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Ein Gedanke

Vampirstory
von

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Tradition

„Wieso musste ich mitkommen?“, fragte ich nun das tausendste Mal genervt. Das Auto sauste leise über die einsame Straße, während wir uns stritten. Susan drehte sich auf dem Beifahrersitz zu mir um.

„Monica, bitte...“,setzte sie an. Obwohl sie ebenfalls total genervt von meiner Nörgelei war, blieb ihr Gesicht immer noch weich. Keine Stressfalte, kein verzogener Mund. „So ist die Tradition.“, meinte sie mit sanfter Stimme. Ich stöhnte auf und klatschte mit der Hand gegen meine Stirn.

„Die Tradition! Die Tradition!“, äffte ich sie nach und überdrehte dabei die Augen. Die karge Landschaft, rauschte noch immer monoton neben uns vorbei. Wer diese Tradition erfunden hat, sollte erschossen werden. Jedes Jahr dieselbe Tortur. Für nichts und wieder nichts.

„Jetzt hör auf zu nerven!“, ging Alexej dazwischen und guckte argwöhnisch in den Rückspiegel. Er war immer am schnellsten auf 180, aber daran hatte ich mich mit der Zeit gewöhnt. „Du bist doch durstig?“, fragte er nun in milderem Ton. Damit hatte er ins Schwarze getroffen. Es stimmte. Ich hatte schon zwei Wochen nichts mehr getrunken. Das schien wirklich das oberste Limit zu sein. Dem konnte ich nichts entgegensetzen. Von da an schwieg ich und hoffte, dass wir bald da sein würden.

Vielleicht sollte ich mal etwas zu meiner Wenigkeit sagen. Ich heiße Monica DuSolej und bin, glaube ich, so um die 115 Jahre alt. Richtig gelesen, hundertfünfzehn Jahre. Ich weiß es aber nicht so genau, weil ich ab neunzig aufgehört habe zu zählen. Und für einen Vampir ist Zeit eines der Dinge, die am wenigsten zählen. Ich wurde in Frankreich geboren, lebe aber seit meinem fünften Lebensjahr in Österreich. Wie und wann ich in einen Vampir verwandelt wurde? Tja, das wüsste ich auch gerne. Das einzige was ich noch weiß war, dass es sehr, sehr kalt war, es schlimmer als der Tod war und dass ich jetzt für immer 16 bleiben werde. An sich ist das ja was Gutes, ewige Jugend. Aber auf Dauer ist es wirklich nervtötend. Ich komme nicht ohne Ausweis in die Discos, nicht dass ich heiß darauf wäre, oder bekomme Alkohol.

Das Schlimmere daran ist aber immer noch der Durst. Ewiges Verlangen und Verzehren nach Blut. Bis heute habe ich mich nicht damit abgefunden und es wird mir bestimmt immer widerstreben. Es ist der menschliche Verstand, der mich daran hindert, es zu akzeptieren. Wie eine Barriere steht er mir jedes Mal gegenüber, wenn der Durst fast unerträglich wird. Aus diesem Grund nehmen die meisten Vampire auch gerne Vorlieb mit Tierblut. Wenn man das nimmt, ist das schlechte Gewissen, ein lebendes und fühlendes Geschöpf getötet zu haben, nicht so schlimm.

Das ist auch der Grund, warum mir diese „Tradition“, wie sie so schön genannt wird, nicht gefällt. Jedes Jahr um dieselbe Zeit treffen sich alle Vampire der Welt auf einem ausgewählten Berg, um gemeinsam jagen zu gehen. Das ist die allergrößte Zeitverschwendung überhaupt. Erstens bin ich die schlechteste Jägerin der Welt. Zweitens trinke ich nur Blut aus Konserven, „Plastikfutter“ sozusagen, weswegen ich auch keine gute Jägerin bin. Drittens habe ich besseres zu tun als das. Es gibt nicht viele Vampire auf der Welt. In einem Staat gibt es vielleicht allerhöchstens zwei oder drei. Bei einem dieser Treffen habe ich mal nachgezählt. Herausgekommen sind genau dreißig.

Susan und Alexej sind nicht meine Eltern, sondern nur meine Adoptiveltern. Sie sind auch Vampire und sehr viel älter als ich. Ich habe sie kennen gelernt, als ich mal wieder zu durstig durch die Straßen gezogen bin. Es war jedes Mal dasselbe. Bevor ich sie kannte habe ich den Durst immer solange hinausgezögert, bis es nicht mehr auszuhalten war und ich meistens über irgendwen oder irgendwas hergefallen bin. Ich kam damit einfach nicht klar.

Jedenfalls torkelte ich gerade durch eine verlassene Straße, als mir Susan entgegenkam. Ich erkannte nicht, dass sie ebenfalls ein Vampir war und mir somit ebenbürtig. Ihr müsst wissen, Vampire haben keine besonderen äußerlichen Merkmale, die Augen sind nicht irgendwie rot und unsere Hautfarbe bleibt auch nach der Verwandlung gleich. Nur das mit den Reißzähnen und der übermäßigen Kraft stimmt. Ich fiel also halb verhungert über sie her. Sie blockte aber leichtfertig ab und trieb mich mit einem gekonnten Schlag in die Bewusstlosigkeit. Susan brachte mich, liebevoll wie sie war, in deren Wohnung und überredete Alexej dazu, mich aufzunehmen. Am Anfang hielt er so gar nichts von mir und wollte mich am liebsten in die Wüste schicken. Nach und nach gewöhnte er sich aber an mich. Sie zeigten mir, wie sie lebten und passten von da an auf mich auf. Wenn ich ehrlich bin, hätte mir nichts Besseres passieren können. Sonst würde ich wahrscheinlich jetzt noch umherziehen und vor mich hinfristen.

Mit einem abrupten Ruck blieb das Auto stehen, somit waren wir an unserem Ziel angelangt. Die ausgesuchten Berge, auf denen wir uns trafen, waren jedes Jahr in einem anderen Kontinent. Diesmal war es Gott sei Dank einmal in unserer Nähe, sodass wir nicht weit fahren mussten. Derjenige, der diese Treffen veranstaltete und die Orte aussuchte war der älteste von uns und hieß Næhan. Woher er unsere Nummern hatte und das alles, wusste ich nicht. Es war auch sein Problem. Die meisten von uns waren nämlich Nomaden und hatten somit keinen festen Wohnsitz.

Stillschweigend stiegen wir aus und schlossen uns der Gruppe, die schon am Waldrand stand, an. Diesmal waren es weniger als voriges Jahr. So um die zwanzig. Næhan ragte über alle anderen hinaus, er war ein wahrhaftiger Riese. Da er nach unserem Kommen uns herzlichst begrüßte, nah mich an, dass wir die letzten waren.

„Wie immer ist es eine nicht oft genutzte Route.“, erklärte er. Natürlich, das musste sie sein. Das Risiko, einen Menschen unabsichtlich zu töten, wenn man von seinen Instinkten beherrscht wird, ist einfach zu groß. „Aber für die anderen unter uns, gibt es natürlich noch einen anderen Weg.“, fügte er lächelnd hinzu. Mit „die anderen“ meinte er die, die menschliches Blut nehmen.

Danach gingen wir auch schon los. Mein Blick wanderte die Bergkette entlang. Ein schönes Plätzchen. Ich fühlte mich trotzdem nie gut bei dieser Sache, es kam mir so vor als würden wir diese Orte regelrecht entweihen.

Die Sonne stand noch tief, lugte gerade Mal über den Horizont, und die kühle Luft hing zwischen den mächtigen Bäumen. Trotzdem zwitscherten die Vögel munter und fröhlich. Nichts hätte das Ganze hier in ein Szenario der Gewalt besser verwandeln können als wir. Der Weg war nicht gekennzeichnet und auch nur schwer zu folgen. Ich hielt mich eher im Hintergrund, während Alexej und Susan vorne mitliefen. Die zwei freuten sich immer auf dieses Treffen, aber ich mochte es aus gegebenen Gründen nicht.

