei und dem Alten blieben nur noch die Erinnerungen an diese.
 

Seit er bei den Grauen Roben war, hatte er sich damit abgefunden alt zu werden und eines Tages zu sterben. Doch seit dem Erwachen Niemands war er unzufrieden. Er wollte die Macht, die ihn zu Boden gerungen hatte, für sich selbst haben. Er wollte sie in sich spüren und sie verwenden können. Er wollte mit ihr Dinge verrichten, die noch nie einer vor ihm vermocht hatte. Er wollte der neue Magus werden.
 

Der Titel des Mächtigsten aller Magier zu erringen war sein Ziel. Wenn er einmal der Magus wäre, würde sich jedes Geheimnis sich von ihm lüften lassen. Nichts würde ihm entgehen, niemand würde etwas sagen können, ohne, das er es hörte. Seine Macht wäre grenzenlos. Doch um sein Ziel zu erreichen, musste er erstmal an die magischen Kräfte des Burschen kommen, der vor ihm, in der Kristallkugel, mit eiligen Schritten die Treppen erklomm.
 

Doch wie sollte er dies bewerkstelligen können? Ihm war kein Zauber bekannt, mit dem er die Macht eines anderen in sich aufnehmen konnte. Keiner der Zauberer der Grauen Roben kannte einen. Unbewusst erzitterte er. Malcolm erinnerte sich an die Magier, die einst aus Helios verband worden waren. Sie hatten sich mit den schwarzen Künsten beschäftigt, als er selber noch nicht einmal geboren worden war. Die Schwarzmagier hatten viele mächtige Zauber besessen, mit denen ihnen fast nichts unmöglich gewesen war. Doch sie waren von den Grauen Roben und den Magiern Helios aus dem Königreich vertrieben worden, als sie versucht hatten, die Macht an sich zu reißen. Ihre Festung war nur noch eine Ruine, die tief in den Roten Bergen, dem an den nord-westlichen Grenzen liegenden Gebirge von Helios, lag. Vielleicht…
 

Er zögerte den Gedanken weiter zu führen. Er durfte sich nicht von den schwarzen Künsten verführen lassen, nur, weil es ihn nach mehr Macht gelüstete und den Titel des Magus. Das durfte er nicht zu lassen. Zu lange war er Mitglied der Grauen Roben gewesen, als das er eine solche Dummheit hätte begehen können. Aber dennoch. Die Macht des Jungen ließ ihn innerlich wimmern. Er brauchte sie, um sein altes Leben wieder zu erlangen, um wieder glücklich zu sein.
 

Innerlich sträubte er sich, war sich uneins, was er nun wollte. Schnell verwarf er all seine Pläne wieder. Das Bild in der Kristallkugel ließ er verschwinden, um vom Anblick des Fremden nicht weiter in Versuchung gebracht zu werden. Wie hatte er nur auf solche frevelhafte Gedanken kommen können? Er war doch ein alter Narr, dass er sich von so etwas wie Macht verführen ließ. Nein, er würde wieder stehen dun sein ruhiges Leben in der Turmburg weiter führen, wie die letzten fünfzig Jahre auch. Nichts würde ihn davon abbringen können. Dennoch…
 

Die Versuchung war groß.
 

***
 

Tailia lauschte den Worten J´Kars, der mit ihr und Niemand zusammen in ihrer Kammer saßen. Der maskierte Magier erzählte ihr vom neuen Traum des jungen Mannes und dem darauf folgenden Versuch, die junge Frau ausfindig zu machen.
 

„Sie scheint eine Magierin zu sein“, vermutete die Meisterin mit der Silbersträhne schließlich, als J´Kar mit seinem Bericht geendet hatte.
 

Der Maskierte schien nicht davon überzeugt. „Das glaube ich weniger“, sagte er entschieden. „Mein Zauber hätte dann nicht so reibungslos wirken können, wenn sie einen Schutzzauber gewoben hätte. Ich geh eher davon aus, dass sie irgendwas bei sich trägt, was ein Aufspüren, zu einem gewissen Maß, verhindert. Schließlich haben wir ihre Spur in der Wüste verloren.“
 

Nachdenklich senkte sie den Blick und strich sich über das Kinn. „Das wäre auch eine Möglichkeit“, meinte sie einsichtig. „Aber vor wem sollte sie sich schützen wollen? Was ist der Zweck ihrer Reise?“ Sie sah bei diesen Worten Niemand an, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte. Er zuckte bloß mit den Schultern. Seine Erinnerungen waren nicht so weit zurückgekehrt, dass er ihr diese Frage hätte beantworten können.
 

„Das kann uns nur einer sagen“, sagte J´Kar, während auch er zu dem jungen Mann sah. „Doch dieser Jemand weis nicht einmal, wer er ist.“ Niemand sah den Magier niedergeschlagen an und senkte den Blick, als würde er sich für sein Los schämen.
 

„Wie auch immer“, meinte Tailia schließlich. „Er weis zumindest, das er nicht alleine war und wohin er wollte. Das muss reichen.“
 

„Etwas mehr zu wissen, wäre aber wesentlich besser, meine Liebe“, seufzte der Maskierte und lehnte sich in seinem Sessel etwas vor. „Wir wissen ja nicht einmal, was er oder sie in Jeris wollen.“
 

„Es muss etwas wichtiges sein“, murmelte Niemand schließlich, worauf ihn beide Erzmagier ansahen. Unter ihren Blicken senkte er seinen Kopf, um ihnen nicht in die Gesichter sehen zu müssen. „Schließlich sind wir dafür durch die Berge gereist, auf einer Route, die, nach J´Kars Worten, überaus gefährlich ist.“
 

„Der Junge hat recht“, stimmte J´Kar ihm zu. „Es muss etwas überaus Wichtiges dahinter stecken. Kaum einer durchquert diesen Teil der Berge, ohne eine bis an die Zähne bewaffnete Leibwache bei sich zu haben. Allein die Zwerge wagen sich in geringen Zahl dort hin.“
 

Tailia nickte zustimmend. Sie kannte das Antigas-Schlange-Gebirge genau so gut wie J´Kar. Die Berge waren ein gefährliches Gebiet, besonders in den tieferen Regionen, wo die Unholde lebten. Die alten Wege waren längst nicht mehr begehbar, denn nicht nur die Unholde durchstreiften sie, sondern noch ganz andere Kreaturen, die das Licht der Sonne scheuten und in den Schatten und Schluchten des Gebirges ihr Unwesen trieben. Tailia war in ihrer Jugend oft genug mit einigen Abenteurern durch das Gebirge gewandert und hatte die Monster bekämpft und immer wieder hatte sie sich gewünscht nie wieder auf eine der Kreaturen zu treffen. Denn sie waren in großen Zahlen gekommen und sie hatte hart ums Überleben kämpfen müssen.
 

„Wir sollten nach ihr suchen“, schlug J´Kar plötzlich vor.
 

„Sie suchen?“, fragte die Erzmagierin überrascht. „Wie stellst du dir das vor? Niemands Freundin könnte überall in der Wüste sein. Jeris Sandmeer ist riesig und zudem sehr gefährlich. Zudem wird der Rat sich dazu sicher nicht überreden lassen. Du weist um unseren Kodex, J´Kar.“
 

Der Maskierte schnaubte abfällig. „Ja, ja“, brummte er. „Die Grauen Roben mischen sich nicht ins Geschick der Reiche ein. Dennoch finde ich, dass wir der Sache nachgehen sollten. Du weist ganz genau wieso.“
 

Tailia sah den anderen direkt an und nickte verstehend. J´Kar war immer noch darauf versessen das Geheimnis von Niemand zu ergründen. Sie selber war ebenfalls erpicht darauf, mehr über den jungen Mann zu erfahren. Sie hatte nie in ihrem Leben eine solche Macht verspürt, wie sie von dem jungen Mann ausging. Anfangs hatte sie vermutet, das es sich um den Magus handeln könnte, der in einer Verkleidung seinen Schabernack mit ihnen trieb, doch rasch hatte sie den Gedanken verworfen und erkannt, wie töricht sie mit ihrer voreiligen Meinung gewesen war. Der Mächtigste aller Magiewirker war nicht von solch kindischer Natur, dass er sich mit solchen Kinkerlitzchen vergnügte. Zudem musste er sich um die Geschicke auf ganz Konass kümmern.
 

„Dennoch“, sagte sie schließlich entschieden. „Wir dürfen uns nicht zu irgendwelchen übereilten Handlungen hinreißen lassen.“ Sie sah Niemand entschuldigend an. „Er muss alleine dahinter kommen, wie leid es mir auch tut.“
 

Niemand sah sie enttäuscht an und nickte schließlich. Er wusste um die neutrale Haltung der Magier, denn Tailia selbst hatte ihm über die Lebensweise der Grauen Roben berichtet. „Wenn dem so ist“, sagte er und sah dabei die beiden Magier an. „Dann werde ich die Turmburg verlassen und in die Wüste ziehen, um nach meinen verlorenen Erinnerungen zu suchen.“
 

J´Kar sah ihn betrübt an. „Mein junger Freund“, sagte er mitfühlend. „Ich wäre gerne an deiner Seite, um dir auf deinem Weg zu helfen. Doch leider bindet mich der Kodex unseres Ordens dazu, untätig herum zu sitzen.“
 

Niemand nickte. „Schon gut, Meister J´Kar“, meinte der junge Mann und lächelte ihn leicht an. „Ich werde auch ohne eure Hilfe vorankommen. Schließlich wäre ich nicht mehr am leben, wenn ich das zuvor nicht vermocht hätte.“
 

Gutgelaunt lachte der Maskierte und Tailia ließ sich davon anstecken. „So spricht ein wahrer Abenteurer“, meinte der Erzmagier. „Dennoch. Ich werde dich nicht unvorbereitet in die Wüste schicken.“ Er erhob sich aus seinem Sessel. „Ich hab da noch ein paar Dinge, die dir unterwegs sicher sehr behilflich sein werden.“
 

„J´Kar“, empörte sich Tailia. „Du sollst ihm doch nicht helfen.“
 

„Helfen? Das tu ich doch gar nicht, meine Liebe. Ich rüste ihn nur etwas aus, mehr nicht. Ich will doch nicht die anderen Meister verärgern. Malcolm würde sonst an die Decke gehen. Und das wollen wir ja nicht, stimmst?“ Tailia glaubte ein schelmisches Glitzern in den leuchtenden Augen des maskierten zu sehen, doch war sie sich da nicht sicher.
 

„Wann kann ich aufbrechen?“, fragte Niemand übereifrig. Ohne dass die anderen es gemerkt hatten, war er aus seinem Sessel gesprungen und erweckte den Eindruck, dass er sofort aufbrechen wollte.
 

Wieder lachte J´Kar gutgelaunt. „Nicht so eilig, mein junger Freund“, schmunzelte er und klopfte dem jungen Mann auf die Schultern. „Erst einmal muss ich alles zusammen suchen, die anderen muss ich noch davon informieren und dazu muss noch vieles mehr erledigt werden, bevor du ziehen kannst.“
 

„Wie lange?“, fragte Niemand ungeduldig.
 

„Das kann ich dir leider nicht sagen.“
 

„Mist“, schnaubte Niemand sogleich. „So wird ihr Vorsprung viel zu groß. Ich würde Monate brauchen, um sie zu finden.“
 

„Es tut mir leid“, seufzte J´Kar. „Aber solche Dinge brauchen nun mal ihre Zeit. Doch sei vertröstet. Die Dinge, die ich für dich heraus suchen werde, können deine Suche erheblich erleichtern.“
 

„J´Kar“, sagte Tailia streng. „Hast du nicht gesagt, du wirst ihm nicht helfen?“
 

„Das werde ich auch nicht“, brummte der Maskierte sie an. „Ich werde mich da heraus halten, wie immer.“
 

„Das will ich auch hoffen“, meinte sie, wobei sie ihm zuzwinkerte. Die alte Magierin wusste nur zu genau, dass der Maskierte sich nicht zu genau an sein Versprechen halten würde. Irgendwie würde ihm das gelingen, ohne den Kodex zu verletzen. Warum sie das wusste, konnte sie nicht genau sagen, denn der maskierte Erzmagier war allen ein Rätsel. Vielleicht war es einfach ein Gefühl, das ihr dies sagte. Wie auch immer. Sie müsste sicher darauf Acht geben, dass er sich zurück hielt.
 

Sie sah den jungen Mann an und sagte: „Du kannst ruhig gehen, junger Mann. Wir werden dich informieren, sobald wir alles geregelt haben.“ Niedergeschlagen nickte Niemand und verließ das Zimmer der silbersträhnigen Meisterin. Sie sah ihm so lange nach, bis sich die Tür hinter ihm schloss und sie mit J´Kar allein in der Kammer war.
 

***
 

J´Kar wand sich der Meisterin zu, als er ihren Blick auf sich ruhen spürte. Ihre Augen funkelten ihn misstraurig an und er wusste sofort, dass sie seinen Worten keinen Glauben schenkte. Unter der Kapuze seiner Robe hob er eine der versteckten Augenbrauen an. „Was ist?“, fragte er seelenruhig.
 

„Du hast was vor“, sagte sie, ohne einen Heller um ihren Verdacht zu machen. „Ich spüre es.“
 

„Wie kommst du denn da drauf?“, fragte der Maskierte mit ruhiger Stimme, die keinen seiner Gedanken oder seine Gefühle verriet.
 

„Halt mich nicht zur Närrin, J´Kar“, warnte sie ihn sogleich und beugte sich in ihrem Sessel vor. „Du bist bis zum heutigen Tage ein jedem im Orden ein Rätsel, doch deine Absichten erkenne ich ohne große Mühe, ohne meine Magie zu verwenden. Deine Augen haben dich verraten.“
 

Einen Moment sah der Erzmagier seine Kollegin überrascht an, bevor er gutgelaunt anfing zu lachen. Als er sich langsam beruhigte, meinte er: „Du hast gute Augen, meine Liebe und eine gute Nase.“
 

Tailia ließ sich von ihm keinen Honig um den Mund schmieren. „Spar dir dein Lob“, erwiderte sie, wobei ein kleines Lächeln ihre Lippen umspielte. Sie schien es verbergen zu versuchen, doch die Augen J´Kars sahen es so deutlich, wie einen Vogel am wolkenlosen Himmel. „Das bewirkt bei mir nichts.“
 

„Da bin ich mir aber nicht so sicher“, wagte er sich zu widersprechen und fing sich sogleich einen warnenden Blick ein. Doch es kümmerte ihn nicht. J´Kar war die Ruhe selbst. Kaum einer strahlte so viel Gelassenheit wie der Maskierte aus.
 

„Ich warne dich, J´Kar“, zischte sie ihn an. „Ich will nicht gezwungen sein, dich für deinen Ungehorsam zu bestrafen. Der Kodex verbietet jedes Eingreifen in Dinge, die uns nichts angehen, egal wie wichtig sie einem auch erscheinen mögen.“
 

Der Maskierte verstand sie sofort. Doch es fiel ihm wahrlich schwer, seine Hände von dem Thema Niemand zu lassen. Der junge Mann, der einst zerschlagen und tödlich verwundet in einer Schlucht gefunden worden war, faszinierte ihn schon vom ersten Tag an. Der Bursche besaß eine Macht, die ihn schwindlig machte, wenn er sich nur an ihre magische Ausstrahlung zu erinnern wagte. Zwar war er dem Blick Niemands nicht unterlegen gewesen, als der Bursche erwacht war, dennoch spürte er, wie die anderen auch, ein Kribbeln in seinen Gliedern, das ihn nicht mehr los ließ. Er konnte es mit keinem anderen Gefühl vergleichen, das er je verspürt hatte. Daher hatte Niemand ihn auch so neugierig gemacht.
 

„Bitte befolg meine Worte“, bat ihn Tailia schließlich.
 

Knapp nickte er. „Ich werde es versuchen“, versprach er der Erzmagierin, die nicht all zu überzeugt wirkte. Er neigte vor ihr das Haupt, bevor er ihre Kammer verließ. Schließlich musste er noch die Ausrüstung für Niemand zu Recht legen. Und das bedurfte langer Suche und Arbeit.
 

***
 

Leise fluchend hockte Niemand auf den Zinnen des östlichen Wachturms. Hier hatte er sich des Öfteren schon zurückgezogen, wenn er etwas Zeit für sich und seine wirren Gedanken brauchte. Er war wütend auf Meister J´Kar, nein, auf alle Meister der Grauen Roben. Wieso ließen sie ihn nicht einfach ziehen, damit er die junge Frau finden konnte, die eine gemeinsame Vergangenheit mit ihm teilte. Er wollte endlich wissen, wer er war, wohin er gehörte. Er wollte wissen, wer sie war, dieses geheimnisvolle Mädchen mit der grünen Haut und den gelben Augen.
 

Allmählich vergingen die Stunden, bis die Sonne anfing hinter den bergen zu versinken und der Mond, zusammen mit unzähligen Sternen, seinen Platz einnahm. Der Wind war kühler geworden, doch Niemand störte sich nicht daran, sondern starrte in den dunklen Himmel gen Osten, wo seine Vergangenheit irgendwohin verschwand.
 

„Wer bin ich?“, fragte er sich leise und senkte den Blick. „Wo komme ich her? Wieso bin ich hier? Wieso war ich bei ihr?“ Er fragte sich dies mehr als einmal und zerbrach sich beinah daran den Kopf. Wie gerne würde er seine Vergangenheit zurück erlangen, nur, um seinen Namen zu wissen, nur, um die Wahrheit um sich selbst zu wissen.
 

„Da bist du ja“, erklang eine vertraute Stimme hinter ihm. Als der junge Mann sich umwand, erkannte er Abigail, die, wie üblich, ihre graue Robe trug und eine kleine Laterne in Händen hielt. Sie kam zu ihm herüber und warf einen Blick in den Osten. „Was versuchst du dort zu entdecken?“
 

Er wand seinen Blick wieder dem Osten zu und murmelte: „Mich selbst.“
 

Er spürte, dass die junge Frau sich zu ihm auf die Zinnen setzte und ihn mitfühlend ansah. Doch reagierte er nicht darauf. Am liebsten wäre er jetzt alleine mit seinen Gedanken, doch wagte er nicht Abigail einfach fort zu schicken. Sie war seine einzige Freundin hier, die gelernt hatte ihn zu verstehen, wie kein anderer in der gesamte Grausteinburg – mit Ausnahme von Meister J´Kar. Vielleicht würde ihre Anwesenheit ihm doch etwas Trost spenden, überlegte er, bevor er seinen ursprünglichen Gedanken nachhing.
 

Eine kleine Ewigkeit verging, in der keiner von beiden ein Wort sagte. Niemand glaubte, das Abigail verstand, warum er hier oben war. Wie sollte es auch anders sein? Sie war mit ihm schon einige Male hier oben gewesen und hatte mit ihm die Sterne betrachtet, sich dabei mit ihm über verschiedene Dinge unterhalten oder nur stillschweigend die Gegenwart des anderen zu genießen.
 

„Niemand“, hörte er ihre Stimme vorsichtig sagen. Er wand sich ihr zu, sah ihr ins Gesicht. „An was denkst du gerade?“
 

Er überlegte kurz und sagte: „An vieles.“ Sein Blick viel wieder auf den sternenübersäten Himmel. „An so viele Sachen, dass mir schon der Kopf schmerzt.“ Müde schüttelte er den Kopf. „In jeden Gedanken spiele ich oder diese fremde Frau eine Rolle. Aber was uns verbindet, bleibt mir immer noch verborgen. Am liebsten würde ich einfach weg laufen und mich wieder in die Schlucht stürzen, wo ich hätte sterben sollen.“
 

„Sag so was nicht“, kreischte Abigail und sah ihn bittend an. „Wie kommst du überhaupt auf so einen Unsinn? Deine Worte klingen fremd in meinen Ohren und ich frage mich, wer da neben mir sitzt. Mein Freund oder ein Fremder?“
 

„Ein Freund, der sich selbst fremd ist“, schnaubte Niemand verächtlich, versank wieder in sich selbst. „Ein Niemand.“
 

Abigail schluckte hart. „Du bist kein Niemand“, sagte sie zu ihm.
 

Er sah sie an und fragte barsch: „Wer bin ich dann? Kennst du meinen Namen?“
 

Obwohl seine Worte sie schmerzten, wand sie nicht den Blick ab, sondern sah ihm ins gut aussehende Gesicht. „Du bist mein Freund“, sagte sie mit aller Entschlossenheit, die sie aufbringen konnte. Nun nahm sie auch ihren gesamten Mut zusammen und tat etwas, wovon sie nie gedacht hätte, dass sie dazu in der Lage gewesen wäre. Sie küsste ihn.
 

Niemand konnte nicht glauben, was da grade passierte. Abigails Lippen lagen auf den seinen, beide zu einem Kuss vereint. Er spürte sie deutlich, spürte, wie weich sie waren, wie voll und lockend. Er schmeckte zudem einen Hauch Apfel. Hatte sie wieder vom Apfelsaft getrunken, den sie so mochte?
 

Zu schnell endete der Kuss, als Abigail sich zurück zog und stotterte: „E-es tut mir leid. Ich weis nicht…“ Doch sie brachte den Satz nie zu ende. Niemand legte ihr beide Hände auf die weichen Wangen und küsste nun sie. Sofort spürte er, wie ihre Starre sich auflöste, sie den Kuss erwiderte und ihre Arme sich um seinen Hals legten. Niemand schloss seine Augen, verlor sich in dem unbeschreiblichen Gefühl, das der Kuss auslöste.
 

Nie zuvor – zumindest glaubte er es – hatte er solch ein intensives Gefühl verspürt. Es war eine Leidenschaft, die schon lange unter ihnen geherrscht hatte, doch nie zu Tage gebracht worden war.
 

Niemand hatte nicht mal zu glauben gewagt, das Abigail und er so weit hätten gehen können. Er hatte sie nur als Freundin gesehen, doch der Kuss bewies, dass da mehr war, als bloße Freundschaft. Er hatte nie zu glauben gewagt, dass er sie lieben könnte. Er hatte vor solch einen Schritt stets Angst gehabt. Er wusste ja nicht, wer er war, wo er her kam, wer ihm nahe stand.
 

Doch all diese Gedanken verflogen im Rausch des Kusses. Das einzige, an das er noch dachte, war Abigails weichen Lippen, die seine liebkosten, wie auch die seinen ihre. Die junge Frau beherrschte jeden seiner Gedanken. Er wollte nur noch bei ihr sein, sie spüren, sie berühren. Ohne sein Zutun waren seine Hände nun damit beschäftigt über den Leib der jungen Frau mit dem feuerroten haar zu wandern, ihn zu erkunden, während ihre Hände sich in seinen Haaren verfingen, ihn daran hinderten, das er den Kuss löste.
 

Keiner von beiden entsann sich in dieser Nacht daran, wie sie in Abigails Kammer gelangt waren. Sie hatten nur Augen für einander gehabt und sich die ganze Nacht über geliebt. Sehr spät kamen sie zur Ruhe, doch keiner der beiden Liebenden war in der Lage, den anderen los zu lassen. Sich in den Armen liegend waren sie eingeschlafen und das erste Mal, seit langer Zeit, wurde Niemand nicht von Alpträumen heimgesucht. Es wurde seine erste traumlose Nacht in der Grausteinburg.
 

***
 

„Nein“, knurrte Malcolm aufgebracht und stampfte wie ein kleines Kind mit dem Fuß auf. „Wir können ihn nicht gehen lassen. Der Ursprung seiner Magie ist uns noch immer unbekannt und er stellt eine Gefahr für die Reiche dar.“
 

„Eine Gefahr?“, fragte J´Kar den anderen Meister. Er und die gesamten Meister der Grauen Roben hatten sich wieder zusammen gefunden und besprachen Niemands Wunsch, sofort nach Jeris aufzubrechen, um dort nach seiner fremden Freundin zu suchen. Malcolm, wie auch viele andere der Meister waren dafür, dass der junge Mann in der Grausteinburg blieb, wo sie weiter über ihn forschen konnten. Andere der Meister, wie J´Kar und Tailia, hingegen waren dafür, das man dem Fremden den Wunsch gewährte, nach Jeris zu ziehen. Es hatte sich daraus eine hitzige Diskussion entwickelt, die J´Kar und Malcolm praktisch alleine führten, während die anderen gelegentlich zu den Worten der beiden nickten oder etwas einwarfen.
 

„So ist es“, brummte der alte Mann. „Vergiss nicht sein Erwachen. Selbst du hast seine Macht gespürt, die uns gepeinigt hat.“ Damit bezog er sich auf Tailia, Abigail und auch sich selbst, die von dem grauen Auge Niemands, das er unter einer Augenklappe verborgen hielt, regelrecht gepeinigt wurden, wie auch nach der Magie darin gelechzt hatten. Malcolm selbst verlangte es noch immer nach der Macht des jungen Mannes, doch wagte er es nicht laut auszusprechen.
 

„Niemand ist für keinen eine Gefahr“, widersprach der Maskierte entschieden und sah den alten Mann mit seinen leuchtenden Augen direkt an. „Er weis nicht, wie er die Magie verwenden soll, geschweige, wie mächtig er wirklich ist.“ Er wand sich an die anderen Meister und fuhr fort. „Wir sollten ihm die Chance geben seine Erinnerungen wieder zu finden. Er könnte ein machtvoller Verbündeter für uns werden.“
 

Einige der Meister nickten zustimmend, während wiederum andere nicht überzeugt von den Worten des maskierten Meisters waren. Sie waren auf Malcolms Seite.
 

Ein Elfenmagier trat vor und sagte mit seiner melodischen Stimme: „Wir sollten den Fremden weg sperren. Auch mit der Augenklappe, die ihr ihm gabt, habe ich seine Macht gespürt. Malcolm hat Recht. Der Fremde ist viel zu gefährlich.“
 

Malcolm nickte dem Elfen dankbar zu. „Da hörst du es, J´Kar“, sagte er zu dem anderen Erzmagier, wobei er ein Grinsen nicht verbergen konnte. „Selbst unsere weisesten Meister sind mit mir einer Meinung. Niemand ist eine Gefahr.“
 

J´Kar schnaubte. „Nur einmal ist seine Magie hervor getreten“, erwiderte der Maskierte entschlossen. „Nur einmal und das, als er erwacht war. Seit diesem Tag hat es keinen Zwischenfall mehr gegeben. Die Magie ist nicht gefährlich, sonst hätte meine Augenklappe nichts genützt. Wenn er gefährlich wäre, dann wären wir alle sicher nicht mehr hier, um darüber zu streiten.“
 

„Du läst dich von deiner Freundschaft zu dem Jungen blenden, J´Kar“, wagte Malcolm zu behaupten. Er grinste erneut, als er das leichte Zucken eines Auges des Meisters erhaschte. Er lag also nicht ganz falsch mit seiner Behauptung. „Mach die Augen und Ohren auf. Höre die Wahrheit in meinen Worten. Der Junge ist eine Gefahr für die friedlichen Völker.“
 

J´Kar wischte diese Behauptung mit einer Handbewegung ab. „Der Junge ist genau so friedlich, wie ein schlafendes Kind. Ich habe gesehen, wie er mit den anderen umgeht, wie freundlich er ist.“
 

„Du sprichst seine Beziehung zu der jungen Abigail an“, höhnte Malcolm. „Sie ist die einzige in der gesamten Burg, die sich an ihn heran wagt. Wir alle kennen sie. Feurig und ungestüm. Wie sollte eine solche Frau auch Angst vor so einer Bedrohung haben, wie Niemand? Nein, J´Kar. Niemand muss hier bleiben.“
 

„Du bist doch blind, alter Mann“, fuhr der Maskierte Malcolm an, was die anderen meister allesamt erschreckte. Sie kannten den Magier als beherrschten, ausgeglichenen Mann, der sich von nichts aus der Ruhe zu bringen vermochte. Doch nun zeigte sich hier ein anderer J´Kar, einer, der seine Gefühle nicht unter Kontrolle halten konnte. „Abigail ist ein schlaues Mädchen. Sie sieht nicht allein die Macht des Jungen, sondern die Person selbst. Sie weis um die Gutmütigkeit Niemand bescheid, besser, als wir alle zusammen, wage ich zu behaupten.“
 

„Zügel deine Zunge!“, herrschte Malcolm ihn sofort an. Er konnte diese Beleidigung nicht auf sich sitzen lassen und die anderen meister erst recht nicht. „Du hast wohl vergessen, mit wem du hier sprichst!“
 

„Das habe ich ganz gewiss nicht“, sagte J´Kar ruhig, wieder ganz der Alte. „Ich sage nur die Wahrheit. Hat auch nur einer von euch sich die zeit genommen und sich mit Niemand auseinander gesetzt? Ich habe sie mir genommen, wie auch Abigail und Tailia.“ Er bemerkte jeden einzelnen, der beschämt den Kopf schüttelte. Anderes hatte er nicht erwartet. Nur Malcolm blieb unerbitterlich.
 

„Versuch uns keine falschen Schuldgefühle einzureden“, warnte er den anderen, wobei er sogar anklagend seinen Stab auf J´Kar richtete. „Ich habe Niemand genau beobachtet und die Magie in ihm nur zu deutlich gespürt. Sie ist wild und unbändig. Wenn er nur einmal versuchen sollte, sie zu nutzen, wird er unzählige Leben damit vernichten.“
 

Tailia trat vor und nun sprach sie, bevor J´Kar oder Malcolm nur die Chance dazu bekamen. „Malcolm, du machst dir zu viele Sorgen“, sagte sie sanft zu ihrem alten Freund, der sie durch zusammen gekniffene Augen her anstarrte. „Niemand ist keine Gefahr für die friedlichen Völker, genau so wenig wie für uns. Bitte respektiere seinen Wunsch, seine Erinnerungen wieder zu finden. Erinnere dich nur an Atiras.“
 

Malcolm runzelte die Stirn. Wieso sollte er sich an einen Mann erinnern, der keine Zunge mehr hatte und den Orden vor so lange Zeit verlassen hatte, das sich alle fragten, ob er überhaupt noch lebte.
 

„Wieso?“, fragte er daher die Frau mit der Silbersträhne.
 

„Weil du es warst, der ihn unterstützt hat, als er darum bat dauerhaft seinen Dienst fortzusetzen“, sagte sie schlicht. „Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie du ihm beigestanden hast. Genau das gleiche macht J´Kar jetzt auch. Er steht Niemand bei.“
 

„Das ist was anderes.“
 

„Wirklich?“ Sie wirkte nicht überzeugt. „Etwa, weil er ein Magier unseres Ordens ist und Niemand nicht? Wenn dem so ist, sollten wir ihn in unsere Reihen aufnehmen.“
 

„Das ist unmöglich!“, rief ein anderer Meister. „Er ist zu alt!“
 

Zustimmendes Gemurmel erklang.
 

„Ich weis“, bestätigte sie. „Er ist zu alt, um bei uns die Lehre zu machen. Dennoch nicht zu alt, um allein auf eigenen Beinen zu stehen und frei zu sein.“ Sie sah Malcolm ernst an. „Genau dieselben Worte hast du bei Atiras verwendet.“
 

Malcolm starrte sie ungläubig an. Wie konnte sie sich nur an die Worte erinnern? Es war viele Jahre her, seit er sich um den Wunsch des jungen Atiras gekümmert hatte, kurz nachdem sein Meister gestorben war. Er selber konnte sich nicht einmal richtig an die Worte erinnern. Mal wieder hatte Tailia ihr unglaubliches Gedächtnis unter Beweis gestellt.
 

„Macht doch was ihr wollt!“, herrschte er die Frau an, doch sie zuckte mit keinem Muskel. „Aber ich warne euch. Wenn ich mitbekommen sollte, das der Junge nur einen üblen Zauber wirken sollte oder diese verdammte Augenklappe abnimmt, werde ich ihn höchstpersönlich töten.“ Mit diesen Worten wand sich der alte Meister ab und ließ die anderen meister zurück.
 

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8. Akt: Die Wüste

Viele halten die weiten der Wüste für einen lebensfeindlichen Ort.

Doch wissen sie nicht,

Das es dort eine Vielzahl von Leben gibt.

Sie sehen nur Sand

Und spüren die gnadenlosen Strahlen der Sonne.

Sie sehen nicht wirklich hin,

Sehen nicht die Tiere und Pflanzen,

Die die Wüste ihre Heimat nennen.

Denn die Wüste lebt.
 

Anshak Orga,

Gelehrter aus den Wüstenländern
 

***
 

Lorgren betrachtete eingehend die Schulter Fynns. Er hatte den Pfeil entfernt, nicht ohne Schmerzen für Fynn, die selbst nach der Behandlung noch Tränen vergossen hatte. Darauf hatte er eine Heilsalbe aufgetragen und die Schulter verbunden. Seitdem war ein Tag vergangen und der Wüstenreiter musste sich über den zustand der Wunde vergewissern.
 

Er hatte die Truppe in die Wüste hinein geführt und mit einigem Glück fanden sie rasch eine kleine Felsinsel, in der sie eine kühle Höhle gefunden hatten, in der sie die erste Nacht hatten verbringen können. Valzar und Flint waren auf Geheiß des Jerisanen aus der Höhle verschwunden, damit er Fynn in aller Ruhe behandeln konnte.
 

Fynn saß mit dem Rücken zu ihm und sah auf den Ausgang der Höhle, das Hemd hatte sie gegen ein anderes gewechselt, da Lorgren davor gewarnt hatte, das in der Wüste Räuber mit empfindlichen Nasen lebten. Nun lag ihre Schulter frei, so, das Lorgren ungehindert sie erreichen konnte. Dennoch zitterte sie. Der Wüstenreiter vermutete, dass sie sich unwohl fühlte, allein mit ihm zu sein. Doch störte er sich nicht daran, sondern kümmerte sich um seine Arbeit.
 

Vorsichtig löste er den Knoten des Verbandes und begann diesen zu entfernen. Fynn forderte er auf, den Arm zu heben, da er sonst nicht richtig arbeiten könne. Sie gehorchte schweigend und hielt ihren Blick starr grade ausgerichtet. Zufrieden fuhr der Mann fort. Bald schon hatte er den Verband abgenommen und legte ihn neben sich. Die Wunde lag nun direkt vor seinem Auge. Die Salbe hatte bereits zu wirken begonnen. Die Wunde war weder entzündet noch eiterte sie. Der Wüstenreiter schätzte, dass sie in einigen Tagen vollkommen genesen sein würde. Vielleicht trafen sie unterwegs sogar auf eine Karawane und konnten die Dienste eines Heilers in Anspruch nehmen, vorausgesetzt, dass es sich dabei um Händler aus Helios handelte. Jerisanen würden ihnen sicher nicht helfen, schon allein weil zwei Zwerge dabei waren. Fynn würde kein jerisanischer Heiler auch nur anfassen wollen, da sie eine Halbork war und diese galten in Jeris nicht viel mehr wert als ein kranker Hund.
 

Lorgren holte aus einer der Satteltaschen, denn sie hatten ihre Tiere von ihrer Last befreit und mit in die kühle Höhle genommen, die Heilsalbe hervor, die er am tag zuvor schon angewandt hatte. Er öffnete den kleinen Behälter und nahm zwei Fingerkuppenvoll von der grünlichen Salbe. Vorsichtig strich er um die Wunde herum, spürte dabei, wie Fynn anfing zu zittern. Doch ließ er sich davon nicht stören, machte weiter. Schon war der Rand der Wunde versorgt. Er holte etwas Verband hervor und riss davon einen fetzen ab, den er mit dem Rest der Salbe beschmierte und schließlich, mit all seinem Fingerspitzengefühl auf die Pfeilwunde auflegte. Die Halbork atmete zischend die Luft ein, denn die heilende Paste brannte bei der ersten Berührung immer, und erstarrte dabei. Doch schon bald entspannte sie sich wieder. Nun, mit schnellen Griffen, verband er ihr wieder die Wunde und schon war ihre Schulte von dem weißen Verband verdeckt.
 

Der Wüstenreiter verstaute die Heilmittel, während Fynn sich das Hemd wieder zu Recht rückte und zuknöpfte. „Das muss bis morgen reichen“, sagte der Mann monoton, bevor er sich erhob, um die Höhle zu verlassen.
 

Das Mädchen sich allein überlassend, trat Lorgren aus der Höhle. Die Wüstensonne strahlte unbarmherzig auf ihn hinab, doch der bronzehäutige Mann störte sich nicht daran, genoss es sogar, endlich wieder in der Wüste zu sein dun deren warme Sonne auf seiner Haut zu spüren. Er war viel zu lange aus der Wüste weg gewesen, hatte seinen Clan zurück gelassen, um den Wunsch seines Meisters folge zu leisten. Doch nun kehrte er zurück und brachte sogar die Hüterin des Herzschwertes mit sich. Der Meister würde zufrieden sein.
 

Im Schatten eines niedrigen Felsens saßen die beiden Zwerge und starrten in die Weiten des Sandmeeres hinaus. Der Jerisane sah ihnen deutlich an, dass ihnen dieser Anblick gar nicht gefiel. Sie waren hohe und kühle Berge gewöhnt, aber nicht die heiße und dünenreiche Wüste. Sie liebten den Stein und nicht den Sand.
 

Er ging zu ihnen und fragte: „Irgendwas zu sehen?“
 

Flint schüttelte den Kopf. „Nichts außer Sand und Dünen“, antwortete der alte Zwerg trübselig. Er griff zum Wasserschlauch, der neben ihm lag und trank einen großzügigen Schluck Wasser.
 

„Geht sparsam mit dem Wasser um“, sagte Lorgren ernst. „Wir wissen nicht, wie lange wir zur nächsten Oase brauchen werden. Wohlmöglich werden bis dahin sogar unsere Vorräte aufgebraucht sein.“
 

Valzar sah zu ihm auf und brummte: „Wissen wir. Schließlich sind wir nicht dumm, Mann aus der Wüste.“ Er sah wieder auf die Wüste hinaus. „Wie geht es der Hüterin?“
 

Lorgren warf einen Kurzen Blick über die Schulter. „Ihre Wunde sieht gut aus; meinte er. „Die Salbe wirkt. In ein einem Zehntag wird sie ihre Schulter wieder bewegen können, ohne Schmerzen zu verspüren.“ Zufrieden mit der Antwort nickte der Zwergenherrscher.
 

