Hoffnung zu Asche von matvo (Schatten und Licht, Band 2) ================================================================================ Kapitel 7: Öffnen der Käfigtür ------------------------------ Merle atmete bewusst tief durch, als sie vor dem Gästezimmer stand, in dem Allen eingeschlossen war. Wie allen seiner Kameraden hatte man ihn und den Unterhändler in Einzelquartiere untergebracht, die eigentlich viel zu gut für Gefangene waren, doch Hitomi hatte darauf bestanden, im Namen der Schadensbegrenzung. Damit die Wache vor dem Zimmer dem Zögern Merles nicht zu viel Beachtung schenkte, trat sie schnell und mit einer Maske der Entschlossen über ihrem Gesicht ein. Dass sie vielleicht hätte anklopfen sollen, fiel ihr erst einen Moment später ein. Allen saß im Sessel des kleinen, aber komfortablen Zimmers und las ein Buch. Mit wenig Interesse schaute er auf, sprang dann aber auf, nachdem er den Eindringling erkannt hatte. Streng nach Protokoll nahm er die ihm angebotene Hand und deutete einen Handkuss an. „Guten Tag, euer Hoheit. Euer Besuch ehrt mich.“, begrüßte er Merle. Angesichts seiner Floskel überfiel sie eine bedrückende Melancholie. Sie funkelte ihn wütend an. „Eine Ehre, die einem Aggressor eigentlich nicht gebührt. Schätzt euch glücklich, dass meine Krallen eurer Kehle fern bleiben.“ Zufrieden beobachtete sie, wie Allen schluckte. Dieses Treffen musste streng nach Drehbuch laufen, wenn es die richtige Wirkung entfalten sollte. „Ich habe euer Schwert dabei.“, verkündete sie das Offensichtliche und zeigte ihm ihre linke Hand. Fordernd hielt sie es vor seiner Nase. „Fasst es an!“, verlangte sie. Allen war verwirrt. „Verzeiht, euer Hoheit, aber ich bin ein Gefangener. Wenn ich das tue...“ Angesichts der Erkenntnis, dass Allen ihr tatsächlich nicht vertraute, wurde ihr Herz um weitere Tonnen schwerer. „Tu es oder ich helfe nach!“, brach ihre Stimme wütend aus ihr heraus. Zögernd kam Allen der Drohung nach und berührte mit der Linken die Scheide. Merle schloss ihre Augen und begann ihren stummen Dialog. Wächter, wie ihr wisst, bin ich Merle de Farnel und ich weiß, dass ihr mich versteht. Antwortet bitte. Ich muss mit euch reden. Sie versuchte es noch ein paar Minuten auf die sanfte Art und Weise. Währenddessen rätselte Allen über das Mädchen, dass scheinbar wehrlos vor ihm stand. Es sollte keine Schwierigkeit für ihn sein, jetzt das Schwert zu ziehen und... Eilig brach er diesen Gedankengang ab. Jetzt reicht es!, ließ Merle der Seele im Schwert wissen. Redet mit mir oder ich nehme euren Stein und versenke ihn im Meer. Dieses Versprechen zeigte Wirkung. Plötzlich veränderte sie das Bild vor ihrem inneren Augen. Aus einem schwarzen Vorhang wurde eine Stadt aus weißen Stein, Terrassen und unzähligen Säulen, die die makellosen Gebäude umgaben. Ihr Blick flog von der Terrasse, auf der sie stand, über die Dächer einem Abhang hinab zu einem strahlend blauen Meer unter einem Himmel mit wenigen, fast schon winzigen blauen Wolken und einer strahlenden Sonne. Zwischen Meer und Stadt war ein schneeweißer Strand, der von hohen, schroffen Klippen eingerahmt wurde. „Wolltest du nicht reden?“ Einen Moment aus der Bahn geworfen wandte sich Merle der Frau zu, die sie angesprochen hatte. Bis auf das Alter entsprach sie genau dem, was Merle bei Allen erwartet hatte. Sie hatte lange, blonde Haare, helle Haut, die sie unter einer weißen Tunika verbarg, und ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Nur das Feuer in ihren Augen verriet Merle, dass sie ihr nicht wohl gesonnen war. Die Frau saß an einem kleinen, mit Teegedeck beladenen Tisch und nahm dabei den einzigen Stuhl in Anspruch, der da war. „Bitte verzeiht die Art meines Eindringens, gnädige Frau,“, entschuldige sich Merle aufrichtig. „aber ich glaube, ich habe ein Recht darauf zu erfahren, wer meinen Freund für sich beansprucht.