Ich suchte nach bekannten Gesichtern und erkannte sogar einige wenige wieder. Da waren einmal die zwei aus Amerika, dann die Frau aus Asien und zuletzt noch die drei aus der Wüste Gobis. Man mochte es nicht glauben, aber es gab wirklich Vampire, die in der Wüste überleben konnten. Deren Namen kannte ich nicht, niemand außer Næhan kannte sie. Anonymität wurde hier ganz groß geschrieben. Das war auch gut so. Nach wenigen Minuten deutete Næhan in eine andere Richtung, hier spaltete sich der Weg. Alexej und die kleine Gruppe aus der Wüste gingen die andere Route. Die vier waren diejenigen, die keine „Vegetarier“ waren. Alexej hat nie geleugnet, dass er nur menschliches Blut trinkt. Ich verurteilte ihn auch nicht dafür, immerhin war es seine Entscheidung und ich konnte ihn auch nicht ändern.

Wir marschierten weiter hinauf, wo der Wald immer dichter wurde und die Sonnenstrahlen nur mehr teilweise durch das dichte Blätterwerk fielen. Nach oben hin lösten wir uns allmählich auf. Sobald jemand eine potenzielle Beute gerochen hatte, verließ er die wandernde Gruppe. Ich war die letzte, die noch auf dem Weg ging, sogar Næhan hatte sich schon aufgemacht. Wenn man ganz oben war, hatte man seine Ruhe, so hatte ich es bis jetzt immer gemacht.

Ich versuchte mich gänzlich auf meine Instinkte zu besinnen und mein Hirn auszuschalten. Mein Durst verhalf mir auch unweigerlich dazu. Automatisch bewegten sich meine Beine und meine Nase suchte für mich mein Opfer. Schnell und geschmeidig lenkte ich meinen Körper zwischen den engstehenden Bäumen hindurch. Nicht ein Knacken oder Krachen verursachten meine leichtfüßigen Schritte. Das Raubtier, das in mir wohnte, freute sich übermäßig, endlich wieder die Kontrolle zu haben.

Keine Sekunde später konnte ich schon etwas riechen. Langsam folgte ich dem Geruch und schlängelte mich dabei zu einer Felswand durch. Der Duft trieb mich nach oben. Hastig kletterte ich hinauf und versuchte dabei möglichst leise zu sein. Auf einer kleinen freien Grasfläche entdeckte ich eine Bergziege. Sie war alt und ich fühlte mir des Sieges schon sicher bei ihrem gebrechlichen Anblick. Ich versteckte mich hinter einem riesigen Stein, während ich auf den richtigen Moment wartete. Sie graste nichtswissend vor sich hin. Ungewollt bleckte ich die Zähne und beugte mich ein wenig nach vorn. Jetzt hieß es auf den richtigen Moment warten, um sie zur Strecke zu bringen. Ich machte mich bereit zum Sprung. Noch im selben Moment, als sie mir ihren ungeschützten Rücken zudrehte, raste ich hinter dem Stein hervor und auf sie zu.

Wieder einmal bewies sich, dass ich eine lausige Jägerin war, da die Ziege auf einmal wie von der Tarantel gestochen wegrannte. Kurz bevor ich sie zu fassen bekommen hatte, war sie kurzerhand meinen Krallen entfleucht. Hatte sie mich etwa gehört? Ich war doch mucksmäuschenstill gewesen! Oder etwa nicht?

Die Ziege hetzte einen Abhang hinunter und ich ihr rannte ihr natürlich nach. Für mich war es ein leichtes, ihr zu folgen. Meine Beine schienen ihr Eigenleben zu haben. Auch wenn es sich anfühlte, als würde ich fallen, hatte mein Körper alles unter Kontrolle. Mein Blick war auf meine Beute fixiert und folgte ihr stets.

Sie lief geschickt zwischen den Bäumen hin und her, sodass ich sie sogar manchmal außer Sicht kam. Nun bemühte ich mich nicht mehr wirklich leise zu sein, was man auch merkte. Hier und da krachte ich mit der Schulter gegen eine Baum und riss zeitweise ein Stückchen Holz mit. Die Steine, auf die ich volle Wucht trat, zerbarsten unter meiner scheinbar endlosen Vampirkraft.

Das Viech war vielleicht schnell! Ich konnte den Abstand zwischen uns kein bisschen verringern. Wir sausten weiter den Berg hinab. Aber ich würde nicht aufgeben, der Durst zwang mich dazu. Er führte mich durch den dichten Wald hindurch und warnte mich, wenn Gefahr drohte. Meine Nase konnte die Angst, die das Tier hatte, geradezu riechen. Diese Angst spornte das Raubtier in mir noch mehr an. Es gefiel ihm.

Entfernt glaubte ich das Kichern der anderen zu hören, die schon längst ihre Beute gerissen hatten. Ich ließ ein lautes Knurren hören und legte ich noch einen Zahn zu. Mein Knurren hatte die Ziege aber nur noch mehr verängstigt, wodurch sie auch schneller wurde. Schon fast verzweifelt versuchte ich sie zu erreichen. Sie rannte wie verrückt, versuchte mich des öfteren im Zickzack abzuhängen. Das sich das Tier bei dem Tempo noch nichts getan hatte, wunderte mich. Noch dazu war es doch so alt! Müsste es nicht schon langsamer sein als ein junges Tier?

Im der selben Sekunde stolperte die Bergziege über einen Ast, den sie nicht gesehen hatte. Ich nutzte die Gunst der Sekunde und trieb mich weiter nach vorne. Und diesmal klappte es! Obwohl sie hastig weiterhetzte konnte ich ihren Vorsprung verringern. Ich bereitete mich auf den Sprung vor und ging tiefer. Als der Abstand gerade passend war, stieß ich mich von einem hervor ragenden Stein ab. Was ich jedoch nicht bemerkt hatte war, dass sich vor uns ein Abgrund auftat. Leider kapierte ich das erst zu spät und somit flogen das Tier und ich einem größeren Steinbecken, das sich mit Quellwasser gefüllt hatte, entgegen.

Natürlich wussten sich meine Instinkte zu helfen. Ich schnappte mir das Tier, umklammerte es und konnte mich so herumdrehen, sodass meine Füße zuerst ins Wasser kamen. Keine zwei Sekunden später kamen wir mit einem lauten Platscher im Wasser an. Dort strampelte plötzlich die Ziege wieder los. Ich konnte spüren, wie ihr die pure Angst durch die Adern floss. Damit sie nicht länger leiden musste, brach ich ihr kurzerhand das Genick. Ein harter Stich fuhr mir durchs Herz, als ich das tat, aber ich konnte nicht anders. An der Wasseroberfläche angekommen schwamm ich mit ihr zur Steinwand. Ich schwang das Tier auf meine Schulter und hievte mich selbst hinauf auf einen Felsvorsprung. Wenn man in Rage war, fiel einem alles leicht. Schnell hatte ich den Vorsprung erreicht. Erst einmal spuckte ich all das Wasser, das ich im Mund hatte aus und hustete ein paar Mal. Die Ziege legte ich kurz zur Seite.

Aber dann konnte ich mich nicht mehr länger beherrschen. Schmerz explodierte plötzlich in meinem Oberkiefer, ich konnte spüren wie meine Eckzähne länger wurden und in meine Unterlippe pieksten. Gierig fasst ich das tote Tier, zog es zu mir heran und senkte meine Reißzähne in die vorhandene Wunde vom Genickbruch. Blut floss mir in den Mund und lief schwer und voll meine Kehle hinunter. Ein Feuerwerk startete in meinen Kopf. Grelles Licht schien mich zu blenden. Wärme breitete sich vom Magen ausgehend aus. Diese Momente waren das Wohlgefühl überhaupt, gleichzeitig waren sie so abstoßend. Doch ich hatte gelernt, nicht daran zu denken, was ich gerade machte. Der Selbsterhaltungstrieb war hier stärker als der Verstand oder das Gewissen. Meine Sinne waren mit einem Mal wieder geschärft, erneute Stärke durchflutete meinen Körper. Das Feuerwerk stoppte nicht. Das Licht wurde immer greller und gleißender. Schnurrend zog sich das Raubtier in mir zurück und rollte sich wie eine Schmusekatze in meinem Bauch zusammen. Ich konnte nicht aufhören, so durstig war ich.

Plötzliches Knacken und Rascheln ließ mich aufschrecken. Automatisch ließ ich sofort die Beute los, sprang auf und ging in Kampfstellung. Ich war überrascht, als ich sah, dass auf der gegenüberliegenden Seite ebenfalls auf einem Felsvorsprung ein Junge stand.

Er konnte sich nicht entscheiden, ob er angewidert oder entsetzt dreinschauen sollte. Angewidert, weil er die verdörrte Leiche des Tieres sah. Entsetzt, weil ich mit blutverschmierten Mund und völlig durchnässt dastand. Das Denken des Raubtieres hatte mich noch immer im Griff. Somit knurrte ich ihn unbewusst durch gefletschte Zähne lautstark an. Ehrfürchtig und ängstlich wich er zurück und drückte sich an die Steinwand.