Nun wand der Wüstenreiter seine Aufmerksamkeit der Wüste zu, seiner sandigen Heimat. Es war erst Morgen, doch jetzt schon brannte die Sonne unbarmherzig auf sie herab. Er wusste, dass es bis zum Mittag noch wärmer werden würde und sie mussten schon bald wieder aufbrechen. Fynn hatte gefragt, warum sie nicht bei Nacht reisen konnten, da es doch wesentlich kühler war, als am Tage. Lorgren hatte ihr und den Zwergen erklärt, dass es grade die Nacht war, vor der sich in Acht nehmen mussten. Die kühle Nachtluft lockte viele Räuber aus ihren Tagquartieren. Bei Tag war es wesentlich sicherer, da sich die Kreaturen der Wüste dann unter der Erde oder in kühlen Höhlen, wie in der, die ihr Nachtquartier war, versteckten, um nicht der Sonne ausgesetzt zu sein. Nur widerwillig hatte ihm Valzar zugestimmt.
 

„Wir sollten aufbrechen“, sagte Lorgren schließlich und wand sich der Höhle zu. „Wir müssen ein gutes Stück zwischen uns und den Bergen bringen.“
 

Die Zwerge erhoben sich und marschierten mit dem Wüstenreiter zurück. Fynn sah auf, als sie in die Höhle kamen. Sie versuchte grade sich ihre lange Weste über zu werfen, doch nur mit einem Arm war dies schwierig. Lorgren kannte das nur zu gut. „Lass es besser sein“, sagte er zu ihr.
 

Fynn warf ihm einen trotzigen Blick zu. „Das schaffe ich schon“, meinte sie, während sie sich weiter mit der Weste abmühte und es schließlich doch schaffte. Sie sah Lorgren triumphierend an, doch runzelte sogleich die Stirn, als sie sein Kopfschütteln sah.
 

Er streifte sich umständlich den Harnisch ab und ließ ihn auf den Boden fallen, wie auch seinen Waffengurt. „Wir werden luftiger reisen“, meinte er tonlos, als er aus einer der Satteltaschen einen langen Umhang, aus sandfarbenem Stoff, zog und diesen sich überwarf. Er kniete sich hin und mit einiger Mühe schnallte er sich den Waffengurt um die Hüfte.
 

Sie sah ihm dabei zu und seufzte nieder geschlagen. Die ganze Mühe umsonst. Sie zog die Weste wieder aus und sah ihn abwartend an. Schon reichte er ihr einen weiteren Umhang, der wie seiner aus sandfarbenem Stoff bestand und legte ihn sich um. Mit einiger Hilfe von Lorgren machte sie ihn schließlich fest und setzte die Kapuze auf.
 

Während Lorgren sich einen Turban band, sahen die Zwerge skeptisch drein. „Worauf wartet ihr?“, fragte der Wüstenreiter die Bärtigen, als er von neuen anfangen musste, den Turban zu binden. Schließlich war so etwas mit einem Arm praktisch unmöglich. Diesmal ließ er sich von Fynn helfen.
 

„Müssen wir auch unsere Rüstungen ablegen?“, fragte Flint, dem man deutlich ansah, dass ihm der Gedanke nicht sonderlich gefiel.
 

„Ja“, war die knappe Antwort des Jerisanen, bevor er auch ihnen Umhänge reichte. Schnaubend zwängten sich die Zwerge aus ihren Rüstungen und ihren Gürteln, bevor sie sich in die seltsamen Umhänge wandten. Schnell legten sie ihre Gürtel mit ihren Waffen wieder um. Die Rüstungen verstauten sie sorgfältig in ihren Satteltaschen.
 

Als die Gruppe fertig für den Aufbruch war, führte Lorgren sie zu ihren Pferden, die sie an einem schattigen Plätzchen der Steininsel zurück gelassen hatten. Lorgrens Hengst, ein stolzer Wüstenhengst, wieherte glücklich auf, als er den Geruch seines Herren wahrnahm. Er trabte dem Wüstenreiter entgegen und wieherte sanft zur Begrüßung. Lorgren musste etwas lächeln und tätschelte die bebenden Nüstern seines Tieres, um den Gruß zu erwidern.
 

Schnell waren die Pferde gesattelt und die Reise ging weiter.
 

***
 

Sie ritten ohne Pause weiter durch die Wüste von Jeris, die auch als das Sandmeer bekannt war. Fynn fand diese Hitze erdrückend. Als sie noch durch den Pfeil verwundet gewesen war, hatte sie nichts von der Hitze mitbekommen, denn der Schmerz war schon unerträglich genug gewesen. Sie konnte sich nur darüber wundern, wie heiß und gnadenlos die Sonne hier war. In ihrer Heimat schien sie sanfter, liebkoste regelrecht die Haut, während die Sonne über jeris nur darauf aus war, ihnen einen Sonnenbrand nach dem anderen zu verpassen.
 

Valzar hatte sich bereits einen eingefangen, denn der stolze Zwerg hatte sich geweigert die Kapuze seines Umhanges über zu ziehen. Nun glühte sein Kopf genau so rot, wie sein Bart und er war einsichtig genug gewesen, dem Beispiel der anderen zu folgen.
 

Lorgren hatte die Führung übernommen, denn es war seine Heimat und er kannte sich hier am besten aus. Ihm folgte Fynn, die ermattet im Sattel ihrer grauen Stute, der es nicht viel besser ging, saß. Dann kamen die Zwerge, wovon Flint die Nachhut bildete. Ihren Ponys ging es am schlimmsten. Sie waren Bergponys und keine Wüstenponys. Auf ihrem weg hatten sie bereits eins der Packtiere verloren. Es war der Hitze erlegen gewesen dun einfach tot zusammen gebrochen. Einen Teil der Ausrüstung hatten sie daher zurück lassen müssen, da alle Pferde schon genug Lasten trugen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das nächste Tier verendete.
 

Stumm reisten die Gefährten weiter. Gelegentlich brummte einer der Zwerge oder wieherte eins der Pferde, doch mehr war von ihnen nichts zu hören. Die Hitze wirkte zermürbend auf Fynn und ihre zwergischen Begleiter, während Lorgren daher ritt, als wäre er immer noch in den Wäldern oder Bergen Helios unterwegs. Dafür bewunderte das Mädchen den Mann. Wie gerne würde sie ebenso beherrscht wie er auf seinem Pferd sitzen und die Hitze ohne weiteres ertragen können. Sie fragte sich insgeheim, ob es etwas mit seiner bronzenen Haut zutun haben mochte. Die Haut strahlte regelrecht im Schien der Sonne und ließ den Wüstenreiter in einem ganz andere Licht erscheinen.
 

Schon bald brach die Nacht herein. Die Luft kühlte blitzartig ab und ließ Fynn und ihre Begleiter frieren. Das Mädchen dennoch dankte innerlich den Göttern. Endlich war die Sonne verschwunden und materte sie nicht weiter. Doch Lorgren ließ sie nicht anhalten. Fynn fühlte sich kraftlos und ihr fielen immer wieder die Augen zu. Ihr Durst war gewaltig, wie auch ihr Hunger, doch der Wüstenreiter verbat ihnen etwas von den Vorräten zu nehmen. Erst spät in der Nacht ließ er sie halten, auf einem glatten Felsen, der ihnen genug platz bot. Rasch entzündeten sie ein Feuer und scharrten sich darum.
 

Nun endlich erlaubte Lorgren ihnen zu essen und zu trinken. Doch das Wasser rationierte er so, das alle grade mal einen Becher voll hatten. Den Zwergen war das einerlei, denn sie hatten genug zu Essen, um ihre Bäuche zu füllen. Fynn hingegen hätte am liebsten einen der Wasserschläuche komplett geleert, um ihren Durst zu löschen. Leider passte der Jerisane auf wie ein Luchs.
 

Neben ihrem Durst fror Fynn bitterlich. Sie hatte sich ihre Decke enger um den Körper gelegt, ohne den Umhang abzulegen. Selbst mit dem wärmenden Feuer erschien ihr die Nacht eisig, als würde sie einem die Wärme aus den Gliedern ziehen. Das Mädchen vermutete, das es genau so kalt wie im Winter war. Es würde sie nicht wundern, wenn es zu schneien anfangen würde.
 

Sie schloss die Finger um den Schwertanhänger ihrer Muter und versuchte sich an ihm zu wärmen. Seine Wärme aber reichte nicht aus, um ihr Zittern zu beenden. Leise fluchte sie. Jetzt würde sie gerne daheim in ihrem Bett liegen, unter vielen Schichten von Decken. Jetzt kam ihr auch die Wüstensonne wesentlich erfreulicher vor, doch sie wusste, dass es sich am nächsten Tag ändern würde, sobald die ersten Sonnenstrahlen auf sie nieder schienen.
 

Die Zwerge fühlten sich in der Kälte der Nacht sichtlich wohl. Sie wirkten etwas belebter, als während des langen Rittes. Sie tratschten über irgendwelche Dinge, die nicht weiter von Interesse waren oder schoben sich ihr Essen in die Münder. Valzars Gesicht hatte an Farbe verloren, so dass man wieder erkannte, wo sein roter Bart anfing.
 

Fynns Blick huschte zu Lorgren, der die erste Wache übernommen hatte. Er stand aufrecht am Rand der Felsplatte und ließ den Blick achtsam durch die dunkle Wüste streifen. Immer noch trug er den Turban, doch den Wüstenumhang hatte er abgelegt und stand nur in seinem luftigen Hemd und der engen Hose da. Das Mädchen konnte nicht anders, als ihn anzusehen.
 

Er war wirklich ein attraktiver Mann, fiel ihr auf. Zuvor hatte sie nie wirklich einen Gedanken daran verloren, denn die Erinnerungen an Jakob, dem üblen Meuchler der Skormklingen, waren noch zu frisch. Sie hatte sich an diesem Trag geschworen auf keinen Mann mehr rein zu fallen, der ihr schöne Augen machte und der sogleich ein Bild von einem Mann war. Sie fürchtete, wieder betrogen zu werden. Doch bei Lorgren, dem Mann aus der Wüste, war dies nicht so. Zwar hegte sie keine tieferen Gefühle für ihn, doch fühlte sie sich in seiner Nähe überaus wohl. Der Schwertanhänger hatte das Gefühl jedes Mal bestärkt, als seine innere Glut erwacht war und sie mit seiner Wärme eingelullt hatte.
 

Dennoch. Lorgren war für sie immer noch ein Fremder. Zwar hatte sie ihn in den Wochen schon etwas näher kennen gelernt, doch war er für sie immer noch ein Rätsel. Nie zu vor war sie einem Mann wie ihm begegnet, der seine Gefühle unter einer Maske verbarg. Er sprach zudem nie viel, außer wenn es wichtig war, seiner Meinung nach zumindest. Als sie ihn einmal gefragt hatte, was mit seinem fehlenden Arm passiert war, hatte er bloß gesagt, dass er ihn im Kampf verloren hatte. Mit wem hatte er ihr verschwiegen, wie so viele andere Sachen auch.
 

Der Wüstenreiter schien ihr Starren bemerkt zu haben, denn er wand sich ihr zu und seine braunen Augen glitzerten im Schein des Feuers. Fynn sah verlegen weg, wieder aufs flackernde Feuer. Wieder einmal hatte sie sich im Anblick des Mannes verloren. Dabei war es nicht einmal ihre Absicht gewesen, ihn so lange zu beobachten. Wahrscheinlich würde er sich wieder in seine sprießenden Bartstoppeln brummeln, weil er sich von ihren Blicken gestört fühlte, und sie weiter nicht beachten.
 

Damit ihr nicht noch ein solcher Fehler unterlief – in letzter Zeit waren es reichlich gewesen – ging sie zu ihrem Schlafsack und bettete sich in diesen, um für diese Nacht ruhe zu finden. Beim ersten Sonnenstrahl würden sie wieder unterwegs sein und dafür wollte sie ebenfalls ausgeruht sein.
 

***
 

Früh am Morgen, die ersten Sonnenstrahlen schienen auf sie herab, weckte Flint, der die letzte Wache übernommen hatte, seine Gefährten. Während Lorgren sich um Fynns verletzte Schulter kümmerte, rafften der weißbärtige Zwerg und Valzar das Kochgeschirr und die Schlafsäcke zusammen und verluden sie auf die Pferde. Und bald waren sie auch schon wieder unterwegs.
 

Die Tage zogen sich langsam dahin. Sie reisten fünf lange Tage durch die Wüste, ohne einer Seele über den Weg zu laufen. Für die junge Halbork und die beiden Zwerge wirkte die Wüste wie tot, doch Lorgren wusste es besser. Überall in der Wüste gab es leben, das sich aber nur gelegentlich aus seinen Verstecken wagte, wenn die Sonne schien. Das Leben versteckte sich einfach zu gut vor ihnen, als das sie es hätten wahrnehmen können.
 

Auch die Nächte waren bedrückend. Die Zwerge redeten nur noch seltener, wenn dann, beschwerten sie sich über die elende Wüste. Lorgren nahm es einfach hin, ohne sich beleidigt zu fühlen. Auch er hatte über die Wüste geflucht, als ein weiteres Pony verendet war und sie einen weiteren Teil ihrer Ausrüstung hatten zurück lassen müssen.
 

Auch am fünften Abend saßen sie schweigend zusammen. Die Zwerge hatten sich allmählich damit abgefunden, dass die sie auf eine solch harte Probe stellte. Sie hatten gelernt mit ihrer Situation umzugehen. Dabei war ihr zwergischer Starrsinn den beiden Bärtigen sehr hilfreich gewesen.
 

Fynn war von allen an diesem Abend die Schweigsamste. Sie sah nur ins Feuer und hing dauernd ihren Gedanken nach. Ihre Wunde schmerzte nicht mehr, hatte sie dem Wüstenreiter versichert, doch so wirklich glaubte er ihr es nicht. Die Salbe hatte ihre Wunde weiter heilen lassen, doch würde es eine lange Zeit dauern, bis sie völlig verheilt wäre. Allmählich machte sich Lorgren Gedanken um das Mädchen. Seit ihrem Aufenthalt in der Wüste war sie ungewöhnlich schweigsam, fast wie an dem Tag, als Ian in den Tot gestürzt war. Nicht einmal ihre neugierigen Blicke spürte er mehr in seinem Rücken. Sie schien sich mit ihrer Lage abgefunden zu haben, doch war das wirklich gut für sie? Der Wüstenreiter musste eine Möglichkeit finden, ihren Geist wieder zu wecken. Irgendwie musste er sie von ihrer Trübseligkeit ablenken, ihr eine Aufgabe geben, damit sie sich damit beschäftigen konnte.
 

Flint saß zusammen mit dem Wüstenreiter am Feuer und kaute auf einem Stück Brot herum. Valzar hatte den Wüstenreiter abgelöst, während Fynn bloß ins Feuer starrte. „Das will mir nicht gefallen“, brummte er Lorgren zu, so leise, das nur er ihn hören konnte.
 

„Was meinst du?“, fragte der Mann den Zwerg, der ihn aus seinen Überlegungen gerissen hatte.
 

Der Weißbärtige deutet mit einem Nicken zu Fynn. „Sie wirkt so teilnahmslos, das es einen schon fast erschreckt“, meinte er und schob sich ein weiteres Stück Brot in den Mund. „Fast, als wäre ihr die Seele ausgetrieben worden.“
 

„Die lange Reise ist wahrscheinlich zuviel für sie“, erwiderte Lorgren, der nicht unbedingt mit einem Zwerg eine Meinung sein wollte. Doch dieser hatte Recht.
 

„Ach?“, fragte Flint mit angehobener Augenbraue und fast den Mann aus der Wüste genau ins Auge. „Ich merk doch, das du dir selber Sorgen um sie machst, Wüstensohn. Mich kannst du nicht so leicht hinters Licht führen, wie die Jungen.“
 

Lorgren sah den Zwerg überrascht. Wie hatte er das bloß gemerkt? „Du hast mich durchschaut“, bestätigte er bloß die Vermutung des Zwerges, was diesen zu einem gutgelaunten Glucksen hinriss.
 

„Hab ich es doch gewusst“, grinste Flint. Dann wurde er wieder ernst. „Wir sollten ihr irgendeine Beschäftigung geben. Etwas, was ihren langweiligen Alltag etwas Abwechslung verschafft.“
 

Lorgren nickte. „Aber wir haben nichts, was uns bei unseren Fortkommen behindern würde“, sagte dieser tonlos.
 

„Also ich hätte da eine Idee“, brummte der Zwerg. Neugierig sah der Wüstenreiter den Zwerg an. Dieser strich sich durch den Bart und ließ seinen Sitznachbarn noch etwas schmoren, bevor er mit seinem Vorschlag heraus rückte. „Sie ist die Hüterin des Herzschwertes, oder?“
 

„Ja“, bestätigte Lorgren stirnrunzelnd.
 

„Und als solche sollte sie doch etwas Ahnung über den Kampf haben“, fragte der Zwerg nach. Der Wüstenreiter nickte bloß, blieb dem Zwerg eine Antwort schuldig. „Es ist vielleicht an der Zeit sie im Schwertkampf zu unterrichten, meinst du nicht auch?“
 

Lorgren ließ sich die Worte des Zwerges durch den Kopf gehen. So dumm klang das gar nicht, was Flint da sagte. Sicher hatte sein Meister dasselbe für das Mädchen geplant, denn was war eine Schwerthüterin denn schon wert, wenn sie nicht wusste, wie sie sich verteidigen sollte. Nun war aber Flint ihm zuvor gekommen. Sein Blick fiel auf Fynn, die immer noch gelangweilt das Feuer ansah. Sicher würde ihr das Training die Langeweile nehmen und sie von dem langen Ritt ablenken.
 

***
 

Fynn zuckte zusammen, als neben ihr ein langer Stock auf den Felsen fiel. Verwirrt sah sie auf und erspähte Lorgren, der nicht weit von ihr abstand. Der Wüstenreiter hielt einen ähnlichen Stock in der Hand, wie der, der neben ihr am Boden lag.
 

„Steh auf“, forderte er sie tonlos auf.
 

Das Mädchen sah ihn verwirrt an, doch gehorchte sie. „Was ist los?“, fragte sie ihr gegenüber. Dieser deutete mit seinem Stock auf den am Boden liegenden dun machte ihr deutlich, dass sie ihn aufheben sollte. Stirnrunzelnd beugte sie sich herab und nahm das Holz in die rechte Hand. Was hatte das zu bedeuten? Was wollte er von ihr?
 

„Wir werden etwas üben“, sagte er schließlich zu ihr und ließ seinen Stock in der Hand kreischen.
 

„Üben?“, fragte sie.
 

Er nickte. „Ja“, antwortet er. „Dir scheint langweilig zu sein. Daher dachten Flint und ich mir, das du etwas Abwechslung braucht.“ Er schwang den Stock ein-zweimal, bevor er ihn auf sie richtete. „Ich werde dich im Schwertkampf unterweisen.“
 

Die Halbork sah den Jerisanen ungläubig an. Im Schwertkampf unterrichten? Wieso sollte sie so etwas lernen? Es würde ihr doch eh nichts nützen. Schließlich war sie ein schwaches Mädchen, das sich nicht einmal um sich selbst kümmern konnte. Wie sollte ihr da der Unterricht etwas bringen? Sie wollte nicht einmal das Fechten lernen, denn sie verband es damit, jemanden töten zu müssen. Und das konnte sie nicht.
 

„Komm her“, sagte Lorgren, der ihr Zögern deutlich gespürt hatte.
 

„Ich kann nicht“, murmelte Fynn leise, wobei sie ihren Blick gesenkt hielt.
 

Der Wüstenreiter kam auf sie zu und gab ihr einen Klaps mit seinem Stock auf den linken Schenkel, der sie scharf die Luft einziehen ließ. Ungläubig sah sie ihn an und schreckte fast vor seinem entschlossenen Blick zurück. „Du wirst es können müssen“; entgegnete er ernst. „Wir werden nicht immer da sein können, um dich zu beschützen, Fynn. Es wird der Tag kommen, wo du allein sein wirst.“
 

„Aber…“, setzte sie an, doch der Jerisane schnitt ihr die Worte ab.
 

„Ich will keine Widerrede hören“, sagte er kalt. „Die Hüterin des Herzschwertes muss wissen, wie man ein Schwert führt. Und das werde ich dir heute zeigen, ob du willst, oder nicht.“
 

Sie sah ihn wütend an. „Das kannst du nicht von mir verlangen!“, fuhr Fynn ihn an. Er sah sie nur unbeeindruckt an. „Ich werde sicher nie eine Waffe in die Hand nehmen und damit jemanden töten!“
 

„Glaubst du das wirklich?“, fragte er sie, wobei eine seiner Augenbrauen spöttisch in die Höhe ging. Um seine Worte zu unterstreichen, ließ er seinen Stock auf ihre Hüfte klatschen, was Fynn wieder zischen ließ. „Wirst du dich auch nicht wehren, wenn jemand dir nach dem Leben trachtet, wie die Klingen Skorms?“ Wieder traf das Holz die Halbork.
 

„Lass das!“, herrschte sie ihn an. Ohne weiter nach zu denken, holte sie mit ihrem Stock aus und versuchte den jerisanen damit zu treffen. Dieser wehrte ohne weiteres ihre hölzerne Waffe ab und drückte sie zur Seite. Kurz darauf spürte sie den bekannten Schmerz wieder. Ungestüm holte sie wieder mit der Übungswaffe aus und ließ sie auf ihn nieder sausen. Doch Lorgren war längst aus ihrer Reichweite getänzelt und sah die junge Halbork voller Spott an.
 

„Sollte das etwa ein Angriff werden?“, höhnte er, wobei er seinen Stock in der Hand kreisen ließ und sich kurz darauf mit ihm lässig auf dem Fels abstützte.
 

Fynn sah rot. Wieso verspottet er sie nur so? Was hatte sie ihm getan? Egal was es auch war, sie würde ihm seine Worte mit einigen ordentlichen Schlägen austreiben, um endlich ruhe zu haben. Also packte sie ihre Übungswaffe fester und rannte auf den Wüstenreiter zu, der sich nicht die Mühe machte, irgendwie zu bewegen. Als sie ihn erreichte und ihre Waffe vorschnellen ließ, wehrte er sie erneut ab, doch schlug er unvermittelt hart zurück.
 

Fynn wich erschrocken zurück und sah den Jerisanen ungläubig an. Sein Gesicht war übergangslos hart geworden dun er kam auf sie zu. Als er sie erreichte, schlug das Mädchen wild mit dem Stock um sich, um ihn nicht noch näher kommen zu lassen. Doch Lorgren, der ein erfahrender Schwertkämpfer war, durchbrach locker ihre mangelhafte Deckung. Zu erst traf sein Stock ihre Schenkel, erst links, dann rechts. Darauf spürte sie ein Ziehen im rechten Arm und kurz darauf segelte ihre hölzerne Waffe schon durch die Luft, während die Spitze von Lorgrens Übungswaffe gegen ihr Kinn tippte. Ohne große Mühe hatte er sie entwaffnet.
 

Er nahm den Stock von ihrem Kinn und sagte ruhig: „Wenn ich ein Feind gewesen wäre, wärst du längst tot gewesen.“ Er übergab ihr seine Waffe und fügte hinzu: „Du solltest mindestens wissen, wie man sich mit einem Schwert verteidigt.“
 

In dieser Nacht brachte Lorgren ihr die Grundgriffe des Schwertkampfes bei und sie trug noch weitere blaue Flecke davon.
 

***
 

Die nächsten zehn Nächte verbrachte Fynn mit ihrem Fechtunterricht. Lorgren zeigte ihr, mit aller Ruhe, die er aufbringen konnte, wie sie ein Schwert zu halten hatte und wie sie es wenden oder drehen musste, um eine andere Klinge zu parieren oder abzuwehren. Das Mädchen tat sich wahrlich schwer daran, denn ihr fehlte zum einen die Kraft, um kräftiger Schläge abzuwehren und so wirklich Spaß machte es ihr auch nicht. Lorgren ging nicht wirklich sanft mit ihr um. Sie glaubte fast, das er sie mit all den blauen Flecken, die er ihr er ihr bei brachte, bestrafen wollte, für all die Fehler, die sie bisher gemacht hatte.
 

Doch schließlich hatte sie den Dreh raus und konnte viele der Hiebe abwehren. Die Zwerge sahen sich das ganze mit einem Schmunzeln an und gaben Fynn gelegentlich auch einen Tipp, wenn sie etwas falsch machte. Flint schloss sich Lorgren als Lehrer sogar an und führte Fynn behutsamer in die Fechtkunst ein, damit sie sich erst einmal daran gewöhnen konnte. Und der Zwerg war ihr als Lehrmeister auch wesentlich lieber, als Lorgren, der nicht sonderlich viel Geduld mit ihr zu haben schien.
 

„Links, rechts, links, recht“, sagte Flint, während er mit seinem Holzschwert nach Fynn schlug. Die Halbork ließ sich vom Rhythmus seiner Worte leiten dun wehrte so die leichten Schläge mit ihrer Waffe ab. Flint hatte sich die Zeit genommen zwei Schwerter aus den Holzstöcken zu schnitzen, damit Fynn ein etwas identischeres Training bekam. Scheinbar tat sie sich wirklich etwas leichter mit den Nachbildungen, denn sie hatte wesentlich weniger blaue Flecken, als zuvor.
 

„Und kontern!“, bellte Flint laut. Fynn wehrte seinen nächsten Hieb rasch ab und ließ die Holzklinge vorschnellen. Die Spitze traf die Brust des Zwerges, der ein tiefes Brummen von sich gab. Wieder gab er seine Anweisungen und Fynn gehorchte ihm.
 

Lorgren und Valzar sahen sich das ganze vom Lagerfeuer her an. Der Jerisane war mit den Übungsmethoden des Zwerges nicht wirklich zufrieden, doch er gab bereitwillig zu, dass diese erfolgreicher waren, als die seinen. Mit der Ruhe kommt die Kraft, hatte Flint gesagt und Lorgren damit verblüfft, denn diese passten so gar nicht zu einem des bärtigen Volkes. Zwerge waren wilde Krieger und mit Ruhe war bei ihnen nie zu rechnen. Valzar hatte zu dieser Äußerung bloß den Kopf geschüttelt und gebrummt, das der alte Zwerg wohl zu oft bei den Menschen gewesen war und wohl einen Elf zu viel über den Weg gelaufen sein könnte.
 

„Sie ist besser geworden“, brummte Valzar, während er auf der gegrillten Eidechse herum kaute, die er, mit einigen anderen, beim Aufschlagen ihres Lagers erlegt hatte.
 

Lorgren nickte leicht. Die Behauptung des Zwerges traf zu. Fynn war wirklich besser geworden und sie hatte auch bald wesentlich mehr Gefallen am Fechten gewonnen. Sie stürzte sich mit all ihrer Leidenschaft in ihre Übungen und hatte sogar einmal den Jerisanen mit einem Ausfallschritt überrascht, denn er aber zu kontern gewusst hatte und sie nieder gerungen hatte. Trotzdem hatte er sie mit knappen das Mädchen gelobt und in ihren Augen deutlich den Stolz gesehen, als auch Flint und Valzar ihr gratuliert hatten. Sie war noch weit weg von einer guten Schwertkämpferin, doch sie mauserte sich.
 

Er warf das abgeknabberte Gerippe des Wüstenreptils zu den anderen dreien, die neben ihm Sand lagen und holte seine fünfte Echse aus dem Feuer. „Glaubst du, dass sie das Schwertkämpfen im Blut hat?“, fragte der Zwergenkönig den Wüstenreiter.
 

„Du beziehst dich auf ihre Abstammung“, vermutet Lorgren, während er dabei zusah, wie Fynn einem rechten Schwinger Flints auswich.
 

Valzar nickte. „In einer Zwergenlegende wird erzählt, dass die Hüterin das Schwert schon in Kindertagen beherrscht“, brummte er.
 

„Wie bei uns“, überlegte der Wüstenreiter. Während seiner Reise mit den beiden Zwergen war Lorgren aufgefallen, das er immer wieder in aller Ruhe mit den beiden Bärtigen sprach, als wären sie nicht seine Feinde, sondern einfach nur seine Weggefährten. Er sah sie nicht länger als bloße Anhängsel an, er sah in ihnen treue Verbündete. „In unseren Sagen wird auch berichtet, dass die Hüterin eine mächtige Zauberin ist, die angeblich die Wüste erblühen lassen kann.“
 

„Das kommt mir bekannt vor“, erwiderte der Zwerg. „Das erzählt man sich auch bei uns.“ Er sah den Mann aus der Wüste an. „Irgendwie seltsam, findest du nicht auch, Wüstensohn? Die legenden und Sagen unserer Völker überschneiden sich bei fast immer, wenn es um die Hüterin geht.“
 

Lorgren nickte. Das war ihm auch längst aufgefallen. „Wahrscheinlich gab es Zeiten, wo alle Völker geeint waren“, vermutete er. „Sehr seltsam.“
 

„Genau. Ich könnte mir nicht vorstellen, mit einem Ork oder einem Elfen zusammen zu kämpfen.“ Er lachte leise.
 

„Ich hab nie gedacht, zusammen mit einem Zwerg zu kämpfen.“ Valzar sah ihn neugierig an. „Aber ich hab es getan.“ Lorgrens Blick wanderte zu Fynn. „Und ich würde es wieder tun.“
 

Der Zwergenkönig sah ihn eine Weile stillschweigend an, bevor er den Jerisanen gutmütig auf den Rücken klopfte. „Das klingt fast so, als könntest du uns leiden, Wüstensohn“, meinte Valzar tollkühn. „Lass das Brokos Geist bloß nicht hören. Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er davon erfahren würde.“
 

Das Thema Broko hatte die Gefährten am Anfang ihrer Reise durch die Wüste sehr beschäftigt, obwohl keiner von ihnen ein Wort über den gefallenen Kameraden verloren hatte. Doch mittlerweile lobpreisten die beiden Zwerge ihren Verwandten und seine Heldentaten in höchsten Tönen. Selbst Fynn, die sonst nie gerne über diesen schrecklichen Tag erinnert wurde, hatte sich den Zwergen angeschlossen. Es hatte sich so weit gesteigert, dass die Flint und Valzar den einen oder anderen Witz über den Zwerg rissen. Flint hatte den beiden Nichtzwergen erklärt, das die Zwerge so ihre Toten im Gedächtnis behielten und sie so ehrten.
 

Unweigerlich musste Lorgren an Ian, den Burschen, zurück denken, der sein Leben für Fynn hergegeben hatte. Ihm hatte der Wüstenreiter auch geschworen, sie bis zum Ende ihrer langen Reise zu beschützen. Er hatte denn jungen Mann im Stillen geehrt, für seine Tapferkeit und Opferbereitschaft. Er fragte sich mittlerweile auch, ob die beiden irgendwann hätten miteinander auskommen können, wenn der Wirtssohn noch am leben gewesen wäre. Fynn selber hatte kein Wort mehr über den verlorenen Freund verloren. Lorgren glaubte, das es ihr noch immer schwer fiel, über Ian zu sprechen, weil sie einen zu schweren Verlust erlitten hatte. Er war ihr nah gewesen, war ihr immer ein Freund gewesen.
 

„Hosa!“, rief Flint erschrocken, woraufhin Lorgren aufsah und zu dem Zwerg und seiner Schülerin hinüber. Fynn hatte dem Zwerg das Holzschwert entgegen gestoßen und die Klinge hatte sich irgendwie in seinem langen, weißen Bart verfangen. Das Mädchen sah mit großen Augen auf das Desaster und wusste nicht recht, was sie nun machen sollte.
 

Valzar verkniff sich grade so ein Lachen. „Dein Bart schein dichter geworden zu sein“, sagte der junge Zwerg mit dem feuerroten Bart.
 

Der Ältere schnaubte abfällig und zerrte an dem Holzschwert. „Statt so altkluge Worte hinaus zu posaunen, mein König, könntest du auch mal deinen königlichen Hintern bewegen und mir mal helfen“, beschwerte sich Flint bei dem anderen. Glucksend stand Valzar auf und schritt hinüber zu Flint. Er ließ sich von Fynn den Griff des Holzschwertes aushändigen und etwas daran. Es brachte nichts. Deshalb zog er stärker und schon johlte Flint auf. „Bei Bartaxs Bart! Willst du mir den Bart vom Kinn reizen?“
 

„Der hat sich ganz schön verfangen“, meinte Valzar bloß und zog noch einmal am Holzschwert, diesmal noch fester, das Flint nur so zeterte. „Also ohne einen Schnitt bekomm ich den da nicht raus.“
 

Fynn sah, wie der alte Zwerg die Augen weit aufriss. „Das wollte ich nicht“, stieß sie hektisch hervor.
 

„Ach was“, brummte Flint, der sie mit einem Zwinkern ansah. „Du hast keine Schuld daran. Schließlich hast du nur dein Training absolviert.“ Er warf Valzar einen kurzen Blick zu und meinte: „Und das mit dem herausschneiden werden wir schön lassen, schließ…“
 

„Seit still“, herrschte Lorgren sie leise an und hatte bereits eine Hand am Griff seines Krummsäbels. Die anderen waren sofort in Alarmbereitschaft. Die bei Zwerge schnappten sich ihre Waffen, während Fynn den Dolch holte, den sie von Vater Barador erhalten hatte, als sie noch in Zwergenstein gewesen waren.
 

Der Wüstenreiter schlich sich geduckt zum Rand ihres Lagers und spähte in die Dunkelheit, während seine Gefährten in die Dunkelheit um sich herum sahen. Er konnte nichts ausmachen, doch war er sich sicher, dass er ein leises Geräusch wahrgenommen hatte. Ein Geräusch, als würde jemand durch Sand laufen. Wie die beiden Zwerge schon oft gesagt hatten, war er ein Sohn der Wüste und als solcher kannte er jedes ihrer nächtlichen Geräusche, jedes Quieken, jedes Zischen.
 

„Da ist nichts“, brummte Flint, dem immer noch das Holzschwert im Bart baumelte und einfach nicht abfallen wollte. Er ließ langsam seine Hämmer sinken, was auch Valzar und Fynn langsam taten. Nur Lorgren blieb vorsichtig.
 

Er hörte ein Surren und sofort warf er sich auf die Seite und entkam so dem Pfeil, den ein versteckter Schütze auf ihn abgeschossen hatte. Sofort kam er wieder auf die Beine und sah in die nächtliche Wüste: Seine Kameraden waren wieder wachsamer geworden und hatten sich sichere Stellungen gesucht, um sich möglichst gut vor Pfeilen zu schützen.
 

Der Wüstenreiter nahm eine Bewegung war. Dann eine nächste und wenig später schien die Wüste zum Leben zu erwachen. Gestalten in wehenden Umhängen tauchten aus der Dunkelheit auf und griffen das kleine Lager an.
 

Schnell wich Lorgren zurück, noch bevor sein erster Gegner ihn erreichte, der, wie der Wüstenreiter selber, einen Krummsäbel führte. Schnell ließ er seine Klinge vor schnellen, doch Lorgren war flinker und wehrte sie kurz vor seiner Brust ab. Sein Gegner wollte nah ihm treten. Der Jerisane verhinderte den tritt, indem er selber nach dem anderen ausschlug und ihn am Schenkel traf.
 

Der Mann, denn Lorgren erkannte es an der Tiefe seiner Stimme, stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus und humpelte von ihm zurück. Schnell folgte der Wüstenreiter dem anderen und schlug mit seinem Krummsäbel nach ihm, doch der Mann wehrte sie ab, konnte sie sogar von sich weg drücken.
 

Ein anderer Angreifer stürmte heran und lenkte den Mann aus der Wüste von seinem momentanen Gegner ab, der die Chance nutzte und sich erstmal zurückzog. Lorgren ließ ihn ziehen, denn der andere war schon zu nah heran gekommen, als das es ihm möglich gewesen wäre, ihm zu folgen.
 

Mit einem lauten Brüllen warf sich der Mann ihm entgegen, die Spitze seines Schwertes auf Lorgrens Herz gerichtet. Einer Eingebung folgend, ließ sich der Wüstenreiter einfach auf den Boden fallen. Damit überraschte er seinen Gegner sofort, der nun versuchte, nicht über ihn zu stolpern. Lorgren nutzte die Gelegenheit und presste dem anderen seine Füße in den Bauch. Der Mann konnte seinen Schwung nicht mehr aufhalten und fand sich wenig später hinter dem Jerisanen im Sang liegend wieder.
 

Schnell war Lorgren wieder auf den Beinen und rannte zu dem am Boden liegenden. Bevor dieser aufstehen konnte, bekam er die Stiefel des einarmigen Schwertkämpfers zu spüren und wurde von diesen ins Land der Träume geschickt.
 

Der Wüstenreiter sah zu seinen Gefährten, die nicht weniger bedrängt wurden als er. Valzar hielt fünf Angreifer mit Drakobans Drachenfaust auf Abstand, während zu seinen Füßen einer lag und sich nicht mehr rührte. Nicht weit ab lieferte sich Flint mit zwei Männern einen erbitterten Kampf. Als er Fynn sah, konnte er nur die Augen weit aufreisen. Sie war in arger Bedrängnis. Ein Mann hatte es geschafft, nah genug an sie heran zu kommen, um sie zu packen. Doch die Halbork konnte seinen gierigen Finger immer wieder entkommen. Ihren Dolch hatte sie wohl irgendwo verloren, doch er hätte ihr im Moment sicher nichts gebracht.
 

Als Lorgren sich umwand, sah er schon zwei weitere Feinde nahen. Einer von ihnen trug ein großes Krummschwert in der Hand, während der andere, wie fast jeder der Angreifer, einen Krummschwert führte. Diese beiden stürzten sich auf Lorgren, der zu erst dem Krummschwert auswich und dann den Krummsäbel abwehrte.
 

Als er schon dazu ansetze, einem der Angreifer seine Klinge in die ungeschützte Brust zu treiben, erklang ein Schrei. Fynn! Er ließ sich ablenken und das kam ihm teuer zu stehen. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Hinterkopf. Das einzige, was er noch wahrnahm, war, wie er in den Sand fiel. Dann war da nur noch Dunkelheit.
 

***
 

Valzar trat einem der Angreifer, der sich zu weit vor gewagt hatte, gegen das Knie. Mit grimmiger Zufriedenheit hörte er, wie der Knochen brach. Der Mann ging mit einer Grimasse zu Boden, wo er sich an das Bein faste. Schon versuchte es der Nächste, doch Valzar reagierte nicht schnell genug. Drakobans Drachenfaust erwischte den Mann nicht mehr, doch dafür seine Klinge den Zwerg. Er spürte den Schmerz, als die krumme Klinge ihm über die Brust fuhr.
 