“ „Und? Was denkt ihr, nun da ihr mich gesehen habt?“, erkundigte sich die Frau desinteressiert. „Zeigt ihr ihr euch so, wie ihr wart, oder verarscht ihr mich?“ „Mein Güte, an eurem Ausdruck müsst ihr feilen, euer Hoheit, oder euer Bruder wird keine Wahl haben, als euch an den erst Besten verschachern.“ „Ihr habt meine Frage nicht beantwortet.“ „Mein Avatar sieht so aus, wie ich mich in Erinnerung habe.“, behauptete die Frau. Plötzlich stellte sie mit Merle Augenkontakt her, woraufhin die Prinzessin das Gefühl hatte durchleuchtet zu werden. „Ihr glaubt mir nicht. Ihr wisst, dass ich in meinem Haus alle Eindrücke kontrolliere. Hitomi hat es euch erzählt.“ Merle schnappte nach Luft. Hatte sie zu laut gedacht? „Nein, das ist meine Gabe.“, antwortete die Wächterin auf Merles nicht gestellte Frage. „Ich kann von allen Lebewesen auf Gaia die Gedanken empfangen. Kein noch so kleine Welle geht im Meer verloren und ich spüre sie alle.“ „Selbst wenn die Urheber sich abschotten?“, staunte Merle. „Selbst dann. Bisher noch keiner eine Barriere errichtet, die seine Gedanken vollständig absorbiert. Ich muss nur genau zuhören.“ „Dank euch hat Allen Gezeichnete ausmachen können.“ „Ja, ich nehme seine Wahrnehmung und werte sie auf eine Art und Weise aus, zu der er nie in der Lage sein wird.“, profilierte sich die Wächterin. „Weiß Allen von seinem Glück?“, erwiderte Merle säuerlich. „Nein, bisher hielt ich es nicht für notwendig, mich zu offenbaren.“ „Jetzt ist es das aber! Immerhin war das Schwert, in dem euer Seelenstein steckt, im Besitz von Trias. Das ist Grund genug für mich, euch ins Meer zu schmeißen.“ „Warum befragt ihr mich stattdessen nicht einfach zu meinem Verhältnis zu dem Mann.“, wunderte sich die Frau. „Weil ich eurer Antwort nicht traue. Ich habe keine Garantie, dass ihr mir die Wahrheit sagt.“, begründete Merle eiskalt. „Aber Allen Shezar soll mir glauben?“ „Ihr seid in seinem Schwert. Es ist seine Entscheidung. Da ihr euren Wirt nicht kontrollieren könnt, ist es auch wirklich seine. Wenn er mir vor seiner Abreise nicht das berichten kann, was ihr mir gerade erzählt habt, muss ich davon ausgehen, dass er seine Wahl mit unzureichenden Information getroffen hat, und mache meine Drohung wahr. Dann könnt ihr für alle Ewigkeit in der Dunkelheit euer lebloses Dasein fristen.“ „Was ist so schlecht daran nicht alles zu wissen?“, fragte sich die Frau, während sie an ihrem Tee nippte. „Euch bereitet dieser Zustand jedenfalls kein Kopfzerbrechen.“ „Wie bitte?“, hakte Merle nach. „Erklärt euch!“ „Euch hat niemand etwas gesagt?“ Verwundert schaute die Wächterin auf. „Vor einem Moment glaubte ich noch, ihr würdet nur einfach nicht mehr daran denken.“ „Woran?“ „Dass euch etwas fehlt. Aus eurem Kopf kommen Gedanken, die nicht die euren sind. Jedenfalls schenkt euer Körper ihnen keine Beachtung. Dennoch sind sie da.“ „Was für Gedanken?“ „Unverständliche. Da diese Gedanken nicht aus eurem Bewusstsein kommen, kann kein Bewusstsein ihnen eine semantische Bedeutung zuordnen.“ „Warum habt habt ihr geglaubt, ich wüsste davon?“, erkundigte sich Merle beunruhigt. „Sowohl Hitomi als auch Varie sollte euer Zustand nicht entgangen sein. Da Fräulein Hitomis Spezialität Erinnerungen sind, sollte sie euch sogar noch mehr sagen können.“, erklärte die Frau. Enttäuscht und wütend ballte Merle ihre Hände zu Fäuste. „Ich hab eine letzte Frage.“, verkündete sie. „Könnt ihr Dilando aus Serena vertreiben?“ „Ihr meint, ob ich Dilando töten kann, ohne dass die Frau stirbt.“, verbesserte die Wächterin. „Nein, kann ich nicht, und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun.“ „Warum nicht?“ „Also doch nicht die letzte Frage.“, erwiderte die Frau amüsiert. „Dilando mag ein schrecklicher Mensch sein, doch auch er hat seine guten Seiten. Er kann dieser Welt noch so viel geben und viel mehr noch von ihr empfangen. Ich könnte es ebenso wenig übers Herz bringen ihn zu töten wie Serena.“ „Dilando und Gute Seiten? Niemals!“, schrie Merle ungläubig. „Er hat den Respekt seiner Männer nicht nur durch Schläge errungen.“, belehrte die Frau die aufgebrachte Prinzessin. „Wenn ihr Dinge nur aus einem Winkel betrachtet, werdet ihr nie das Ganze sehen.“ „Warum habe ich nur das Gefühl, dass ihr von Hitomi klaut?“ „Sie und ich hatten die gleichen Lehrer.“ „Pah, hoffentlich wird sie nie so wie ihr!“, wünschte sich Merle genervt. „Interessant.“, kommentierte die Frau. „Was stimmt an mir nicht?“ „Bis auf das Offensichtliche?“, fragte Merle rhetorisch. „Dass ihr die Leiden aller Wesen seit Jahrhunderten spüren könnt und dabei nicht irre werdet, heißt doch, dass ihr eure Sinne davor verschließt. Hitomi bringt es nicht über ihr Herz das zu tun, obwohl sie die Stimmen dieser Welt ebenfalls hört.“ „Die Freude dieser Welt überwiegt das Leiden.“, widersprach die Wächterin. „Für jeden, der um einen Toten trauert, gibt es einen, der sich über ein neugeborenes Kind freut. Zugegeben, es ist schwieriger die Freude dieser Menschen wahrzunehmen, weil jeder sie für sich behält und nur mit wenigen teilt, während die anderen ihr Leid heraus schreien, aber man kann lernen auch leise Klänge wahrzunehmen. Ich muss nicht wegsehen, um mich an Gaia zu erfreuen.“ „Dann hatten die Hebammen während der Schlacht um Sarion fiel zu tun.“, schlussfolgerte Merle sarkastisch. „Statt darüber zu jammern, wie schlecht es Menschen auf dieser Welt ergeht, solltet ihr hinaus ziehen und ihnen helfen.“ „Keine Angst, ich werde gehen, doch zuvor hab ich ein Anliegen.“ „Nun, es sich anzuhören, kann ja nicht schaden.“, erwiderte die Wächterin trocken. „Ich werde gleich die Bindung zu Allen offiziell brechen. Sobald ich eine geeignete Unterkunft gefunden habe, werde ich außerdem seine Schwester entführen.“, verkündete Merle entschlossen. „Wenn es geschehen ist, erzählt ihm, dass ich es war.“ „Eure Bitte ist umsonst. Er wird es auch so wissen.“ „Wenn ihr meint.“ Merle löste in der realen Welt ihre Hand von der Scheide. Die Welt vor ihrem inneren Auge brach zusammen und sie sah wieder in ihre Augenlider, die sie sogleich anhob. Allen starrte sie noch immer unschlüssig an. Auf Abstand bedacht trat sie zurück. „Ihr könnte das Schwert behalten. Morgen früh werden der Botschafter und eure Kameraden auf die Katzenpranke verlegt und nach Pallas geflogen. Ihr werdet deren Eskorte sein und in eurem Guymelef neben dem Schiff fliegen. Das Fräulein Hitomi hat die Befehlsgewalt für diesen Flug. Bis zur Einsatzbesprechung morgen wartet bitte hier in diesem Zimmer. Guten Tag, Himmelsritter.“ Merle spürte wie ihre Fassade zu bröckeln begann und wandte sich zu Tür, als Allens Stimme sie zurückhielt. „Warte, Merle, bitte hör mich an!“ Es bedarf aller Kontrolle, die sie aufbringen konnte, nicht dem Verlangen nachzugeben, sich um zu drehen und in seine Arme zu werfen. „Sei still!“, befahl sie herrisch und flüsterte dann. „Es war nur ein Traum.“ Aufgewühlt stürzte sie aus dem Gästezimmer und schlug hinter ihr die Tür zu. Nur am Rande bekam sie das Pochen des Holzes hinter mit, als Allen dagegen trat und schlug. Fast hätte sie ihren kraftlosen Beinen nachgegeben, doch sie bemerkte gerade rechtzeitig die Anwesenheit der Wache. Sie nahm ihre letzten Reserven und torkelte zu ihren Gemächern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)