Er musste ein Wanderer sein, was ich aus seiner Kleidung und dem Rucksack schließen konnte. Im Nachhinein fragte ich mich, was der Typ zu so früher Stunde hier zu suchen hatte.

Obwohl ich satt war, wollte ich ihn ernsthaft anspringen. Zum Glück kam mein menschlicher Verstand noch rechtzeitig zurück und rettete uns beiden somit das Leben. Entschlossen schüttelte ich den Kopf, nahm dabei eine entspanntere Stellung ein. Was hatte er hier zu suchen? Næhan hatte doch gesagt, dass das eine verlassene Route sei! Was sollte ich jetzt nur tun? War unser wohlgehütetes Geheimnis jetzt entlüftet? Ich musste schnell handeln. Zuerst wischte ich mir erst einmal das Blut aus dem Gesicht. Dann inspizierte ich ihn durchdringend. Er war wahrscheinlich so um die 16, 17 Jahre alt. Braune Locken hingen ihm ins Gesicht. Seine Iris hatten jeweils zwei verschiedene Farben, was mich erstaunte. Das linke Auge war in sanftes Grün getaucht, das rechte in goldiges Braun. Doch jetzt waren sie erfüllt von blanker Angst. Gebannt und vor allem geschockt hielt er den Atem an. Seine Beine zitterten nicht, schienen aber an ihrem jetzigen Standort festgewachsen zu sein.

Das einzige woran ich momentan denken konnte war, dass ich so schnell wie möglich von hier weg musste. Leider blieben wir einige Minuten. Er sah nicht danach aus, als ob er jetzt weglaufen würde oder konnte. Auch wenn er jetzt völlig verängstigt war, strahlte seine Aura etwas total Anziehendes aus. Es war verrückt. Ich war wie verzaubert. Dieses Gefühl war so neu für mich, dass ich ziemlich lange brauchte, um zu reagieren. Ich musste meinen Blick regelrecht losreißen von ihm. Hatte ich jetzt den Verstand verloren?

Damit keine Spuren hier blieben, nahm ich die Ziege wieder auf meine Schulter und kletterte weiter nach oben. Immer wieder wollte ich mich zu ihm umdrehen und nach ihm sehen. Um den Jungen konnte ich mich jetzt aber nicht mehr kümmern. Er war bestimmt nicht allein hierher gekommen. Seine Gefährten würden bald nach ihm suchen und ihn finden. Dann gäbe es nur noch mehr Zeugen. Und das wäre nicht gut. Mein zweites Problem war, dass er möglicherweise jemanden von seinem furchtbaren Erlebnis erzählen würde. Das konnte ich nicht verhindern. Ich musste bei dieser Sache einfach darauf vertrauen, dass er niemanden etwas sagen würde. Und wenn, dann würde ihm keiner glauben. Ein raschelndes Geräusch ließ mich für einen Moment zusammenzucken. Ich hörte, wie sich der Junge langsam bewegte.

Er will flüchten, schoss es mir durch den Kopf. Das konnte er auch tun, nur musste ich vorher so weit wie möglich weg sein. Noch eiliger als zuvor, kletterte ich weiter, bis ich wieder auf eine Ebene kam.

Den Kadaver ließ ich hinter einem großen Stein unter einem Gebüsch liegen. Schon bald würde nichts mehr an ihn erinnern.

So schnell ich konnte raste ich den Berg hinunter, damit ich zu unserem Ausgangspunkt gelangte. Doch immer drehte ich mich um, als würde ich verfolgt werden. Jedes Mal sah ich nur die eintönige Waldlandschaft. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass mich dieser Junge verfolgte, obwohl das überhaupt nicht möglich war. Seine seltsamen Augen blinkten immer wieder in meinem Kopf auf und ich hatte schwer damit zu tun, diesen Gedanken zu verdrängen.

Unten angekommen, warteten die anderen schon auf mich. Nach der Jagd warteten wir alle noch einmal aufeinander. Auch wieder Tradition. Næhan verabschiedete sich dann immer noch ausladend von uns und wünschte uns ein angenehmes Jahr. Alexej sprach mit den Leuten aus der Wüste und Susan ging mir ein Stück entgegen, als ich den letzten Abhang hinunter rutschte. Ich wusste nicht wieso, aber ich warf mich sofort in ihre Arme und drückte sie so fest ich konnte.

„Wieso bist du ganz nass? Ist etwas passiert?“, fragte sie sofort besorgt. Im Eifer des Gefechts hatte ich total vergessen, dass ich eigentlich total durchnässt war. Schnell schüttelte ich heftig den Kopf. „Nein, nein.“, verneinte ich hastig. „Es ist nur... ich jage nicht gerne. Ich bin unabsichtlich in einen Steinbecken gefallen, das sich mit Quellwasser gefüllt hatte.“ Das mit dem Jagen wusste sie schon vom ersten Treffen an. Wegen meinem Zustand musste ich auch nicht lügen, ich war ja wirklich ungewollt ins Wasser gefallen.

„Ach, Monica... Du brauchst keine Schuldgefühle wegen dem Jagen zu haben.“, versuchte sie mich zu trösten. Ich war sehr froh, dass sie mir das abkaufte.

Eigentlich sollte ich es ihr erzählten, aber ich empfand es als das Beste, jetzt lieber zu schweigen. Ich würde den Jungen nur unnötig in Gefahr bringen, wenn ich jetzt plauderte. Und ich wollte keine Menschenleben auf dem Gewissen haben. Außerdem war ich mir sicher, dass er auch den Mund hielt.

Um so schwerer stand mir der Schock ins Gesicht geschrieben, als er und einige Personen aus dem Wald kamen. Sofort erstarrte ich zu Eis und hielt den Atem an. Susan bemerkte von meiner Starre nur wenig, tätschelte meinen Arm und redete mir gut zu. Ihre Worte drangen aber gar nicht bis zu meinem Gehirn durch. Mein Blick war auf den Jungen geheftet, der ein bisschen ungeschickt seinen Leuten hinterher latschte. Ich versteckte mich hinter Susan, sodass er mich nicht sehen konnte. So wie ich, schien er ein bisschen durch den Wind zu sein. Ganz im Gegensatz zu seinen lachenden und plaudernden Gefährten, sah er aus, als wäre er sich nicht ganz sicher, was er gerade gesehen hatte.

Erneut verspürte ich den Drang, der mich zu ihm hinzog. Es war so ungewöhnlich. So neu. Mein Verstand sagte mir: Du bist verrückt. Mein Gefühl sagte mir: Geh zu ihm hin! Zwei Fronten schienen sich in mir aneinander zu reiben, was einen stechenden Schmerz in meiner Brust verursachte. Wie konnte ich nur so fühlen? War ich noch ganz dicht?

Mein Verstand handelte für mich. Gott sei Dank. Wer weiß, was ich sonst getan hätte. Ich drängte Susan, dass wir endlich fahren sollten, weil ich noch etwas für die Schule machen müsste. Ja, ich ging zu Schule. Das war Susans Idee gewesen. Sie meinte, dass ich mein soziales Verhalten bessern müsste, da das im Laufe des Jahrhunderts ein wenig verkommen geworden war.

Jedenfalls fuhren wir dann endlich nach Hause und ich konnte endlich den Jungen in die Kategorie Vergangenheit schieben.

Unangenehme Überraschung

Es kostete mich mehr Kraft als gedacht, um am nächsten Tag wieder in die Schule zu gehen. Natürlich verschlief ich nicht, da ich ja nicht schlafen konnte als Vampir.

Manchmal fragte ich mich, ob Schule eine Bereicherung oder eine Folter sein sollte. In erster Linie eigentlich eine Bereicherung, aber für mich war es doppelte Belastung, da ich immer den Geruch des Blutes der anderen in der Nase hatte. Ich hatte mir blöderweise angewöhnt, mich öfters zu schnäuzen. Meinen Mitschülern erzählte ich, dass ich irgendeine Allergie hätte. Ich machte das wirklich nur, weil mich Susan darum gebeten hatte und für sie würde ich fast alles tun.

Den Weg zur Schule legte ich wie alle anderen mit dem Bus zurück. Wie immer stieg ich aus und schlüpfte in der Garderobe in meine Hausschuhe. Das Klassenzimmer war noch ziemlich leer, als ich kam. Zara und eine andere Schulkollegin unterhielten sich in einer Ecke des Raumes.