Knurrend schlug der Zwergenkönig um sich, hielt die Männer wieder auf Abstand: Die Wunde war nicht gefährlich, doch sie blutete: Der junge Zwerg tat dies als kleinen Kratzer ab dun scheuchte seinen Gegner vor sich her.
 

Ein Schrei erregte seine Aufmerksamkeit. Das war die Hüterin, die junge Fynn, die da schrie! Der Zwerg holte noch einmal kraftvoll aus dun jagte seine Gegner weiter zurück. Er nutzte diesen kleinen Augenblick und sah sich nach der Halbork um.
 

Er sah sie, doch sie war nicht allein. Ein großer Mann hatte sie am Arm gepackt. Sie wehrte sich verbissen, trat, schlug und kratzte nach ihm, doch er hielt sie gnadenlos fest. In der anderen Hand blitzte ein Dolch auf und der Zwergenkönig wusste, wofür dieser Mensch diesen verwenden wollte.
 

Ohne lange nach zu denken, holte Valzar mit Drakobans Drachenfaust auf und schleuderte mit einem lauten Schrei den Hammer auf den Angreifer. Der Hammer flog ungehindert auf sein Ziel zu, das ihn zu spät bemerkte. Der Kopf der Waffe krachte schwer gegen den Brustkorb des Mannes, der durch von dem Schlag durch die Luft geschleudert wurde und einige Meter weiter erst auf dem Boden landete. Fynn hatte er zuvor los gelassen, doch auch sie hatte etwas von der Wucht abbekommen und war zu Boden gegangen.
 

Valzar sah zufrieden zu, wie sie sich aufrappelte. Doch nun musste er sich um seine eigentlichen Gegner kümmern, die durch seine überraschende Aktion einen Moment lang unachtsam gewesen waren. Als sie sich ihm wieder zu wanden, rannte der Zwerg mit vorgestreckten Kopf auf einen von ihnen zu und riss ihn zu Boden. Der Mann heulte panisch auf, als er den knurrenden Zwerg auf sich sitzen hatte. Valzar hob seine Faust und wollte mit dieser auf den Schädel seines Opfers schlagen, doch ein Ruf ließ ihn inne halten.
 

„Legt die Waffen nieder; Zwerge!“, rief ein Mann. Als Valzar zu ihm rüber sah, stockte er. Lorgren lag mit dem Gesicht im Sand und ein Mann mit einem Krummschwert bewaffnet hatte die Klinge an den Hals des Wüstenreiters gelegt. „Sonst töten wir diesen Mann!“
 

Der Zwergenkönig starrte Lorgren an und fragte sich, wie der Wüstenreiter wohl gehandelt hätte. Sicher hätte er sich auch gefügt. Knurrend warf er einen Blick zu Flint. Der alte Zwerg schnaubte abfällig, während er seine beiden Hämmer in den Sand warf die Arme vor der Brust verschränkte, wo noch immer das Holzschwert im Barte baumelte. Sofort waren drei der Angreifer zur Stelle und richteten ihre Schwerter auf den Zwerg.
 

Sein Blick wanderte weiter zu Fynn, die mit entsetzen Blick zu Lorgren sah. Sie bemerkte den Mann erst, als dieser sie packte und sicher so schnell nicht wieder los lassen würde. Doch auch sie wehrte sich nicht und ergab sich in ihr Schicksal. Mit diesem Bild vor Augen, sah er auf sein Opfer herab, das ihn mit großen, ängstlichen Augen ansah. Er knurrte den Mann noch einmal an, der sogleich erschrocken zusammen zuckte, bevor er von ihm herunter kletterte und sich ebenfalls drei Klingen an den Hals halten ließ.
 

Jubel stieg von den Menschen auf. Der Zwergenkönig konnte nur abschätzend schnauben. Eine Horde Banditen gegen vier Reisende, davon einer, der nicht einmal kämpfen konnte. Wie konnte man das einen Sieg nennen? Die Männer reckten ihre Klingen in die Höhe, außer denen, die die Zwerge im Zaun hielten.
 

Weitere Männer erschienen und rannten über die Dünen zu ihren Kameraden. Einige kamen sogar auf stolzen Pferden daher geritten, die den Zwerg irgendwie an den Wüstenhengst Lorgrens erinnerten.
 

Die anderen wurden zu Lorgren gebracht, der immer noch benommen im Sand lag. Als man Fynn los ließ, ging sie neben dem Wüstenreiter in die Knie und besah sich die Platzwunde am Hinterkopf. Flint und Valzar bauten sich neben ihr auf und sahen die Männer, die sie umringten mit finsteren Blicken an. An ihnen würden sie nicht vorbei kommen, ob mit oder ohne Waffen.
 

Zwei vermummte Gestalten traten aus den Reihen der Männer. Sie sahen sich die vier Gefährten einen Moment an. Der kleinere von beiden Sah jeden von ihnen einmal genau an, bis sein Blick auf Lorgren hängen blieb. Diesen starrte er ganz besonders lange an.
 

Der größere Mensch fragte den anderen etwas auf der Sprache der Jerisanen, die Valzar nicht geläufig war. Der andere reagierte nicht sofort, trat nur einen Schritt weiter vor. Valzar selber machte einen Schritt vor und knurrte bedrohlich. „Noch ein Schritt näher und du wirst dir wünschen, nie geboren worden zu sein“, warnte er ihn.
 

Ob der Kleine ihn verstanden hatte oder nicht, das Knurren hatte ihn zumindest inne halten lassen. Der Große zog sein Krummschwert und richtet es auf den Zwerg und befahl: „Aus dem weg, Bärtiger. Sonst schlage ich dir den hässlichen Kopf von den Schultern.“
 

„Trau dich nur, wenn du mit meiner Faust Bekanntschaft machen willst“, forderte der Zwergenkönig ihn auf, doch Fynn hielt ihn zurück.
 

„Bitte“, sagte sie leise, den Blick auf ihn gerichtet. Dem Zwerg entgingen die Tränen nicht, die ihr über die Wangen liefen und ihm schnürte sich unweigerlich die Kehle zu. Er trat zurück, doch nicht ohne den kleinen und großen Mann aus den Augen zu verlieren.
 

Der Kleine trat wieder vor, kniete sich neben Lorgren. Er drehte den Kopf des Wüstenreiters so, das er ihm ins Gesicht sehen konnte und erstarrte. „Lorgren“, keuchte er mit ungewöhnlich heller Stimme. Da wusste der Zwerg, dass das da sicher kein Mann war, sondern eine Frau.
 

Der Große sah die Frau überrascht an und trat selber näher. Auch er erstarrte und sah den Wüstenreiter an, als würde er einen Geist sehen. Er fragte irgendetwas, erhielt aber keine Antwort von der Frau, die weiterhin neben Lorgren kniete und sein Gesicht anstarrte.
 

Sie richtet sich schließlich auf. Sie warf jedem der drei anderen Gefährten einen gefährlichen Blick zu, bevor sie einen Befehl gab. Valzar, Fynn und Flint wurden von Lorgren weg geschafft, um den sich nun vier Männer scharrten. Sie wurden auf ihre Pferde gesetzt und ihre Hände an die Knäufe ihrer Sättel gebunden. Lorgren selbst sahen sie nicht mehr. Kurz darauf wurden sie von ihren Angreifern in die Wüste geschafft, wo sie einen langen Ritt hinter sich zurücklegten.
 

***
 

Schmerzhaft dröhnte ihm der Kopf. Es fühlte sich an, als würde eine Herde Wildpferde, im vollen Galopp, über ihn hinweg fegen.
 

Ächzend wand er sich herum und musste feststellen, dass er auf etwas weichem lag. Verwirrung stieg in ihm auf. Hatte er nicht eben noch gegen einen fremden Angreifer gefochten? Lorgren war sich da felsensicher. Seine Erinnerungen waren richtig. Das letzte, wo er sich deutlich dran erinnern konnte, war der Schmerz, der seinen Hinterkopf erfüllt hatte, bevor er zu Boden gegangen war. Der Schmerz, der auf dem Schrei Fynns gefolgt war.
 

Fynn!
 

Überstürzt schreckte der Wüstenreiter aus seinem dämmrigen Schlaf auf und verfluchte sich gleich schon dafür, als eine Welle des Schmerzes durch seinen Kopf fegte. Mit einem Keuchen sank er wieder zurück, doch nun war er wieder wach und öffnete langsam die Augen.
 

Zu seiner Überraschung sah er nicht den blauen Himmel und die Sonne, sondern das Dach eines Zeltes, das sich über ihm erstreckte. Vorsichtig drehte er seinen Kopf zur Seite und stellte fest, dass er sich auch in einem Zelt befand und dass man ihn auf weiche Decken und Kissen gebettet hatte. Er war alleine. Niemand war zu sehen, doch hörte er die Stimmen anderer Menschen. Sofort wusste er, wo er sich befand. In einem Lager eines Clans der Wüstenreiter.
 

Vorsichtig setzte er sich wieder auf. Lorgren fühlte sich zerschunden, sein Kopf schmerzte ihm, doch allmählich ließ dieser nach. Er strich sich über den Kopf und bemerkte erst jetzt den Verband. Wieder strich er darüber. Wer auch immer ihn angelegt hatte, er verstand sein Handwerk. Was anderes hätte er von den Heilern der Wüstenreitern auch nicht erwartet.
 

Sein Blick hob sich, als jemand durch den Eingang des Zeltes trat und auf ihn zu hielt. Seine Augen weiteten sich vor lauter Unglauben, als er die Frau sah, die auf ihn zukam. Ihr Haar war genau so schwarz wie das seine. Sie trug es geflochten über dem Rücken, während ein kleiner Zopf mit Schmuck verziert, hinter ihrem rechten Ohr baumelte und dessen Ende auf ihrer Schulter ruhte. Ihre Haut war braungebrannt, wirkte genau so bronzen wie die seine. Ihr Gesicht wurde von einem paar dunkelblauer, schmaler Augen, einer feinen Nase und vollen Lippen geziert. Ihr Körper war schön und vollkommen. Sie trug ein weißes Kleid, das sie vor der brennenden Sonne schützen sollte.
 

„Amirah“, keuchte er ihren Namen. Die junge Frau lächelte erfreut und ließ sich neben ihm auf den Kissen nieder. Erst jetzt fiel ihm die Schüssel mit Wasser auf, die sie bei sich getrug.
 

„Ich sehe, dass es dir wieder besser geht“, sagte sie mit leichtem Spott in der wohlklingenden Stimme, während ein Lächeln ihr Gesicht zierte. „Du erinnerst dich bereits an meinen Namen.“ Sie ließ ihr Lächeln feiner werden und drückte ihn zurück in die Kissen. Seine Überraschung hinderte ihn daran, sich gegen sie zu wehren und er folgte ihrem Drängen.
 

„Wo bin ich?“, fragte Lorgren sie, während Amirah mit einer kleinen Schale etwas Wasser aus der Schüssel schöpfte.
 

„Im Lager meines Clans“, erklärte sie ruhig, während sie einige Kräuter in die Schale gab und sie mit dem Wasser sorgfältig vermischte. „Das solltest du jetzt trinken. Raga hat dich hart am Kopf getroffen. Du warst sofort ohnmächtig.“
 

Lorgren sah sie an und hinderte sie daran, ihm die Medizin zu verabreichen, indem er eine Hand auf ihren Arm legte. „Raga?“, fragte er verwirrt.
 

Sie nickte. „Ja, Raga.“
 

Verwirrung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben: Doch allmählich lichtet sich der Nebel und er verstand. „Ihr habt uns angegriffen“, stieß er hervor.
 

Verlegen nickte Amirah. „Ja“, erwiderte sie. Sie beugte sich vor und gab ihm etwas von der Medizin, bevor er noch protestieren konnte. „Wir haben dich und deine…“, sie zögerte, „Begleiter für Feinde gehalten.“
 

Lorgren schluckte das bittere Mittel herunter und versuchte aufzustehen, doch die junge Frau hinderte ihn daran. „Wo sind sie?“, fragte der Wüstenreiter die Jerisanin. „Geht es ihnen gut?“
 

Sie runzelte die Stirn. „Seit wann macht sich Lorgren, der das Schicksal sucht, Sorgen um Zwerge?“, fragte sie ihn, wobei sie eine Augenbraue anhob und sein Gesicht genau musterte. „Raga muss dich doch heftiger getroffen haben, als erwartet.“
 

Lorgren schnaubte. „Du verstehst nicht, Amirah“, sagte er und versuchte wieder in eine sitzende Position zu gelangen und dieses Mal half Amirah ihm sogar. Er wollte sogar aufstehen, doch daran hinderte sie ihn.
 

„Was soll ich nicht verstehen? Das du mit den Bärtigen und einer Halbork zusammen warst?“ Sie lächelte milde, doch Lorgren wusste, das sie ganz anders sein konnte. „Ich versteh es wirklich nicht. Aber vermutlich wirst du mich gleich aufklären.“
 

„Mach dich nicht über mich lustig“, warnte er die Frau, doch diese zuckte ungerührt mit den Schultern, denn Angst kannte sie vor ihm nicht. „Das Mädchen… Sie ist sehr wichtig.“
 

Wieder hob sich die Augenbraue an. „Ach ja?“, fragte die Jerisanin und bedachte ihn mit einem sorgfältigen Blick. „Und wieso das? Hast du vor sie zu verkaufen?“ Als er schnaubte, fuhr sie fort. „Ich weis, ich weis. Lorgren handelt nicht mit Sklaven. Denn er ist ein Wüstenreiter. Und Wüstenreiter unterjochen niemanden.“ Sie lächelte ihn an, dieses mal sanft und beugte sich zu ihm, um ihn auf die Lippen zu küssen. „Das schätze ich so an dir, mein Verlobter.“
 

Der Wüstenreiter schluckte schwer. Er musste sich ermahnen ruhig zu bleiben, denn ihre weichen Lippen vermochten jeden Mann schwach werden zu lassen. Wie er es hasst, wenn sie das sagte! „Du machst dich wieder lustig über mich“, knurrte er sie an, doch sie reagierte nur damit, dass sie ihm einen neuen Kuss auf die Lippen hauchte. Und wieder musste er sich beherrschen.
 

„Das würde ich mir nie erlauben“, schnurrte sie. Sie lächelte ihn an. „Also sag mir, was es mit dem Mädchen auf sich hat. Am besten auch, wieso du mit den Bärtigen unterwegs warst.“ Sie wurde ernst.
 

Endlich zeigte sie ihr wahres Gesicht, dachte Lorgren. „Ein Auftrag“, antwortete er ihr. „Mehr brauchst du auch nicht wissen.“
 

„Das ist recht wenig“, meinte sie nachdenklich. „Das wird Vater nicht überzeugen.“
 

„Überzeugen? Von was?“, wollte der Wüstenreiter wissen.
 

„Sie zu richten“, erklärte die Jerisanin ungerührt.
 

„Wieso?“, fragte Lorgren. Was war passiert, während er ohnmächtig gewesen war? Er kannte Amirahs Vater genau. Er war ein strenger, aber gerechter Mann, der nie voreilig über jemanden urteilte, egal ob Zwerg oder Mensch. Aber warum wollte der Clanführer über seine Gefährten richten?
 

„Sie haben zwei unserer Leute umgebracht.“
 

***
 

„Verdammte Wüstenratten“, knurrte Valzar, während er weiterhin versuchte sich von seinen Fesseln zu befreien. Doch er hatte keinen Erfolg damit. Seine zwergische Sturheit hinderte ihn aber daran, seine Versuche aufzugeben. „Die können was erleben.“
 

Fynn hörte ihm nicht zu, sondern hielt ihren Blick gesenkt. Sie und die beiden Zwerge waren von den Fremden in ihr Lager gebracht worden, das in einer Oase, mitten in der Wüste lag. Nach ihrer Ankunft hatten die Männer sie von ihren Pferden gezerrt und in eins der großen Zelte gebracht. Dort wurden sie mit den Händen an Pfosten gebunden, die tief in den Boden getrieben worden waren. Den Zwergen hatte man zusätzlich die Füße verschnürt, denn Valzar hatte nicht an sich halten können und einem ihrer Entführer einen Tritt verpasst.
 

Das Mädchen machte sich Sorgen um Lorgren, den sie seit dem Überfall nicht mehr gesehen hatten. Diese Leute kannten den Wüstenreiter von irgendwoher und das beunruhigte sie sehr. Ob es Lorgren gut geht, fragte sich Fynn. Wo hatten die Jerisanen den Wüstenreiter hin gebracht oder hatten sie ihn überhaupt mit sich genommen? War er noch in der Wüste? Sie konnte nur hoffen, dass er noch lebte.
 

Fynn ahnte, das es sich um Jerisanen, um einen der Wüstenstämme handelte, deren Gefangene sie waren. Doch mehr blieb ihr verborgen. Die Wüstenmenschen sprachen nur in ihrer Sprache und keiner der drei beherrschte diese.
 

Drei Männer betraten das Zelt. Fynn und die Zwerge sahen sofort auf. Einer von ihnen war ein Hüne von einem Mann. Sein Gesicht wirkte hart wie Stein und seine Augen waren von dunkler Farbe. Das schwarze Haar trug er kurz geschnitten, während in seinem Gesicht ein stattlicher Bart prangte. Er trug ein einfaches, weißes Gewand, doch an seiner Seite hingen ein beeindruckendes Krummschwert und ein gekrümmter Dolch.
 

Er trat auf die Gefährten zu, blieb aber auf einigem Abstand stehen und sah einen nach dem anderen ins Gesicht. Als letztes sah er Fynn an. Das Mädchen senkte den Blick unter seinem Starren. Sie hörte den Mann etwas sagen. Kurz darauf wurden ihre Fesseln gelöst und die beiden anderen Männer zogen sie grob auf die Beine. Nun sah sie sich dem Hünen gegenüber, der finster auf sie herab sah.
 

„Was habt ihr mit ihr vor?“, verlangte Valzar zu wissen. „Antwortet mir gefälligst, ihr lausigen Wüstenratten!“
 

„Schweig, elender Zwerg“, knurrte der Hüne in der Handelssprache. Fynn schluckte und zog ängstlich den Kopf ein, während der Zwergenkönig den anderen anknurrte. Zur Belohnung erhielt er von dem Hünen sogleich einen Tritt gegen die Brust, der ihm die Luft aus den Lungen trieb.
 

„Valzar“, keuchte Fynn erschrocken. Sie sah den Mann flehend an. „Bitte tut meinen Gefährten nichts!“
 

Der Hüne warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er einen Befehl gab. Die beiden anderen Männer zogen Fynn mit sich, gefolgt vom Hünen, der noch kurz vor Valzar verweilte, bevor er den anderen folgte. Das Mädchen wurde vor das Zelt gebracht und von der grellen Sonne sogleich geblendet.
 

Als ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sah sie sich um. Überall standen Zelter aus weiß- oder sandgefärbten Fellen. Sie waren alle ausnahmslos groß, um mindestens zehn Leute zu beherbergen. Sie alle waren um einen großen Teich, mit kristallklarem Wasser, aufgestellt worden. Bäume, die Fynn noch nie zuvor gesehen hatte, mit großen, fächerartigen Blättern, waren in der gesamten Oase verteilt und spendeten ausreichend Schatten. Männer und Frauen gingen ihrer alltäglichen Arbeit nach oder unterhielten sich, während die Kinder herum tobten.
 

Einige von ihnen bemerkte Fynn und ihre Wächter und hielten in ihren Tätigkeiten inne. Das Mädchen zog unter all den Blicken den Kopf ein. Deutlich spürte sie den Argwohn, das Misstrauen in den Blicken der Menschen. Allein die Kinder sahen sie neugierig an, waren sogar mutig genug, um näher heran zu kommen, doch wurden sie von ihren Eltern zurück gerufen oder von dem Hünen davon gescheucht.
 

Man brachte sie weg von dem Zelt, in dem noch immer die beiden Zwerge gefangen waren. Und die Blicke folgten ihr. Fynn wurde um das Ufer des Teiches geführt, bis ein einsam stehendes Zelt in Sicht kam. Im Gegensatz zu den anderen war seine Plane rot gefärbt worden und mit verschiedenen Mustern bestickt worden. Ein Muster stach am deutlichsten heraus. Es sah aus wie ein Drache, der keine Flügel hatte. Zwar hatte Fynn in ihrem ganzen Leben noch keinen der Würmer gesehen, doch war sie sich ganz sicher, dass es sich um einen handeln musste.
 

Sie erreichten das Zelt, vor dem zwei Wächter, mit langen Speeren und in lange sandfarbene Umhänge gehüllt waren, standen. Der Hüne ging einfach in das Zelt und ließ Fynn und ihre Bewacher einfach zurück. Die beiden Wächter am Eingang beäugten sie misstrauisch, aber sie sagten kein Wort. Es vergingen viele Minuten, bevor der Hüne wieder erschien und sie hinein winkte. Die beiden Männer schoben das Mädchen unsanft in das Innere des Zeltes und ließen sie dort alleine zurück.
 

Verwirrt sah sie sich um. Im Inneren war es taghell. Eine einzelne Laterne, die an einer der Befestigungsstangen hing, erzeugte genug Licht. Der Boden des Zeltes war mit unzähligen und kostbaren Teppichen ausgelegt, während an den Zeltwänden unzählige Wandbehänge, Waffen und Schilder hingen. In der Mitte war eine Feuerstelle, in der momentan kein Feuer brannte.
 

Genau gegenüber dem Eingang saßen fünf Männer auf weichen Kissen, die sie genau beobachteten. Das Mädchen stolperte nach vorne, als der Hüne ihr einen unsanften Stoß verpasste. „Beweg dich“, knurrte er sie leise an. Sie gehorchte sofort, denn sie wollte den großen Mann nicht verärgern. Sein Blick sprach Bände.
 

Sie trat mit ihm zusammen vor die Männer. Er packte sie an der Schulter und zwang sie mit seiner Kraft auf die Knie. „Verneig dich“, befahl er ihr. Fynn sah ihn an. Wieso sollte sie dies tun, wollte sie ihn schon fragen, doch er wartete erst gar nicht, sondern schob grob ihren Kopf gen Boden, presste ihn regelrecht auf den Teppichboden. Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht, als er noch fester zudrückte.
 

„Lass sie los“, hörte sie einen der Männer sagen. Ihr Peiniger zögerte einen Moment, bevor er von ihr abließ. Sie spürte, wie er sich entfernte. Fynn wagte erst jetzt, den Blick zu heben und sah die Männer an, die allesamt auf sie herab blickten. Ihr wurde unwohl dabei. Was hatten sie mit ihr vor?
 

Der in der Mitte der Versammlung sitzende Mann betrachte sie besonders genau. Sein Gesicht zeigte bereits die ersten Falten, doch seine Haut war immer noch so braungebrannt, wie die der anderen. Auf seinem Haupt thronte ein roter Turban, wie der, den Lorgren sich gebunden hatte. Ein sauber geschnittener Bart und ein paar dunkelblauer, schmaler Augen zierten sein Gesicht. Er musste um die fünfzig Jahre alt sein, vermutet Fynn, doch erstaunte sie es, das sein Körper von kräftiger Statur war, die von einer roten Tunika und einem paar edler Hosen umschmeichelt wurde. Auf gewisse Weise erinnerte dieser Mann sie an Berold. Wenn der Bart nicht wäre, fügte sie in Gedanken hinzu.
 

„Wie ist dein Name?“, fragte der Mann mit kraftvoll tiefer Stimme. „Und was hat dich in das Sandmeer verschlagen?“ Aus der Stimme des Mannes war zu hören, dass er es gewohnt war Befehle zu erteilen und keine Widerrede zuließ. Fynn hatte nicht im Geringsten vor, ihn nicht zu gehorchen. Der Hüne hatte sie schon genug eingeschüchtert und dieser Mann tat sein übriges dazu.
 

„M-mein Name ist Fynn“, sagte sie mit zittriger Stimme. Sie sah den Mann unsicher an, als sie überlegte, was sie ihn auf seine zweite Frage hin antworten sollte. Sie hatte Lorgren versprochen kein Sterbenswörtchen über den Sinn ihrer Reise zu verlieren. Sie hatte sich schließlich schon genug verplappert und wollte nicht, dass der Wüstenreiter wieder böse auf sie wurde. Der Gedanke war eigentlich absurd. So oder so würden diese Leute über den Zweck ihrer Reise erfahren, egal ob sie ihnen es verriet oder ein anderer. Dennoch wollte sie Lorgrens Vertrauen in sie untergraben. Daher schwieg sie.
 

„Was willst du hier?“, fragte der Mann sie noch einmal, diesmal mit wesentlich mehr Schärfe in der Stimme.
 

„Rede, elende Missgeburt“, hörte sie hinter sich die Stimme des Hünen. Er war also noch da, erkannte sie mit Schrecken. „Der Clanführer hat dich was gefragt!“ Sie schrie auf, als sie an der verletzten Schulter von etwas getroffen wurde. Der Schmerz fuhr ihr durch sämtliche Glieder und treib ihr die Tränen in die Augen.
 

„Raga“, zischte der ältere Mann den anderen an. Der Hüne entfernte sich wieder, doch spürte Fynn nun um so deutlicher, das er noch da war.
 

Sie hob den Blick und sah in die Augen des Clanführers. „Ich kann es nicht sagen“, sagte sie kleinlaut, befürchtet schon, dass sie erneut geschlagen wurde. Doch der Hieb blieb aus.
 

„Wieso nicht?“, forderte ihr Gegenüber von ihr zu wissen. Die Schärfe war immer noch da, doch mischte sich Neugier in die Stimme des Mannes.
 

„Ich habe es versprochen“, sagte sie etwas mutiger.
 

„Und welchem Hundesohn hast du dies versprochen, Weib?“, fraget er sie.
 

„Mir.“ Alle wanden sich um, sogar Fynn, die immer noch auf dem Boden kniete. Sie hatte sich also nicht verhört. Da stand er.
 

„Lorgren“, stieß sie erstickt hervor, als sie den Wüstenreiter sah, der mit stolz erhobenem Haupt und in ein langes, weißes Gewand, im Eingang des Zeltes stand. Er kam auf sie zu und ohne darüber nach zu denken, wo sie war, sprang Fynn auf, rannte an dem verblüfften Hünen vorbei und umklammerte Lorgren. „Lorgen“, wimmerte sie und brach in Schluchzen aus. Aus Freude und Erleichterung ihn lebend wieder zu sehen.
 

Sie spürte seine Hand auf ihrem Kopf, die sie leicht tätschelte, während sie ihr Gesicht gegen seine Brust presste. Ihr Anhänger verströmte wieder diese wohlige Wärme, die allein der Jerisane und ihr Onkel erzeugen konnten und sie fühlte sich gleich viel sicherer. Sie wusste, das Lorgren sie nun wieder beschützen würde.
 

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9. Akt: Die Herausforderung

Tief in der Wüste leben nicht nur Eidechsen und wilde Ungeheuer,

Sondern auch die Stämme der freien Nomaden.

Sie kennen die Wüste wie kein anderer

Und haben gelernt sie zu respektieren und zu schützen.

Sie sind ehrenhafte und wilde Krieger

Und reiten die stolzesten Pferde.

In Jeris nennt man sie Wüstenreiter,

Die Winde der Wüste.
 

Anshak Orga,

Gelehrter aus den Wüstenländern
 

***
 

Nohrasil lauschte geduldig den Worten Lorgrens, der das Schicksal sucht. Er hatte auf Geheiß des jüngeren Mannes seine Berater und Freunde weggeschickt und war mit ihm und der jungen Halbork allein im Ratszelt geblieben. Der Clanführer des Sanddrachenclans konnte seinen Ohren kaum glauben, als Lorgren ihm offenbarte, dass das Mädchen, das auf den Namen Fynn hörte, die Hüterin des legendären Herzschwertes sein sollte. Wenn er den jungen Wüstenreiter nicht persönlich kennen würde, hätte er ihn ausgelacht und behauptet, er hätte sich zu gütig am Sonnenschnaps getan. Doch die Wahrheit in seinen Worten war unumstößlich.
 

Sein Blick fiel auf Fynn, die neben Lorgren saß und sich immer noch an dessen Ärmel festhielt, als fürchtet sie, er selber wolle ihr etwas antun. Nach Ragas grober Behandlung verstand Nohrasil das Mädchen sogar. Dennoch wollte ihm der Anblick nicht gefallen. Schließlich war Lorgren der Verlobte seiner Tochter und wenn sie dies sehen würde, die Halbork wäre ihres Lebens nicht mehr sicher.
 

„Ich entschuldige mich im Namen meiner Leute für den Überfall und die schlechte Behandlung, ehrenwerte Hüterin Fynn“, entschuldigte der Clanführer sich bei der Halbork und verneigte sich vor ihr, wie es dem Brauch entsprach.
 

Unsicher sah das Mädchen von Lorgren zu Nohrasil, als wüsste sie nicht, was sie davon halten sollte. „I-ch“, sie stotterte unsicher. „Ich …“
 

„Nohrasil, sie muss sich erstmal erholen“, unterbrach Lorgren sie. Nohrasil sah zu seinem künftigen Schwiegersohn. „Sie hat viel mitmachen müssen. Aber sie wird deine Entschuldigung annehmen.“
 

„Ich verstehe“, sagte er zu ihm und nickte. „Ich werde ihr ein Zelt herrichten lassen, wo sie sich erholen kann.“
 

„Das wird nicht nötig sein“, entgegnete der Jerisane. „Fynn und unsere Gefährten werden mit in meinem wohnen, bis wir weiter ziehen.“
 

Der ältere Mann sah ihn ungläubig an. „Das geht nicht“, sagte er sofort und warf ihm einen eindeutigen Blick zu. „Allein dir und Amirah ist der Zutritt dazu gewährt. Außerdem werde ich die Zwerge nicht frei lassen, zumindest nicht beide.“
 

Die Halbork sah etwas verwirrt drein, als Nohrasil seine Tochter erwähnte. Von Lorgren hatte er erfahren, das sie aus Helios stammte und daher nicht die Bräuche und Sitten des Wüstenvolkes kannte. Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal um die Verlobung Lorgrens.
 

„Die Zwerge haben sich nur verteidigt, Nohrasil“, erwiderte Lorgren widerspenstig. „Es wäre nicht so weit gekommen, wenn…“
 

„Ich weis, was du sagen willst“, unterbrach der Clanführer den Wüstenreiter schroff, „aber du kennst unsere Gesetze, wie auch die alte Fehde unserer beiden Völker. Wenn ich den Zwerg mit dem roten Bart nicht richten lasse, wird mein Clans es selber tun.“
 

Lorgren schnaubte säuerlich. Als Wüstenreiter kannte er die Gesetze seines Volkes nur zu gut. Doch das Nohrasil ihn mit diesen konfrontierte wollte ihm nicht gefallen.
 

„Kann man nichts dagegen tun?“, fragte das Mädchen, als sie etwas Mut gefunden hatte, sich in das Gespräch einzumischen. Sie bangte um das Leben ihres Freundes.
 

„Leider nicht“, knurrte Lorgren wütend.
 

„Doch“, wand der Clanführer des Sanddrachenclans ein und erregte so die Aufmerksamkeit der Hüterin und des Jerisanen. „Obwohl es mir widerstrebt, gegen die Sitten meines Clans zu handeln. Allein dir ist es erlaubt, den Richtspruch zu widerrufen. Du bist die Hüterin und stehst über unseren Gesetzen. So war es seit Generationen.“
 

Lorgren sah überrascht drein. Er hatte davon nichts gewusst. So erging es auch dem Mädchen, das von ihrer Rolle als Hoffnungsträgerin selbst kaum etwas wusste. „Dann möchte ich, dass ihr eurer Urteil zurück zieht“, bat sie den Clanführer mit bittendem Blick.
 

Nohrasil schloss knurrend die Augen. Er neigte das Haupt und sagte: „Wie ihr wünscht, ehrenwerte Hüterin. Den Zwergen wird das Leben geschenkt.“
 

„Hoffentlich werden deine Leute deinen Worten gehorchen“, wagte Lorgren zu sagen. „Sie verlangen für den Tot ihrer Brüder das Blut der Zwerge.“
 

„Wenn sie einmal erfahren, wer diesen Befehl wirklich gegeben hat“, erwiderte Nohrasil zuversichtlich, doch mit Ärger in der Stimme, über die Worte seines künftigen Schwiegersohnes, „werden sie sich beugen. Sie alle wissen um die Macht der Hüterin und würden es nie wagen, ihr zu widersprechen.“
 

„Ich danke euch“, sagte Fynn mit ehrlichen Worten, der sie verwundert und mit großen Augen ansah, da er nicht erwartet hatte, dass sie ihren Dank aussprechen würde.
 

Er neigte rasch vor ihr das Haupt und stieß hervor: „Ich bin euers Dankes nicht würdig, Hüterin.“ Fynn sah ihn verlegen an, während um Lorgrens Mundwinkel ein leichtes Lächeln zuckte.
 

„Ich werde die Zwerge sofort frei lassen“, kündigte Nohrasil an. „Danach werde ich meinen Leuten die Worte der Hüterin verkünden.“ Er sah das Mädchen ernst an, bevor er sich an den Wüstenreiter wand. „Dann werde ich alles für eure Weiterreise veranlassen.“
 

„Ich danke dir, Nohrasil“, bedankte sich Lorgren und verneigte sich vor dem Clanführer, bis seine Stirn den Teppich berührte. Fynn wollte es ihm gleich machen, doch der Jerisane hinderte sie daran. Mit strengen Blick erklärte er ihr: „Mach das nicht, sonst bringst du Nohrasil nur noch mehr in Verlegenheit.“ Die Halbork lief rot an vor Verlegenheit und nickte bloß. „Wir werden uns jetzt zurückziehen.“
 

Jetzt war es an Fynn, den Wüstenreiter zurück zu halten. „Warte“, bat sie schüchtern. Der Mann nickte, sichtlich verwirrt und neugierig auf ihre nächsten Worte. Sie wand sich an den Clanführer und sagte: „Ich nehme dein Angebot mit dem Zelt an. Ich will nicht weiter die Sitten deines stolzen Volkes herabwürdigen.“
 

Der ältere Mann hob stolz die Brust und nickte dankbar. „Ich werde dir eins meiner besten Zelte geben“, erklärte er.
 

Sie dankte ihm mit einen Nicken und einem kleinen Lächeln, bevor sie sich von Lorgren hinaus führen ließ. Trotz seiner Abscheu gegen die orkische Seite der Hüterin, musste Nohrasil zugeben, das sie für ihr junges Alter eine schlaue, junge Frau war. Zudem hatte sie Herz, was wohl eine der vielen Eigenschaften der Hüterin des Herzschwertes war. Die Legenden stimmten also. Sie war gekommen und würde die Wüste mit neuer Hoffnung segnen.
 

***
 

„Das wurde aber auch mal langsam Zeit“, schnaubte Valzar, als Lorgren ihn und Flint von ihren Fesseln befreite. Flint reichte ihm einen Schlauch mit Wasser und er trank gierig daraus. Er konnte gar nicht glauben, wie gut Wasser schmecken konnte! Nach einem genüsslichen Rülpser, reichte er Flint den Schlauch. „Was hat euch solange aufgehalten?“
 

„Eine lange Geschichte“, meinte Lorgren nur, als er sich erhob. „Es würde zu lange dauern, um sie dir zu erzählen.“
 

Flint sah hinüber zu Fynn und meinte: „Also dir haben wir unsere Rettung zu verdanken. Herzlichen Dank, Fynn.“
 

Fynn lächelte etwas verlegen, als sie zu dem alten Zwerg ging und ihm auf die Beine half. Obwohl sie kein Wort sagte, wusste der Zwerg sofort, dass sie seinen Dank entgegen genommen hatte.
 

„Können wir dann mal endlich von hier verschwinden?“, fragte Valzar, als er auf den Beinen stand und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. „Ich will keinen Augenblick länger hier verbringen.“
 

„Du musst dich da wohl noch etwas gedulden“, erwiderte der Wüstenreiter ruhig. „Der Clanführer bereitet bereits alles für unsere baldige Abreise vor. Morgen werden wir wieder unterwegs sein.“
 

Der Zwergenkönig schnaubte abfällig, doch beließ es dabei.
 

„Ich schlage vor, dass ihr aber hier im Zelt bleibt, bis wir abreisen“, schlug Lorgren vor. „Wir wollen nicht riskieren, dass einer der Männer seinen Zorn an euch abreagiert.“
 

„Na wunderbar“, brummte Valzar mürrisch. „Kaum sind wir die Fesseln los, da steckt man uns wieder in Gefangenschaft. Der Traum eines jeden Zwerges.“
 

„Ganz ruhig, Junge“, meinte Flint versöhnlich. „Es ist nur für einen Tag. Und morgen sind wir ja wieder unterwegs. Dann kannst du nach Herzenslust wieder deine Freiheit genießen.“
 

Valzar nickte bloß, bevor er fragte: „Was ist mit unserer Ausrüstung und unseren Waffen?“
 

Lorgren sah ihn an. „Die erhaltet ihr rasch wieder“, erwiderte er tonlos. „Ich werde mich darum kümmern. Zuerst muss ich Fynn noch zu ihrem Zelt bringen.“
 

„Jetzt trennt man uns auch noch“, brummte Valzar gleich wieder los. „Und du? Steckt man dich auch irgendwo anders hin?“
 

Der Jerisane winkte ab. „Sei versichert, ich bin ganz in der Nähe, wenn ihr mich braucht“, versuchte er den Zwerg zu beruhigen, der das ganze nur noch mit einem Schnauben zur Kenntnis nahm. „Fynn“, sagte Lorgren darauf.
 

Das Mädchen nickte, ging aber vorher zu den beiden Zwergen und legte beiden ihre Hände auf die breiten Schultern der Beiden. Diese sahen sie neugierig an. „Ich wünsche euch beiden eine erholsame Nacht“, sagte sie lächelnd. „Wenn es mir möglich ist, werde ich euch später noch besuchen.“ Sie erhob sich und ging zu Lorgren, der auf sie gewartet hatte.
 

„Wenn du es irgendwie arrangieren könntest, kannst du uns beiden ja noch ein paar Humpen Bier mitbringen“, rief Valzar dem Mädchen nach, das ihm mit einem amüsierten Lächeln zu nickte, bevor es mit dem Wüstenreiter aus dem Zelt verschwand.
 