Es gab nur wenige Leute, die ich näher an mich heranließ. Ich musste immer einen gewissen Abstand wahren, sonst wäre das Risiko einfach zu hoch. Das Raubtier, das in mir schlummerte, war immer bereit, um auszubrechen. Ich hasste es und es hasste mich. Die Selbstbeherrschung, die ich in der Schule brauchte, überschritt aber Gott sei Dank nur selten meine Grenzen. Ich hatte mich schon ein wenig daran gewöhnt, trotzdem wurde ich nicht übermütig.

Zara und Lisa waren die Mädchen, die ich freundlich als „meine Freundinnen“ bezeichnen würde. Sie waren beide erfrischend unkompliziert und stellten keine Fragen, wenn keine gestellt werden durften.

Ich räumte meine Sachen aus meinem Rucksack und ging dann zu Zara hin, um mit ihr zu plaudern. Unsere Gespräche wurden nur sehr selten persönlich oder gar in irgendeiner Weise intim.

Der Unterricht fing an und wir setzten uns auf unsere Plätze. Unsere Klassenlehrerin Frau Hauser kam mit jemandem im Schlepptau herein. Sofort startete neugieriges Getuschel und Geflüster. Ich blickte nicht auf, da ich nicht interessiert an demjenigen war. Man hatte uns schon vor ein paar Wochen gesagt, dass bald ein neuer Mitschüler kommen würde.

„So, Leute, ab heute habt ihr einen neuen Mitschüler.“, begann Frau Hauser. „Willst du dich nicht vorstellen?“ Das Gemurmel um uns herum hörte nicht auf. Ich konnte heraushören wie jemand sagte: „Sieh dir nur seine Augen an!“

Nach einem leicht genervten Seufzer stellte sich der Neuling vor.

„Ich bin Kasper Anderson.“, sagte er. Das war seine ganze Vorstellung auch schon. Kurzes Gelächter war zu vernehmen, als er seinen Namen nannte. Er bemühte sich nicht, höflich zu sein. Ungeduldig trat er von einem Bein aufs andere.

Nun sah ich mir den Neuen auch an, das Getuschel machte doch ganz schön neugierig. Im selben Moment trafen sich unsere Blicke. Beide erstarrten wir darauf keine Sekunde später.

Wieso hatte ich nicht schon vorher aufgesehen, als ich das vorhin heraus gehört hatte? Der Junge, der mich beim Jagen entdeckt hatte, stand keine zwei Reihen vor mir. Wie gebannt starrten wir uns an und ich wusste sofort, dass er mich wieder erkannt hatte. Jetzt steckte ich schön tief in der Scheiße. Ich hätte ihn doch gleich auf dem Berg umlegen sollen. Aber ich wollte meine eigene Devise nicht brechen. Ich wollte keine Menschenleben auf dem Gewissen haben! Ich sah, wie Neugier und Entsetzen gleichzeitig in seinen seltsamen Augen aufblitzen. Das Geflüster war nur noch ein leises Rauschen im Hintergrund. Noch immer füllte mich das anziehende Verlangen aus. Das konnte doch nicht angehen, dass ich mich so zu ihm hingezogen fühlte.

„Hey, der starrt dich schon die ganze Zeit an.“, flüsterte mir Zara zu, wobei sie mich in die Seite stupste. Ich hörte sie nicht, nur ein Murmeln irgendwo in der Ferne.

Die Klassenlehrerin bat ihn, sich den Platz Martin zu nehmen und das war genau der Platz vor mir. Anscheinend hatte das Schicksal nichts Gutes mit mir vor. Wieso musste er jetzt wieder auftauchen? Warum konnte er nicht einfach aus meinem Leben verschwinden, so wie ich es mir gewünscht hatte? War das wirklich so schwer? Zeitweise hatte ich das Gefühl, dass mir alle Wünsche verwehrt blieben. Wie ein Roboter setzte er sich in Bewegung und steuerte auf den ausgewählten Tisch zu, den Blick noch immer auf mich gerichtet.

Ich riss mich zusammen und konnte meinen Blick abwenden, um wieder in meine Bücher zu starren. Nun konnte ich aber nicht mehr darin lesen, da sich endlos in meinem Hirn die Szenen von gestern abspielten. Mein Ende konnte ich jetzt schon genau vor mir sehen. Næhan würde wahrscheinlich persönlich kommen, um mich umzubringen. Unser Geheimnis war gerade so nah dran, gelüftet zu werden.

Hiermit beschloss ich, Kasper auf keinen Fall zu mögen. Er zerstörte meine heile Welt, mein Glück. Einfach alles. Ich musste mich wirklich beherrschen, um ihm nicht gleich an die Gurgel zu springen.

Den ganzen Schultag über bedachte ich ihn mit hasserfüllten Blicken. Er dagegen schaute mich nur unschuldig an, als wäre nie etwas passiert. Die anderen waren ganz aus dem Häuschen, weil Kasper angeblich so gutaussehend war. Das einzige was ich an ihm interessant fand war, dass er keine zwei Sekunden still sitzen konnte.

In der Physikstunde saß er mir schräg gegenüber. Ich konnte hören, wie er mit seinem Nachbarn über etwas sprach. Als ich kapierte, dass es in diesem Gespräch um mich ging, war ich noch tobender als zuvor. Was erlaubte dieser Kerl sich eigentlich? Andere über mich auszufragen war doch wohl das letzte! Mein Hass auf ihn wurde dadurch nur noch mehr geschürt. Weil mir alles zu viel wurde fragte ich unseren Lehrer, ob ich raus dürfte, um ein bisschen Luft zu schnappen, da mir schlecht war. Die Antwort wartete ich gar nicht erst ab, sondern stürmte aus dem Klassenzimmer. Eine Sekunde länger und ich wäre explodiert. Ich stampfte an das andere Ende des Ganges und machte dort ein Fenster auf.

Die frische Luft half mir, einen klaren Kopf zu bewahren. Es gab zwei Möglichkeiten, nach denen ich jetzt verfahren konnte. Entweder ich würde jetzt schweigen und erst einmal abwarten, was Kasper tat. Im besten Fall würde er mich in Ruhe lassen und alles würde wieder einen halbwegs geregelten Lauf nehmen. Die zweite Variante war, dass ich gleich nach der Schule alles Alexej und Susan erzählte. Sie würden dann entscheiden, was wir als nächstes tun würden. Dabei lief ich leider Gefahr, dass sie mich rauswarfen, da ich ihr Vertrauen dermaßen missbraucht hatte. Die Entscheidung fiel mir wirklich schwer. Einerseits wollte ich nicht, dass diese Situation aus dem Ruder lief, andererseits hatte ich Schiss es meinen Eltern zu sagen.

Nach einigen Minuten des Nachdenkens hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich nicht um, da es bestimmt nur ein Lehrer oder ein Schüler auf Botengang sein konnte. Als mich dann plötzlich eine Hand an der Schulter anfasste, fuhr ich erschrocken herum.

„Hallo.“, begrüßte mich Kasper, der grinsend vor mir stand. Wieder übermannte mich die Wut und der Hass von vorher. Meine Miene verfinstertes sich schlagartig. Ich versuchte, so gut es ging, ihn zu ignorieren. Demonstrativ drehte ich ihm den Rücken zu und starrte durch das offene Fenster. Vielleicht ging er ja von selbst wieder weg. Tja, leider falsch gedacht. Er blieb.

Als würde ich noch immer mit dem Gesicht zu ihm gedreht stehen, redete er weiter.

„Ich weiß nicht, aber ich glaube ich kenne dich. Oder hab dich schon mal wo gesehen.“, redete er feuchtfröhlich drauflos.

„So? Ich dich aber Gott sei Dank nicht!“, erwiderte ich. Mich kostete es all meine spärliche Beherrschung, um meinen Hass zu zügeln.

„Doch, ich bin mir sogar ganz sicher.“, entgegnete er in kühlem Ton. „Ich glaub, ich hab dich bei...“ Noch bevor er den Satz beenden konnte, setzte ich mich schnellstmöglich in Bewegung. Ich stampfte in Richtung Treppe.

Hastigen Schrittes kam er mir hinterher. Konnte er mich nicht in Ruhe lassen? Ich wollte ihn vergessen und jetzt tauchte er wieder auf. Gott, wie ich ihn dafür hasste, das war echt unbeschreiblich.