„Ich glaube nicht, dass die Wüstenleute Bier haben“, meinte Flint, der es sich wieder auf dem Boden gemütlich machte und einen tiefen Schluck von dem Wasserschlauch nahm.
 

„Pah“, schnaubte der junge Zwerg. „Wenn sie keins haben, dann sollte Fynn etwas finden, was uns so ordentlich die Sinne benebelt. Ich kann auf weichen Kissen einfach nicht schlafen.“
 

***
 

Lorgren führte Fynn vom Zelt der Zwerge weg, wo zwei Krieger Stellung bezogen hatten. Das Mädchen wusste, das Nohrasil nur aus Vorsicht die Männer dort aufgestellt hatte, doch ihr wollte das nicht recht gefallen. Sie glaubte, dass der Clanführer den beiden Zwergen und ihrem Wort nicht vertraute. Sie konnte ihn verstehen, denn sie selber wüsste niemanden, der einem Halbork auch traute. Dennoch fühlte sie sich gekränkt.
 

Fynn folgte dem Wüstenreiter quer durch das Lager. Sie spürte wieder die Blicke der Männer und Frauen auf sich ruhen, doch vermochte sie dieses Mal sie zu ignorieren. Die Nähe zu Lorgren gab ihr die Kraft dazu. Sie erreichten ein unauffälliges Zelt, das in der Nähe des großen, roten Ratszeltes des Sanddrachenclans stand. Zwei Wächter standen, mit Speeren bewaffnet, davor und neigten vor Lorgren und Fynn das Haupt, als sie an ihnen ins Innere schlüpften.
 

Im Inneren erwartete sie mehrere Frauen in schlichten, weißen Kleidern. Sie verneigten sich vor ihr, bis auf eine, die ihr zum Gruß nur zu nickte. Fynn fand sie schön, eine wahre Wüstenschönheit. Sie hatte ihr seidenschwarzes Haar zu einem langen Zopf geflochten und ließ es sich über den Rücken fallen. Hinter ihrem Ohr hatte sie sich ebenfalls einen kleinen Zopf gemacht, in den sie goldenen Schmuck geflochten hatte und der ihr bis zur Schulter ging. Ihre Lippen waren voll und ihre dunklen Augen – Fynn glaubte, das sie blau waren – musterten sie unentwegt. Sie war einen halben Kopf größer als Fynn.
 

Lorgren trat vor und stellte die Frau Fynn vor. „Das ist Amirah, die Tochter des Clanführers.“ Fynn nickte ihr freundlich zu. Diese erwiderte knapp den Gruß.
 

„Herrin“, sagte Amirah mit zarter Stimme. „Ich fühle mich geehrt, euch persönlich kennen zu lernen.“ Um ihre Worte zu untermauern, trat sie auf das Mädchen zu und reichte ihr die Hand.
 

Etwas zögerlich streckte Fynn ihre aus und ergriff die der anderen Frau. Die andere Frau drückte zu und das Mädchen spürte, wie kräftig die andere war. „Ich danke euch, Prinzessin“, sagte Fynn schüchtern. Die anderen Frauen sahen einander an und kicherten verhalten. Etwas verwirrt sah sie zu diesen, bevor sie Lorgren rat suchend anblickte.
 

Der Wüstenreiter räusperte sich. „Ich werde euch nun alleine lassen“, kündigte er an. „Ich muss noch einiges mit Nohrasil besprechen, bevor wir morgen aufbrechen können.“
 

„Wieso?“, fragte Fynn etwas zu hektisch und klang dabei sogar etwas panisch, was die einfachen Frauen wieder zu einem Kichern hinriss.
 

„Es wäre nicht angebracht“, meinte der Wüstenreiter nur und räusperte sich noch einmal. Er neigte vor Fynn und Amirah förmlich das Haupt und verließ mit schnellen Schritten das Zelt.
 

Fynn sah ihm mit großen Augen nach. Er war weg und ließ sie mit bildfremden Leuten zurück. Sie wusste nicht, wie sie sich zu verhalten hatte, da Amirah die Tochter des Clanführers war. Dieser hatte ihr zwar erklärt, das sie alles Recht der Welt hatte, doch sie fühlte sich nicht, als hätte sie diese. Sie wand sich Amirah zu, die sie die ganze Zeit über angesehen hatte.
 

Diese sagte nun einer der Frauen etwas auf ihrer Muttersprache und führte Fynn in die Mitte des Zeltes, wo die anderen Frauen auf sie warteten. Sie hörte hinter sich, wie die Dienerin, denn was anderes konnte diese nicht sein, den Eingang mit einem Vorhang zu hängte und zu ihnen zurückkehrte.
 

„Zieh dich aus, Herrin“, sagte Amirah, die an ihrer Seite stand. Ungläubig sah das Mädchen die Frau an, glaubte, dass diese einen Scherz gemacht hatte, doch in den dunkelblauen Augen sah sie deutlich, das dem nicht so war. Eine Braue hob sich und Amirah fragte: „Traust du dich nicht?“
 

Fynn fühlte sich übergangslos wie ein kleines, dummes Mädchen und schämte sich sogleich. Sie schüttelte den Kopf und begann zögerlich sich ihrer Kleider zu entledigen. Doch der Wüstenprinzessin schien dies zu langsam zu gehen und sie half dem Mädchen dabei. Fynn wurde davon vollkommen überrumpelt und wollte schon etwas sagen, als schon zwei der Dienerinnen zu ihr kamen und ihrer Herrin dabei halfen. Erschrocken schrie Fynn auf, doch die Frauen kicherten nur wieder.
 

Nun stand sie nackt vor den anderen Frauen. Ihr Gesicht verfärbte sich vor Scham und sie versuchte notdürftig sich mit den Händen zu bedecken. Doch es half nichts.
 

„Du brauchst dich nicht zu schämen, Herrin“, meinte Amirah, als wäre nichts weiter dabei. Neben der Prinzessin fühlte sich Fynn wieder klein und dumm und machte sich unweigerlich kleiner. „Nun komm. Dein Bad wartet.“
 

Eine alte Dienerin trat an Fynns Seite, während die Jerisanin voraus ging, und schob sie voran. Hinter einem Verhang stand eine große Wanne aus reich mit Schnitzereien verziertem Holz. In dieser war bereits dampfendes Wasser eingegossen worden. Fynn konnte den Drang nicht unterbinden, sehnsüchtig auf das warme Wasser zu sehen und ihre Schritte beschleunigten sich bereits, ohne das die Dienerin sie weiter schieben musste.
 

Amirah blieb nun stehen, während Fynn und die Dienerinnen an ihr vorbei traten. Das Mädchen sah die andere Frau fragend an, als würde sie von ihr eine Erlaubnis benötigen, in die Wanne zu steigen. Die Prinzessin nickte ihr nur knapp zu und das Mädchen stieg in das warme Wasser.
 

Bevor sie auch nur die Wärme genießen konnte, waren die Dienerinnen bei ihr und begannen sie mit Lappen zu waschen. Wieder schrie Fynn erschrocken auf und versuchte sich gegen die amüsiert lachenden Frauen zu wehren. Doch es half ihr nichts. Eine Hand legte sich auf ihren Kopf und tunkte sie unter Wasser. Prustend tauchte die Halbork wieder auf, doch wurde sie sofort wieder runter gedrückt.
 

So habe ich mir mein Bad nicht vorgestellt, dachte Fynn, als man sie wieder frische Luft atmen ließ. Eine der Dienerinnen trat an sie heran und zeigte ihr eine Flasche mit langen Hals. Sie hielt sie ihr unter die Nase und Fynn musste des Geruchs wegen niesen. Was auch immer da drin war, reizte ihre empfindliche Nase. Die Frau sah sie fragend an, bevor sie ging und mit einer anderen Flasche zurückkam. Diese hielt sie ihr wieder unter die Nase und erneut musste das Mädchen niesen. Das ganze wurde solange wieder holt, bis sie bei einer nicht niesen musste. Der aus der Flasche steigende Duft erinnerte sie an eine Frühlingswiese zuhause in Steindorf.
 

Der Inhalt der Flasche wurde ihr über den Kopf gegossen. Hände legten sich auf ihr Haupt und begannen die Flüssigkeit in ihr Haar einzumassieren. Das Mädchen konnte unter den sanften Berührungen nicht anders und schloss genießerisch die Augen. Doch der Moment der Ruhe hielt nicht lange. Sie wurde wieder unter Wasser gedrückt. Das wiederholte sich wieder einige male, bis ihr Haar von der flüssigen Seife befreit war.
 

Endlich konnte sie aus der Wanne und zwei Dienerinnen trockneten sie mit Tüchern gründlich ab. Als Fynn auch dies überstanden hatte, zog die alte Dienerin von eben sie hinter sich her, zu einem anderen Verhang, wo man sie auf einen Hocker schob.
 

„K-kann ich meine Sachen zurück bekommen?“, fragte Fynn eine der Dienerinnen, als Amirah zu ihnen stieß.
 

„Hab noch etwas geduld, Herrin“, beschwichtigte die junge Frau das Mädchen. Als Fynn ihrem Blick begegnete, glaubte sie so etwas wie Abscheu in ihren Augen zu sehen. Scheinbar wusste Amirah nicht wer sie war, dachte Fynn und verzieh der Frau im Stillen für ihre Unwissenheit. „Wir werden euch frische Kleider geben.“
 

Zögerlich nickte Fynn. Es dauerte nicht lange, als einige Dienerinnen ihr Kleidung brachten. Die Halbork wollte schon damit beginnen, sich die Sachen selber anzuziehen, doch die Dienerinnen waren wieder zu schnell. Zumindest waren sie jetzt etwas vorsichtiger, dachte Fynn erleichtert, als sie in die Kleider schlüpfte.
 

Zu erst in ein Hemdchen, dem die Arme fehlten, gefolgt von Lendenwäsche und einer engen Hose mit kurzen Beinen. Statt eines Hemdes, wurde Fynn eins der langen, weißen Kleider übergezogen, das ihren zierlichen Körper umwaberte. Man drückte sie zurück auf den kleinen Hocker.
 

Sorgfältig kämmte man ihr die langen Haare und mehr als einmal zuckte Fynn zusammen, als die Dienerin ihr mit der Bürste einen Knoten im Haar löste. Ich war zu lange in der Wüste, dachte Fynn, doch wusste sie, dass sie auch in Steindorf sich recht selten gekämmt hatte. Das letzte Mal hatte sie sich für Jakob die Haare gekämmt, bevor er sie hatte ermorden wollen.
 

Als das Kämmen überstanden war, flocht ihr die Dienerin ihr langes Haar zu einem ordentlichen Zopf. Kurz darauf flocht ihr die Dienerin und eine zweite die Strähnen der Halbork zu kleinen Zöpfen, wie Amirah einen hatte. Statt des goldenen Schmuckes nahmen sie glitzernde Perlen. Die Frau zu ihrer rechten griff ihr in den Ausschnitt und förderte den Schwertanhänger zu Tage, bevor Fynn überhaupt noch protestieren konnte.
 

„Du bist fertig“, stellte Amirah fest, ohne eine Regung in ihrer wohlklingenden Stimme. Die Dienerinnen zogen sich mit gesenkten Häuptern zurück. Die Prinzessin trat zu dem Mädchen und forderte sie auf aufzustehen. Sie betrachtet sie nun kritisch und nickte schließlich zufrieden. „So können wir dich zeigen.“
 

„Zeigen?“, fragte Fynn verwirrt und sah die andere Frau wieder direkt an.
 

Amirah nickte. „Mein Vater will dich unserem Clan präsentieren“, sagte sie. Sie legte den Kopf leicht schief und fragte: „Warum bist du so wichtig für ihn?“
 

„Eurem Vater?“, fragte Fynn vorsichtig.
 

„Nein, Lorgren“, klärte Amirah sie mit etwas Schärfe in der Stimme auf. Fynn zuckte leicht zusammen. „Er sorgt sich sehr um dein Wohlergehen. Das finde ich höchst verdächtig.“ Sie ging um die Halbork herum und nahm sie dabei genau in Augenschein. „Sag mir, was läuft zwischen euch beiden.“
 

„Ich verstehe nicht, was…“, erwiderte Fynn, doch die Wüstenprinzessin unterbrach sie barsch.
 

„Spiel hier nicht die Dumme, Halbork“, zischte sie Fynn direkt ins Gesicht. „Er verhält sich sonst nicht so. Hast du ihn verhext? Wieso bist du in der Wüste?“
 

„Es ist sein Auftrag“, stieß sie hervor und wich vor der Jerisanin zurück, die ihr mit einem Mal unheimlich wurde.
 

„Sein Auftrag? Hat er ihn etwa von dir erhalten? Sprich!“
 

„Das reicht“, erklang eine Stimme nicht weit ab von ihnen. Beide Frauen wanden sich um und erblickten Lorgren, der mit schmalen Augen beide ansah. „Amirah, lass Fynn zufrieden. Sie ist nicht deine Feindin.“
 

„Wer ist sie?“, wollte Amirah wissen und ging mit schnellen Schritten auf den Wüstenreiter zu. Sie deutet mit dem Finger auf das Mädchen. „Warum ist sie bei dir? Was hat das zu bedeuten, Lorgren?“
 

„Beruhig dich“, forderte der Mann sie auf. „Du muss nicht eifersüchtig werden. Sie ist nur mein Mündel. Ich habe den Auftrag erhalten sie wohlbehalten in die Hauptstadt zu bringen.“
 

Sie betrachtet ihn, als würde sie kein Wort von dem glauben, das er ihr so eben gesagt hatte. Doch sie beruhigte sich allmählich. „Und was soll sie in der Hauptstadt?“, wollte die Frau wissen.
 

Lorgren schien zu überlegen, ob er ihr offenbaren sollte, wer Fynn war. Dabei sah er kurz zu dem Mädchen. Fynn erwiderte seinen Blick, senkte ihn aber gleich wieder, als auch Amirah zu ihr sah und sie anfunkelte. Das Mädchen wusste nicht, was die Frau gegen sie hatte. Sie hatte ihr schließlich nichts getan. Oder galt ihr Groll mehr Lorgren? Fynn wusste nur, das er und Amirahs Vater bekannte waren. Hatte der Wüstenreiter der Prinzessin auf sich gezogen, weil er sie und die beiden Zwerge in die Wüste gebracht hatte?
 

„Da es sowieso alle erfahren werden“, fuhr er ruhig fort, „wäre es nur recht, dich vorher in Kenntnis zu setzen.“ Er deutete mit einem Nicken auf Fynn. „Dieses Mädchen dort ist die Hüterin des Herzschwertes.“
 

Amirah wirbelte zu Fynn herum und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, in denen deutlich ihr Unglaube und ihre Überraschung standen. Sie sah zu Lorgren, als wolle sie von ihm hören, dass er log, doch seine Miene war unverändert geblieben.
 

„Die Hüterin“, stieß sie leise hervor, bevor sie sich wieder faste und den Kopf schüttelte, um ihre Gedanken wieder zu ordnen. „Unglaublich.“ Sie sah Fynn jetzt mit ganz anderen Augen an. „Diese Halbork soll die Hüterin sein?“ Deutlich war ihr Zweifel in ihrer Stimme zu hören. „Das kannst du nicht ernst behaupten.“
 

„Sind dir nicht die Zeichen aufgefallen?“, fragte Lorgren ruhig und trat zu Fynn. Er hob leicht den Schwertanhänger an, damit Amirah diesen sehen konnte. „Das erste Zeichen. Und über ihrem Herzen wirst du auch das zweite finden. Ich selber habe sie gesehen.“ Als sich Amirahs Augen zu schmalen Schlitzen verengten, fuhr Lorgren mit einem Seufzer fort. „Vergiss lieber schnell, was dir da im Kopf herum spukt. Du kennst mich gut genug, um selbst zu wissen, wie töricht sie sind.“
 

Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und wand den Blick beleidigt ab. Lorgren reagierte gar nicht darauf, sondern schenkte seine Aufmerksamkeit Fynn. „Ich möchte mich für Amirahs Verhalten entschuldigen“, sagte er förmlich zu ihr, doch Fynn merkte, das seine Worte ehrlich gemeint waren. Er warf der Frau einen kurzen Blick zu. „Sie wird schnell eifersüchtig.“
 

Fynn verstand nicht wirklich, was er damit meinte, nickte dennoch.
 

Amirah wand sich wieder Lorgren zu und meinte, als sie auf ihn zuging. „Man sollte nicht so über seine Verlobte reden“, sagte sie lächelnd. Sie schmiegte sich an den Wüstenreiter, der einen Schritt zurück gewichen war und küsste ihn genau auf die Lippen.
 

Fynn machte große Augen, als sie diese Geste der Zuneigung von Seitens Amirah sah. Also das hatte Lorgren mit eifersüchtig gemeint, dachte das Mädchen. Er und Amirah waren also einander versprochen. Aus einem unergründlichen Grund wurde das Mädchen eifersüchtig auf die schöne Wüstenprinzessin. Sie konnte sich selber nicht erklären, wieso, doch sie war da. Zudem fühlte sie sich verletzt, verletzt von Lorgren, der ihr davon nichts erzählt hatte.
 

Amirah sah zu Fynn und meinte, fast schon entschuldigend: „Verzeih mir, Hüterin, aber ich habe meinen Geliebten seit langen Monaten nicht mehr gesehen. Ich konnte einfach nicht mehr an mich halten.“
 

Bevor Lorgren seinen Protest abgeben konnte – sein Gesicht hatte sich bei den Worten Geliebter verzerrt -, erschien eine Dienerin. „Entschuldigt die Störung, Herrin“, bat sie Amirah untertänig.
 

„Was ist?“, fragte die Prinzessin und wand sich der anderen Frau zu.
 

„Ich soll euch von eurem Vater und dem Rat ausrichten lassen, das eine Versammlung des gesamten Clans einberufen wurde“, berichtet die Dienerin. „Ich soll euch und unsere Gäste holen.“
 

„Ich hab verstanden“, sagte die Jerisanin und schickte die Dienerin mit einem Wink weg. Sie sah Lorgren an und meinte: „Wirklich schade. Dieser Moment hätte ruhig länger andauern können.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die linke Wange und trennte sich von ihm. Sie neigte vor Fynn kurz das Haupt und verließ dann mit schnellen Schritten das Zelt.
 

Fynn sah zu Lorgren, der angefangen hatte zu zittern. Sie wusste nicht wieso, aber momentan war es ihr wirklich egal. Sie wollte nur so schnell wie Möglich die Versammlung hinter sich bringen und dann für die Nacht ins Zelt zurückkehren.
 

Der Jerisane schnaubte leise. „Komm, Fynn“, sagte er bestimmt und marschieret ihr voraus zum Ausgang des Zeltes. Sie folgte ihm mit einem gewissen Abstand.
 

Vor dem Zelt sahen sie schon, das sich alle Männer und Frauen, ob jung, ob alt, vor dem Ratszelt eingefunden hatten. Ihre Unterhaltungen drangen bis zu den zwei Gefährten, die sogleich zu der Menschenmenge hinüber schritten. Zwei Krieger fingen sie ab und führten sie sicher um die Menge herum, hinter das Zelt, wo Nohrasil und die anderen vier Ratsmitglieder sie erwarteten.
 

Alle verneigten sich tief vor Fynn, die sich wieder peinlich berührt fühlte. Der Clanführer wand sich an Lorgren und sagte: „Der Rat wurde von mir schon informiert. Jetzt wird der Rest des Clans unterrichtet.“
 

Lorgren nickte. „Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren“, sagte er bestimmt. Nohrasil nickte und führte sie um das Zelt wieder herum. Als sie die Menge erreichten, teilte sie sich vor ihnen, das sie in ihre Mitte treten konnten. Sobald sie hindurch waren, schloss sich der Halbkreis wieder um die kleine Gruppe. Vor dem Eingang des Ratszeltes versammelten sie sich.
 

Nohrasil nickte Fynn und den anderen kurz zu, bevor er sich vor seine Leute stellte und mit lauter Stimme um ihre Aufmerksamkeit bat. Es wurde sofort leise und alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf ihren Herren. „Brüder und Schwestern des Sanddrachenclans“, sagte er mit lauter und kräftiger Stimme. „Ich habe euch zusammen rufen lassen, um euch mitzuteilen, dass wir entschieden haben, was mit den Zwergen geschehen wird.“ Die Wüstenbewohner fingen an zu murmeln und es war deutlich, was sie sich erhofften. Das Leben der Zwerge, für die Leben ihrer verlorenen Brüder. „Sie erhalten ihre Freiheit.“
 

Empörte Rufe wurden laut. Die Männer und Frauen verlangten lautstark den Tot der beiden Bärtigen, die zwei ihrer Brüder ermordet hatten. Einige der Männer zogen sogar ihre Schwerter oder Dolche, um ihre Worte damit zu bekräftigen. Sie verstanden nicht, was in ihren Anführer geraten war, der sie so viele Jahre gut geführt hatte.
 

„Ruhe!“ brüllte einer der vier Ratsmitglieder mit imposanter Stimme. „Beruhigt euch! Hört Nohrasil erstmal an, bevor ihr ihn verpönt!“
 

Der Clanführer nickte seinem Freund dankend zu, bevor er seine Worte wieder an die Menge richtete. „Ich habe nicht diesen Entschluss gefasst“, erklärte er ihnen. Er deutet mit einer Hand auf Fynn, die aus Reflex den Kopf einzog, als unzählige Blicke sie trafen. „Es war ihre Entscheidung.“
 

„Seit wann hört Nohrasil auf eine Halbork?“, verlangte ein aufgebrachter Mann zu wissen und trat vor. Der Zorn stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich dachte immer, das Nohrasil unser Anführer wäre und nicht so eine Missgeburt.“ Er spie die Worte regelrecht aus.
 

Fynn spürte die Abscheu der Leute gegen sie, aber auch die Wärme, die von ihrem Anhänger ausging. Sie waren gute Menschen, die voller Zorn waren, dachte sie und umklammerte unbewusst das Erbstück.
 

Hinter ihr hatte Lorgren sich angespannt. Sie spürte es deutlich. Er war erbost über die Worte des Mannes, wusste sie. Doch er war klug genug, sich nicht auf diesen zu stürzen.
 

„Zügel deine Zunge!“, fuhr Nohrasil den Mann an, der überrascht zusammen zuckte und einen Schritt zurück gewichen war. „Rede nicht in so einem Ton von ihr! Oder willst du nicht mehr den Tag erleben, wo die Wüste erblüht?“
 

Verwirrtes Schweigen trat ein. Die Leute sahen ihren Anführer verständnislos an. Einige wenige sahen sogar zu der Halbork hinüber, als könnte der bloße Anblick ihnen erklären, was mit dem Clanführer los war.
 

Nohrasil winkte Fynn zu sich. Sie zögerte. Lorgren berührte sie an der Schulter. Sie sah den Wüstenreiter fragend an. Er deutete ihr an, zu dem Mann zu gehen. Sie erwiderte kurz sein Nicken und trat hinüber zu Nohrasil, der ihr eine Hand auf die zierliche Schulter legte, sobald sie neben ihm stand.
 

„Dieses Mädchen ist die Hüterin des Herzschwertes!“, rief Nohrasil mit kraftvoller Stimme aus. „Sie ist es, die die Wüste erblühen läst!“
 

Ein Raunen ging durch die Reihen der Wüstenreiter. Der Mann, der Fynn zuvor als Missgeburt beschimpft hatte, sah sie mit großen Augen an und schluckte schwer. Er sank vor ihr auf die Knie und verneigte sich vor, bis seine Stirn den Wüstenboden berührte. Weitere folgten seinem Beispiel. Männer und Frauen, Kinder und Alte fielen auf die Knie und verneigten sich dem Mädchen.
 

Fynn sah das mit großen Augen. Sie wollte nicht wahrhaben, das so viele Menschen sich vor ihr in den Dreck warfen, um ihr ihre Ehrerbietung zu zeigen. Sie wollte zu ihnen gehen, sie bitten, sich wieder zu erheben, denn sie wollte nicht, dass sich jemand vor ihr herabwürdigte. Keiner sollte je so etwas vor ihr tun. Doch ihr fehlte dazu der Mut. Besonders, seit Nohrasil angekündigt hatte, das sie die Wüste erblühen lassen würde.
 

Einige der Männer waren stehen geblieben und sahen Fynn voller Abscheu an. Einer von ihnen war der Hüne Raga. „Die soll uns Hoffnung bringen?“, brüllte er voller Verachtung. „Diese Missgeburt? Sie kann niemals die Hüterin sein!“
 

„Raga, schweig!“, knurrte Nohrasil den Mann an, doch dieser winkte einfach ab und trat aus der Menge heraus, gefolgt von seinen wenigen Verbündeten.
 

„Ich werde nicht schweigen, Nohrasil“, herrschte er den Clanführer an. Kurz darauf traf sein Blick wieder Fynn, die erschrocken einen Schritt zurück gewichen war. „Sieh sie dir an. Sie ist kein Mensch. Sie ist eine halbe Bestie, die unsere Gedanken vergiftet! Deine sind es bereits!“
 

„Wie kannst du es wagen, so über sie und Nohrasil zu sprechen?“, verlangte Lorgren zu wissen, der vorgetreten war und sich zwischen Raga und Fynn gedrängt hatte und den Hünen mit zusammen gekniffenen Augen anfunkelte. „Entschuldige dich sofort.“
 

„Das werde ich nicht, Einarmiger“, fauchte der Hüne den kleineren Mann an. „Eher würde ich sterben, als vor so einer Laune der Natur nieder zu knien.“
 

Lorgren knurrte und trat einen Schritt auf Raga zu. „Du wagst es immer noch?“ Er griff an seinen Gürtel, erinnerte sich aber, dass er keine Waffe bei sich trug. „Sie ist die Hoffnung für uns alle. Siehst du das nicht?“
 

„Ich sehe nur etwas, das es hätte nie geben dürfen“, erwiderte Raga. Er deutet anklagend auf das Mädchen. „Ich verlange, dass sie zusammen mit den Zwergen den Tot findet!“
 

„Vergiss es, Raga“, fuhr Nohrasil den anderen an. „Du sprichst im Zorn. Er blendet dich für die Wahrheit. Du hast kein Recht so etwas zu verlangen.“
 

„Dann fordre ich Shar´Thek!“, brüllte der Hüne laut. Die Leute um sie herum keuchten auf. Nohrasils Gesicht war blass geworden. Lorgren kniff bedrohlich die Augen zusammen. Fynn sah den Hünen mit großen Augen an. Was war Shar´Thek, fragte sie sich ängstlich. Der Reaktion der anderen nach zu urteilen, war es etwas überaus brisantes, was der große Mann da verlangte. Und sie wurde das Gefühl nicht los, das dabei Blut fließen würde.
 

Raga zog einen Dolch und deutete mit dessen Klinge auf Fynn, die ihn mit entsetztem Blick ansah. „Ich fordere sie zum Shar´Thek heraus!“, verlangte er sofort.
 

„Das ist nicht möglich“, sagte Nohrasil und baute sich vor dem Mann auf. Raga überragte mit einer Haupteslänge den Anführer des Sanddrachenclans, doch diesen störte es nicht. „Shar´Thek ist alleine den Kriegern vorbehalten. Und die Hüterin ist keine Kriegerin.“
 

„Dann wählt einen Vertreter für sie“, herrschte der große Mann seinen Herren an. „Ich habe meine Herausforderung ausgesprochen und nichts wird mich davon abbringen, diese zurück zu ziehen.“ Er funkelte den Clanführer an. „Nicht einmal du, alter Mann.“
 

„Ich werde für sie kämpfen“, bot Lorgren sich sofort an. Er drängte sich vor Nohrasil und sah den anderen Mann offen ins Gesicht, ohne vor seinem finsteren Blick zurück zu schrecken.“
 

„Lorgren!“, erklang Amirahs Stimme, die aus der Menge hervor getreten war und zu den Männern lief. „Bist du wahnsinnig?“
 

Lorgren sah sie nur kurz an. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er mit tonloser Stimme. „Mach dir lieber um das Wohl unseres Landes Sorgen. Denn Raga bedroht es.“ Dabei sah er den Hünen wieder an, in dessen Blick offene Feindschaft stand.
 

Der Hüne wand sich um und knurrte: „Heute, wenn der Mond aufgeht, dann wird dein Blut den Sand tränken, Einarmiger.“ Zusammen mit seinen gleich denkenden Brüdern verließ Raga die Versammlung.
 

Nohrasil sah dem Krieger nach. Mit verdrießlichen Gesichtausdruck wand er sich Fynn zu. „Bitte entschuldige seine Worte, Hüterin“, bat er das Mädchen. „Er spricht im Zorn.“ Er zögerte kurz. „Sein Bruder ist einer der Männer, die ihr Leben durch den Zwerg verloren haben. Er ist von seinem Schmerz verblendet worden. Ich will sehen, ob ich ihn nicht zur Vernunft bringen kann.“
 

Sie nickte nur. Der Clanführer verneigte sich und löste die Versammlung auf. Die Leute strebten auseinander, doch einige blieben und sahen die Halbork unentwegt an. Fynn waren die Blicke unangenehm und sie wand sich Lorgren und Amirah zu.
 

„Muss das sein?“, fraget Fynn den Wüstenreiter, der sie mit erhobener Braue ansah. „Ich will nicht, dass wegen mir Blut vergossen wird.“
 

„Es geht nicht anders“, sagte er zu ihr. „Raga will nicht verstehen, wie wichtig du für unser Volk bist.“
 

Fynn wusste nichts zu erwidern und schwieg. Sie sah Lorgren einen langen Augenblick an, bevor sie den Blick senkte und sagte: „Ich werde mich zurück ziehen.“ Sie drehte sich von dem Wüstenreiter weg und ging davon, zurück zu dem Zelt, das sie von Nohrasil großzügigerweise bekommen hatte.
 

Wieso musste überall Blut vergossen werden, wo sie erschien, fragte sie sich, während sie ihres Wegs ging. Die Männer und Frauen, die sich vor ihr verneigten, nahm sie gar nicht erst war, so vertieft war sie in ihre Gedanken.
 

Seit sie erfahren hatte, dass sie die Hüterin des Herzschwertes war, dieser legendären Waffe, die Hoffnung bringen sollte, hatten viele ihr Leben gelassen. Erst Garyn, der den Klingen Skorms zum Opfer gefallen war. Dann war Ian von ihr gegangen, um ihr Leben zu beschützen. Und Broko, der stolze Zwerg, der sein Leben in der Schlacht ausgehaucht hatte. Warum hatten sie alle sterben müssen? Wegen ihr, erkannte sie selbst. Alle waren allein durch ihre Schuld ums Leben gekommen.
 

Sie erreichte ihr Zelt und huschte hinein. Das Mädchen konnte nicht an sich halten, sank auf die Knie und fing an zu weinen. Sie konnte all den Schmerz, den sie erlitten hatte, nicht mehr unterdrücken. So viele waren tot und nun setzte Lorgren sein Leben für sie aufs Spiel. Wieso tat er das? Wegen einer Legende, in der sie eine Rolle spielte! Sie wollte nicht mehr. Sie wollte nicht, dass wegen ihr noch jemand starb, der ihr lieb war.
 

„Das ist doch kein Grund zu weinen“, erklang eine alte, freundliche Stimme in ihrer Nähe. Fynn schrak auf und sah sich um. Ein alter Mann, mit langen, silbernen Bart, der die weiße Robe der Wüstenbewohner trug, stand nicht weit ab von ihr und hielt sich an seinem knorrigen, alten Wanderstab fest. Seine azurblauen Augen sahen sie warmherzig an und seine Lippen zierten ein freundliches Lächeln.
 

„Wer bist du?“, fragte Fynn hektisch und wich vor dem alten Mann zurück.
 

Dieser setzte sich mit einem angestrengten Ätzen auf eins der vielen Kissen und meinte: „Keine Angst, Kind. Ich will dir nichts Böses. Dazu wäre ich sowieso nicht mehr in der Lage. Dazu tun mir schon zu sehr die Knochen weh.“
 

Das Mädchen wusste nicht wieso, aber sie mochte den Alten sofort. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und setzte sich ihm gegenüber. „Wer bist du?“, fragte sie wieder.
 

„Nur ein alter Mann, der deine Aufmerksamkeit nicht verdient“, sagte der Alte und lächelte sie an. Auf dem Gesicht Fynns erschien ebenfalls ein Lächeln, zwar schüchtern, aber es war da. „Das sehen meine alten Augen gern. So ein liebes Mädchen wie du sollte öfter lächeln.“
 

Fynn fühlte sich geschmeichelt und nickte leicht. „Ich finde schon, dass ich deinen Namen wissen sollte“, meinte sie. „Woher soll ich denn sonst wissen, mit wem ich mich unterhalte?“
 

Der alte Mann gluckste amüsiert. „Kluges Mädchen, muss ich schon sagen“, kicherte er und legte sich den Stab über die Beine. „Die Leute nennen mich Drelden, Hüterin.“
 

„Nenn mich bitte Fynn, Drelden“, bat sie den Alten, der darauf nickte.
 

„Gut, dann eben Fynn“, sagte er mit einem breiten Lächeln. „Ein hübscher Name, muss ich schon sagen. Wer hat ihn dir gegeben?“ Er sah sie neugierig an.
 

„Meine Mutter.“
 

„Deine Mutter, so, so“, murmelte er und versank kurz in Gedanken, bevor er Fynn wieder ansah. „Sag mir, Fynn. Wieso hast du denn geweint?“
 

Sie sah verlegen zu Boden. „Nur so“, log das Mädchen.
 

„Nur so weint man doch nicht“, wand Drelden ein, klang dabei etwas tadelnd. „Du solltest keinen alten Mann anlügen. Das ist sehr unschicklich für eine junge Dame. Besonders, wenn es sich dabei um die Hüterin des Herzschwertes handelt.“
 

Fynn wurde rot vor Scham. „Verzeih“, murmelte sie eine Entschuldigung.
 

„Schon gut“, sagte Drelden und tätschelte ihre Hand. „Nun sag dem alten Drelden, was dich bedrückt. Vielleicht geht es dir besser.“ Er wartete geduldig und legte den Kopf dabei schief. „Oder soll ich Lorgren holen?“
 

„Nein!“, quiekte sie auf und hielt ihn am Arm fest, als der Alte sich erheben wollte. „Nein“, sagte sie nun etwas leiser. Schließlich ließ sie ihn los und meinte: „Ich möchte ihn nicht mit meinen Problemen belasten.“ Der Gedanke, das Lorgren von ihren Gefühlen wusste erweckte in ihr das Gefühl, als würde sie vor dem Mann Schwäche zeigen und das wollte sie nicht. Nicht, seit sie Amirah kannte, die eine starke und selbstbewusste Frau war.
 

„Es wäre aber nicht ganz verkehrt, wenn du jemanden hättest, dem du alles erzählst, was dir auf dem Herzen liegt“, erklärte Drelden ihr mit einem väterlichen Lächeln. „Du solltest dich nicht vor deinen Gefährten verschließen. Sie stehen dir nicht nut tapfer im Kampf zu Seite. Sie stehen dir auch mit ihrem Rat bei.“
 

Fynn dachte über die Worte des alten Mannes nach und musste schließlich zugeben, das er Recht hatte. Sie nickte. „Ich glaube, du hast recht.“
 

„Natürlich habe ich recht“, lachte der Alte amüsiert. „Ich spreche aus Erfahrung, meine Liebe. Und davon habe ich wahrlich genug.“ Er sah sie wieder an und wurde etwas ernster. „Nun sag mir, was dich bedrückt.“
 

„Nun…“, sie zögerte noch etwas, bevor sie endlich sprach. „Seit ich weis, wer ich bin, habe ich viele sterben sehen, die ich kannte oder die mir lieb und teuer waren. Unter ihnen war ein besonders guter Freund. Er war wie ein Bruder für mich. Er hat immer auf mich aufgepasst, als wir Kinder gewesen waren und auf der Reise tat er es wieder und hat sein Leben schließlich verloren, um meins zu retten.“
 

„Wie hieß er denn, dein Freund?“, fragte Drelden neugierig.
 

„Ian.“
 

„Ian“, murmelte er und strich sich durch seinen langen Bart. Darauf sah er sie an und tätschelte mitfühlend ihre Hand. „Er war sicher ein wackerer Bursche, oder?“ Fynn nickte und wischte sich eine einzelne Träne von der Wange. „Ich werde heute Abend für sein Seelenheil beten, bevor ich zu Bett gehe.“
 

„Das ist freundlich von dir“, sagte Fynn mit einem Lächeln. Sie fühlte sich um einiges wohler, als zuvor. Das Mädchen merkte, das ihr das Gespräch mit dem fremden, alten Mann gut tat, das sie endlich das Gewicht von ihrem Herzen nehmen konnte, das sie so lange schon geplagt hatte.
 

„Herrin?“, fragte jemand. Fynn wand sich um und erblickte eine der Dienerinnen, die ihr zuvor beim Umkleiden behilflich gewesen war. „Möchtet ihr etwas essen?“
 

„Fynn überlegte kurz und nickte. „Ja, bitte“; sagte sie und wand sich Drelden zu. Doch dieser war weg. Verwundert sah sich das Mädchen nach dem alten Mann um, der noch vor wenigen Augenblicken ihr gegenüber gesessen und sich mit ihr unterhalten hatte. Wo war er hin, fragte sie sich. Er hatte so alt und gebrechlich gewirkt, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass er davon geschlichen wäre.
 

„Sucht ihr jemanden, Herrin?“, fragte die Dienerin.
 

Fynn beschloss Drelden fürs erste geheim zu halten, weil sie sich nun nicht mehr sicher war, ob der liebe, alte Mann wirklich da gewesen war oder er nur eine Figur ihrer Einbildung gewesen sein könnte. „Nein, nein“, winkte sie ab. „Ich hab nur noch eine Bitte.“ Die Dienerin nickte und erwartet ihren Wunsch. „Könntest du mir einen großen Krug mit Bier beschaffen?“
 

„Bier? Wir haben keins. Aber ich könnte Sonnenschnaps herbei schaffen“, schlug die Frau vor.
 

Fynn nickte und lächelte. „Dann bring mir das, bitte“, sagte sie. „Nein, warte. Bring den Krug ins Zelt der Zwerge. Du wirst mich dort finden.“
 

„Wie ihr wünscht“, sagte die Dienerin und huschte davon und ließ Fynn mit der Frage zurück, ob sie sich Drelden nicht nur eingebildet hatte.
 