Wieder fasste er mich an der Schulter und wollte mich stoppen.

„Jetzt warte doch mal!“, sagte er gehetzt.

„Fass mich nicht an!“, fauchte ich hasserfüllt und schlug seine Hand von meiner Schulter. Ich wollte nach seinem Schienbein treten, aber er trat noch gerade rechtzeitig zu Seite.

„Sag mal geht’s noch? Wieso bist du so wütend? Hab ich dir was getan?“, fragte er mich. Jetzt war er derjenige, der vor Wut kochte. Kasper hatte mich wirklich gefragt, ob er mir was getan hatte. Ha! Und ob! Am liebsten würde ich es ihm alles feinsäuberlich aufzählen. Schön langsam und gut verständlich.

„Deine Anwesenheit sollte schon verboten werden, du Arsch!“, schnappte ich zurück. Er sollte ruhig wissen, wie sehr ich ihn hasste. Ungläubig blickte er mich an. Der Mund stand ihm offen.

„Wa...?“, wollte er ansetzen, beendete die Frage aber nicht.

„Richtig gehört, mein Lieber. Komm mir ja nicht noch einmal zu nah.“, sagte ich fuchsteufelswild. Seine Wut hatte zusätzlich meinen Hass geschürt. Ich nutzte seine anhaltende Sprachlosigkeit und stapfte weiter davon.

„Warte!“, rief er mir auf einmal hinterher. Wie konnte er mir jetzt noch hinterher rufen, wo ich ihm doch offenkundig beigebracht hatte, dass ich nichts von ihm wollte?

„Las mich in Ruhe oder du erlebst dein blaues Wunder!“, drohte ich ihm noch, drehte mich um und streckte im die Zunge raus. Noch immer fassungslos blieb er zurück. Endlich.

Die Physikstunde würde ich schwänzen, ach was, ich schwänzte gleich den ganzen restlichen Tag. Dem Typen wollte ich nicht noch einmal über den Weg laufen. Keinesfalls. Wer weiß, was ich dann mit ihm machen würde. Ich hatte mir schon etliche Varianten überlegt, ihn zu töten. Das war für meinen Verstand derweil Genugtuung. Dem Raubtier in mir gefielen meine Gedanken ebenfalls sehr. Es schien mich von innen heraus anzulächeln, mich zu liebkosen. Es feuerte mich regelrecht an, es gleich zu tun. Angewidert verzog ich das Gesicht und lenkte meine Gedanken auf andere Sachen.

Damit hatte sich eigentlich das mit den zwei Varianten, zwischen denen ich wählen konnte, erledigt. Da er mich anscheinend nicht in Ruhe lassen wollte, musste ich Susan und Alexej davon erzählen. Meine einzige Hoffnung dabei war, dass sie mich nicht rauswarfen. Bei Susan war ich mir fast hundertprozentig sicher, dass sie mich gar nicht gehen lassen konnte. Aber Alexej war bei so etwas unberechenbar. Außerdem traf er die Entscheidungen.

Aber komischerweise wollte ich aus irgendeinem Grund Kasper nicht verraten. Als wäre es das größte Verbrechen. Ich kam mir dumm vor. Einerseits wollte ich ihm so richtig eins auswischen, aber andererseits sträubte sich irgendetwas in mir, das zu tun.

Meine Wut schrie mich an, was ich mir dabei dachte. Ich sollte ihn gefälligst aus dem Weg räumen und wenn möglich sehr schmerzhaft, damit das Raubtier auch noch befriedigt war. Belustigt kicherte das Raubtier, als ich wieder einen Gedanken an Kaspers Hinrichtung verschwendete. Ruckartig schüttelte ich den Kopf, um einen freien Kopf zu bekommen. Auch wenn es ihm noch so sehr gefiel, was ich dachte, würde ich ihm nicht den Gefallen tun und es zur Realität machen. Noch nicht.

Ich entschied mich, mit meiner entgültigen Entscheidung noch zu warten. Ich wollte das Ganze noch ein wenig beobachten. Vielleicht verlief es ja positiv und ich musste nicht gleich die schlimmste aller Möglichkeiten sofort wählen. Dabei hatte ich natürlich ein ungutes Gefühl und mein Verstand sagte mir, dass das die dümmste Entscheidung sei, die ich jemals gemacht hätte. Irgendwo stimmte das ja auch. Aber ich konnte jetzt einfach nicht zu meinen Eltern gehen und es ihnen erzählen. So gut wie möglich versuchte ich meinen aufgebrachten Verstand zu beruhigen und ihm die guten Seiten aufzuzählen. Am Ende erklärte er mich für vollkommen blöd und verabschiedete sich in den hintersten Winkel meines Gehirns.

Ein weitere seltsame Sache war, dass mein Hals ganz trocken war. Das bedeutete, dass ich bald wieder Durst haben würde. Dabei hatte ich doch gestern erst getrunken! War etwa gar Kasper daran Schuld? Hoffentlich nicht.

Wie ein Geist zog ich durch die Straßen, die schon gut gefüllt waren. Ich würde nicht nach Hause gehen. Wenn Alexej da war, würde er bestimmt misstrauisch werden und mich ausfragen. Das wollte ich natürlich vermeiden. Jetzt hieß es die Zeit bis halb zwei, das war die Uhrzeit, zu der ich normalerweise nach Hause kam, tot zu schlagen. Ohne Plan und geistesabwesend spazierte ich an den vielen und Geschäften vorbei.

Vampire traf man nur selten auf der Straße, da wir ja so wenige waren. Und wenn man doch mal einem begegnen sollte, bedachte man sich mit einem kurzen Nicken. Das war die höfliche und unauffällige Begrüßung. Zurzeit hielten sich vier Vampire in unserer Stadt auf. Wir drei und noch ein Nomade, von dem Alexej erzählt hatte. Er war auf Durchreise und würde höchstens eine Woche bleiben. Ganz am Anfang, bevor ich auf Alexej und Susan traf, war ich ja auch ein Nomade gewesen. Oder eher gesagt war ich komplett verzweifelt gewesen und hatte wie gesagt meinen Durst bis zum Limit hinausgezögert. Ich hatte geglaubt, ich wäre die einzige. Meine einzigen Gedanken kreisten darum, dass ich ab jetzt ein Monster war. Auf immer und ewig. Mein Raubtier übernahm zu dieser Zeit öfters die Kontrolle über mich, da ich sonst gestorben wäre. Doch das war es, was ich wollte. Sterben. Besser sterben, als weiter so leben zu müssen.

Ich seufzte einmal tief und starrte weiter mit gesenktem Blick auf den Gehsteig. Es war leicht für mich, mich hier zurechtzufinden. Mein perfekt ausgebildeter Orientierungssinn übernahm für mich gerne die Arbeit. Ich hatte schon die halbe Stadt durchquert und hatte schon längst die riesigen Bürohäuser hinter mir gelassen. Jetzt kamen immer mehr Wohnungshäuser dazwischen und die Straßen waren auch nicht mehr so voll.

Ich hörte auf einmal Stimmengewirr, das immer näher kam. Neugierig hob ich den Kopf und sah eine ältere Dame und einen jungen Herrn. Sie rangelten wie wild miteinander. Der Mann versuchte der Frau die Handtasche zu entreißen, was sich aber als schwierig erwies, da die Dame nicht losließ. Automatisch erhöhte ich mein Schritttempo und steuerte auf die beiden zu.

Normalerweise hätte jeder andere Hilfe geholt, aber ich musste keine Angst haben. Vampire waren viel stärker als Menschen, deswegen konnte ich es bestimmt mit dem Typen allein aufnehmen.

Gerade war ich nur mehr ein paar Schritte von den beiden entfernt, da gelang es dem Dieb ihr die Tasche wegzureißen. Er drehte sich um und lief weg.

„Zu Hilfe! Meine Tasche wurde gestohlen!“, rief die Dame energisch um sich und sah sich nach jemanden um. Im selben Moment rauschte ich an ihr vorbei.

Irgendwie fühlte ich mich geradezu verpflichtet dazu, ihr zu helfen. Inzwischen hatte der Dieb einen beträchtlichen Vorsprung. Aber ich würde ihn aufholen, ganz bestimmt.

Ich trieb meine Beine noch mehr an, sodass ich den Abstand zwischen uns verringern konnte. Er glaubte sich in völliger Sicherheit, bemerkte mich nicht einmal. Sogar von hinten konnte ich sein triumphierendes Grinsen sehen. Der Mann war groß und dunkel gekleidet, er sah eigentlich ganz normal aus. Doch der Schein konnte trügen. Immer langsamer werdend bog er mehrmals ab. Wir waren in einer ziemlich verlassenen Gasse angelangt. Jetzt breitete sich doch ein etwas mulmiges Gefühl in der Magengegend aus. Während er nur mehr trabte, flog ich noch immer dahin, damit ich ihn endlich einholen konnte.

Es fühlte sich an, als ob ich mir selbst damit helfen würde. Als würde es ein seltsames Verlangen in mir befriedigen. Der Grund, dass ich der Dame helfen wollte, stand irgendwo im Hintergrund. Wie immer stand ich selbst im Mittelpunkt meiner eigenen Beweggründe. Das war vielleicht egoistisch und selbstsüchtig, doch ich konnte mich nicht selbst belügen.

Als ich nur mehr wenige Meter hinter ihm stand, verlangsamte ich meine Schritte ebenfalls. Er hatte mich nicht bemerkt, so leise war ich gewesen. Wie ein Raubkatze schlich ich mich von hinten an. Ich hatte nur ihn fixiert, nichts konnte mich jetzt noch davon abhalten. Das Raubtier in mir beobachtete alles mit höchstem Interesse, hielt sich jedoch zurück. Wie auf der Jagt stand ich in leichter Kauerstellung, die Hände zu Klauen geformt. Geschmeidig und leichtfüßig näherte ich mich ihm immer mehr. Der Mann schien so in Gedanken verloren zu sein, sonst hätte er mich schon bemerken müssen. Man merkte doch, wenn man von hinten angeschaut wurde.

Nach wenigen Sekunden stand ich direkt hinter ihm. Wie ein Blitz drehte ich ihm gekonnt die Hand mit der Tasche auf den Rücken. Gleichzeitig kickte ich ihm in die Kniekuhle, um ihm das Gleichgewicht zu nehmen. Er schrie auf und ruderte mit seinem freien Arm. So schnell ich konnte nahm ich ihm die Tasche ab. Es dauerte nur zwanzig Sekunden, dann war schon wieder alles vorbei. Um sicher zu gehen, dass er mir nicht folgen würde, trat ich ihm von hinten noch in sein Allerheiligstes, um ihn außer Gefecht zu setzen. Ich ließ ihn vor Schmerz stöhnend und gekrümmt zurück. Der wird sich bestimmt wieder erholen, solche Leute sind schnell wieder auf den Beinen.

Nun rannte ich zurück zur alten Frau, die etwas hilflos dastand und nicht wirklich wusste, was sie tun sollte. Ihr Gesicht fing an zu strahlen, als ich mit ihrer Tasche in der Hand zurückkam.

„Hier.“, sagte ich und gab sie ihr zurück.

„Vielen Dank! Sie sind ein Schatz!“, bedankte sie sich überschwänglich und nahm sie entgegen. Prüfend warf sie einen Blick hinein, ob nicht vielleicht etwas fehlte. „Hatten sie denn keine Angst? Ich meine... der Mann war doch ziemlich stark.“, fragte sie mich, während sie weiter in ihrer Tasche kramte. Richtige Angst in dem Sinne hatte ich keine. Es war ein automatischer Mechanismus. Sobald ich Angst bekam, übernahm das Raubtierdenken für mich. Deswegen kannte ich keine Angst, es war schon ein Fremdwort für mich geworden.

„Sie haben’s doch auch mit ihm aufgenommen.“, antwortete ich kühl. Vorhin hatte sie immerhin selbst noch mit ihm gerangelt. „Ja das stimmt.“, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln.

„Kommen Sie, ich lade sie als Dankeschön auf einen Café ein. Wie wär’s?“, lud sie mich höflich ein. Normalerweise würde ich ja jeglichen Kontakt zu fremden Menschen vermeiden, aber bei der Frau hatte ich ein gutes Gefühl. Ich nahm dankend an. Des Weiteren hatte ich sowieso nichts Besseres zu tun und die Zeit war ausreichend genug.

Sie stellte sich mir als Rosa vor, was auch zu ihr passte, da ihre Kleidung in Rosatönen gehalten war. Ihr Gesicht wirkte weich und freundlich, trotz der vielen Falten. Sie hatte lange graue Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Es war lustig mit ihr zu sprechen, weil sie so klein war und ich somit nach unten sehen musste.

Wir setzen uns in ein älteres Café, das Rosa als Geheimtipp bezeichnete. Das Café war uralt. Wenn ich uralt sage, dann meine ich richtig uralt. Es könnte genauso gut aus meiner Zeit stammten. Alles war aus Holz und nichts deutete auch nur ansatzweise auf das 21.Jahrhundert hin. Sogar die Salz- und Pfefferstreuer sahen antik aus. Das einzig normale hier war der Kellner mit seinem abgenutzten Bleistift und dem zerschlissenen Block. Ich bestellte mir nur einen Tee, Café hatte ich noch nie gemocht. Rosa nahm gleich einen Cappuccino mit einem riesigen Stück Kuchen. Sie schien den Laden zu kennen, da man sie des öfteren grüßte.

„Sie hätten sich ruhig mehr bestellen können, ich bin nicht geizig.“, meinte sie, als sie einen Bissen von ihren Kuchen nahm. Ich schüttelte bedächtig den Kopf.

„Bitte, duzen Sie mich doch.“, bat ich Sie. Ich mochte es überhaupt nicht, wenn man mich mit Sie ansprach. Da fühlte ich mich glatt noch älter als ich sowieso schon war. „Okay, Monica. Wie du willst.“, erklärte sie sich einverstanden und aß weiter. Ich nippte einmal kurz an meinem Tee. Für mich war es jedes Mal so, als ob man Sand essen würde. Das trockene Gefühl im Mund wurde noch stärker, doch ich hatte gelernt, damit umzugehen.

„Und was macht so ein junges Mädchen wie du zu dieser Zeit allein in den Straßen?“, wollte sie von mir wissen. Ah, falsche Frage. Was sollte ich dazu schon großartig sagen? Sie konnte sich ja wohl denken, dass ich die Schule schwänzte, oder? „Das könnte ich Sie genauso gut fragen.“, antwortete ich also. Mal sehen, wie sie darauf reagiert.

„Das könnte man jeden hier fragen.“, erwiderte sie und schlürfte genüsslich an ihrem Capuccino. Ja da hatte sie irgendwie Recht. „Also?“, hakte sie nach. Sie wollte es wirklich wissen. Mit ihrer Art erinnerte sie mich stark an Kasper, aber an den wollte ich jetzt auf keinen Fall denken.

Jetzt konnte ich nicht mehr drum herum, es ihr nicht zu sagen. Die Frage an sich war ja nicht unhöflich, aber dass sie so nachhakte und nicht lockerließ machte mich nervös. Wenn ich nicht reden wollte, konnte sie sich denken, dass sie es nichts anging. Also atmete ich einmal tief durch, bevor ich redete.

„Ich... habe ein Problem.“, antwortete ich zaghaft. Sollte ich mich ihr wirklich anvertrauen? Sie war doch eine Fremde für mich!

„Hat es mit einem Jungen zu tun?“, erkundigte Rosa sich und ich blickte überrascht auf. Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, lächelte sie allwissend.

„All unsere Probleme haben mit den Männern zu tun, nicht?“, scherzte sie und musste über ihren eigenen Witz lachen. Zara hatte das auch mal gesagt, aber meiner Meinung nach stimmte das nicht wirklich. Man konnte mit jedem Menschen Probleme haben. In diesem Fall stimmte es jedoch.

„Es hat mit einem Jungen zu tun. Naja... Er ist der Grund für mein Problem.“, erklärte ich und wirkte dabei ein wenig unbeholfen. „Sag ich doch.“, murmelte Rosa in sich hinein. Sollte ich ihr wirklich davon erzählen? Mein Verstand wollte mich in dem Moment am liebsten eigenhändig erwürgen, wenn er könnte. Andererseits wollte ich mich vorher irgendwem anvertrauen, der mir dann seine ungeteilte Meinung sagte. Ich brauchte zum ersten Mal in meinem langen Leben richtigen Rat von wem anders.

„Und weiter?“, fragte Rosa nach, als ich nichts sagte. Neugierig und mit vertrauenserweckendem Blick beugte sie sich nach vorn.

„Also... ich...äh...“, stotterte ich. Wie konnte ich das am besten erzählen, ohne zu viel preiszugeben?