***
 

Lorgren streifte umständlich die weiße Wüstenrobe ab. Mit freiem Oberkörper und nur mit einer langen Hose bekleidet setzte er sich auf den mit Teppichen ausgelegten Boden seines Zeltes und schloss die Augen.
 

Amirah trat an den Wüstenreiter heran und kniete sich an seine Seite. Sie setzte die drei Schüsseln neben sich ab und betrachte den Mann eingehend. Seine Brust, gestählt und braungebrannt, hob und senkte sich ruhig. Erinnerungen an frühere Zeiten stiegen in der Wüstenprinzessin auf, Zeiten, in denen sie beide vertrauter miteinander umgegangen waren. Schnell kämpfte sie die alten Erinnerungen nieder und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.
 

Nohrasil hatte es nicht geschafft Raga umzustimmen. Der Hüne hatte den Clanführer mit Flüchen aus seinem Zelt geschmissen und davon geprahlt, wie schnell Lorgrens Blut den Sand rot färben würde. Nun musste Amirah ihren Verlobten auf den bevorstehenden Shar´Thek-Kampf vorbereiten, wie es den alten Sitten entsprach, in einer Zeremonie, die Geist und Körper des Kämpfers stählen sollte.
 

Es war üblich, das ein Familienmitglied des Kämpfers ihm bei der Zeremonie beiwohnte, doch Lorgrens Clan war viele Tage von ihnen entfernt. Amirah hatte diese Aufgabe übernommen, denn bald, wenn das nächste Jahr anbrach, würde sie seine Frau werden.
 

Amirah sah zu den drei Schüsseln, die sie mitgebracht hatte. In ihnen waren verschiedene Farben enthalten – rot, blau und weiß. Sie schloss die Augen und murmelte ein leises Gebet an die vier Winde, den vier Göttern der Wüstenländer. Raytih, der Nordwind, Janatha, der Westwind, Sylma, der Südwind und Otho, der Ostwind. Langsam öffnete sie wieder ihre Augen.
 

Sie ließ einen Finger in die rote Farbe tauchen, spürte deren angenehme Kühle an ihrer Haut und wand sich dem stillsitzenden Lorgren zu. Sehr vorsichtig, als hätte sie Angst, er könnte auseinander springen bei ihrer Berührung, trug sie feine Linien mit der Farbe auf seiner Haut auf. Immer wieder sank ihr Finger in die Schüssel und die Linien auf Lorgrens Brust bildeten langsam ein Bild. Einen Sanddrachen, der einen lautlosen Schrei ausstieß. Das Wappentier Amirahs Clans
 

Sie betrachtet einen Augenblick das Bild, bevor sie ihren Finger von den Resten der roten Farbe befreite und ihn anschließend in die blaue tauchte. Mit diesem trug sie nun Linien auf seinem Rücken auf. Amirah wiederholte das ganze auf seinem Rücken, doch kein Sanddrache entstand, sondern einen stolzen Wüstenhengst, der seine Vorderläufe gen Himmel hob. Das Wappentier Lorgrens Clans.
 

Sobald der Finger gereinigt war, ließ sie ihn in der weißen Farbe versinken. Unwillkürlich zitterte die Prinzessin. Nun kam wohl das wichtigste aller Zeichen dran, das Lorgren, so der Glaube, vor allen Angriffen schützen und ihm unglaubliche Kraft schenken sollte. Sie durfte sich nicht verzeichnen, denn sonst wären die Winde nicht mit ihrem Verlobten und das wollte sie vermeiden.
 

Zögerlich streckte sie den Finger aus, um über seinen starken Arm zu malen. Kurz bevor sie die bronzene Haut berührte, hielt sie inne und schloss die Augen. Amirah sammelte Kraft und Mut für den bevorstehenden Akt. Als sie ihre Augen wieder öffnete, stand wilde Entschlossenheit in den dunkelblauen Tiefen geschrieben.
 

Sie berührte die Haut mit dem weißen Finger und fing an komplizierte Muster zu malen. In schneller Reihenfolge tauchte ihr Finger in die Farbe und huschte über die Haut von Lorgrens Arm. Feine Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet und unwillkürlich biss sie sich auf die Unterlippe. Sie vollzog diese alte Zeremonie das erste Mal in ihrem Leben, doch einem Zuschauer würde es so erscheinen, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
 

Als die Wüstenprinzessin den Finger von seiner Haut nahm, zitterte sie, denn es war vollbracht. Verstrickte Muster wanden sich von seiner Schulter bis hin zu seiner Hand. Sie glaubte nicht, dass sie so etwas auch nur annähernd wieder schaffen würde, so kunstfertig waren die Muster. Beim nächsten Shar´Thek, dachte Amirah unwillkürlich und musste ihr aufkommendes Lächeln nieder ringen.
 

Lorgrens Augen öffneten sich und sein Blick traf den der jungen Frau. Sie nickte ihm leicht zu und tunkte ihren immer noch von weißer Farbe benetzten Finger in die rote und blaue Farbe. Mit diesem Finger strich sie behutsam über seine rechte Gesichtshälfte. Sie malte vier Wellen, die für die vier Winde standen. Als sie fertig war, nahm sie ihren Finger zurück und sah ihm in die braunen Augen.
 

„Mögen die vier Winde deine Klinge sicher führen“, hauchte sie ihm zu und schlug die Augen nieder. Sie erhob sich langsam, denn nun kam die Zeit der Ruhe, wo Lorgren sich geistig auf den bevorstehenden Kampf vorbereiten musste. Doch sie konnte nicht anders und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Als er sie überrascht ansah, sagte sie leise: „Soll auch der dir Glück bringen.“ Dann ging sie, ließ ihn zurück.
 

Amirah hörte nicht mehr, wie er flüsterte: „Danke, Prinzessin.“
 

***
 

Raga sah seiner Frau nach, als sie mit dem Ritual fertig war. Wie auch bei Lorgen hatte sie seinen Körper mit den drei Farben bemalt, doch war sein Rücken mit einer Sonne versehen worden. Er war ein Krieger des Wüstendrachenclans und stolz darauf, obwohl ihn die Blindheit seines Clanführers verärgerte.
 

Als er alleine war, kam eine gedrungene Gestalt aus den Schatten zu ihm geschlichen. Der Mann hatte die Kapuze seiner Robe tief ins Gesicht gezogen, bis nur noch sein Mund zu sehen war. Ein hinterhältiges Lächeln lag auf seinen Lippen, das von seiner heimtückischen Natur zeugte. Er kniete sich neben den hünenhaften Mann und betrachtet die Muster auf seinen beiden Armen, die Ragas Frau darauf gemalt hatte.
 

„Die Muster sind fehlerfrei“, krächzte der kleine Mann mit einer Stimme, die an das Quieken einer Ratte erinnerte. Er begutachtet den Wüstendrachen und die Sonne, bevor er nickte. „Oh ja, die vier Winde sind wahrlich mit dir.“
 

Raga drehte dem kleinen Mann den Kopf zu und funkelte ihn an. „Warum bist du noch hier?“, wollte er von ihm wissen. „Du siehst doch, dass ich mich auf den Kampf vorbereiten muss, Tensh.“
 

Tensh kicherte nervös und nickte. „Ja, ja.“ Er nickte eifrig. „Aber ich wollte dich vorher noch fertig machen.“
 

„Fertig? Mein Weib…“, fuhr er auf, doch der kleine Mann schnitt ihm rasch das Wort ab.
 

„Nein, nein, hat sie nicht“, kicherte er und zog einen Dolch mit einer hauchfeinen Klinge aus den Ärmeln seiner Robe. „Es gibt da noch ein Muster, das in alten Tagen gemacht wurde, ein Zeichen, das seinem Träger unbeschreibliche Kraft verlieh. Ich frag mich nur, warum das heute nicht mehr gemacht wird.“
 

„Was soll das für ein Zeichen sein?“, wollte der große Mann wissen, dessen Interesse geweckt worden war.
 

„Ein Zeichen aus Blut“, erklärte ihm Tensh eifrig. „Man ritzt dem Träger das Zeichen ein, damit die Stärke in den Körper fließt. Das hat früher immer der Clanführer gemacht. Doch das scheint in Vergessenheit geraten zu sein, wie mir scheint.“
 

Raga funkelte den kleinen Mann misstrauisch an. „Woher weist du von so etwas?“, wollte er wissen.
 

„Weil ich mich nun mal mit den alten Schriften befasst habe“, brabbelte Tensh und erwiderte den Blick des anderen. „War ja schließlich nicht umsonst in den Städten unterwegs, mein Freund.“
 

„Glaubst du wirklich, das dieses Blutzeichen mir behilflich sein könnte?“, fragte Raga den kleinen Mann, der sofort nickte. „Dann setz deine Klinge an und vollziehe schnell, was du vorhast.“
 

Tensh kicherte begeistert und rückte hinter den großen Raga. Als er seinen breiten Rücken vor sich hatte, legte er die Klinge seines Dolches an und ritzte behutsam etwas in die Sonne hinein.
 

Raga zischte, als er die Klinge spürte, doch Tensh ließ sich davon nicht stören. Das Zeichen nahm allmählich Form an und das Blut, das aus den hauchfeinen Wunden trat, vermischte sich mit der blauen Farbe des Sonnenbildnisses.
 

Als er fertig war, rutschte Tensh von Raga zurück und bewunderte sein Werk stolz. Er hatte es perfekt getroffen. Der kleine Totenkopf war so klein, das er niemanden auffallen würde, der auf den Rücken des großen Mannes sehen würde.
 

Ohne rot geworden zu sein, hatte Tensh den großen Raga angelogen, als er ihm von diesem angeblichen fehlenden Zeichen erzählt hatte. Wieder einmal musste er seine Kunst der Lügen preisen und Skorm, dem allmächtigen Zerstörer dafür danken, ihn mit dieser Gabe gesegnet zu haben. Sein Ruhm würde umso mehr steigen, wenn erst das Blut der Hüterin fließen würde. Dann wäre Skorm vollends mit ihm zufrieden.
 

„Mögen die vier Winde dich mit diesem Zeichen zusätzlich stärken“, flüsterte Tensh Raga zu, bevor er sich wieder in die Schatten des Zeltes schlug und durch das kleine, geheime Loch in der Zeltplane schlüpfte, das er mit seinem Dolch geschnitten hatte. Endlich aus dem Zelt raus, murmelte der Anbeter Skorms: „Möge Skorm dich zu seinem todbringenden Werkzeug machen.“
 

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10. Akt: Shar´Thek

Shar´Thek.

Ein uralter Ritualkampf bei den Clans der Wüstenreiter.

Sein Ursprang ist längst vergessen,

Einige behaupten das Shar´Thek wäre eine Erfindung der alten Kalifen und Sultane,

Andere wiederum vermuten, die vier Winde hätten es den Wüstenreitern geschenkt.

Wo auch immer Shar´Thek herstammt oder begonnen hat,

Der alte Ritualkampf hat schon unzählige,

Blutige Schlachten verhindert.

Geehrt wird er nicht allein von den Winden der Wüste,

Sondern auch von den Nu´Rakal von Jeris

Und den Priesterkriegern aus Hatakk.

Ein Kampf der Ehe und des Friedens,

Wie ihn nur noch die Wüste kennt.
 

Anshak Orga,

Gelehrter aus den Wüstenländern
 

***
 

Die letzten Sonnenstrahlen senkten sich über das Lager des Sanddrachenclans. Bevor noch das letzte Licht erloschen war, entzündeten die Wüstenreiter unzählige Feuer und Fackeln, um das Lager zu erhellen. Eine unnatürliche Stille hatte sich über die Zelte der Wüstenbewohner gelegt. Alle erwarteten voller Spannung den nahenden Kampf. Viele fürchteten sogar sein Ende. Wer mochte das Shar´Thek für sich entscheiden? Lorgren oder Raga? Niemand war sich sicher, wer der beiden Wüstenreiter der Sieger sein würde. Beide galten als geschickte Krieger.
 

Fynn wollte gar nicht erst daran denken, wie das alles enden würde. Ihre Gedanken hingen bei Lorgren, den sie seit der Versammlung nicht mehr gesehen hatte. Die Dienerin, die ihr und den Zwergen den Sonnenschnaps gebracht hatte, hatte ihr erklärt, das die beiden Kontrahenten sich auf das bevorstehende Shar´Thek körperlich wie geistig vorbereiten mussten und keiner sie stören durfte. Erst am Abend würde man die beiden Männer wieder sehen.
 

Den beiden Zwergen hatte Fynn von den Ereignissen am Vormittag berichtet und beide waren nicht grade darüber überrascht gewesen, das man ihren Tot gefordert hatte. Sie hatten es mit typisch, zwergischer Gelassenheit hingenommen und vom Sonnenschnaps getrunken.
 

Als das Thema dann schließlich den bevorstehenden Kampf angeschnitten hatte, waren Valzar und Flint hellhörig geworden. Sie hatten jedes ihrer Worte in sich aufgenommen und Valzar hatte sich über den Wüstenreiter aufgeregt, der so einfach ihr Leben retten wollte, was die beiden doch schön alleine hinbekommen würden.
 

Nun standen sie zusammen mit dem Mädchen am Ratszelt des Sanddrachenclans und erwarteten, wie viele andere, den bevorstehenden Kampf. Die Wüstenbewohner hatten sich zu einem großen Halbkreis zusammen gefunden. Man hatte für Fynn, Amirah und die fünf Ratsmitglieder Kissen und Decken bereitgestellt, von wo sie aus dem Kampf mitverfolgen konnten. Valzar und Flint hatten sich zu Fynn gesellt, um auch nichts von dem Kampf zu verpassen.
 

Nohrasil hatte Fynn neben sich Platz nehmen lassen. Er beugte sich zu ihr und erklärte mit gedämpfter Stimme: „Wir warten jetzt bis der erste Ruf des Drachen erklingt.“ Das Mädchen sah ihn fragend an. Was meinte er damit, fragte sie sich. Doch dann hörte sie das Heulen einer Bestie, tief aus der Wüste, ins Lager der Wüstenreiter erschallen. Nun verstand sie, was er gemeint hatte.
 

Der Clanführer erhob sich und trat einen Schritt vor den versammelten Clan. „Der Drache der Wüste hat seine Stimme erhoben!“, rief er aus und jeder Mann und jede Frau gingen auf die Knie. Er sah sich um und fuhr fort. „Mögen die vortreten, die zum Shar´Thek ausgerufen haben!“ Die Leute erhoben sich wieder.
 

In ihrer Mitte öffneten sie einen Weg für die beiden Kämpfer. Lorgren und Raga traten, mit den rituellen Bemalung auf ihren Oberkörpern, in die Mitte des Halbkreises Nohrasil gegenüber, der beiden mit strengem Blick begegnete. Sie erwiderten diesen einen Augenblick, bevor sie vor dem Clanführer auf ein Knie nieder gingen und das Haupt senkten.
 

Fynn sah Lorgren mit großen Augen an. Nie zuvor hatte sie seine gestählte Brust gesehen, deren Haut im Schein der Fackeln glänzte. Sie konnte jeden Muskel deutlich sehen, der unter der Haut arbeitete und sie erwischte sich bei der Vorstellung, dass sie eine ihrer Hände über die ebenmäßige Brust wandern ließ, den leichten, dunklen Flaum streichelte. Sie schüttelte leicht ihren Kopf und rügte sich für solche Gedanken. Er war nur ihr Wegbegleiter und längst mit Amirah verlobt. Wie konnte sie da nur an so etwas denken? Sie war ja nicht einmal eine richtige Frau!
 

„Erhebt euch!“, befahl Nohrasil den beiden Männern. Beide erhoben sich. „Seit ihr bereit für das Shar´Thek?“
 

„Das sind wir!“, erklangen ihre Stimmen im Chor und das jagte Fynn einen kalten Schauer über den Rücken. Diese Kühle, die in den Stimmen der beiden mit schwang, war erschreckend. Als hätten sie all ihre Menschlichkeit ablegen, dachte sie nervös.
 

„So sei es!“, ertönte Nohrasils kraftvolle Stimme. „Shar´Thek!“, rief er und der Clan erwiderte diesen Ruf. „Shar´Thek!“ Fynn merkte, das jeder diesen Ruf erwiderte, jeder, außer ihr und... Ihr Blick haftete auf Amirah, die mit besorgen Gesicht zu Lorgren sah. Ihre blauen Augen funkelten im Schein der Fackeln, doch Fynn sah mehr. Sie sah die Hoffnung der jungen Frau, die Hoffnung, das Lorgren als Sieger hervor ging und die Angst um den Mann.
 

Das Mädchen richtet ihren Blick auf den Wüstenreiter, der ihr ein treuer Verbündeter geworden war und betet leise zu all ihr bekannten Göttern, das sie über Lorgren wachten. Das sie ihn beschützten.
 

Der Clanführer trat auf beide Kontrahenten zu und umrundete sie, wobei seine Augen die Muster und Bilder auf ihrer Haut genau untersuchten. Als er seinen Rundgang beendet hatte, winkte er einen Mann aus den Reihen der Zuschauer zu sich. Dieser eilte sogleich zu seinen Herren. „Deine Pflicht ist es die Waffen zu wählen, Sohn der Wüste“, sagte Nohrasil feierlich. Der Mann nickte ernst und sah die beiden Kämpfer an, die noch so standen, wie Nohrasil sie zurück gelassen hatten.
 

„Kampf mit dem Messer!“, rief der Mann aus. Die männlichen Zuschauer stampften mit ihren Stiefeln auf den Sandboden auf. Der Jerisane wand sich seinem Clanführer zu und sagte nun mit ruhiger Stimme: „Das Messer soll ihre Waffe sein.“
 

„So soll es geschehen!“, rief Nohrasil aus und ging zurück zu seinem Platz. Er sah kurz zu Fynn, die das ganze mit bangem Blick bisher verfolgt hatte und nickte ihr knapp zu. Dann beugte er sich hinter seinen Platz und zog zwei Messer hervor. Er kehrte in die Mitte des Schauplatzes zurück und ließ die Messer mit der Klinge voran in den Sand fallen, wo sie stecken blieben. Sogleich kehrte er zu seinem Platz zurück und ließ sich nieder. „Nun warten wir bis zum Ruf des Drachen!“, rief er noch einmal, dann legte sich wieder Schweigen über die Versammlung.
 

***
 

Tensh rieb sich begierig die Hände. Er freute sich schon teuflisch auf den bevorstehenden Kampf. Er stand in vorderster Reihe des Halbkreises, genau der Hüterin gegenüber, die die beiden Kämpfer aufmerksam beobachte, wie jeder andere auch.
 

Der kleine Mann betrachtet die Hüterin und fragte sich, was sie in den Augen des Zerstörers und Eroberers so gefährlich machte. Nicht alles was glänzt ist Gold, erinnerte er sich an eine alte Redewendung von daheim. Egal wie schön und unschuldig sie auch wirkte – Tensh fühlte sich zu dem Mädchen hingezogen -, der Allmächtige wollte ihren Tot und den sollte er auch haben. Er wollte ihm nicht im Weg stehen. Dennoch konnte er sich nicht davon abbringen lassen, seinen perversen Fantasien freien Lauf zu lassen.
 

Wie sich wohl ihr Haar anfühlte, fragte er sich und rieb sich nervös die Hände. Er sollte es herausfinden, fand er. Doch bis dahin musste erst einmal das Blut dieses einarmigen Mannes vergossen werden, diesem Lorgren. Er wusste um das kämpferische Können des Wüstenreiters, dennoch glaubte er nicht, das er Raga gewachsen war. Nicht, nachdem er dem Hünen den Segen Skorms ins Fleisch geritzt hatte.
 

Er musste wieder kichern, als er sich an den Traum erinnerte, den er noch in der letzten Nacht gehabt hatte. Er hatte einen Befehl seines geliebten Gottes erhalten und am folgenden Morgen den Dolch mit der feinen Klinge neben seinem Kissen gefunden. Zwar war Tensh kein Priester, doch hatte er die heilige Magie Skorms in der Klinge gespürt.
 

Er spürte sie jetzt noch immer, denn den Dolch trug er unter seiner weißen Robe bei sich. Mit der Waffe würde er auch das Blut der Halbork vergießen, die nichts ahnend auf ihrem Platz saß und den Ruf des Drachen erwartete. Wie köstlich würde sein Erfolg erst sein, wenn er in das entsetzte Gesicht der Hüterin sah, während die Klinge sich in ihre Brust bohren würde. Ein erregender Schauer durchlief ihn und er überließ sich wieder seinen kranken Fantasien.
 

Er schreckte auf, als er den entfernten Ruf des Sanddrachen hörte. Nun war es endlich so weit. Shar´Thek hatte begonnen.
 

***
 

Sobald der Ruf des Sanddrachen verklungen war, wirbelte Lorgren herum und rannte zu einem der beiden Messer, die Nohrasil hatte in den Sand fallen lassen. Überrascht stellte der Wüstenreiter fest, das sein Gegner einen Schritt voraus war und bereits nach einer der Waffen langte. Noch bevor Lorgren die andere Klinge erreichte, drehte sich Raga mit einem gehässigen Grinsen zu ihm herum und streckte ihm das Messer entgegen.
 

Der Jerisane hielt inne und wich einen Schritt zurück, blieb aus der Reichweite des anderen. Der Hüne kam mit bedächtigen Schritten auf ihn zu, achtet genau darauf, dass er zwischen dem Einarmigen und dem letzten Messer blieb.
 

Die Männer und Frauen um sie herum blieben mucksmäuschenstill, während ihre Augen die beiden Kämpfer, die sich gegenseitig belauerten, nicht einen Moment außer Acht ließen.
 

Raga wagte einen Vorstoß und schlug mit dem Messer nach Lorgren, der aber einen raschen Schritt zurück wich und der Klinge entging. Schnell bemerkte er, dass der Hüne ihn nur auf die Probe stellte, noch nicht ernsthaft vorhatte, ihn anzugreifen. Das musste er sich irgendwie zu nutze machen, überlegte er, als er einem Messerstoß auswich.
 

Wieder schoss die Klinge vor, verfehlte wieder den Wüstenreiter, der einfach zurück wich. Doch als Raga seine Klinge zurückzog, sprang Lorgren vor und hechtet an seiner rechten Seite vorbei. Der große Mann sah ihn erstaunt an, doch er reagierte sofort und versuchte Lorgren mit seinem Messer an der Brust zu erwischen, doch dieser duckte sich unter dem Schlag hinweg und sprang mit einem langen Satz zu dem verbliebenen Messer.
 

Endlich bewaffnet, wand sich Lorgren seinem Gegner zu, der ihn finster anfunkelte. Probeweise ließ der Wüstenreiter seine Waffe in der Hand kreisen, bevor er sie mit festem Griff packte und vor sich hielt.
 

„Das wird dir auch nicht weiter helfen, Krüppel“, zischte Raga, der davon überzeugt war, in Lorgren keinen ernsthaften Gegner zu haben. Doch sein Gegenüber antwortet nicht, ließ sich nicht von seinen Worten ablenken. Wie ein Schild ließ er alle Beleidigungen, jeglichen Spott an sich abprallen. Seine Gedanken waren nur auf Raga selbst gerichtet, seinem Gegner, den er besiegen musste, um das Leben seiner Freunde zu schützen.
 

Raga sprang vor, so schnell, das Lorgren nicht sofort reagieren konnte. Er warf sich zurück, doch Ragas Messer versetzte ihm einen schmerzhaften Schnitt an der Brust. Knurrend stach er nach dem großen Mann, der mit einem triumphierenden Grinsen zurück tänzelte und so seiner Klinge entging.
 

Lauernd umkreisten sich beide Männer, behielten einander im Blick. Das Grinsen war nicht aus Ragas Gesicht gewichen und Lorgren fragte sich unweigerlich, warum der Mann sich so sicher fühlte. Doch er konnte seinen Gedanken nicht weiter verfolgen, denn Raga stürzte sich mit einem lauten Aufschrei auf ihn und stach mit dem Messer nach seinem Herzen.
 

Lorgren wich nach links aus, entging der Klinge, doch bekam er kurz darauf die freie Faust des Hünen zu spüren. Sie krachte gegen seine Nase und Lorgren hörte ein leises Knacken. Er torkelte zurück und spürte warmes Blut über seine Lippen, sein Kinn laufen. Doch Raga ließ nicht locker. Er folgte ihm und drang weiter auf ihn ein.
 

Zweimal drehte Lorgren seinen Körper von der scharfen Klinge weg, dann duckte er sich unter dem dritten Streich hindurch und ließ seine Klinge über den rechten Unterarm des Mannes fahren. Sie hinterließ eine lange, blutende Wunde, doch Raga schien dies nicht einmal zu spüren.
 

Immer und immer wieder stach oder schlug er mit seinem Messer nach dem Wüstenreiter, der den Schlägen auszuweichen versuchte. Lorgren zuckte zusammen, als Raga ihn schließlich erwischte. Das Messer hatte ihn an der rechten Schulter erwischt und der Jerisane spürte schon das Blut, das aus der Wunde trat. Doch er hielt sich nicht lange damit auf, sondern wich weiter vor Raga zurück.
 

So ging es lange, bis Lorgren endlich wieder einen Angriff starten konnte. Raga hatte sich bei einem weit geführten Schlag eine Blöße gegeben und bot Lorgren so seine ungeschützte Brust als Ziel. Ohne zu zögern hastete er vor und stach zu, doch er hatte nicht mit der erstaunlichen Schnelligkeit des großen Mannes gerechnet, dessen freie Hand vor schoss und sich um seine Hand schloss.
 

Lorgren sah erstaunt zu Raga, auf dessen Lippen ein höhnisches Grinsen lag. Er drückte zu und Lorgren keuchte auf, als der Hüne ihm die Hand zerquetschte. Doch dem war nicht genug. Sein Knie schoss vor und traf Lorgren genau in den Bauch. Der Jerisane keuchte auf und krümmte sich. Kurz darauf riss Raga den keuchenden Mann von den Beinen und Lorgren landete hart auf dem Rücken.
 

Raga warf sich auf seinen hilflosen Gegner, dessen Hand er immer noch mit seinem schraubstockartigen Griff gefangen hielt. Auf der Brust Lorgrens sitzend sah er auf den einarmigen Mann herab und amüsierte sich über dessen Versuche sich aus seiner misslichen Lage zu befreien.
 

„Das bringt dir nichts“, sagte Raga leise genug, das allein Lorgen ihn verstand. „Du bist des Todes, Einarmiger. Allein die Winde können dir noch helfen, aber ich zweifle daran, dass sie dir helfen werden. Denn du hättest schon lange tot sein müssen.“
 

Lorgren funkelte den anderen Unheil verkündend an, während er sich weiter unter ihm wand. „Sei… Sei dir da nicht so sicht, Raga“, stieß er verbissen hervor. Doch der Hüne lachte nur und ließ den Druck um die gefangene Hand weiter ansteigen, das Lorgren schon fast glaubte, das Knacken seiner überbelasteten Knochen zu hören.
 

Kurz schloss er die Augen um sich zu konzentrieren. Er verbannte den Gedanken daran, das Raga nun sein Messer für den finalen Stoss fertig machte und über seinen Kopf hob. Seine Augen öffneten sich wieder und sein linkes Bein schoss vor. Raga keuchte erschrocken auf, als ihn Lorgrens Fuß am Hinterkopf traf. Davon überrumpelt konnte der Hüne auch nicht mehr verhindern, das Lorgren seine Hand befreite und ihn von sich stieß.
 

Schnell war er wieder auf den Beinen, doch Raga erholte sich schnell. Mit einem wütenden Brüllen rannte der Hüne auf den kleineren Mann zu, das Messer hoch über sich erhoben, zum Stoss bereit. Lorgren ging in die Hocke, festigte seinen Griff um seine eigene Klinge und wartete auf den richtigen Augenblick.
 

Als Raga nah genug war, sprang er aus der Hocke auf den großen Mann zu und stach zu.
 

Das Messer bohrte sich in die Seite des Mannes, zwischen seinen Rippen hindurch. Lorgren glaubte schon, Raga besiegt zu haben, da täuschte er sich. Denn der große Mann packte ihn am Haar und stieß ihn von sich weg. Lorgren stolperte Rückwärts, doch hatte er sich rasch wieder im Griff und sah den anderen Mann an.
 

Das Messer steckte noch immer in Ragas Seite. Der große Mann sah auf dieses und riss es sich aus dem Fleisch. Ein Schwall Blut folgte der Klinge beim Austritt, doch Raga zeigte keine Anzeichen dafür, dass er sich von der Wunde irgendwie behindert fühlte oder Schmerz verspürte. Er warf die Klinge achtlos von sich auf den Boden.
 

Aus den Reihen der Zuschauer, die dasselbe mit dem gleichen Erstaunen gesehen hatten, ertönte die entsetzte Stimme einer Frau. „Raga!“, kreischte sie. Eine weitere Stimme erklang, die eines alten Mannes, der die Frau zudem zurück hielt. Lorgren vermutete, das es sich dabei um Ragas Frau handelte, die um das Leben ihres Mannes bangte.
 

Er selber glaubte, das Raga der Wunde eigentlich erliegen musste. Sie war tief und er blutet stark. Doch Raga stand aufrecht da und sah ihn mit mordlüsternem Blick entgegen, als wäre nichts passiert. Sofort wusste der Jerisane, das etwas nicht stimmte. Kein Mensch konnte eine solche Wunde unbeschadet überstehen. Etwas war mit Raga geschehen und das beunruhigte den Wüstenreiter zunehmest. Für Lorgren stand fest, das er Raga irgendwie besiegen musste, denn er bangte um Fynn. Das Mädchen schwebte in großer Gefahr.
 

Raga brüllte wieder auf und stürzte sich auf den nun unbewaffneten Lorgren. Schnell rollte sich der Jerisane zur Seite ab, bevor die Klinge des Hünen ihn erreichte. Er kam auf die Beine, als Raga sich ihm zu wand und erneut einen Streich gegen ihn führte. Lorgren tänzelte grade noch rechtzeitig zurück, bevor die Klinge ihn traf.
 

Lorgren duckte sich unter einem weiteren Schlag hinweg und hechtet auf den Hünen zu. Er ließ seine Faust auf die Wunde niedersausen, doch Raga gab keinen Laut des Schmerzes von sich, sondern rammte Lorgren das Knie nur in die ungeschützte Flanke. Die Kraft des Stoßes riss Lorgren von den Beinen, doch er fing sich am Boden ab und rollte sich von dem Hünen weg, der ihm mit langen Schritten folgte.
 

Er schaffte es grade noch einem der Füße Ragas auszuweichen, der donnernd auf die Stelle traf, wo eben noch sein Kopf gewesen war. Raga folgte ihm weiter, versuchte noch einige Male den Kopf des Wüstenreiters zu zermalmen, bevor er wieder auf den Beinen stand.
 

Hektisch sah sich Lorgren nach dem verlorenen Messer um und entdeckte es nicht unweit der Reihen der Zuschauer. Raga erreichte ihn und versuchte ihn mit einem Fußtritt zu Boden zu befördern, doch der flinkere Lorgren wich aus und ergriff das muskulöse Bein des Hünen. Er stemmte sich gegen den Mann, der das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel.
 

Endlich einen Moment sicher vor seinem Gegner, hastete Lorgren zu dem Messer und ergriff es. Hinter sich hörte er Raga, der wütend auf die Beine kam und wieder auf ihn zu stürzte. Schnell wirbelte er herum und sah, dass der Hüne bereits näher heran gekommen war, als er angenommen hatte. Nur noch wenige Schritte trennten sie voneinander und es wurden immer weniger.
 

Es blieb ihm nichts anderes übrig. Lorgren holte weit mit dem Messer aus und schleuderte die kleine Waffe seinem Gegner entgegen. Raga machte keine Anstalten ihr auszuweichen und so passierte das Unvermeidliche. Die Klinge bohrte sich bis zum Griff in die Kehle des hünenhaften Mannes, der je in seiner Bewegung innehielt und den Wüstenreiter mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
 

Das Messer fiel ihm aus der kraftlosen Hand, er torkelte noch zwei Schritte auf Lorgren zu, bevor ihm die Beine den Dienst versagten und er in die Knie ging. Seine Augen schlossen sich und der Kopf sank schlaff auf die Brust. Er fiel zur Seite in den Sand und blieb regungslos liegen.
 

Raga war tot.
 

Die Leute waren wie erstarrt und sahen zu dem leblosen Körper des Mannes. Lorgren merkte, das er den Atem angehalten hatte und jeden Moment damit rechnete, dass der Hüne wieder aufstand und sich mit einem wütenden Schrei auf ihn stürzte. Doch nichts der gleichen geschah.
 

Eine Frau kam aus der Menge gerannt und stürzte zu dem leblosen Körper. Ragas Frau, erkannte Lorgren sogleich. Kraftlos fiel die Frau auf die Knie und schlang ihre Arme um den Körper ihres Mannes und verfiel in lautes Wehklagen. Ein alter Mann folgte ihr, blieb aber hinter ihr stehen und senkte nur den Kopf. Seine Schultern zuckten unter leisem Schluchzen.
 

Lorgren musste den Blick abwenden, denn der Anblick traf ihn. Er hatte einen stolzen Mann seiner Familie entrissen. Er würde seiner Frau und dem Alten nicht in die Augen sehen können. Wenn sie ihn für seine Tat verfluchen würden, wäre er der letzte, der es ihnen übel nahm.
 

„Lorgren!“, erklang die Stimme Fynns. Er sah auf und erblickte das Mädchen, das auf ihn zu eilte, wie auch Amirah und die beiden Zwerge. Fynn erreichte ihn und sah ihn mit feuchten Augen an, während Amirah neben ihn auf die Knie fiel und behutsam die Arme um den Hals schlang. Er zuckte leicht zusammen, als sie seine Hand nahm und er wusste, dass er nicht nur mit einer gebrochenen Nase und einigen Schnitten davon gekommen war.
 

„Komm“, sagte die Wüstenprinzessin zu ihm und erhielt seine Aufmerksamkeit. „Wir bringen dich zum Heiler. Deine Wunden müssen versorgt werden.“
 

Lorgren wollte ihr da nicht widersprechen, doch das Nohrasil war noch lange nicht vorbei. Er schloss kurz die Augen und befreite sich von der jungen Frau. Etwas unbeholfen schritt er auf Nohrasil und die Ratsmänner zu, die immer noch an ihren Plätzen standen. Vor ihnen beugte er das Knie und sah zu Boden.
 

Es dauerte eine ganze Weile, bevor Nohrasil seine Stimme erhob. „Lorgren hat Raga besiegt!“, erklärte der Anführer des Sanddrachenclans seinen versammelten Leuten. „Lorgren hat Shar´Thek für sich entschieden!“
 

Die jerisanischen Männer stampften mit den Füßen auf. „Shar´Thek!“, riefen sie immer wieder auf.
 

Lorgren erhob sich schwerfällig. Er sah den Clanführer offen ins Gesicht und dankte ihm mit einem leichten Nicken. Er atmete innerlich auf, als er sich bewusst wurde, dass er Fynn und die Zwerge vor dem Tot bewahrt hatte. Sie waren nun sicher und würden sich frei unter den Wüstenreitern bewegen können.
 

Nohrasil trat auf seinen zukünftigen Schwiegersohn zu und sagte: „Nun geh, Lorgren, der das Schicksal sucht. Lass deine Wunden behandeln.“ Lorgren, zu müde zum Widersprechen, nickte schlicht und wand sich um.
 

Zu seiner Überraschung standen da die Zwerge und die beiden Frauen. Valzar funkelte ihn an. „Du närrischer Hund!“, herrschte ihn der Zwerg an und stampfte mit den schweren Stiefeln auf. „Einfach so unser Leben retten! Hat man denn da Töne!“ Doch dann grinste der Zwerg. „Danke, mein Freund.“
 

Lorgren sah den Zwerg eine Weile an, bevor er das Haupt neigte und murmelte: „Nichts zu danken… mein Freund.“
 

***
 

Tensh sah dabei zu, wie der tote Raga von einigen Kriegern der Wüstenreitern von dem Kampfplatz weg geschafft wurde, während ihnen seine Frau und sein Vater folgten. Wie hatte der Hüne nur versagen können, fragte sich der kleine Mann wütend. Skorm hatte ihm seinen Segen gegeben, ihm mehr Kraft und Schnelligkeit geschenkt. Doch das hatte nichts gebracht.
 

Vielleicht hätte es besser geklappt, wenn er auch ein Anbeter des Eroberers und Zerstörers gewesen wäre, überlegte Tensh schließlich.
 

Den Gedanken führte der Skormanbeter aber nicht zu ende, als er die Hüterin sah. Seine Augen funkelten begehrlich, während er das zarte Mädchen betrachtete. Der Wunsch, sie für sich allein zu haben übertraf fast schon sein Verlangen, seinem geliebten Gott zu dienen und dessen Wünsche zu erfüllen. Es trieb den kleinen Mann fast schon an den Rand der Verzweiflung.
 

Wieso musste sie so schön sein, wollte er wissen, doch erhielt er darauf keine Antwort. Wieso musste sie ein Mädchen von solcher Anmut sein, das es ihm fast schlecht wurde, bei den Gedanken, sie töten zu müssen. Egal war es, das sie ein Bastard war, vergessen waren die Lehren seiner Kindheit, das allein die Menschen über allem standen. Nur der Anblick dieses schönen Mädchens war wichtig.
 

Tensh erwischte sich bei den Gedanken, sie einfach zu entführen und Skorm zu entsagen, doch sofort verwarf er dies. Wie konnte er auch nur daran denken dem Zerstörer zu entsagen. Er würde seinem geliebten Gott auf Ewig die Treue halten. Ihm würde er nie entsagen können. Zu groß war die Herrlichkeit seiner Macht.
 

Dennoch wünschte sich Tensh die Hüterin für sich zu haben. Vielleicht könnte er ihre Hinrichtung etwas herauszögern, um sich an ihrer zu erfreuen, um seine Gelüste zu befriedigen. Skorm wäre sicher nicht böse, wenn sich der Tot des Mädchens um einen oder zwei Tage verzögern würde.
 

Leise kichernd huschte der kleine Mann davon, um sich für seine anstehende Aufgabe zu wappnen.
 

***
 

Fynn sah dabei zu, wie der Heiler Lorgrens zahlreiche Wunden versorgte. Die meisten von ihnen waren Schnitte, die Raga dem Wüstenreiter beigebracht hatte. Seine Hand war gequetscht, zwei Rippen waren geprellt und seine Nase war gebrochen – der Heiler hatte gesagt, dass sie wieder grade wachsen würde. Ansonsten ging es dem Jerisane gut.
 