„Derjenige hat etwas... gesehen, was er nicht sehen durfte. Es ging ihn nichts an. Er war besser gesagt zur falschen Zeit am falschen Ort.“, fing ich an und wählte jedes Wort sorgfältig aus. „Ich hab ihn dann... unvorbereitet in der Schule wiedergesehen. Schon vom ersten Moment an hab ich ihn gehasst. Es war wie vorprogrammiert. Jegliche negative Sachen standen plötzlich mit ihm in Verbindung.“, erklärte ich weiter. „Und er hatte nichts Besseres zu tun als mir nachzusteigen! Er glaubte, mich zu kennen. Er wollte mich ausfragen, dabei ging ihn das alles einen Scheißdreck an! Ich hätte ihm den Kopf abreißen können! Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.“, endete ich in voller Rage. Um die Wut in meinem Bauch zu löschen, schüttete ich kurzerhand den letzten Rest Tee in einem Zug hinunter. Mit einem lauten Knall stellte ich die Tasse wieder zurück auf den Tisch. Rosa zuckte leicht zusammen.

„Nun ja... das ist... eine interessante Situation.“, sagte sie nach einer Weile. „Was hat er denn nicht sehen dürfen? War es so schlimm oder wie?“, fragte sie mich dann.

„Es ging ihn nichts an.“, antwortete ich karg. Und sie ging es erst recht nichts an. Gott sei Dank hakte sie nicht weiter nach und ließ mich damit in Ruhe. Es war einfach nur „die schlimme Sache“.

„Deswegen solltest du nicht gleich so aus der Haut fahren, das ist nicht gut fürs Gemüt, meine Liebe.“, riet sie mir mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie hatte ja Recht, aber so war ich nun mal.

„Und was wäre so schlimm daran, wenn du es ihm nicht einfach erklärst?“, wollte Rosa wissen. Dieser Part verwirrte sie noch ein wenig. Die Antwort war jedoch immer dieselbe. „Es geht ihn nichts an, es ist etwas Persönliches. Außerdem müsste ich dann auch meinen Eltern alles erzählen.“, antwortete ich ihr.

„Aber würden deine Eltern nicht Verständnis haben?“, hinterfragte sie.

„Wie gesagt, es ist etwas Persönliches. Ich denke nicht, dass sie dafür so etwas wie Verständnis aufbringen könnten.“, erwiderte ich. Alexej würde das nicht haben, Susan vielleicht schon. Doch ich wollte es nicht herausfinden, indem ich es ihnen erzählte.

„Hm... Verzwickte Situation.“, meinte sie und wie Recht sie wieder damit hatte. „Versuchen wir es mal aus seiner Sich zu sehen, okay?“, schlug Rosa dann vor. Sofort verzog sich mein Mund und rümpfte die Nase. So etwas wie „seine Sicht“ gab es für mich nicht. Das hier war mein Problem, also gab es auch nur meine Sicht der Dinge.

„Na komm schon. Das ist wie wenn du einen Würfel nur von vorn ansehen würdest. Er wäre immer gleich. Aber wenn du ihn ein bisschen zur Seite drehst, sieht er gleich wieder anders aus. Du musst seine Sich auch verstehen lernen, damit du deine Entscheidung besseren Gewissens fällen kannst.“, erklärte sie mir in sanftem Ton. Ihre seltsame Erklärung überraschte. Wieder hatte sie Recht. Langsam gefiel es mir nicht mehr, dass sie mit allem Recht hatte. Ich gab mich geschlagen. Ihre Erklärung klang einfach zu plausibel, als dass ich sie hätte ignorieren können. „Okay, okay.“, willigte ich also ein, immer noch skeptisch.

„Also, wie denkst du, fühlt er sich? Was wird er von dir denken?“, fragte sie mich, als wäre ich Kasper persönlich. Tja, gute Frage. Was wird er schon groß von mir denken? Ich war eine Psychopatin, die gern Blut von Tieren trank? Wie er sich fühlt? Kein Ahnung. Wahrscheinlich in erster Linie verwirrt.

„Er wird... meiner Meinung nach...verwirrt sein, vielleicht sogar angeekelt. Er wird sich fragen, was ich da gemacht hab. Wieso ich das gemacht hab und so weiter.“, antwortete ich ihr also. Das überraschende Gefühl der Erleichterung erfasste mich. Es war komisch, plötzlich über seine Gedanken nachzudenken.

„Na also, geht doch. Und was würdest du an seiner Stelle tun, wenn du dich das alles fragen würdest?“, wollte sie erneut von mir wissen. Eine Weile dachte ich nach und musste feststellen, dass Kasper eigentlich nur normal handelte. Wenn auch ein bisschen stürmisch.

„Ich... ich würde wahrscheinlich dasselbe tun, was er gemacht hat. Es würde mich auf ewig beschäftigen, wenn ich nicht wusste, was da geschehen wäre.“, gab ich mehr oder weniger zu. Okay, ich gab auch zu, dass ich etwas zu viel überreagiert hatte. Seine Handlungen waren gerechtfertigt. Ich konnte mir denken, dass er eben genau so dachte.

„So. Und war es so schlimm für dich es aus seiner Sicht zu sehen?“, fragte sie mich noch.

„Nicht wirklich.“, meinte ich und senkte dabei beschämt den Kopf.

„Siehst du.“, sagte sie und lächelte dabei. „Ich würde sagen, du denkst noch einmal gründlich über die Situation nach, bevor du übereilt eine Aktion startest. Das führt zu nichts und du gehst das Risiko ein, etwas Falsches zu machen.“, riet sie mir wohlwollend. Abermals hatte sie Recht und ich war mit ihr einer Meinung.

Leider änderte das nichts daran, dass ich Kasper nicht mochte. Es änderte nur meine Sicht der Dinge.

Als Rosa ihren Kuchen aufgegessen hatte, verabschiedete sie sich von mir und zahlte ihren Teil der Bestellung. Ich blieb im Café zurück. Es war doch erstaunlich, was ich gerade getan hatte und wie ich mich jetzt fühlte. Ich hatte mich einer Fremden anvertraut und prompt ging es mir besser. Entweder war sie ein Engel, was ich jedoch bezweifelte, da sich ein Engel niemals in die Nähe eines Vampir trauen würde oder sie war einfach nur ein herzensguter Mensch.

Jedenfalls war es wie ein Wink mit dem Zaunpfahl, alles noch einmal zu überdenken.

Nun gut. Ich würde erst einmal nichts überstürzen. Die Entscheidung, Alexej und Susan derweil noch nichts zu sagen, blieb stehen. Möglicherweise konnte ich mich auch alleine aus der Affäre ziehen, was bestimmt schwierig aber nicht unmöglich werden würde. Außerdem würde ich in Zukunft versuchen, Kasper meine Hass nicht so offensichtlich zu machen. Er war gerade erst an die Schule gekommen und ich wollte ihm nicht wirklich die Hölle heiß machen, auch wenn das am Anfang mein Wunsch gewesen war.

Das größte Problem war immer noch das, wie ich es ihm erklären sollte. Ich konnte ihm auf keinen Fall sagen, dass ich ein Vampir auf der Jagd war. Vielleicht konnte ich ihm beibringen, dass ihn das nichts anging. Oder würde dann seine Neugier noch umso mehr geschürt? Andererseits konnte ich ihm auch sagen, dass er mich verwechseln musste. Es gab sicher mehrere Menschen, die so ungefähr aussahen wie ich. Aber er hatte mich eindeutig von vorne gesehen, wenn auch mit blutverschmiertem Mund.

Ich sah ein, dass es eine verkorkste Situation war, aus der man ohne eine klare Erklärung nicht herauskommen konnte. Ich würde es auf mich zukommen lassen müssen.

Mit neuen Erkenntnissen und neuen Vorsätzen verließ ich das Café. Mein Uhr zeigte eins, ich würde es bis halb zwei locker nah Hause schaffen.

Erst als ich vor unserer Wohnung stand, merkte ich, dass sich meine Schulsachen ja noch in der Schule befanden. Per Sms bat ich Zara, meine Schulsachen für mich mitzunehmen. Ich konnte ihr morgen noch alles erklären, wenn es wirklich nötig wäre. Als ich ihn die Wohnung trat, war wie fast immer niemand zu Hause. Die vertraute Einsamkeit tat gut und ließ mich die Ereignisse besser verarbeiten.