Der Heiler, ein alter Mann, verband Lorgren in aller Ruhe die schmerzende Hand, bevor er sich erhob und verkündete, dass seine Arbeit getan war. Er wies den Wüstenreiter an sich zu schonen und die Heilmittel zu verwenden, die er ihm gegeben hatte. Er wand sich Fynn und den anderen – Amirah, Flint und Valzar – zu und verabschiedete sich, bevor er sie alleine ließ.
 

Nach dem Shar´Thek hatte Nohrasil dem Mädchen und den Zwergen erlaubt Lorgren in sein Zelt zu begleiten. Wie Fynn bereits wusste, war es ausschließlich dem Wüstenreiter und seiner Verlobten gestattet sich in dem Zelt aufzuhalten. Doch Lorgren hatte darum gebeten, das man für seine Gefährten eine Ausnahme machte. Da es sich bei ihr um die Hüterin handelte, musste der Clanführer nicht lange überzeugt werden und er hatte die Erlaubnis erteilt.
 

Amirah rückte zu dem Einarmigern und kontrollierte die Verbände und Umschläge. Fynn glaubte nicht, das die Wüstenprinzessin das tat, um die Arbeit des Heilers zu überprüfen. Sie vermutete eher, dass sie ihrem Verlobten so nah wie möglich sein wollte.
 

Die Halbork wollte dies nicht gut heißen. Konnte Amirah Lorgren nicht etwas Ruhe gönnen nach dem harten Kampf, dem Shar´Thek? Er brauchte jetzt Ruhe und keine Klette, die auf Schritt und Tritt am ihm hing. Sie waren verlobt, aber das hieß nicht, dass sie den Mann bemuttern musste. Lorgren war ein erwachsener Mann, der sich um sich selbst kümmern konnte.
 

Flint neben ihr schnaubte. „Das war ein seltsamer Kampf“, brummte der Zwerg, der seit Ende des Shar´Thek die ganze Zeit über geschwiegen hatte.
 

Lorgren, der auf seiner Nachtstätte saß, nickte zustimmend. Er wand sich an Amirah und fragte die Prinzessin: „War Raga immer so hart im nehmen?“
 

„Raga war einer unserer besten Krieger“, sagte sie. „Er hat in vielen Schlachten gekämpft und wurde einige male schwer verletzt. So eine Wunde, wie du sie ihm zugefügt hast, hatte er bereits. Zwei Monate hatte es gedauert, bis er wieder aufrecht stand und durch die Wüste geritten war.“
 

„Das stinkt gewaltig nach Zauberei“, knurrte Valzar, der die königliche Rüstung seiner Sippe trug und sich Drakobans Drachenfaust auf den Rücken geschnallt hatte. Die anderen nickten zustimmend. Auch sie waren zu dem Entschluss gekommen. „Habt ihr einen Magier oder Priester im Lager?“
 

Amirah schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte sie. „Unser Clan besteht ausschließlich aus Kriegern. Gelegentlich besuchen uns Priester der vier Winde, doch das nur am Ende jedes Monats oder noch seltener.“
 

Fynn erinnerte sich an die magischen Kräfte der Priester. Sie bekamen diese von ihren Göttern, die sie mit voller Inbrunst anbeteten, so hatte man ihr erzählt. Reisende Priester hatten Steindorf gelegentlich besucht und die Lehren ihrer Götter verbreitet. Fynn selber war oft dabei gewesen, als die Priester über ihre Götter gesprochen hatten. Sie hatte ebenfalls gehört – sie war nicht dabei gewesen -, dass einer von ihnen einem Bauern das gebrochene Bein geheilt hatte. Am nächsten Tag war der Mann mit seinem geheilten Bein herum spaziert und der Gottheit des Priesters für seine schnelle Genesung gedankt.
 

Sie wünschte sich, ein Priester wäre nun hier und würde den zerschlagenen Lorgren heilen, damit er wieder aufrecht und stolz da stand. Dann würden sie rasch wieder aufbrechen und das Lager der Wüstenreiter hinter sich lassen. Dann hätten sie Ruhe von Amirah.
 

„Hmm“, machte Flint und strich sich durch seinen stolzen, weißen Bart. Er sah von einem zum anderen und sein Blick blieb auf Fynn liegen, die ihn neugierig ansah. Er schüttelte leicht den Kopf, bevor er sich an Valzar wand. „Kannst du mit deinem Hammer die Quelle ausfindig machen?“
 

„Dafür müsste ich zu Raga“, erwiderte der Zwergenkönig und schüttelte den Kopf. „Da komme ich aber nicht ran. Seine Familie betrauert ihn und läst niemanden zu seinem Leichnam.“
 

Fragend sah Flint Amirah an, doch die sagte: „Da kann niemand etwas machen. Der Brauch will es so, das der Tote einen vollen Tag von seinen Lieben betrauert wird, bevor Freunde und Kameraden sich von ihm verabschieden.“ Der alte Zwerg sah zu Lorgren, aber der nickte nur zu den Worten der Frau.
 

„Dann müssen wir wohl warten“, brummte Valzar nicht grade begeistert. Er sah seine Gefährten und die Prinzessin an. „Ich schlage vor, dass wir uns für die Nacht zurückziehen. War ein verdammt langer Tag.“
 

Die anderen konnten dem nur zustimmen. Nachdem Fynn und die Zwerge sich von Lorgren verabschiedet hatten, brachten die beiden Bärtigen die Halbork zu ihrem Zelt. Dort sagten sie ihr gute Nacht und ließen sie, im Schutz zweier Wächter, zurück. Fynn fühlte sich unwohl so allein. Sie war nun mehr als einen Monat lang mit ihren Gefährten gereist und hatte in ihrer Gesellschaft geschlafen. Doch nun musste sie in einem großen Zelt alleine schlafen, während ihre Freunde ein gutes Stück weiter weg nächtigten.
 

Das Mädchen fühlte sich unwohl, als sie sich für die Nacht umzog und unter die Decken ihres übertrieben großen Bettes schlüpfte, das aus unzähligen Kissen und Decken bestand, die allesamt aus edlen Stoffen waren. Sie war ein solches Nachtlager einfach nicht gewohnt. Ein einfaches Bett oder ihren Schlafsack hätte sie diesem allemal vorgezogen.
 

Sie musste an Lorgren denken, der allein mit Amirah in seinem Zelt geblieben war und sie fragte sich, was die beiden nun taten. Unweigerlich stellte sie sich einige Szenarien vor und wurde rot im Gesicht, schämte sich ihrer Gedanken. Nein, Lorgren würde so etwas gewiss nicht tun, nicht in seinem Zustand. Aber was wenn er gesund gewesen wäre?
 

Nein, entschied sie. Der Wüstenreiter war kein solcher Mann, der die erstbeste Gelegenheit nutzte, um mit einer Frau das Bett zu teilen. Zwar war er mit Amirah verlobt, doch es war Fynn erschienen, das er selber davon nicht all zufiel hielt. Vielleicht wollte er nicht einmal diese Frau heiraten, überlegte das Mädchen. Vielleicht musste er es im Namen seines Stammes machen, glaubte sie den Grund gefunden zu haben. Dennoch fühlte sie sich nicht besser.
 

Seit sie wusste, dass eine Frau Lorgren versprochen war, fühlte sie sich elend, als hätte er sie verraten. Er würde sie in der Hauptstadt der Jerisanen abliefern und gewiss sofort zu Amirah zurückkehren, um seine Pflicht zu erfüllen. Wie es auch bei ihr war. Sie war für ihn nicht mehr als eine Pflicht, die es zu erfüllen gab. Allein die Zwerge waren wirklich Freunde und würden zu ihr halten, wenn der Wüstenreiter sie verließ. Doch irgendwie wollte ihr der Gedanke nicht glaubwürdig genug erscheinen.
 

Der Jerisane war ein treuer Freund und Reisegefährte geworden, hatte sich um sie gekümmert und sogar das Kämpfen beigebracht – obwohl sie da noch verdammt viel zu lernen hatte. Er würde sie nicht einfach allein lassen, dachte sie, nein, hoffte sie.
 

***
 

Es war spät in der Nacht und allein Kalek war noch wach und saß vor dem Leichnam seiner beiden Söhne. Nun waren sie beide tot. Raga und Kol, seine geliebten Söhne. Die Trauer war groß. In nur wenigen Tagen hatte er sein eigen Fleisch und Blut verloren und blieb allein mit seinen Enkeln und der Frau Ragas, die sich in den Schlaf geweint hatte, zurück.
 

Der Hass auf die Zwerge, besonders den rotbärtigen, saß im Herzen des alten Mann. Der Hammer des Bärtigen hatte seinem jüngsten Sohn den Tot gebracht und dafür wollte Kalek Rache. Doch er konnte nichts machen. Der Zwerg stand unter dem Schutz der Hüterin und diese unter dem von Nohrasil. Und gegen seinen Clanführer würde er niemals vorgehen, egal wie tief sein Schmerz oder Hass saß. Doch Raga hatte dies getan und war nun seiner Wut zum Opfer gefallen.
 

Raga, seufzte er in Gedanken und sah seinen ältesten Sohn traurig an.
 

Plötzlich zuckte der leblose Leib des Hünen. Kalek sah auf diesen ungläubig herab. Er hatte angefangen zu zittern und der Schweiß lief ihm über die Stirn. Konnte es etwa sein, fragte er sich und rückte näher zu Raga heran. Lebte er etwa noch? Hatten die vier Winde ihn ins Leben zurück gerufen?
 

„Raga“, keuchte der alte Mann und wollte sich erheben, um seine Schwiegertochter und seine Enkel zu holen. Doch bevor er überhaupt aufstehen konnte, schoss eine von Ragas kräftigen Händen vor und legte sich mit schraubstockartigem Griff um Kaleks Hals.
 

Überrascht schnappte der Alte nach Luft, doch Raga verhinderte jegliches Luftholen und drückte sogar noch fester zu. Die Augen des Todgeglaubten öffneten sich und Kalek riss entsetzt die Augen auf. Der Blick seines Sohnes war stumpf und trüb, wie bei einem Toten. Sein Gesicht war regungslos und verbarg dem Vater jeglichen Einblick auf die Gefühlswelt seines Sprösslings.
 

Doch daran konnte er sich nicht länger aufhalten, sondern er versuchte sich aus dem Würgegriff zu befreien. Raga erhob sich und seine zweite Hand legte sich um die Kehle Kaleks. Der alte Mann krächzte gepeinigt und versuchte verzweifelt sich zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Er schlug und kratzte die Arme des Hünen. Es half nichts.
 

Raga drückte plötzlich zu und mit einem Knacken brach das Genick seines Vaters und er erschlaffte in seinem erbarmungslosen Griff.
 

***
 

Tensh kam aus seinem Versteck gehuscht und kicherte leise, als er dabei zusah, wie Raga seinen toten Vater weiter würgte. Wie rührend, dachte er, als er sich vorstellte, wie der alte Kalek sich wohl gefühlt haben musste, als Raga ihn ermordet hatte. Wahrscheinlich würde Raga eine ordentliche Trachtprügel von seinem Vater beziehen, sobald seine Seele von den Winden davon getragen wurde.
 

„Lass ihn los“, befahl Tensh dem lebenden Toten. Der Untote ließ sein Opfer los und erhob sich vollends. Er wand sich dem nervösen Mann zu, der sich die Hände begierig rieb. „Wir haben noch etwas zu erledigen, mein toter Freund.“
 

Tensh kicherte begeistert, als der Untote seinem Befehl gehorchte und ihm folgte, hinaus aus dem Zelt, wo noch immer die Hinterbliebenen schliefen, ohne gemerkt zu haben, das nun ein Familienmitglied mehr den Tot gefunden hatte. Skorm hatte ihm da einen mächtigen Zauber verliehen, oder eher dem Dolch, denn er seinem Jünger eine Nacht zuvor überlassen hatte.
 

Mit Raga an seiner Seite würde Tensh die Hüterin gewiss rasch zu fassen bekommen und mit ihr entkommen, während die anderen damit beschäftigt waren den Zombie zu bekämpfen.
 

Der kleine Mann musste unweigerlich kichern, als er sich die verblüfften Gesichter der alten Freunde Ragas vorstellte, wenn dieser vor ihnen erschien und danach umbringen würde. Das würde ein Spaß werden.
 

Tensh befahl seinem Zombiediener ihm leise zu folgen. Obwohl Raga deutlich den Befehl verstanden hatte, fiel es dem untoten Diener mehr als schwer sich leise vorwärts zu bewegen. Dennoch gelang es ihnen irgendwie unbehelligt durch das Lager des Wüstendrachenclans zu schleichen. Schließlich erreichten sie ihr Ziel.
 

Begierig rieb sich der kleine Mann wieder die Hände, als er auf das Zelt der Hüterin sah, während er und Raga sich im Schatten eines nahen Zeltes versteckt hielten. Zwei Wachen hatten vor dem Eingang Posten bezogen und behielten wachsam ihre Umgebung im Auge.
 

Tensh wusste, das es sich bei diesen beiden um treue Männer des Clan handelte und einer der beiden mochte den kleinen Spion des Skorm ganz und gar nicht. Und er ihn auch nicht, wie all die anderen Wüstenreiter, mit denen er gezwungen war zusammen zu leben.
 

Tensh sah zu seinem untoten Diener, der mit trübem Blick starr grade aussah. Wie sollte er sich mit ihm um das Zelt schleichen, ohne entdeckt zu werden, fragte er sich. Die beiden Wächter würden sie zuvor entdecken. Wenn er alleine gehen würde, er wäre unbehelligt an den beiden Männern vorbei gekommen, ohne, dass sie überhaupt mitbekommen hätten, dass er da gewesen wäre. Die Logik gebot es dem kleinen Mann, dass er sich allein in das Zelt schlich und die Hüterin klimm und heimlich umbrachte. Doch sein Verlangen nach dem Mädchen wies ihn an, sie gefangen zu nehmen und seinen Spaß mit ihr zu haben, bevor sie die Klinge des heiligen Dolches zu spüren bekam.
 

Doch wie sollte er mit dem Zombie an diesen wachsamen Männern vorbei kommen? Tensh überlegte angestrengt. Schließlich kam er auf eine Idee und sein Gesicht zierte ein breites Grinsen.
 

***
 

Die Nacht war ruhig, dennoch hielten die beiden Wächter aufmerksam Wache vor dem Zelt der Hüterin. Nohrasil hatte sie beide darum gebeten, besonders achtsam zu sein. Der Clanführer hatte besorgt geklungen und die beiden Wüstenreiter verstanden ihren Herrn nur zu gut. Schließlich hatten beide miterlebt, wie Raga zu einem Berserker geworden war, der Wunden aller Art einfach eingesteckt hatte, als wären diese nichts gewesen.
 

Einer der beiden sah sich langsam um, betrachtete jeden Schatten eingehend und entdeckte so die einsame Gestalt die im Schatten eines nahen Zeltes stand. Er stieß seinen Kameraden an und wies auf den Fremden. Der andere nickte und packte seinen Speer fester. Sie wollten schon auf ihn zugehen, als der im Schatten sich aus seinem Versteck kam.
 

„Schöne Nacht, nicht wahr?“, fragte Tensh grinsend, als er auf die beiden Wächter zu spazierte.
 

„Nicht der“, knurrte der jüngere Wächter dem anderen zu, so das der kleine Mann ihn nicht verstehen konnte.
 

„Ganz ruhig, Waere“, flüsterte der ältere Mann und nickte Tensh kurz zu. „Es ist spät, Tensh. Du weist, das alle in ihren Zelten liegen sollen, oder?“
 

Der kleine Mann nickte grinsend. „Oh ja“, sagte er ruhig und verschränkte unschuldig die Arme hinter dem Rücken. „Aber in einer so herrlichen Nacht kann ich nicht einfach schlafen. Da muss ich mir die Sterne ansehen und den Lauten der Wüste lauschen.“
 

„Mach, das du weg kommst“, knurrte ihn Waere an und packte seinen Speer mit beiden Händen.
 

„Ganz ruhig“, wies ihn der ältere zurecht. „Tensh tut doch keinem was.“ Er wand sich dem kleinen Mann zu und sah ihn streng an. „Dennoch dürftest du nicht hier draußen sein, Tensh. Mach, dass du wieder in dein Zelt kommst. Ich werde auch schweigen.“
 

„Oh, das wirst du gewiss, mein Bester“, kicherte Tensh und rieb sich die Hände. Die beiden Wächter sahen den kleinen Mann irritiert an. Dieser pfiff auf einmal und aus dem Schatten, in dem er eben noch gelungert hatte, schoss eine große Gestalt hervor. Die beiden wurden von dem plötzlichen Auftauchen so überrascht, das sie nicht sofort reagierten.
 

Der ältere Wüstenreiter fasste sich als erstes und hielt dem Heranstürmenden seinen Speer entgegen. Zu seiner Überraschung rannte der Fremde mitten in diesen und ließ sich aufspießen. Waese sah seinen Kameraden ungläubig an, wie dieser ihn auch.
 

„Was zum-“, setzte Waere an, doch da schoss schon die große Faust des Fremden vor und traf den älteren Wächter mitten im Gesicht. Dieser keuchte gepeinigt auf und trudelte zurück, ohne den Speer los zu lassen. Ein großer Fehler. Der Aufgespießte knurrte wie ein Tier und packte sein gegenüber mit einer Kraft, die selbst diesen Hünen zu übertreffen schien, treib er den Schaft des Speers, auf dem er selber noch aufgespießt war, in den Leib des Mannes.
 

Tensh, der seelenruhig dabei gestanden hatte, kicherte wieder und klatschte sogar, als der Wüstenreiter tot zu Boden ging. Waere sah den kleinen Wicht mit zornigen Augen an und wollte ihn mit seinem Speer erschlagen. Doch da war der Angreifer zur Stelle. Dieser packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum, das der junge Wüstenreiter ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. Und was er da sah, erschreckte und überraschte ihn am meisten.
 

„Raga!“, keuchte er ungläubig, bevor der große Mann ihn seine Faust ins Gesicht trieb. Mit einem Stöhnen flog sein Kopf zurück. Raga packte mit seinen Händen zu und fing an Waere zu würgen. Der junge Mann ließ seinen Speer fallen und versuchte sich aus dem Griff des anderen zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Wenig später brach sein Genick unter der unbändigen Kraft des Untoten.
 

***
 

Tensh sah dabei zu, wie sein untoter Lakai die Leichen in das Zelt hinein zerrte. Er kicherte begeistert, bevor er ihm folgte. Drinnen sah er sich sofort nach dem Bettlager der Hüterin um und entdeckte rasch. Auf leisen Sohlen schlich er sich zu ihr, während Raga den Eingang bewachte.
 

Die Hüterin lag schlafend in den Kissen und Decken gekuschelt und atmete ruhig. Der kleine Mann sah mit großen Augen auf das Mädchen herab und leckte sich nervös über die trocken gewordenen Lippen. Er konnte es einfach nicht glauben. Er war ihr nun so nah, dennoch traute er seinen Augen kaum.
 

Er betrachtet sie voller Ehrfurcht. Sie war so schön, dachte er. Das ebenmäßige Gesicht, die feinen Lippen. Tensh fing am ganzen Leib an zu zittern. Er schluckte schwer. Wie konnte eine Missgeburt nur so schön sein, fragte er sich und bat im Stillen Skorm um eine Erklärung. Wieso musste er es sein, der ihr Leben beenden musste? Welch eine Schande. Sicher hätte er mit ihr viel Spaß gehabt, wenn sie nicht diese vermaledeite Hüterin gewesen wäre.
 

Sie rührte sich und drehte sich. Als sie die Augen öffnete, sah sie Tensh in die kleinen Augen. Der Spion verfluchte sich innerlich für sein Starren. Schnell hatte er den Skormdolch gezogen und drückte ihn an die Kehle des Mädchens, das ihn mit schreckgeweiteten Augen ansah. „Ganz ruhig“, zischte er leise und warf ihr einen drohenden Blick zu. „Mach keinen Mucks, sonst schlitze ich dir die Kehle auf.“
 

Er hätte beinah gelacht, als sie kurz nickte und ihn ängstlich ansah. Zufrieden, das sie seiner Drohung glaubte, nahm er die Hand weg und grinste sie bereit an. Oh ja, das war genau das, was er haben wollte. Ein ängstliches, kleines Mädchen, das vor ihm kuschte.
 

Er wand sich kurz um und pfiff. Raga kam zu ihnen, zwei Schwerter in den Händen. Die Hüterin sah ihn mit ungläubigen Blicken an und keuchte: „Raga.“
 

Nun konnte sich Tensh ein Kichern nicht verkneifen. „Oh ja, Raga“, sagte er sanft. „Er ist wieder da und sinnt auf Rache. Aber keine Angst. Wenn du mir gehorchst, dann wird er dir kein Haar krümmen.“ Seine Stimme wurde sofort ernst. „Aber wenn nicht, dann sehe ich gerne dabei zu, wie er dir das Herz aus der Brust reizt.“
 

Die Halbork nickte einmal kurz, um ihn zu verstehen zu geben, das sie verstanden hatte. Zufrieden grunzte er und stand auf, hielt aber dabei immer noch den Dolch in der Hand. „Du wirst mich jetzt begleiten, Hüterin“, sagte Tensh grinsend.
 

Er sah ihr dabei zu, wie sie sich aus dem Bett wälzte und langsam aufstand. Sie trug ein langes, seidenes Nachthemd und Tensh glaubte die Konturen ihres Körpers unter dem Stoff zu sehen. Seine Gier wurde sogleich entfacht und am liebsten wäre er jetzt über das Mädchen hergefallen. Doch er hielt sich zurück, erinnerte sich immer wieder daran, dass dafür noch genug Zeit war, wenn er mit ihr entkommen wäre.
 

Er befahl Raga das Mädchen zu packen. Diese wich vor dem Zombie ängstlich zurück, doch er erwischte sie und hielt schmerzhaft ihre Hände fest. Schnell war Tensh zur Stelle und band mit einem Strick ihr die Hände auf den Rücken. Dabei streifte seine Hand ihre Haut und er erzitterte. Wieder musste er sein Verlangen nieder kämpfen. Schnell verband er noch ihre Augen und knebelte sie, damit sie ihm keine Probleme machte. Schließlich verlangte es ihn nicht nach einem Kampf mit den Wüstenreitern.
 

Der kleine Mann befahl seinem Zombie die Hüterin zu bewachen, während er sich zum Eingang des Zeltes schlich und umsah. Noch niemand hatte das Verschwinden der beiden Wächter bemerkt. Kein Alarmruf, keine ungebetenen Gäste. Zufrieden winkte er Raga zu sich, der grob die Hüterin vor sich her trieb. Sogleich verließen sie das Zelt und schlichen zu den westlichen Grenzen des Lagers. Das Mädchen widersetzte sich, worauf Tensh Raga den Befehl gab sie sich über die Schulter zu werfen.
 

Obwohl sich das Halbork-Mädchen dagegen wehrte, mit Händen und Füßen, kamen sie nun schneller voran und erreichten schon bald den Rand des Lagers. Nun musste Tensh sich überlegen, wie er an den versteckten Wächtern vorbei kam, die irgendwo da draußen die Umgebung überwachten und auf Feinde lauerten. Er hatte schon bald eine Idee und befahl Raga auf ihn zu warten, während er zurück ins Lager schlich.
 

Schon bald kehrte Tensh zurück, im Schlepptau zwei kräftige Pferde. Er befahl Raga das Mädchen auf eins der Tiere, einen Braunen, fest zu machen, während er selber auf einen schwarzen Hengst kletterte. Doch bevor sie aufbrechen konnten, erklangen laute Rufe. Der kleine Mann zischte unwillig. Man hatte wohl den Diebstahl der Pferde mitbekommen. Was für ein Pech.
 

Überall im Lager wurden Fackeln entzündet und nur wenige Augenblicke später erklang der Schrei einer Frau. „Oh“, kicherte Tensh und sah Raga an. „Deine Frau hat wohl deinen Vater gefunden, mein Freund.“ Er sah hinüber zu der geknebelten Hüterin und erkannte, dass sie sich bereits neue Hoffnungen gemacht hatte. Er fluchte leise. Nein, so schnell würde sie ihm nicht entkommen.
 

Er gab seinem Hengst die Sporen und die anderen folgten ihm. Doch weit kamen sie nicht, denn die Wächter in der Wüste kamen bereits herbei. Einige beritten, andere zu Fuß. Der kleine Mann verfluchte sein Pech. Jetzt musste er erst recht entkommen, sonst würde man ihn sofort hinrichten. Und den Tot wollte er in diesem gottverdammten Land garantiert nicht finden.
 

Er gab seinem Hengst erneut die Sporen und befahl Raga: „Zieh ihr Pferd mit, Raga! Wir müssen uns sputen!“ Der Zombie gab keinen Laut von sich, sondern folgte einfach nur seinem Herrn und Meister, als dieser davon ritt, direkt in die Wüste hinein.
 

***
 

Lorgren stürmte durch das Lager, um zu Fynns Zelt zu kommen. Flint war bei ihm und hatte ihm berichtet, dass das Mädchen verschwunden wäre. Der Wüstenreiter und der Zwerg erreichten das Zelt und stürmten durch den Eingang. Valzar war bereits vor Ort, zusammen mit Nohrasil und einigen Kriegern seines Clans. Er kniete neben der Leiche eines jungen Mannes und schloss ihm grade die Augen.
 

Als er sich Lorgren zu wand, sagte er: „Man hat die beiden ermordet und die Hüterin entführt.“
 

„Wir müssen sofort hinterher“, knurrte der Jerisane und drehte sich zum gehen um.
 

„Meine Männer verfolgen die Entführer bereits“, hielt Nohrasil ihn auf. „Sie werden die Hüterin befreien und gesund zurück bringen.“
 

Lorgren konnten die Worte des Clanführers nicht beruhigen. Er war für ihre Sicherheit verantwortlich gewesen und er würde sich nicht aus seiner Aufgabe winden, nur, weil andere diese kurzfristig übernommen hatten. Er wusste selber, dass es töricht war, denn seine Verletzungen waren kaum richtig verheilt. Er konnte zwar wieder aufrecht gehen, doch die Kraft sein Schwert zu schwingen, fehlte ihm. Er wäre viel mehr ein Hindernis, als eine wirkliche Hilfe. Doch sein Pflichtbewusstsein war größer.
 

„Ich werde mich daran beteiligen“, sagte Lorgren und man hörte ihm deutlich an, dass er sich nicht überreden ließ, das ganze sein zu lassen.
 

Nohrasil sah ihn forschend an und schließlich nickte der Clanführer. Lorgren nickte ihm knapp zu und eilte, die Zwerge im Schlepptau, aus dem Zelt, hinüber zu den Pferchen. Er musste Fynn finden, egal was es kosten sollte. Sie war die Hoffnung von ganz Konass. Zudem hatte er einem jungen Wirtssohn das Versprechen gegeben, auf sie zu achten, sie mit seinem Leben zu beschützen.
 

Die drei Gefährten erreichten die Pferche und schon bald saß Lorgren auf seinem stolzen Wüstenhengst und die beiden Zwerge auf ihren haarigen Ponys, die aufgeregt wieherten. Sie preschten sofort hinaus in die Wüste und folgten einer der Sandwolken, die am Horizont zu sehen war. Dort waren bereits Krieger des Wüstendrachenclans auf der Verfolgung der Entführer.
 

Lorgren kniff die Augen zusammen und gab seinem Hengst die Sporen. Schon bald hatte er die Zwerge auf ihren Ponys weit hinter sich gelassen und kam den anderen Verfolgern immer näher. Es überraschte ihn, wie schnell sein Pferd war, doch bald erkannte er den Grund.
 

Die Männer des Verfolgungstrupps hatten einen der Entführer eingekreist. Dieser hielt zwei krumme Schwerter in den Händen und schlug wie ein Wahnsinniger um sich und brüllte dabei wie ein wild gewordenes Tier. Diese Taktik war dennoch effektiv genug gewesen. Fünf Männer lagen regungslos im Sand, während sieben andere den Mann mit ihren Schwertern bedrohten.
 

„Raga“, sagte Lorgren, als er den Mann erkannte, der wie von Sinnen um sich schlug. Sein Oberkörper war bereits von den Klingen der Wüstenreiter aufgeschlitzt worden, doch das interessierte diesen nicht einmal. Er steckte jeden Treffer ohne weiteres weg und drängte seine Gegner weiter zurück.
 

Ein Wüstenreiter legte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens und schickte ihn Raga entgegen. Der Pfeil bohrte sich in dessen Brust, der Hüne zuckte einmal zusammen, bevor er sich auf den Bogenschützen stürzte. Der Mann wich zurück und verwendete seinen Bogen als Keule, um den wahnsinnigen Wüstenreiter auf Abstand zu halten. Es half nichts. Raga schlug mit den Schwertern zu und trennte dem Mann erst einen Arm ab und bohrte ihm das andere in die Brust. Er hob den Mann über sich und warf das Schwert mit Mann zusammen von sich, um diesen einfach im Sand qualvoll sterben zu lassen.
 

Lorgren konnte seinen Augen nicht trauen. Wie war so etwas möglich? Raga hätte längst tot sein müssen. Er hätte nicht einmal wieder unter den Lebenden weilen dürfen! Wie war so etwas nur möglich? War ein übler Geist in den Krieger gefahren und wollte sich nun an den Lebenden rächen? Was es auch immer war, er musste Raga aufhalten. Doch wo war Fynn? Er hatte sie doch nicht etwa…
 

Er brachte den Gedanken nicht einmal zu ende, denn schon raste er auf dem Rücken seines Hengstes auf Raga zu, der zwei Wüstenreiter vor sich her trieb. Lorgren stieß einen lauten Schrei aus, der die Aufmerksamkeit des Hünen erweckte. Als dieser sich dem Reiter zu wand, schwang Lorgren seinen Krummsäbel und ließ die Klinge auf den Hals des Mannes nieder sausen. Raga heulte auf und wich einen Schritt zurück, doch wurde er am Hals von Lorgrens Klinge gestreift und diese hinterließ eine tiefe Wunde.
 

Davon ließ der wahnsinnige Hüne sich nicht aufhalten, sondern packte Lorgren am Arm und riss ihn mit einem Ruck von seinem Pferd. Der Wüstenreiter stieß einen erschrockenen Schrei aus, bevor er auf dem Sand hart aufschlug.
 

Raga war sofort über ihm und hob seine Schwerter, um sein Opfer zu töten. Doch Lorgren war flinker und rollte sich rechtzeitig weg, bevor ihn die blutigen Klingen trafen. Der Hüne heulte erneut auf und stampfte dem Wüstenreiter nach. Ein Pfeil traf ihn in der Schulter und er heulte nur um so lauter. Der Krieger legte wieder einen Pfeil auf, um Lorgren die Zeit zu geben, davon zu kommen.
 

Lorgren kam auf die Beine, als Raga auf den anderen zustürzen wollte. Er packte den Krummsäbel fester und schlug zu. Die Klinge schlitzte die rechte Kniekehle des Hünen auf, der darauf einknickte. Der Wüstenreiter sprang rasch zurück, um aus der Reichweite des Wahnsinnigen zu blieben. Zu seiner und der Überraschung der anderen Krieger, erhob sich Raga einfach und funkelte jeden finster an.
 

Noch bevor der Hüne einen Schritt machen konnte, krachte ein silbernes Etwas an seinen Kopf und brachte den Hünen zum Wanken. Alle Blicke schossen herum und sie sahen die beiden Zwerge, bewaffnet mit ihren Hämmern. Nun war Lorgren auch klar, was Raga da getroffen hatte, als er Flint sah, der nur seinen goldenen Hammer in der Hand hielt.
 

Wütend heulte Raga auf und stürmte auf die beiden Zwerge zu. Die Wüstenreiter in seinem Weg wichen bereitwillig zurück, denn sie wussten, dass sie dem großen Mann nichts anhaben konnten. Lorgren hingegen folgte dem Wahnsinnigen, denn er konnte seine Gefährten nicht alleine gegen diesen… Dämon antreten lassen.
 

Valzar hob Drakobans Drachenfaust und stürmte Raga entgegen. Flint derweil machte einen großen Bogen um den Hünen, um an seinen anderen Hammer zu gelangen. Raga wollte ihm folgen, ihn niedermetzeln, doch der jüngere Zwerg versperrte ihm den Weg und hinderte ihn am weiterkommen. Der Hüne brüllte zornig und wollte den Bärtigen einfach hinweg fegen, doch Valzer wehrte die Hiebe mit dem Drachenhammer geschickt ab und rammte den Hammerkopf dem Hünen in die Brust, so dass dieser zurück taumelte.
 

Flint hatte seinen anderen Hammer bereits wieder erlangt, als er zu Lorgren rannte. „Mach, das du Fynn rettest“, knurrte der alte Zwerg ihn an und verpasste ihn einen unsanften Stoss. „Den werden wir übernehmen.“
 

Der Wüstenreiter sah den Zwerg an und nickte schließlich. Diese beiden wackeren Kerle waren viel länger im Kriegshandwerk bewandert, als er und sie würden selbst mit dem wahnsinnigen Raga fertig. Schnell rannte er zu seinem Hengst und rief die anderen Wüstenreiter zusammen, die ihm bereitwillig folgten. Zusammen ritten sie in die Wüste, denn es galt die Hüterin zu finden und sie aus den Klauen ihrer Entführer zu befreien.
 

***
 

Valzar wehrte einen tiefen Schwerthieb mit Drakobans Drachenfaust ab und drückte den Hünen von sich weg. Raga heulte erneut auf und wollte sich wieder auf den Zwergenkönig stürzen, doch Flints goldener Hammer schmetterte hart gegen seinen Schädel. Er taumelte vorwärts und erhielt sogleich einen heftigen Hieb von Valzar, der ihn damit auch gleich auf den Sand schickte. Eins der Schwerter entglitt seinen Händen, dennoch war er ein gefährlicher Gegner.
 

Flint stürmte vor und drosch mit seinem Silberhammer auf den Kopf des Hünen ein. Dieser knurrte wie ein wildes Tier und schlug dem Zwerg hart ins Gesicht, so das dieser zurück taumelte und mürrisch brummte: „Autsch. Das hat wehgetan!“ Raga hörte ihm gar nicht zu, sondern sprang auf die Beine und stürzte sich auf den alten Zwerg.
 

„Nichts da!“, heulte Valzar Drachenhammer und sprang Raga gleich hinter her. Der Zwerg prallte am breiten Rücken des Hünen ab und landete auf dem sandigen Boden. Raga taumelte vorwärts, vorbei an Flint und fiel hin. Flint kam auf die Beine und eilte hinüber zu Valzar, der sich etwas mühselig auf die Beine brachte.
 

Der junge Zwerg packte die Erbwaffe seiner stolzen Sippe und sagte grimmig: „Der Kerl ist nicht normal.“
 

Flint nickte zustimmend. „Jede seiner Wunden hätte ihn längst töten müssen“, pflichtete er ihm bei. Beide stellten sich erneut Raga, der wieder auf den Beinen war und wie von Sinnen brüllte. „Da ist eindeutig Magie im Spiel.“
 

Valzar schnaubte angewidert. „Dann müssen wir Magie mit Magie bekämpfen“, sagte der junge Zwergenkönig und hielt sich Drakobans Drachenfaust an die Lippen. Leise flüsterte er ihm „Drakoban“ zu und in wenigen Augenblicken glühte die Waffe in einem blauen Schein auf. „Na komm her, mein Großer, damit wir das hier zu ende bringen können.“
 

Der Zwerg brauchte den Hünen nicht erst dazu aufzufordern, denn dieser stürmte mit mordlustigem Blick auf diesen zu und schwang dabei wild sein verbliebenes Schwert. Der Zwergenkönig schwang Drakobans Drachenfaust in seinen Händen und kam Raga entgegen.
 

Raga ließ seine Klinge vorschnellen, doch Valzar wehrte sie ab und verpasste dem Hünen einen Schlag mit dem Hammergriff, der ihn zurück taumeln ließ. Sofort war der Bärtige bei ihm und holte weit mit der Waffe aus, die seit Generationen in seiner Familie war. Der Hammer sauste auf Raga zu, der abwehrend einen Arm hob. Mit einer lauten Explosion wurde der Arm in Stücke gerissen und Raga von den Beinen.
 

„Verdammt zähes Bürschen“, kommentierte Valzar. Noch bevor der Zwerg einen neuerlichen Schlag ansetzen konnte, trat Raga ihn gegen die Brust und schickte ihn zu Boden. Überrascht sah der Zwergenkönig zu dem Hünen, der nun über ihm aufragte und sein Schwert hoch über den Kopf gehoben hatte, um ihn zu töten.
 

Flint eilte hektisch herbei und ließ mit einem Schrei seine beiden Hämmer, Gold und Silber, durch die Luft fliegen. Der Silberne traf Raga an der Schulter. Der Goldene hingegen krachte gegen den Kopf des Hünen. Durch die Wunde, die Lorgren Raga am Hals zugefügt hatte, knickte dieser nun durch die Wucht des Zwergenhammers zur Seite weg und der Körper erstarrte mitten in der Bewegung.
 

Als Valzar auf den Beinen stand, ließ er es sich nicht nehmen, Raga Drakobans Drachenfaust um die Ohren zu hauen. Der Schlag riss den Kopf vollends von den Schultern des untoten Hünen und der Körper fiel in sich zusammen, als der Zauber seine Wirkung verlor.
 

Zufrieden stemmte Valzar den Erbhammer neben sich in den Boden und sah Flint an, der seine beiden Waffen einsammelte und schließlich zu seinem jungen König trat. „Das wäre erledigt“, sagte Valzar.
 

„Hoffentlich findet Lorgren das Mädchen“, meinte Flint besorgt und sah hinaus in die Wüste, wo der Wüstenreiter verschwunden war, auf der Jagd nach Fynn und ihren Entführern. Deutlich hörte Valzar die Besorgnis in der Stimme des älteren Zwerges und im Stillen konnte er ihm nur zustimmen.
 

Hoffentlich findet Lorgren das Mädchen.
 

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11. Akt: Ein Stich ins Herz

Was wären wir ohne unsere Freunde?

Wir wären alleine und

In der Wüste ist das Alleinsein sehr gefährlich.

Zu viele Gefahren lauern dort,

Die kein Mensch alleine überstehen kann.

Natürlich gibt es genug Menschen die die Wüste allein durchqueren

Und sicher ans Ziel kommen.

Doch rate ich euch,

Nie allein durch die Wüste zu reisen.

Denn mit einem Freund an der Seite werdet ihr nie sterben.

In seinem Herzen werdet ihr weiter leben.
 

Anshak Orga,

Gelehrter aus den Wüstenländern
 

***
 

Tensh sah über die Schultern und stellte erleichtert fest, das es Raga gelungen war, die Wüstenreiter zu stoppen. Der kleine, nervöse Mann hatte seinem untoten Diener befohlen jeden zu töten, der hinter ihnen her war. Der Zombie hatte sich sofort auf die nahenden Feinde gestürzt und so war es der Skormklinge und seiner Geisel gelungen zu entkommen.
 

Doch sicher waren sie noch lange nicht. In der Nacht war die Wüste noch gefährlicher, denn die wilden Bestien des Sandes waren auf der Jagd. Tensh suchte rasch eine Felsgruppe, wo sie ebenfalls eine kleine Höhle fanden, in der sie die Nacht sicher verbringen konnten.
 

Er brachte Fynn in die Höhle und fesselte sie an den Füßen, damit sie nicht davon laufen konnte, während er sich um ein Feuer kümmerte und ein Dankgebet an Skorm sprach.
 

Nicht auch hier, dachte Fynn entsetzt, als sie das Gebet des kleinen Mannes verfolgte. Die Skormklingen waren auch bis in die Wüste vorgedrungen und hatten sich bei den Wüstenbewohnern eingeschlichen. Und nun war sie die Gefangene eines solchen Mannes. Ihr Anhänger strahlte eisige Kälte aus, die Fynn nur umso deutlicher machte, wie gefährlich ihre Lage war. Bisher hatte der Mann ihr noch nichts getan, doch wusste sie, dass dem nicht mehr lange so sein würde.
 

Erinnerungen an Jakob stiegen in ihr auf und das Entsetzen packte sie. Was würde der Mann nur mit ihr anfangen? Dieses Mal war sie ihm schutzlos ausgeliefert. Lorgren war nicht da, um sie zu retten. Dieses Mal war sie auf sich allein gestellt. Aber wie sollte sie nur entkommen? Sie wusste keinen Ausweg.
 

Sie hörte schlürfende Schritte und wand ihren Kopf Tensh zu, der mit langsamen Schritten auf sie zu kam und nervös seine Hände rieb. Sogleich blieb er stehen, als er ihrem Blick begegnete und leckte sie über die trockenen Lippen.
 

Fynn schluckte schwer. Was hatte er nun vor mit ihr, fragte sie sich und befürchtete das Schlimmste. Er kam näher und hockte sich vor sie, betrachte sie neugierig. „Ich werde dir jetzt den Knebel aus dem Mund nehmen“, erklärte er ihr ruhig. „Hoffentlich schreist du jetzt nicht. Sonst bin ich gezwungen dir weh zu tun und das willst du doch nicht, oder?“ Fynn schüttelte den Kopf. „Sehr gut, sehr gut.“
 

Vorsichtig nahm er ihr den Knebel ab und das Mädchen fragte ängstlich: „Was hast du mit mir vor?“
 

Nervös kicherte der kleine Mann und rieb sich die schwitzenden Hände. „Das wirst du noch früh genug erfahren, Hüterin“, sagte er zu ihr. „Aber sei unbesorgt. Den Tod wirst du nicht so rasch finden. Ich habe noch einiges vor mit dir, bevor Skorm dich beanspruchen darf.“ Das Mädchen konnte nur erraten, was der Mann damit meinte.
 

Zu ihrer Erleichterung schlich Tensh zurück zum Feuer und kauerte sich davor nieder. Sie sah ihm nur flüchtig nach, bevor sie ihre Augen schloss. Ihr kamen die Tränen und nur mit größter Mühe konnte sie ein Schluchzen unterdrücken.
 

Sie wollte wieder ihr altes Leben, wollte wieder bei ihren Lieben sein. Warum war das Schicksal nur so grausam zu ihr? Wieso hatte es ihr erst die Mutter genommen und nun noch die Chance in Frieden weiter zu leben? Warum musste sie es sein, die der Welt die Hoffnung bringen sollte? Wieso konnte es niemand anders sein, jemand, der stark und mutig war. Wieso musste es sie es sein, eine Halbork, die klein und ängstlich war.
 

Warum konnte Lorgren nicht hier sein, fragte sie sich. Wieso kam der Jerisane nicht in die Höhle gestürmt, streckte Tensh mit nur einem Hieb nieder und befreite sie? Der Gedanke an das Ausbleiben des Jerisanen betrübte sie nur mehr. Sie brauchte ihn jetzt, hier, an ihrer Seite, dass er sie beschützen konnte.
 

Schließlich übermannte sie die Erschöpfung und sie fiel in einen unruhigen Schlaf.
 

Am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne aufgegangen war, weckte Tensh sie und sie brachen das kleine Lager ab. Tensh führte sie nun weiter nach Westen, weiter in Richtung Otomor, wie Fynn erkannte. Doch sie würden auch durch Helios kommen, erinnerte sie sich immer wieder. Und dort würde es sicher irgendjemanden geben, der ihr zur Hilfe kommen würde. Zumindest hoffte sie dies.
 

Sie hoffte zudem, das Lorgren bald erschien und sie retten würde. Zwar hatte sie in der Nacht zuvor nicht geglaubt, dass der Wüstenreiter überhaupt noch käme, doch sie kannte ihn besser und wusste, dass er sie niemals in Stich lassen würde. Der Wüstenreiter hatte ihr einen Eid geschworen und dieser war ihm heilig. Der Gedanke gab ihr die nötige Kraft, um durchzuhalten.
 

***
 

Lorgren stand mit seinen drei Begleitern am Eingang einer Höhle und sah sich um. Sie hatten die Spuren zweier Pferde bis hier her verfolgt und waren auf das kleine Lager gestoßen. Hier hatte jemand ein Feuer entzündet. Doch dieser Jemand war längst verschwunden.
 

„Lorgren!“, rief einer seiner Begleiter, ein erfahrener Krieger. Der Jerisane wand sich diesem zu und kam zu ihm geeilt. Der Mann wies nach Westen und sagte: „Einer der Kundschafter kehrt zurück.“ Der Wüstenreiter nickte grimmig und zusammen eilten sie zu ihren Pferden, um dem Späher entgegen zu reiten.
 

Als der Trupp den Kundschafter erreichte, berichtet dieser: „Wir haben eine Staubwolke entdeckt. Sie ist nicht weit weg. Brel verfolgt sie weiter.“
 

Lorgren nickte. „Los, weiter!“, rief er und die Wüstenreiter trieben ihre Pferde weiter an. Ihre Tiere, allesamt stolze Wüstenpferde, flogen regelrecht über den heißen Sand, ohne dass sie zu ermüden schienen. Der Späher führte sie zielsicher durch die Wüste. Schon bald trafen sie auf den anderen Späher.
 

„Ich hab die Spur verloren“, berichtet Brel den anderen und man hörte ihm deutlich an, dass er zu tiefst bestürzt war.
 

„Wie das?“, wollte Lorgren aufgebracht wissen. Sie waren doch so nah an ihrem Ziel gewesen. Wie hatte man da die Spur einfach verlieren können?
 

„Ein Sandsturm“, erklärte der Wüstenreiter Lorgren. „Er ist urplötzlich aufgestiegen und über mich hinweg gefegt. Er hat mir die Sicht genommen. Als ich wieder etwas sehen konnte, waren sie längst verschwunden. Ich bin weiter in ihre Richtung geritten, doch ihre Spuren sind vom Wind verwischt worden.“ Er sah die anderen an. „Das war ein seltsamer Sturm. Er kam wie aus dem Nichts.“
 

Lorgren wurde bei der Behauptung des Mannes hellhörig. Wie aus dem nichts? Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit und er fragte sich, mit wem sie es hier zutun hatten. Ein Priester? Es wäre möglich, entschied er, als er sich an Raga zurück erinnerte, der wieder unter den Lebenden weilte und sie angegriffen hatte. Es fiel ihm nur eine Gottheit ein, die Interesse daran hatte, das Fynn verschwand.
 

„Skorm“, murmelte er und wand sich schließlich an den immer noch erzählenden Späher. „In welche Richtung waren sie unterwegs, Brel, bevor der Sturm kam?“
 

„Westen“, sagte dieser sofort.
 

Wie ich es mir gedacht habe, dachte Lorgren grimmig. Der Priester wollte Fynn nach Otomor schaffen. Dort würde sie ein grausiges Schicksal erwarten, wenn sie nicht schon längst tot war. Er verbannte den Gedanken daran und befahl seinem Trupp, weiter gen Westen zu reiten.
 

Lorgren gab seinem stolzen Hengst die Sporen und hoffte, das er nicht zu spät kommen würde.
 

***
 

Tensh konnte nur staunen über die Macht seines Gottes. Dieser Sandsturm war wirklich zur rechten Zeit aufgekommen. Wäre Skorm ihm nicht zur Hilfe geeilt, dann wären die Freunde der Hüterin längst da gewesen, hätten sie befreit und ihn kurz darauf getötet. Im Stillen schwor er seinem Gott, ihm einen vollen Liter seines Blutes im ersten Tempel zu opfern, den er erreichen würde. Zusammen mit seiner Beute.
 

Sein Blick flog zu dem Mädchen, das niedergeschlagen den Kopf gesenkt hatte. Sie hatte wohl jegliche Hoffnung auf Rettung aufgegeben, glaubte Tensh den Grund erkannt zu haben. Umso besser. Dann wäre er ungestört und könnte sich intensiver mit ihr befassen. Besonders mit diesem eigentümlichen Anhänger, den sie bei sich trug.
 

Das Schmuckstück war ihm aufgefallen, als er sie am Morgen auf ihr Pferd gesetzt hatte. Irgendein Geheimnis umwaberte es und Tensh hatte vor dahinter zu kommen. Vielleicht war der Anhänger mit einem Zauber belegt, der ihm in Zukunft noch nützlich sein könnte. Doch die Frage war, was für einer. Konnte man damit jemanden töten? Verhinderte er andere Zauber? Oder war dies gar der Schlüssel zum legendären Herzschwert?
 

Der kleine Mann dachte ernsthaft darüber nach. War es vielleicht wirklich der Schlüssel zu dieser machtvollen Waffe, die Königreiche mit nur einem Streich vernichten konnte? Wenn der Anhänger wirklich der Schlüssel war, dann könnte er das Schwert suchen und an sich bringen. Wie leicht würde es ihm dann fallen seinem Gott zu dienen! Wie leicht würde es ihm fallen, seine Mitbrüder zu vernichten! Wie leicht würde es ihm fallen,...
 

Seine Augen glänzten begierig auf, als er sich vorstellte, wie er Sadrojor Schädelmeister, der Imperator Otomors, das Schwert in die Brust trieb und so selber der Herrscher des Imperiums wurde. Die Macht die er dann besitzen würde, wäre schier unglaublich und alle würden sich vor ihm in den Staub werfen. Tensh wäre es dann, der das verhasste Drachenkönigreich in die Knie zwang, der Konass unter seiner Flagge zu einem einzigen Reich einte. Er könnte allein über die Frauen und Töchter des Imperators verfügen, wie es ihm grade in den Sinn kam. Er könnte die Adligen Otomors so behandeln, wie es ihm gefiel. Dies jagte ihm einen erregenden Schauer durch den Körper.
 

Sein Blick fiel wieder auf die Halbork, die Hüterin des Herzschwertes. Sie wäre dann für immer sein. Er wäre nicht gezwungen sie zu töten, sondern könnte sie behalten. Sie wäre ihm gewiss immer zu Diensten, denn welche Frau fühlte sich von Macht nicht angezogen?
 

Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er seinen Blick wieder auf den Weg vor sich richtete. Seine Gier nach Macht war geweckt worden. Seine Gier nach Macht und nach diesem unscheinbaren Halbork-Mädchen, das ihn mit seiner Schönheit bereits verzaubert hatte. Er würde sie beide haben. Macht und Mädchen!
 

***
 

Als die Nacht herein brach schlug Tensh ihr Lager auf einem steinernen Hügel auf, dessen Spitze von mehreren Steinzacken geschützt wurde und niemanden einen Blick auf sein innerstes gewährte. Dieser Platz war der Skormklinge bereits bekannt, stellte Fynn fest, als der kleine Mann aus einem Versteck eine kleine Reisetasche zog, in der einige Lebensmittel gelagert waren.
 

Rasch war ein Feuer entzündet, nachdem Tensh Fynn erneut an Händen und Füßen gefesselt hatte. Sie hockte in einer Ecke des Lagerplatzes, während der nervöse Mann wie ein Wiesel hin und herhuschte. Der Vergleich passte, denn der Mann sah wirklich fast so aus, wie eins der kleinen, pelzigen Tiere.
 

Sie hielt sich nicht zu lange mit den Gedanken an den Mann auf, sondern diese galten einem ganz anderen, einem, der ihr ein treuer Freund und Beschützer gewesen war.
 

Lorgren, dachte sie sehnsüchtig. Sie hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben, denn der Sandsturm hatte nicht nur ihre Spuren, sondern auch jegliche Hoffnung auf Rettung davon gefegt. Wie sollten ihre Freunde sie da nur wieder finden? Dies war ein Ding der Unmöglichkeit! Denn woher sollten sie denn wissen, wohin die Skormklinge sie brachte.
 

Eine nahe Bewegung ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Tensh war auf sie zugegangen, doch jetzt hielt der Mann wieder inne und rieb sich nervös die Hände. Dabei sah er sie ununterbrochen an und der Blick des Mannes wollte Fynn nicht gefallen. Sie glaubte Gier darin zu sehen, eine Gier, die einem eine kalte Gänsehaut über den Rücken jagen ließ.
 

Er kam nun einen Schritt auf sie zu und kauerte sich auf den Boden, während er sie eingehend betrachtete. Fynn merkte schnell, das sein Blick nicht auf ihrem Gesicht ruhte, wie am Abend zuvor, sondern auf ihrem Anhänger, der die eisige Kälte des bösartigen Herzens Tenshs verbreitete. Wieder kam er einen Schritt näher. Dann wieder und dann noch einen, bis er endlich vor Fynn hockte. Dabei starrte er ununterbrochen auf den Anhänger.
 

Dem Mädchen wurde unwohl dabei. Der Blick erinnerte sie an einen Habicht, der seine Beute anvisierte, bevor er sich auf sie stürzte und mit seinen Klauen packte. Was hatte er nur vor? Was interessierte ihn ihr Erbstück?
 

Tensh griff nach dem Anhänger, doch Fynn wand sich von seiner Hand weg. Der kleine Mann sah sie böse an, doch sie reagierte nicht darauf, denn nun war ihr klar, was er wollte. Er wollte es ihr wegnehmen und das würde sie nicht zulassen. Der Schwertanhänger war das einzige, was ihr noch von ihrer Mutter geblieben war. Wieder griff er danach, doch Fynn rollte sich weg.
 

„Halt still“, knurrte Tensh sie an und sein Blick zeigte deutlich, was er mit ihr anstellen würde, wenn sie nicht gehorchte. Sie warf ihm einen trotzigen Blick zu und wand sich so, dass er es wahrlich schwer haben würde, an den Anhänger heran zu kommen. Doch Tensh gab nicht so schnell auf.
 

Er stürzte sich auf das überraschte Mädchen, das erschrocken aufschrie. Er drückte sie auf den Boden, war nicht sonderlich feinfüllig dabei. Rasch war er über ihr und hockte sich auf ihr Becken, hielt sie mit seinem Gewicht am Boden gefangen. „Wehr dich so viel du willst“, zischte er Fynn an, die ihn mit großen Augen ansah. „Es wird dir nicht bringen. Ich werde schon bekommen, was ich will. Niemand wird mich daran hindern. Nicht du oder einer deiner elenden Gefährten.“
 

„Sie werden kommen und mich retten“, erwiderte Fynn wütend und wand sich unter dem kleinen Mann, doch es brachte ihr nichts.
 

Tensh lachte spöttisch. „Ach wirklich?“, fragte er und seine Stimme wurde etwas sanfter. „Glaubst du das wirklich?“ Wieder lachte er. „Niemand wird dich finden, niemand außer Skorm. Der Eroberer und Zerstörer ist mit mir und lenkt deine Gefährten auf eine falsche Fährte, noch während wir hier miteinander sprechen.“
 

Fynn sah ihn ungläubig an. Sie glaubte ihm kein Wort.
 

Er merkte es und meinte: „Der Sandsturm. Ein Werk meines Gottes.“
 

„Nein“, keuchte sie. Sie wollte ihm kein Wort glauben, denn sie wusste, dass dann alle Hoffnung auf baldige Rettung vergebens wäre. Sie durfte den Glauben nicht verlieren, dass ihre Gefährten sie aus den Händen der Skormklinge befreien würden. Denn dann hätte Tensh gewonnen und ihm wollte sie keinen Sieg zu gute kommen lassen.
 

Der Mann kicherte und griff nach dem Erbstück der Halbork. Diese bemerkte dies und schrie auf, denn sie wusste, dass sie ihn nun nicht mehr daran hindern konnte, sich des Anhängers zu bemächtigen.
 

Plötzlich glühte der Schwertanhänger in einem grellen, weißen Licht auf. Schmerzerfüllt heulte Tensh auf, denn das Licht stach ihm regelrecht in die Augen, während Fynn nur geblendet wurde. Der kleine Mann legte seine freie Hand auf die Augen, um zu verhindern, dass das Licht ihn weiter quälen konnte. Doch es half nichts. Das Leuchten fand seinen Weg und fügte der Skormklinge unerträgliche Schmerzen zu.
 

Als er seine Hand vom Anhänger lösen wollte, ergriff eine unbekannte Macht den Mann. Mit einem Aufschrei wurde er von Fynn geschleudert und krachte mit dem Rücken schmerzhaft gegen einen der Steinzacken. Die fremde Magie ließ von ihm ab, das Leuchten erlosch und Tensh rutschte benommen zu Boden.
 

Fynn blinzelte und erhielt bald ihre Sehkraft zurück. Sie warf einen Blick um sich herum und entdeckte Tensh, der regungslos an einem der Steine gelehnt saß und stöhnte. Was war geschehen, fragte sie sich. Wo war das seltsame Licht hergekommen?
 

Ihr Blick fiel auf einen Dolch, der neben ihr am Boden lag. Sie rollte sich auf die Seite und tastete nach der Klinge. Als sie sie erreichte, packte sie sie und versuchte sich von ihren Fesseln zu befreien. Der Dolch war scharf und schon bald waren die Fesseln durchtrennt und das Mädchen bekam wieder Gefühl in den Händen. Sie rieb sich diese kurz, bevor sie begann, ihre Füße zu befreien.
 

Endlich befreit von ihren Fesseln, machte Fynn, das sie auf die Beine kam. Tensh war mittlerweile selber aufgestanden und warf ihr einen zornigen Blick zu. „Du elende Missgeburt!“, brüllte der Mann und ging auf das Mädchen zu, das ängstlich zurück wich. „Wie kannst du es wagen mich anzugreifen! Dafür reiz ich dir dein schwarzes Herz aus der Brust!“
 

„Bleib zurück“, sagte Fynn ängstlich. Ihr wurde bewusst, dass sie den Dolch noch in der Hand hielt und reckte ihn drohend Tensh entgegen. Dieser sah verblüfft die Klinge an. „Bleib zurück, sonst töte ich dich.“
 

Der Blick des Mannes traf den des Mädchens und einen Moment später verfiel er in lautes Gelächter. „Du willst mich töten?“, fragte er höhnisch und ging auf sie zu. „Du kannst mich gar nicht töten. Dazu bist du gar nicht in der Lage, ach so gütige Hüterin. Und mit diesem Dolch wirst du mir nichts anhaben können. Denn Skorm ist mit mir!“
 

Fynn sah auf ihre Waffe und fragte sich, wie Tensh seine Worte gemeint haben könnte. Doch sie befasste sich nicht allzu lange damit, sondern sah wieder den kleinen Mann an, der weiter auf sie zuging. Sie schluckte schwer und wich zurück. Kalter Stein spürte sie am Rücken und sie wusste, das sie nicht mehr weiter konnte. Sie saß immer noch in der Falle, obwohl sie ihre Fesseln los war, und Tensh zeigte seine Überlegenheit, indem er sie weiter höhnisch angrinste.
 

„Das ist dein Ende, kleine Hüterin“, kicherte der kleine Mann, als er nur noch zwei Schritte von Fynn entfernt war. Sie schluckte schwer, wagte es nicht, sich zu bewegen. Die Skormklinge wirkte zu selbstsicher, als das sie überhaupt an seinen Worten zweifeln konnte. „Jetzt stirbst du“, fügte er hinzu und streckte seine gierigen Hände nach ihrem Hals aus.
 

„Nein!“, schrie Fynn und stieß zu. Tensh zuckte kurz zusammen, als sich die Klinge des Dolches in seine Brust bohrte und sein Herz traf. Er sah an sich herab und starrte ungläubig auf die Hand, die ihm die Waffe ins Herz gestoßen hatte. Sein Blick begegnete dem der Halbork, die selbst ungläubig drein starrte.
 

„Was… was zum…“, keuchte Tensh und wankte. Blut lief ihm über die Lippen, während sein Blick auf Fynn haftete. Der kleine Mann taumelte einen Schritt zurück. Der Halbork entglitt der Dolch aus der zittrigen Hand. „Du Miststück. Wie konntest du nur?“ Er lachte schwach und lehnte sich gegen einen der Felszacken, denn ihm schwand bereits die Kraft auf den Gliedern.
 

Das Mädchen zitterte am ganzen Leib und ihre Beine waren weich wie Butter. Sie konnte nicht glauben, was sie da getan hatte. Ihre Beine gaben nach und sie sank auf den Boden. Ihr Magen fing an zu rebellieren und sie übergab sich.
 

Mit den Tränen in den Augen sah sie zu Tensh, der am Steinzacken herab rutschte. Dieser warf ihr einen glasigen Blick zu, bevor sein Kopf schlaff auf seine Brust sank. Der kleine Mann atmete ein letztes mal ein und aus, bevor er in die tiefe Schwärze glitt.
 

„N-nein“, wimmerte Fynn. Sie schloss die Augen und musste sich noch einmal übergeben, denn ihr Magen spielte nicht mit. Sie hatte einen Menschen getötet! Mit nur einen Stich hatte sie ein Leben beendet. Ungehemmt fing das Mädchen an zu weinen.
 

Sie konnte einfach nicht fassen, was sie da getan hatte. Sie sah seine Augen, wie sie sie vorwurfsvoll anstarrten. Unbewusste krümmte sie sich wie ein Embryo zusammen, umklammerte sich selber. Fynn spürte eine Kälte in sich aufsteigen, die gewiss nicht vom Anhänger herrührte. Ihr wurde es eiskalt und alle Kraft war wie weggefegt.
 

Nur schwerfällig konnte Fynn sich aufsetzen, denn sie wusste, dass sie hier nicht bleiben konnte. Das Mädchen musste hier weg, vom Schauplatz ihrer schändlichen Tat. Zittrig machte sie einen Schritt vor den anderen, bis sie bei den Pferden angekommen war, die aufgeregt angefangen hatten zu wiehern. Mühselig setzte sie sich auf eins der ungesattelten Tiere. Ihr fehlte die Kraft dazu, die für den Ritt fertig zu machen. Sie trat dem Hengst nur leicht in die Seiten und er setzte sich sofort in Bewegung.
 

Wohin das Pferd sie trug, bekam sie nicht mehr mit, denn sie schlang die Arme um den starken Hals des Tieres und vergrub ihr Gesicht in der Mähne. Wieder fing sie an zu weinen, denn der Schmerz über ihre Tat saß zu tief. Wie hatte sie das nur tun können? Ja, er wollte sie umbringen, doch das gab ihr nicht das Recht, ihn zu töten. Wieso hatte sie es dann getan?
 

Um ihr eigenes Leben zu retten, erkannte sie. Sie hatte nicht sterben wollen. Fynn hatte davor Angst, wie jeder andere auch. Sie hatte Tensh nur den Dolch ins Herz getrieben, um zu verhindern, dass sie starb. Nicht nur allein die Angst vor dem Tot hatte ihre Hand geführt. Ihre Freunde niemals wieder zu sehen, hatte sie verängstigt.
 

Dennoch tröstet sie diese Erkenntnis nicht. Fynn fühlte sich elend. An ihren Händen klebte Tenshs Blut, das Blut eines Menschen. Sie hatte mit einem einzigen Dolchstoss ein Leben ausgelöscht. Sie hielt sich vor Augen, wie viele Menschen die Skormklinge schon ausgelöscht hatte. Im Grunde hatte das Mädchen etwas Gutes getan, doch dies wollte ihr nicht einmal in den Sinn kommen.
 

Nur eins kam ihr in den Sinn. Sie wollte nach Hause und aufwachen aus diesem üblen Traum.
 

***
 

Mit weit aufgerissenen Augen schreckte Obrikhan aus dem Schlaf auf. Der faltige, alte Mann rang nach Atem und zitterte und schwitzte am ganzen Leib. Er konnte nicht glauben, was er eben gesehen hatte.
 

Der Oberhaupt der Priesterschaft von Skorm saß aufrecht im Bett und starrte mit leeren Blick in sein protziges Schlafgemach. Das einzige, was er sah, war ein Mann, ein kleiner Mann, aus dessen Brust der Griff eines Dolches ragte. Ein Traumbild, das ihm der Eroberer und Zerstörer gesandt hatte.
 

Verwirrt starrte er weiter das Bild an, untersuchte es genau. Der Mann war in sich zusammen gesunken. Eindeutig war er nieder gestochen worden. Doch wer hatte dies getan? Nirgendwo sah er auch das leiseste Zeichen eines Kampfes. Zudem fragte sich der Priester wer der Mann war. Er kam ihm nicht im Geringsten bekannt vor.
 

Obrikhan schälte sich schwerfällig aus den dicken Decken und schlürfte hinüber zu einem kleinen Tisch. Auf diesem entzündete er eine Kerze und setzte sich auf den bequemen Sessel. Der alte Mann strich sich über das faltige Gesicht und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Nur kurze Zeit später öffnete er diese und wusste alles über Tensh. Geheiligt sei Skorm!
 

Eine Skormklinge hatte Skorm ihm also gezeigt. Aber aus welchem Grund, fragte sich Obrikhan nachdenklich.
 

„Die Hüterin“, keuchte der Alte, als er hinter die Bedeutung des Traumbildes gekommen war. Der kleine Mann war der Hüterin des Herzschwertes nah genug gekommen, um von ihr getötet werden zu können. Welch eine Verschwendung, dachte er seufzend. Spione mit dem Talent Tenshs waren rar. Besonders solchem, die sich bei den nomadischen Völkern einschleichen konnten, wie den Wüstenreitern.
 

Obrikhan stöhnte auf. „Sie ist in Jeris“, knurrte er frustriert. Sie war also in die Wüstenländer geflohen, wo der Einfluss der Klingen Skorms nicht besonders weit reichten. Zudem würde es den Imperator nicht sehr erfreuen, wenn er erfuhr, dass die Missgeburt außer Reichweite war.
 

Oder vielleicht doch nicht?
 

Ein hinterhältiges Grinsen huschte über das faltige Gesicht des Hohepriesters. Vielleicht konnte er sie noch erreichen, doch dafür brauchte er erst einen willigen Geist und er wusste genau, wo er einen solchen auftreiben könnte. Seine entsandten Attentäter würden es ihm sicher verzeihen, dachte er kichernd.
 

Das hätte aber bis morgen noch Zeit, entschied er und erhob sich aus dem bequemen Sessel und zurück zu seinem Bett schlürfte. Er legte sich unter die dicke Decke und grinste noch einmal breit, als er sich seinen Plan noch einmal vor Augen hielt. Er war ja so schlau und tückisch, lobte er sich selbst. Doch rasch dankte er seinem Gott für die Informationen, die er in dieser Nacht erhalten hatte.
 

„Mein Blut sei dir gewiss, o Allmächtiger“, murmelte Obrikhan.
 

***
 

Fynn lag zusammen gesunken auf dem Rücken des Wüstenpferds, das langsam durch den Sand trabte. Ihr fehlte die Kraft durch die auf sie herab brennende Sonne und die Gedanken, das sie einen Menschen getötet hatte. Ihr unschuldiger Blick auf die Welt war für immer dahin. Sie war ein blutbeflecktes Mädchen in einer Welt voller Grausamkeit und Bosheit.
 

Es war längst später Mittag, als sie durch die endlosen Weiten der Wüste ritt. Sie hatte seit ihrer Flucht kein Auge zu gemacht, sondern war geistesabwesend geritten, ohne zu wissen, wohin sie der Wüstenhengst brachte. Sie hatte sich bereits einen schmerzhaften Sonnenbrand zugezogen, denn das seidene Nachthemd bot genau so viel Schutz, als würde sie nackt sein.
 

Sie starrte nur vor sich hin, während sie der Hengst unbeirrt weiter trug. Das Pferd, ein schlaues Tier, kannte den Weg, denn es vor nur einem Tag gelaufen war genau und verfolgte seine eigenen Spuren zurück zum Lager seines Herren, der gewiss nach ihm suchte. Die Wüstenhengste von Jeris waren sehr treue Tiere, die nicht einmal im Traum daran dachten, ihrem Herrn davon zu laufen. Denn sie wussten, dass diese sie beschützen und versorgen würden, wie sie selber es auch taten. Und gewiss würde seine momentane Reiterin ebenfalls Hilfe von seinem Herrn erhalten.
 

Auf einer nahen Düne kam eine gebeugte Gestalt herunter. Der Hengst hielt inne und beäugte den Fremden. Auf einem knorrigen Stab gestützt und in sandfarbene Roben gehüllt, näherte sich ein alter Mann, der aussah, als bestände er nur noch aus Haut und Knochen.
 

Der Alte stand kaum zehn Schritt von dem Hengst entfernt, der ihn genau im Auge behielt. „Was haben wir denn da“, sagte der Wanderer und kam auf das stolze Tier zu, das keinen Zoll zurück wich. „Was für ein schöner Hengst du doch bist, mein Freund.“
 

Mit freundlichen Lächeln kam der alte Mann auf das Tier zu. Es spürte, dass keine Gefahr von ihm ausging und ließ es zu, dass er näher trat. Der Alte hielt inne und betrachte den Hengst einen Moment, bevor er so weit zu ihm herüber kam, dass er ihm den kräftigen Hals streicheln konnte.
 

„Wahrlich“, meinte der Alte und lächelte. „Du bist wirklich ein stolzer Hengst. Dein Herr muss gewiss sehr stolz auf dich sein.“ Er klopfte behutsam den Hals des Pferdes, bevor er die teilnahmslose Halbork erblickte. „Huch. Oder eher Herrin, mein Freund.“
 

Der Hengst behielt den Mann im Auge, als dieser zu dem Mädchen trat und es betrachtete. „Du armes Ding“, sagte er mitleidig und tätschelte die Hand Fynns, die schlaff an der Seite baumelte. „Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Was ist dir bloß widerfahren?“ Er wartete auf Antwort, erhielt sie aber nicht. Er sah ihr einmal in die Augen dun wusste bescheid. „O weh. Du musst was wirklich Schlimmes erlebt haben, kleine Fynn.“
 

Drelden streichelt über den Kopf Fynns, doch sie reagierte nicht darauf. Er sah gen Himmel und schüttelte den Kopf. Mühselig streifte er sich seine Reiserobe ab, unter der er einfache Hosen und Hemden trug. Die Robe legte er dem Mädchen behutsam über die zierlichen Schultern.
 

„Gräm dich nicht wegen deiner Tat, kleine Fynn“, sagte er zu dem Mädchen, das aber wieder nicht reagierte. „Der Bursch war ein übler Geselle. Ich an deiner Stelle hätte auch nicht anders gehandelt. Aber ich war ja nicht an deiner Stelle. Diese Erfahrung, egal wie schrecklich sie auch ist, musstest du früher oder später sowieso machen.“ Er strich Fynn erneut über das seidige Haar und lächelte mitfühlend. „Setz dich damit auseinander. Du wirst sicher bald selbst erkennen, dass du richtig gehandelt hast. Du bist die Hüterin des Herzschwertes, die Hüterin der Hoffnung. Halt dir das immer vor Augen. Und erinnere dich, dass du nicht alleine bist. Du hast Freunde.“
 

Drelden wand sich um und schirmte mit der Hand die Augen vor der Sonne ab. Er sah in die Ferne und entdeckte sich nähernde Reiter, die nicht mehr als zwei Meilen entfernt waren. Trotz seines hohen Alters waren seine Augen so scharf wie die eines Adlers.
 

„Apropos Freunde“, sagte er grinsend und sah das Mädchen wieder an. „Ich glaube, da kommen sie schon. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, dass es Menschen gibt, die sich um dich kümmern. Na gut, du bist ihre Hoffnungsträgerin, aber halt dir das bloß nicht zu oft vor die Nase, hast du mich verstanden? Denn einige von ihnen sind es wirklich und sie werden nicht die einzigen bleiben.“ Der Alte seufzte und meinte schließlich: „Ich geh dann mal besser. Die würden sicher über mich herfallen, weil sie glauben, ich hätte dich entführt. Na dann. Auf wiedersehen, kleine Fynn.“
 

Der alte Mann wand sich um und spazierte ohne große Hast zurück zu der Düne, über die er eben noch spaziert war. Der Hengst sah ihm nach, bis er verschwunden war. Dann wand das kluge Tier seinen Blick in die Ferne, wo der Alte die Reiter gesehen hatte und strebte diesen sogleich entgegen.
 

***
 

Lorgren und sein kleiner Trupp ritten unbeirrt weiter. Sie hatten die Verfolgung der Entführer nicht abgebrochen, denn es stand einfach zuviel auf dem Spiel. Den letzten Tag waren sie bis in die Nacht durchgeritten, bevor sie ein Lager aufgeschlagen hatten. Am nächsten Morgen waren sie sofort aufgebrochen und hatten bald die Spuren von Reitern entdeckt, denen sie folgten.
 

Der Wüstenreiter hoffte inständig, dass dem Mädchen nichts passiert war. Er würde es sich niemals vergeben können, wenn er seinen Eid nicht erfüllen könnte. Die kleine Halbork war während ihrer gemeinsamen Reise so etwas wie eine Freundin für den Mann geworden. Zudem war Fynn sein Mündel, seine Schutzbefohlene, die sich auf ihn verlassen konnte.
 

Die Reiter folgten weiter die Spuren, als einer der Reiter rief: „Dahinten! Eine Staubwolke!“
 

Die anderen folgten der ausgestreckten Hand des Wüstenreiters und erblickten schon bald die sich nähernde Staubwolke. Vorsichtshalber zogen die anderen Jerisanen ihre Bögen, denn in der Wüste war nicht jeder Mensch ein friedlicher Wanderer.
 

Sie ritten dem Fremden entgegen, um ihn auf halbem Weg abfangen zu können. Lorgren gab zweien der Krieger die Anweisung, zu den Seiten auszuscheren, um den sich nähernden Reiter von den Seiten im Auge zu behalten und die Umgebung nach möglichen Gefahren auszukundschaften. Der restliche Trupp ritt in grader Linie weiter.
 

Bald schon sahen sie die zusammengesunkene Gestalt des fremden Reiters sich nähern. „Das ist Ursals Hengst“, sagte einer der Wüstenreiter aufgeregt, als er das Tier erkannte, auf dem der Fremde ritt. Lorgren gab seinem Hengst die Sporen und das stolze Pferd eilte nur noch schneller über den heißen Sand, denn Lorgren machte sich Hoffnung, das es Fynn war, die da auf sie zu kam.
 

Und tatsächlich war sie es. Der Wüstenreiter sprang von seinem Pferd und rannte dem nun stehen gebliebenen Hengst entgegen. Dort angekommen, zog er das ermattete Mädchen aus dem Sattel und legte es auf den Boden. „Fynn“, sagte er zu ihr und betrachte sie eingehend. Sie atmete, doch ihre Haut vor gerötet von der Sonne und sie wirkte erschöpft. „Fynn, geht es dir gut?“
 

Das Mädchen öffnete flatternd die Augen und starrte den Wüstenreiter benommen an. Sie schien nicht zu erkennen, doch schon bald riss sie die Augen weit auf und fing an zu weinen. Sie streckte die Arme nach dem Mann aus, der sie behutsam in seinen schloss und sie drückte sich an seine starke Brust, um dort Trost zu finden.
 

„Ganz ruhig“, sprach er beruhigend. „Du bist in Sicherheit.“
 

„Du hast mich gefunden“, wimmerte das Mädchen erstickt. Die anderen Reiter trafen ein und sahen erleichtert, dass es sich tatsächlich um die Hüterin handelte. Doch Fynn beachtet sie nicht. Allein Lorgren galt ihre gesamte Aufmerksamkeit, ihrem Freund und Beschützer. Erleichterung durchflutete ihren bebenden Körper. Er hatte sie wirklich gefunden!
 

Er hatte sie nicht einfach aufgegeben, wie andere es wohl gemacht hätten. Er war ihr gefolgt und nun hielt er sie in Armen, um sie zu trösten, sie zu beschützen. Fynn war glücklich, obwohl der Schmerz über ihre Tat noch tief in ihr ruhte und keine Anstallten machte, schon bald wieder zu verschwinden.
 

Erschöpfung bemächtigte sich ihrer. Die angenehme Wärme des Körpers ihres Freundes und seines starken Arms ließ all ihr Widerstand nach und sie fiel in einen tiefen Schlaf.
 

***
 

„Das ganze hat sie sehr mitgenommen“, berichtete Lorgren pflichtbewusst Nohrasil und dem Rat des Clans. Die weisen Männer nickten leicht, um ihm aufzufordern, weiter zu reden. „Ich schätze, dass wir noch hier bleiben werden. Fynn muss sich erholen.“
 

„Was ist mit dem Entführer, mit Tensh?“, wollte der Clanführer wissen. Schnell hatte man herausgefunden, das es sich bei dem Entführer des Mädchens um den kleinen, nervösen Mann gehandelt hatte, denn nirgendwo im Lager hatte man ihn gefunden.
 

Der Wüstenreiter zuckte mit der Schulter. „Wir haben ihn bisher nicht gefunden“, sagte er. „Deine Leute suchen noch nach ihm. Der Lagerplatz ist zwar gefunden worden, aber er war nicht dort. Ich schätze, das irgendein Tier sich seine Leiche genommen hatte und sich nun an ihr gütig tut.“
 

„Pah!“, beschwerte sich Valzar, der der Berichterstattung beiwohnte. „Das arme Tier wird sich den Magen an ihm verderben, der kleinen Ratte.“
 

Die anderen bedachten den Zwergenkönig mit einem kurzen Blick, bevor sie sich wieder dem eigentlichen Thema widmeten. „Wer glaubst du, war er wirklich?“, fragte einer der Ratsherren Lorgren.
 

„Ein Anhänger des Skorm“, erwiderte der Jerisane überzeugt. „Ein Priester vielleicht sogar. Er hat Ragas Leichnam entehrt, indem er ihn gegen uns geschickt hat, damit er uns tötet.“
 

Valzar Drachenhammer schnaubte abfällig. „Wirklich unschöne Sache“, bestätigte er. „Damit verhöhnt er den Toten und seine Familie. Bei uns nennen wir das Leichenschändung, jawohl!“
 

„Ruhig, Freund Valzar“, sagte Nohrasil zu dem Zwerg, der die Arme vor seinem Brustpanzer verschränkte und abfällig schnaubte. Er wand sich wieder Lorgren zu. „Es beunruhigt mich, das die Anhänger eines solch widerwärtigen Gottes sich unter meinen Leuten herum treiben. Mich läst der Gedanke erzittern, das noch mehr von diesen Ratten in Jeris herum lungern.“
 

„Am besten warnen wir unsere Brüder“, schlug einer der Ratsherren zu und die anderen nickten zustimmend.
 

Nohrasil sah den Mann an, der ihm guter Freund war. Sein Blick ruhte erneut auf Lorgren, den künftigen Gatten seiner Tochter, in dem all seine Hoffnung ruhte. „Ich werde Boten entsenden, zu allen Wüstenstämmen, um sie vor Verrat zu warnen“, versprach er. „Und zusätzlich werde ich nach Tenosh jemanden schicken, der den Sultan warnen soll.“
 

Lorgren schüttelte, zu Überraschung aller, den Kopf. „Tenosh werde ich selber übernehmen, Nohrasil. Mein Weg führt mich dort hin, sobald es Fynn wieder besser geht. Schließlich ist das meine Mission.“
 

Die Ratsmitglieder und ihr Clanführer wechselten einen kurzen Blick, was den Wüstenreiter fragend die Stirn runzeln ließ. Dann wanden sie sich ihm wieder zu und Nohrasil sagte lächelnd: „Nun gut, Lorgren. Wir werden dir Tenosh überlassen. Wir verlassen uns auf dich.“
 

Lorgren nickte und neigte vor den hohen Herren das Haupt, bevor er sich umdrehte und das Zelt verließ. Am Eingang hielt er inne und sah zu Valzar, der sich bisher noch nicht vom Fleck bewegt hatte. Der Zwerg sah zu ihm. „Geh schon mal vor“, sagte dieser ganz unverbindlich. „Muss noch was mit Nohrasil besprechen.“
 

Lorgren nickte und ließ sie allein.
 

***
 

Valzar wartete bis er mit dem Clanführer und den Ratsmitgliedern alleine war. Dann schenkte er den Wüstenreitern seine volle Aufmerksamkeit. „Könnt euch glücklich schätzen, Lorgren zum Schwiegersohn zu bekommen“, sagte der Zwergenkönig zu Nohrasil.
 

„Das bin ich auch“, sagte der Mann stolz und die anderen nickten. Doch dann sah er den Zwerg ernst an. „Es schmerzt mich aber, dass ich ihm nicht alles anvertrauen kann.“
 

„Das kann ich gut verstehen, Clanführer“, gestand Valzar brummend. „Hab den Wüstensohn auch gern, dennoch muss ich sagen, dass er nicht alles wissen sollte.“
 

„Seit ihr euch sicher, König Drachenhammer?“, fragte Nohrasil ernst.
 

„Besser ist besser.“ Valzar zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Lorgren macht sich zu viele Gedanken, besonders seit der Entführung von Fynn. Er soll sich ganz auf das Mädchen konzentrieren, nicht auf etwas anderes.“
 

Die Ratsmitglieder des Sanddrachenclans sahen einander an, bevor sie dem Zwergenkönig wieder alle Aufmerksamkeit zukommen ließen.
 

„Ist das der Grund, warum ihr uns verlassen wollt?“, fragte der Clanführer und faltete die Hände.
 

Valzar Drachenhammer nickte ernsthaft. „Nicht nur“, antwortet der Rotbärtige. „Ich mach mir Sorgen um meine Sippe. Wenn die Hampelmänner von Skorm schon in der Wüste sind, dann würde es mich nicht wundern, wenn sie schon in Helios herum lungern.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und fuhr fort. „Ich muss den König und seine Fürsten davon in Kenntnis setzen, das Otomor die Hüterin jagt.“
 

„Könnte es dafür nicht schon zu spät sein?“, fragte einer der anderen Wüstenreiter.
 

Valzar legte den Kopf schief und dachte darüber nach. War es vielleicht wirklich zu spät? War Helios nun verloren, nach all den Jahrhunderten des dauernden Widerstandes gegen die imperialen Armeen? Wahrscheinlich war es, das der Verrat längst begonnen hatte, doch aus Erfahrung wusste Valzar, das die Helioser ein tapferes Volk waren und sich niemals so schnell ergeben würden.
 

„Das weis ich nicht“, gestand der junge Zwerg“, aber ich bin dennoch dazu verpflichtet meinen Verbündeten eine Warnung zukommen zu lassen.“
 

„Das verstehen wir, König Drachenhammer“, sagte Nohrasil und erhielt zustimmendes Nicken von seinen Freunden. „Wann gedenkt ihr aufzubrechen?“
 

„Sobald es der Hüterin besser geht.“ Valzar dachte kurz nach und nickte. „Ich halte es für das Beste. Sie soll nicht denken, ich lass sie einfach im Stich.“
 

Nohrasil nickte kaum merklich, bevor er die Arme vor der Brust verschränkte. „Ihr seit solange mein Gast und ich werde euch von einigen meiner Männer zurück zu den Bergen führen lassen.“
 

„Guter Vorschlag. Hab nämlich keine Lust mich in der Wüste zu verlaufen“, brummte Valzar.
 

***
 

Die Tage vergingen nur langsam, während sich Fynn von der Entführung erholte. Lorgren musste sich ebenfalls ausruhen, denn der Kampf mit Raga und die anschließende Verfolgungsjagd hatte ihm arg zugesetzt, obwohl er dies bestritt.
 

Obwohl Amirah aufpasste wie ein Luchs gelang es dem Jerisanen ein ums andere mal sich davon zu stehlen und nach Fynn zu sehen, die seit der schicksalhaften Nacht kaum ein Wort gesprochen hatte oder aus dem Zelt gekommen war.
 

Das Halbork-Mädchen hatte Alpträume von der Nacht, in der sie Tensh getötet hatte, sah deutlich seine blicklosen Augen vor sich, wie sie anklagend anblickten. Fynn wand sich jede Nacht im Schlaf, schlug um sich, während sie unter Tränen darum bettelte, das es aufhören sollte.
 

Sie wusste, das sich ihre Freunde Sorgen um sie machten. Sie las es deutlich in ihren Augen, wenn sie bei ihr waren. Gerne hätte sie die Zwerge und den Wüstenreiter dafür angeschrieen, sie sollten sie nicht so ansehen, doch ihr fehlte die Kraft dazu.
 

Doch langsam erholte sie sich, trotz der plagenden Träume. Sie verließ gelegentlich das Zelt, um etwas Luft zu schnappen, verschwand aber sofort wieder darin, wenn ein Mitglied des Sanddrachenclans ihr gegenübertrat. Ihre Scheu war zurück gekehrt, wirkte auf andere fast wie Angst vor unbekannten Gesichtern.
 

Eines Nachts, es waren fünf Tage seit der Entführung und Tötung Tenshs vergangen, saß Fynn zusammen gekauert auf ihrem Nachtlager, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und leise schluchzend. Wieder hatte sie die Bilder der toten Skormklinge aus den Schlaf gerissen und gepeinigt.
 

Es war zum Wahnsinnig werden. Fynn fühlte sich ermattet, sehnte sich nach traumlosen Schlaf, doch dieser wollte einfach nicht kommen. Den Schlaftrunk des Heilers hatte sie stur abgelehnt, aus furcht eine ganze Nacht lang die Pein durch Tenshs Ableben zu erleben.
 

„Warum?“, fragte das Mädchen in die Stille ihres Zeltes hinein. Einmal mehr hoffte sie, ihre gesamte Reise wäre nur ein böser Traum, aus den sie jeden Moment erwachen würde. Doch dem war nicht so, wusste sie es doch selbst. Alles war real. Der Anschlag Jakobs, Ians und Brokos Tot, die Entführung und das anschließende Ableben Tenshs. Alles war so schmerzhaft, materte ihre arme Seele ohne Unterlass.
 

Wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen, doch störte sie sich nicht daran oder machte Anstallten sie weg zu wischen. Was hatte es für einen Sinn, sich dafür noch Mühe zu geben, wenn die Tränen nächtelang nicht ausblieben?
 

Sehnsüchtig sah sie zum Ausgang ihres Zeltes. Fynn spielte, wie bisher jede Nacht, mit dem Gedanken Lorgren aufzusuchen, um bei ihm Trost zu finden. Sie wusste, die wohltuende Wärme des Anhängers würde sie umfangen, wenn der Mann in ihrer Nähe wäre, würde sie einlullen, bis sie einschlief. Vielleicht, so hoffte das Mädchen, würde sie einen traumlosen Schlaf haben. Einmal war es schon so gewesen, in den Bergen, nachdem die Kameraden Zwergenstein verlassen hatten. Lorgren hatte die ganze Nacht über sie gewacht und ihr waren weitere Alträume erspart geblieben.
 

Nein, entschied sie, einmal wieder. Der Wüstenreiter brauchte seine Ruhe, musste er sich doch vom Shar´Thek erholen. Zudem würde Amirah toben, sollte sie sehen, das beide zusammen das Nachtlager teilen würden. Und Ärger mit der stolzen Wüstenprinzessin wollte sie nicht riskieren, sowie sich dem Jerisanen anzuvertrauen.
 

Was sollte sie nur machen?
 

„Wieder am weinen, kleine Hüterin?“ Die Stimme ließ Fynn aufschrecken und herum wirbeln. Nein, nicht schon wieder, dachte sie entsetzt, als sie die schattenhafte Gestalt sah, die in einer Ecke ihres Zeltes hockte und sie beobachte. Nein, sie wollte nicht wieder kämpfen und gezwungen sein jemanden zu töten. Sie würde es nicht ertragen.
 

„Keine Angst“, meinte sie Stimme, die ihr nun merkwürdig bekannt vorkam. Nun bemerkte sie auch die azurblauen Augen, die sie freundlich musterten. „Von mir musst du nichts zu befürchten haben, mein Kind.“
 

„Drelden“, sagte Fynn und deutlich hörte der alte Mann Erleichterung aus ihrer Stimme heraus.
 

Drelden lächelte und schlürfte hinüber zu Fynn, setzte sich vor sie und tätschelte väterlich ihre Hand. „Du siehst müde aus“, sagte er mitfühlend.
 

„Das bin ich auch“, murmelte Fynn und legte ihren Kopf auf ihre angewinkelten Knie.
 

„Was bekümmert dich, mein Kind?“, fragte der alte Jerisane. Fynn hörte, das er es sich etwas bequemer machte, machte aber keine Anstalten ihn anzusehen. „Du siehst nicht gut aus. Bist etwas blass um die Nase und Augenringe zieren deine übermüdeten Augen.“
 

„Ich habe... einen Menschen umgebracht“, murmelte das Mädchen erstickt und musste ein Schluchzen unterdrücken. Wieder erschien vor ihrem Inneren Auge das Bild von Tensh, wie er sie ungläubig anstarrte, als sie ihm den Dolch, der eigentlich ihr Leben hätte beenden sollen, in die Brust gestoßen hatte.
 

Ihre Überraschung war groß, als sich Arm, überraschend kräftig, um sie legten und in eine sanfte Umarmung zogen. Fynn erstarrte, spürte aber die Wärme des Anhängers, die sie einhüllte. Sie sah auf, sah, das es Drelden war, der sie in die väterliche Umarmung genommen hatte und es brach aus ihr heraus. Das Schluchzen wurde zu einem Weinen. Das Mädchen klammerte sich an die sandfarbene Robe des Alten und presste ihr Gesicht an seine Brust.
 

Fynn weinte sich all ihren Schmerz von der Seele: Den Verlust Ians und Brokos, den Verrat Jakobs, den Mord an Tensh. Sie vergoss für alles ihre Tränen. Ihre ganzer Körper zitterte, ihr Schluchzen war mitleiderregend und schmerzerfüllt.
 

Behutsam hielt sie Drelden fest, der ihr vorsichtig über den Rücken strich.
 

Allmählich beruhigte sich das Mädchen. Drelden ließ sie wieder los. Verlegen hielt Fynn den Blick gesenkt, traute sich nicht, dem alten Mann ins Gesicht zu sehen.
 

Fynn sah auf und sah das väterliche Lächeln auf dem faltigen Gesicht des silberbärtigen Wüstenbewohners. Sie fühlte sich an Berold erinnert und das Heimweh kam wieder auf.
 

„Wie fühlst du dich?“, fragte de alte Mann neugierig.
 

Das Mädchen sah ihn einen Augenblick an, bevor sie antwortet: „Besser... glaub ich.“ Das Weinen hatte ihr gut getan, hatte ihr einen Teil ihres Kummers genommen. Doch das Gefühl, das sie seit ihrem Mord an Tensh ihre Gefühlswelt beherrschte war nicht geringer geworden.
 

Noch immer fühlte sie sich beschmutzt, fühlte sich, als würde sie jeden Moment zusammen brechen. Sie fragte sich, wie Soldaten und Krieger damit fertig wurden, wie sie die emotionale Kälte ertragen konnten.
 

„Weist du“, sagte Drelden und riss sie aus ihren Gedanken, „die Welt hat ihre Licht- und Schattenseiten. Die Völker haben gelernt mit beiden zu leben. Du fühlst dich sicher schrecklich wegen deinen Tat.“ Fynn senkte den Kopf und nickte knapp. „Das ist ganz normal. Das geht uns allen so. Bei mir war es nicht anders, als ich meinen ersten Gegner im Kampf getötet habe.“
 

Erstaunt sah Fynn ihn an.
 

„Ja, in meiner Jugend hab ich getötet“, sagte Drelden seufzend. „Du musst verstehen, dass das Leben in der Wüste sehr gefährlich ist. Wüstenreiter kämpfen praktisch jeden Tag ums Überleben und sind daher auch gezwungen andere Leben zu beenden. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Gegner, einen Straßenräuber, der vorhatte mich zu töten, um an mein Gold zu kommen.“ Der Alte schloss die Augen und strich sich gedankenverloren über den langen Silberbart. „Ich war ein junger Mann voller Tatendrang und wollte was von der Welt sehen. Mit einer Karawane verließ ich meine Heimat und kam irgendwann ins Drachenkönigreich.“
 

„Drachenkönigreich?“, unterbrach Fynn den alten Drelden. Er sah etwas irritiert drein, was Fynn ein zaghaftes Lächeln entlockte. Ohne das Drelden es wollte, brachte er das Mädchen zum Schmunzeln.
 

Als er dies merkte, grinste er breit. „Ja, das Drachenkönigreich. Hast du schon davon gehört?“ Fynn nickte zaghaft. „Aha, verstehe. Noch nicht allzu viel, schätze ich mal. Kein Wunder. Na ja, also wo war ich? Ach ja. Ich war also im Drachenkönigreich und wollte mir die Stadt ansehen. Leider stellten sich dann diese Straßenräuber mir in den Weg und ich war gezwungen zu kämpfen. Ich war zwar der Sieger, aber durch mein Schwert starb ein Mensch. Ich war am Boden zerstört, obwohl ich wusste, das ich mich nur verteidigt hatte. Eine emotionale Kälte erfasste mich. Aber ich hab´s überwunden und erkannt, das ich als Krieger nicht hatte anders handeln können. Und hunderttausend anderen erging es nicht anders. Sie alle haben dies durchgemacht. Einige verkraften es besser, als andere.“
 

Fynn ließ sich die Worte des Alten durch den Kopf gehen. Sie hatte geahnt, das sie nicht alleine damit war, aber das es einen jeden betraf, der einmal zum Töten gezwungen war, überraschte sie schon. Wie naiv sie doch war, klagte sie innerlich und schloss die Augen. Sie hielt sich vor Augen, wie wenig sie doch über die Welt wusste.
 

Schließlich sah sie wieder Drelden an und sagte: „Danke für deine Worte, Drelden. Ich glaube, ich verstehe, was du mir sagen willst.“
 

„Das höre ich gerne.“ Er lächelte zufrieden. „Aber lass das Thema nicht ruhen, hörst du? Setze dich weiter damit auseinander. Zieh dich nicht zurück, sondern hol dir Rat bei deinen Freunden und Gefährten. Sie alle waren auch einmal in dieser Lage. Ich hoffe, das du meinen Rat befolgen wirst.“
 

Fynn zögerte eine Antwort hinaus, doch schließlich nickte sie. „Ich werde mich an deine Worte halten, Drelden“, versprach sie. „Ich danke dir.“
 

„Jetzt hör aber auf“, kicherte der Alte. „Ich werde sonst noch ganz verlegen. Und nun, schlaf etwas. Du musst wieder zu Kräften kommen und Schlaf ist ein guter erster Schritt dazu.“
 

***
 

Obrikhan beobachte den Imperator, während dieser auf einem der ausladenden Balkone des Thronsaals stand und die Dächer Otomors schweigend beobachte, sich die Worte des alten Priesters durch den Kopf gehen ließ.
 

Der Oberste der Bruderschaft des Skorms hatte ihn von den bisherigen Erfolg der Jagd nach der Hüterin berichtet und obwohl Sadrojor schwieg, wusste der alte Mann, das der Herrscher des Imperiums aufgebracht war.
 

Obrikhan wünschte sich einen der berühmten Wutausbrüche seines Imperators, denn er wusste, wo er da bei ihm war. Ein schweigsamer Sadrojor Schädelmeister II. war genau so gewöhnlich, wie ein schwatzhafter gelehrter Oger: ein Ding der Unmöglichkeit!
 

Der Imperator wand sich dem Obersten zu und blickte ihn mit seinen mitternachtsblauen Augen an. „Deine Nachrichten sind nicht sehr zufriedenstellend, Obrikhan“, sagte der in die Jahre gekommene Krieger und schlenderte gemächlich zu seinem Thron hinüber. Er setzte sich in den aus dem dunklen Gestein des Schwarzsteingebirges gefertigten Thron und legte die Hände auf die gepolsterten Armlehnen.
 

„Verzeiht, mein Imperator“, sagte der faltige Mann und verneigte sich mit einiger Mühe. „Die Klingen Skorms sind der Hüterin dicht auf den Fersen, doch das Miststück ist glatt wie ein Aal und wies sich immer wieder unserem Griff zu entziehen.“
 

„Entschuldigungen vermögen es nicht, mich zu besänftigen“, erwiderte Sadrojor bedrohlich. „Ich will, das die Hüterin stirbt. Und das schnell!“ Obrikhan nickte ergeben. „Sie sucht das Herzschwert und sobald sie es in Händen hält, stellt sie eine Bedrohung für die Macht Otomors dar. Es darf nicht so weit kommen.“
 

„Meine Brüder und ich werden dies zu verhindern wissen“, beeilte sich Obrikhan zu sagen.
 

„Bisher wart ihr aber nicht sonderlich erfolgreich dabei, wie es scheint“, meinte Sadrojor sarkastisch.
 

„Ich habe bereits zwei der besten Meuchler der Skormklingen entsandt“, erzählte Obrikhan, „um die Hüterin zu finden und zu töten. Sie kennen keine Gnade und werden ihre Aufgabe erfolgreich beenden. Ihr bracht nicht besogt zu sein, mein Imperator. Diese beiden kennen ihr Handwerk besser, als jeder andere ihres Ordens.“
 

Sadrojor machte eine wegwerfende Handbewegung. Dem obersten Priester der Bruderschaft des Skorms war bekannt, das der Herrscher des Otomorischen Imperiums keine allzu große Meinung von den Klingen Skorms hatte. In seinen Augen waren sie ein Haufen von fanatischen Meuchlern und Halsabschneidern, die es nicht wert waren, das man sie überhaupt erwähnte.
 

„Ich hoffe, das diese beiden Erfolg haben werden, sonst sehe ich mich gezwungen, über das Weiterbestehen der Klingen Skorms nachzudenken.“ Deutlich hörte Obrikhan die Drohung hinter den Worten des Imperators und er glaubte, das er seine Drohung wahr machen würde.
 

„Ja, mein Imperator“, erwiderte der Hohepriester und verneigte sich unter größter Mühe.
 

<<<:>>>

Epilog

Valzar stand neben Lorgren, der mit regungsloser Miene dabei zusah, wie die Männer Nohrasils die Pferde mit Proviant und neuer Ausrüstung beluden. Beide waren noch etwas konfus wegen Fynns plötzlichen Tatendrang. Seit einigen Tagen brannte das Mädchen regelrecht darauf weiter zu reisen, um ihre Mission zu erfüllen.
 

Noch vor wenigen Tagen war die Halbork in sich gekehrt gewesen, hatte niemanden an sich heran gelassen. Alle hatten geglaubt, das sie nie ihre Tat überwinden würde, doch sie hatten sich alle geirrt. Fynn war plötzlich bei Lorgren und den Zwergen erschienen und hatte ihnen mitgeteilt, das sie sofort weiter reisen mussten, wenn sie das Herzschwert finden wollten.
 

Zudem kam, das Valzar ihnen mitgeteilt hatte, das er zurück nach Helios reisen wollte, um sein Volk vor den Klingen Skorms warnen wollte. Erst war Fynn darüber entsetzt gewesen, hatte sogar versucht, den Zwergenkönig davon abzuhalten, so bald abzureisen, doch Valzar hatte erklärt, das es seine Pflicht als König wäre, sich um sein Volk zu kümmern. Das Mädchen hatte etwas widerwillig zugestimmt.
 

Flint war auf seinen König zugekommen und hatte gefragt, wann sie aufbrechen würden, doch der jüngere Bärtige hatte ihm gesagt, das er bei Fynn blieben solle und zu Valzars eigenen Überraschung schien Flint damit sehr zufrieden zu sein.
 

Valzar warf einen Blick zu Lorgren, der, wie zur Salzsäule erstarrt, da stand und sich nicht rührte. Er Wüstenreiter war wie gewöhnlich die unterkühlte Krieger, wie der Zwerg ihn kannte.
 

„Wann wirst du aufbrechen?“, fragte Lorgren und überrascht den Rotbärtigen damit.
 

„Wohl morgen in aller frühe, denke ich“, brummte der Zwerg und richtete seinen Blick wieder auf das Treiben vor sich. „Will nicht zu viel Zeit verschwenden und hier hält mich sowieso nichts.“
 

Der Jerisane nickte knapp. Lange schwiegen sie, bevor Lorgren fragte: „Wirst du in Sandstein vorbei schauen?“
 

„Nein.“ Valzar schüttelte den Kopf. „Alleine ist das selbst für einen Zwerg zu gefährlich. Könnte höchstens ein Berserker überstehen.“ Er sah zu Lorgren hoch, der dieses Mal seinen Blick erwiderte. „Hast da wohl an Broko gedacht, wie?“
 

„Vielleicht“, erwiderte der Wüstenreiter ohne eine Miene zu verziehen.
 

„Würde den alten Steinbeißer sicher rühren zu wissen, dass sich ein Jerisane Gedanken um sein Seelenheil machen würde.“ Valzar kicherte amüsiert. „Der alte Knabe würde Bartax´s heilige Schmiede zusammen brüllen, statt sich zu freuen.“
 

„Vielleicht reicht das, um euren Gott davon zu überzeugen, dass er unter den Lebenden besser aufgehoben wäre, als bei ihm“, erwiderte Lorgren mit einem Anflug von Humor, der Valzar zum Lachen brachte.
 

„Ja, vielleicht“, meinte Valzar, während er sich die überraschten Fratzen der Orks vorstellte, würde Broko mitten unter ihnen wieder zum Leben erwachen. Die armen Biester.
 

Fynn kam zu den beiden hinüber geeilt. Sie hatte sich in ein sandfarbenes Gewand gehüllt, das sie vor der heißen Sonne schützen würde. Sie war voller Tatendrang und schien es kaum erwarten zu können aufzubrechen. Lorgren hatte ihr bereits erzählt, das sie in die Hauptstadt, Tenosh hieß sie, reisen würden, wo sie vor weiteren Übergriffen fürs erste sicher wären.
 

Das Mädchen sah Valzar direkt an und der Zwerg konnte deutlich sehen, dass sie um ihre Beherrschung kämpfte. Sie wollte immer noch, dass er mit ihnen kam, doch sie war sich bewusst, dass seine Sippe ihn ebenso brauchte, wie sie.
 

„Und?“, fragte der Zwergenkönig und stemmte die Hände in die Hüften, „alles fertig?“
 

„Ja.“ Fynn nickte. „Wir könnten jeden Moment aufbrechen, glaub ich.“ Sie wollte noch etwas sagen, hielt sich aber zurück.
 

Valzar konnte sich denken, dass sie einen neunen Versuch hatte starten wollen, ihn davon zu überzeugen, mit ihnen zu kommen. Gut, das sie es nicht tat, denn Valzar wusste nicht, ob er ihrer Bitte jetzt wiederstanden hätte.
 

„Dann sollten wir keine Zeit vergeuden“, sagte Lorgren. „Wo steckt Flint?“
 

„Hier bin ich“, hörten sie den alten Zwerg rufen. Als sie ihn erspähten, kam er, mit Nohrasil und Amirah im Schlepptau, auf die drei zu. Der Clanführer und seine Tochter hatten sich in schlichte weiße Roben gewandet.
 

„Ihr wollt aufbrechen?“, fragte Nohrasil unnötigerweise. Er bedachte die Gefährten mit bedauerndem Blick. Er hatte ihnen angeboten, noch einige Tage im Schutz seines Lagers zu verbringen, doch sie hatten das Angebot freundlich abgelehnt und der Clanführer hatte es akzeptiert.
 

Lorgren nickte. „Ja, wir haben einen langen Weg vor uns und wollen ihn schnell hinter uns bringen“, sagte er. Er warf Amirah einen kurzen Blick zu.
 

Valzar merkte, dass die Prinzessin nicht sehr angetan davon war, das Lorgren so schnell wieder aus ihrem Leben verschwand. Menschen waren doch wirklich seltsame Gesellen, dachte der junge Zwerg. Vielleicht sollte er den Rat der anderen befolgen und einige Jahre unter den Menschen Leben, um ihre Sitten etwas besser zu verstehen.
 

„Nun, dann wünsche ich euch eine ruhige und gefahrlose Reise“, sagte der ältere Jerisane und klopfte Lorgren freundlich die Schulter. „Ich werde zu den Winden beten, sie sollen euch beschützen.“ Kurz darauf sah er Fynn an und legte ihr beide Hände auf die Schultern. Fragend erwiderte das Mädchen seinen Blick. „Dir wünsche ich viel Erfolg auf deiner Suche nach der Hoffnung aller Völker. Mögen dich alle guten Götter vor dem Bösen in dieser Welt beschützen und sicher an dein Ziel geleiten, Hüterin des Herzschwertes.“
 

„Ich danke euch“, sagte Fynn etwas verlegen, dennoch dankbar. Nohrasil legte ein freundliches Lächeln auf und drückte ihre Schultern, bevor er zurück trat. „Mögen euch allen die Winde wohlgesonnen sein. Ich hoffe, das wir uns bald wiedersehen werden.“
 

Valzar trat zu dem Clanführer und verschränkte die Arme vor der stämmigen Brust. „Das gilt auch für mich“, brummte der Zwerg. „Möge Bartax mächtiger Hammer über euch wachen und alle Feinde zermalmen.“ Er warf Flint einen strengen Blick zu. „Pass mir gut auf das Mädchen auf, alter Freund.“
 

„Erwartest du von mir etwas anderes, mein König?“, fragte der Bärtige und grinste breit, das die Zähne nur so blitzten. „Du kannst dich auf mich verlassen, mein König. Ich achte auf Fynn, als sei sie mein eigen Fleisch und Blut.“
 

„Ich nehme dich beim Wort“, sagte der Zwergenkönig streng.
 

Valzar sah die Gefährten einen nach dem anderen an. Er war bisher nur wenige Zehntage zusammen gereist, aber dennoch waren ihm diese drei Gefährten ans Herz gewachsen. Lorgren, der stets ernste Wüstenreiter, Fynn, das schüchterne Halbork-Mädchen und Flint, der alte Krieger. Er würde sie vermissen. Doch wenn die Götter es gut mit ihm meinten, würde er schon bald wieder an ihrer Seite stehen und mit ihnen zusammen kämpfen.
 

Überrascht blickte er drein, als Fynn vortrat und ihm einen Kuss auf die Stirn gab. Die anderen sahen ebenfalls überrascht aus. „Ich vermisse dich jetzt schon“, sagte Fynn und ging zu den anderen zurück.
 

Valzar kratzte sich verlegen am haarigen Kinn und merkte, das Flint amüsiert gluckste. Der Blick, den er dem anderen Bärtigen zuwarf sollte eigentlich dafür sorgen, dass dieser aufhörte sich über ihn lustig zu machen, doch leider erzielte er nicht die gewünschte Wirkung.
 

Lorgren gab den anderen ein Zeichen und half Fynn beim Aufsitzen. Sobald alle im Sattel saßen, warf der Wüstenreiter dem Zwergenkönig einen ernsten Blick zu. „Wir werden uns wiedersehen, Zwerg“, sagte er.
 

Der junge Zwerg erwiderte seinen Blick und nickte. „Das werden wir, Mann aus der Wüste.“
 

Ein leichtes Lächeln erschien auf den Zügen des Wüstenreiters, bevor er seinem Hengst die Sporen gab und davon schoss. Fynn winkte ihm und den anderen zu, bevor sie, in Begleitung von Flint, dem Jerisanen in die Wüste folgte.
 

Valzar sah ihnen nach, bis sie außer Sicht waren. „Passt bloß auf euch auf“, murmelte er, bevor er sich abwand und zu seinem Zelt ging. Abschiede waren einfach nichts für ihn und grimmig wischte er eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel weg. Verdammt! Da musste ihm ein Sandkorn ins Auge geflogen sein. Verdammte Wüste noch mal.
 

<<<ENDE>>>



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von:  Aviendha
2012-09-16T18:52:21+00:00 16.09.2012 20:52
Fynn tut mir echt leid. Was die in den letzten Tagen durchmachen musste... :(
Aber zum Glück wird's Ian ja bald besser gehen. ^^ Dachte ich mir doch, dass der so schnell nicht stirbt. Nya, in Fantasy-Geschichten glaube ich eh erst, dass jemand wirklich tot ist, wenn die Leiche gefunden wurde. :D
Deine Beschreibung der Kämpfe finde ich top gelungen. Du hast ein gutes Gespür dafür, wann du den Fokus auf einen anderen Charakter verschiebst.
Bin gespannt, wie es weiter geht. ^^
Von:  Aviendha
2012-09-16T11:47:12+00:00 16.09.2012 13:47
Du hast einen echt spannenden Schreibstil! Die Geschichte hat mich schon im Prolog gefesselt. Total super, wie du eine komplexe, in sich glaubhafte Welt erschaffst, ohne den Leser gleich mit den Informationen zu überfrachten. :) Auch die Charaktere sind interessant. Eine Halborkin als Heldin! Das liest man wirklich nicht alle Tage. :D
Ich freu mich aufs Weiterlesen. ^^
Von:  Nisichan
2010-09-25T13:19:12+00:00 25.09.2010 15:19
Also was soll ich sagen ^^ Ichbin schon mal sehr froh, dass du Ian am Leben gelassen hast, aber ihn dan Niemand nennen ... O_O irgendwie finde ich den Namen etwas böse. Aber naja. Der Leser weiß ja wer er ist.
Deine Zwerge mag ich immer mehr. Borko ist toll ^^ Und das sie die arme Fynn betrunken gemacht haben, war ja auch ein gutes Stück, aber höchstwahrscheinlich wären die Zwerge beleidigt gewesen wenn sie nichts getrunken hätte. So musste der gute Lorgren endlich mal Seelsorge spielen und ihr Händchen halten ^^ Ja so ein knallharter Krieger hat es auch nicht leicht. Bin gespannt wie es weiter geht und was du mit Magus Ian vor hast ^^
Von:  Nisichan
2010-09-13T23:22:17+00:00 14.09.2010 01:22
T___T Ian! Du gemeiner Schuft! Mir sowas anzutun! Mich einfach zum heulen zu bringen. Was fällt dir ein. Hast du ein Glück, dass du ihm den Magus geschickt hast, sonst hätte ich dir die Ohren lang gezogen >.<
Aber ich muss schon sagen, deine Kampfabhandlung war wirklich schön beschrieben, sehr dynamisch, hat mich voll mitgezogen. Sowas kannst du öfter bringen. Tust du höchstwahrscheinlich auch ^^ Deine Zwerge sind toll. Ich mag es sowieso wenn du Zwerge mit ins Spiel bringst ^^
Ich freue mich schon aufs nächste Kapitel.
Von:  Nisichan
2010-09-11T16:30:40+00:00 11.09.2010 18:30
Hm, du hattest mich ja schon vorgewarnt. O_O Habe jetzt auch gleich Kapitel 2 hinterher verschlungen. Und ich muss schon sagen, nicht übel. Das Jakob was im Schilde führt konnte ich mir ja denken, aber um den Holzfällerjungen tut es mir echt leid. Einen Tritt in die Eier und ein oder zwei Kinnhaken hätte er schon verdient gehabt, aber einen Dolch im Rücken <_> da war ich echt überrascht. Ich konnte mir auch schon denken, dass dein einarmiger Elfenköpfer das Mädchen retten würde, du hattest da ja was erwähnt. Da kann Fynn echt froh sein, den Typen auf ihrer Seite zu haben ^_^ Schön fand ich Ians Entscheidung! Ihn mag ich ja, wäre schade wenn er nicht mitgekommen wäre. Was mir ein wenig gefehlt hat war ein bißchen mehr Theatralik ^^ Fynn hat das alles viel zu schnell verkraftet, finde ich. Jedes Mädchen in ihrem Alter hätte einen totalen Nervenzusammenbruch gehabt! Aber egal, ist sie halt besonders tough! ^^ So genug gemeckert. Muss weiter lesen.
Von:  Nisichan
2010-09-11T01:23:21+00:00 11.09.2010 03:23
Mensch Dodo O_O ich wollte eigentlich ins Bett gehen, aber ich musste das erste Kapitell unbedingt noch zu Ende lesen. Ich lese ja schon lange deine Geschichten und verschlinge sie alle regelrecht, aber hierbei ist es echt was anderes. Du hast dich wahnsinnig verbessert. Dir passieren kaum noch Rechtschreibfehler und Wortwiederholungen und du hast einen Errzählstil, der einen einfach mitreißt.
Ich finde es bewundernswert, wie du es geschafft hast in nur einem Kapitel so viele verschiedene Charaktere erscheinen zu lassen und ihnen auch noch Tiefe statt nur einem Gesicht zu geben. Du bringst mich echt dazu mit jedem Charakter mitzufühlen. Deine Heldin ist dir sehr gelungen, obwohl ich sie für meinen Geschmack etwas zu jung finde. Ian finde ich furchtbar liebenswert, sowie den Rest seiner Familie. Und ich kann nicht leugnen, dass ich dank deinen Beschreibungen auch Jakob scharf finde. ^_^ Ist der Typ ein Halbelf? Soviel Schönheit gehört doch sonst verboten. Aber ich traue der ganzen Sache nicht, das läuft alles zu glatt mit Fynns Traumtyp. Ich hoffe, sie hört auf Ian und passt auf sich auf. Deinen "einarmigen Banditen" finde ich auch sehr interessant, du weißt ja, ich mag den grummeligen Kämpfertypen ^_^
So, zum Abschluss bleibt nur noch zu sagen, wenn du diese Qualität beibehälst, dann könnte die Story was ganz Großes werden. Und nun auf zum nächsten Kapitel.
Von: abgemeldet
2008-09-11T10:21:26+00:00 11.09.2008 12:21
Untypische Heldin, aber tolle Idee^^ Eine Halb-Ork-Maid die gut aussieht ist wirklich ungewöhnlich, aber warum nicht? Wird sicherlich noch sehr interessant.

Diesem Jakob und seinem Gefährten traue ich nicht recht, aber wir werden sehen^^ Ich finde die Charaktere bisher recht gut gelungen, wenn auch etwas zu platt, aber das gehört mit zu deinem Stil denke ich. Rechtschreibung und Grammatik sind gut, da gibt es nichts zu meckern.

Wofür du Lob verdienst ist, dass du es schaffst das Gefühl einer beinahe typischen Fantasy-Welt rüber zu bringen, ohne es kitschig wirken zu lassen, großes Kompliment dafür. Und auch das Erzähltempo finde ich sehr, sehr schön, du lässt dir Zeit damit zum Punkt zu kommen und schreibst lange, ausführliche Kapitel^^
Von: abgemeldet
2008-09-06T09:47:07+00:00 06.09.2008 11:47
Ich bin begeistert, ehrlich. Du entführst den Leser in eine andere Welt ohne sie damit zu erschlagen, was wenigen gelingt. Man erfährt etwas über Politik, die Welt und die Götter ohne dass es zu viel auf einmal wird, sehr schön gemacht^^

Und ich bin ganz gespannt wer der Träger des Males des Herzschwertes ist. Die Perspektive ist sehr schön gewählt, also aus der Sicht des Imperators, gefällt mir gut. Grammatik-Fehler und Rechtschreibfehler habe ich nicht gefunden, ich hab aber auch nicht wirklich gesucht, nur gelesen^^

Ein sehr schöner Prolog der zum Weiterlesen anregt, und genau das werde ich nun auch tun^^


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