Die Wohnung von Alexej und Susan war sehr klein. Fast zu klein für drei Personen, aber wir hatten uns daran gewöhnt. Wir lebten nicht in einer prunkvollen alten Villa. Das wäre vielleicht etwas zu auffällig für immerhin schon auffällige Personen. Wir versuchten so menschlich wie möglich zu wirken und zu leben. Andere Möglichkeiten gab es nicht. Eine Wohnung im dritten Stock in einem unscheinbaren Wohnhaus war da eben perfekt.

Ich hatte kein eigenes Zimmer, ich wollte auch keins. Das wäre zu viel verlangt. Ich konnte froh sein, dass sie mich überhaupt aufgenommen haben und mich versorgen. Mein Bereich war ein kleine Galerie im Eingangsbereich. Über eine Leiter gelangte man nach oben. Dort konnte ich tun was ich wollte, Alexej und Susan kamen nie hoch.

Ich legte mich auf mein Bett und ließ alles noch einmal vor meinem inneren Auge Revue passieren. Alles von Anfang an. Wie ein Film. Nur hatte dieser Film ein offenes Ende. Das lag alles noch in der Zukunft. Ungewissheit zu haben war ein sehr unangenehmes Gefühl.

Wie eine Statue lag ich auf meiner Matratze und rührte mich nicht. Diese Nacht hätte ich wohl sowieso nicht schlafen können, da die Bilder von diesem Tag immer wieder in meinem Kopf auftauchten.

Das war das seltsamste am Vampirdasein war, dass man nicht schlafen konnte. Man konnte die Augen schließen, aber man war nicht in der Lage abzuschalten. Der Geist war immer voll da, immer bereit, falls etwas passieren sollte. Zu Anfang war das so komisch für mich gewesen. Nicht mehr schlafen zu können war eines der schlimmeren Dinge.

Nächsten Tag wartete Zara schon mit meinen Sachen in der Klasse auf mich. Dankend nahm ich es entgegen. Ich war froh, dass sie meiner Bitte gefolgt war. Sie war schon ein kleiner Engel für mich.

„Was ist denn gestern passiert? Wieso bist du nicht zurückgekommen?“, fragte sie mich besorgt.

„Ich... mir... mir ist total schlecht geworden. Da bin ich zur Schulärztin gegangen, sie hat mir geraten mich zu Hause auszuruhen.“, log ich dass sich die Balken bogen. Obwohl ich eigentlich eine miese Lügnerin war, klang das ganz gut. Es fiel mir noch immer schwer, irgendwen anzulügen, aber ich musste es tun.

„Ach so, das tut mir leid. Geht’s dir wieder besser?“, erkundigte sie sich. Ich nickte nur lächelnd und war dankbar, dass sie mir glaubte.

Lisa stieß zu uns und ich musste die Story wiederholen. Auch sie kaufte mir es auf Anhieb ab. Zara gab mir noch ihre Mitschrift der Physik- und der restlichen Unterrichtsstunden, das wäre jedoch nicht nötig gewesen. Aber um nicht noch merkwürdiger zu wirken nahm ich es entgegen.Die nächsten Stunden verliefen halbwegs normal. Kasper ignorierte ich vollkommen. Doch er bedachte mich stetig mit neugierigen Blicken und lächelte mir sogar manchmal zu. Für diese Aktionen hätte ich sofort über den Tisch kriechen können, um ihn von hinten zu erwürgen. Was erlaubte sich der Kerl? Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, damit es nicht mit mir durchging.

In der großen Pause setzten sich Lisa und Zara zusammen. Ich wollte gerade weggehen, da ich nie mit ihnen etwas aß. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass ich nichts aß. Vampire konnten sehr wohl essen und trinken, aber unser Körper nahm es nicht an. Einige von uns mussten sich sogar übergeben, wenn sie etwas gegessen hatten. Ich war Gott sei Dank keine von denen. Ich konnte trinken und essen so viel ich wollte, doch ich wollte es nicht wirklich ausprobieren und somit ließ ich die Finger von jeglicher fester Nahrung.

Leider funkte mir jemand ganz Bestimmtes dazwischen.

„Hallo meine Lieben.“, begrüßte uns eine nur allzu bekannte Stimme. Während Zara und Lisa sich umdrehten, erstarrte ich.

„Hallo...“, sagte Zara zaghaft. Kasper stand hinter mir, höchstwahrscheinlich breit grinsend.

„Ich bin ja neu hier, wie ihr wisst.“, begann er. „Und natürlich kenne ich noch nicht alles, wollt ihr mich nicht ein wenig herumführen? Wie wäre das?“, fragte Kasper selbstbewusst. Ich wusste, dass er ganz was anderes wollte. Er hatte es wirklich darauf angelegt. Für kurze Zeit ließ es den Hass wieder in mir aufschwappen, doch ich zügelte ihn schon im nächsten Moment.

Noch immer zur Salzsäule erstarrt, stand ich da. Mein Gesichtsausdruck hatte sich ungewollt verzogen.

„Äh...okay...?“, antwortete Lisa und schien sich nicht wirklich sicher zu sein, ob sie das machen wollte. Ich fasste all meine Beherrschung und Mut zusammen und drehte mich um.

„Ja genau! Zeigt ihm doch die Schule!“, zwitscherte ich gekünstelt und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Dann nahm ich mir noch einmal eine gute Portion Selbstbeherrschung und drückte Zara und Lisa in Richtung Kasper, da sie nur unsicher dastanden.

Ich flüchtete danach so schnell wie möglich zu einer Bank im Hinterhof der Schule. Die Bank stand einsam und allein da, genau das was ich brauchte. Ich war die einzige, die davon Gebrauch machte, niemand kümmerte sich um dieses alte Ding. Das war auch gut so, denn ich wollte von niemanden gestört werden. Dort unten verbrachte ich meistens die große Pause. Ein weiterer beliebter Ort war auch die Bibliothek. Bücher hatten mich schon immer auf eine Art fasziniert, die ich nicht beschreiben konnte. Es war tausend Mal besser als ein Film, denn man konnte das Buch zur Seite legen und weiterlesen wenn man wieder Lust hatte.

Hier war es sehr still, nicht einmal Vogelgezwitscher war ich zu vernehmen. Nur das Geräusch des Windes, der über das Dach der Schule zog. Ich schloss die Augen und lauschte ein wenig. Nach kurzer Zeit konnte ich mehr als nur den Wind hören. Das Scharren von Stühlen, lautes Gelächter, klackende Türen. Alles konnte ich durch mein Supergehör wahrnehmen. Dem Leben zu lauschen war schön, wenn man selbst nur ein untoter Körper war. Ich schaltete automatisch auf den üblichen Standby-Modus und lauschte weiter. Je mehr ich mich konzentrierte, desto klarer wurden die Geräusche.

Gerade hetzte jemand durch die Gänge, anscheinend war derjenige auf der Suche nach jemanden. Zwei andere unterhielten sich angeregt über ein Videospiel. Mehrere Leute lachten im selben Moment über einen Witz, den jemand zuvor erzählt hatte.

Die Schritte des Suchenden kamen immer näher, doch ich konzentrierte mich immer noch auf die anderen Stimmen in der Schule. Ein Mädchen heulte sich bei ihrer besten Freundin auf dem Klo aus. Ihr Freund hatte sie aus unerfindlichen Gründen verlassen. Im selben Stock gleich nebenan hing ein ganzer Pulk von Jungs über einer Zeitschrift für Motorräder. Sie staunten über jedes noch so kleine Detail. Unwillkürlich musste ich grinsen.

„Ah... da bist du.“, sagte plötzlich Kasper neben mir. Ich schreckte hoch und starrte ihn mit geweiteten Augen an. Da ich mich so sehr die anderen fokussiert hatte, hatte ich nicht bemerkt, dass er sich mir genähert hatte. Jetzt hatte ich ihn schon wieder am Hals.

Wie selbstverständlich setzte er sich neben mich, während ich immer noch ein wenig perplex war. Gott sei Dank hatte ich mich schnell wieder gefasst und rückte ans andere Ende der Bank.

„Lass mich.“, meinte ich nur und zeigte ihm die kalte Schulter. Er hingegen ignorierte das vollkommen.

„Deine Freundinnen waren richtig nett. Sie haben mir fast alles gezeigt. Sehr freundlich von ihnen, meinst du nicht, Monica?“, fragte er mich.

Wie vom Blitz gerührt drehte ich mich wieder um. Wer hatte ihm meinen Namen gesagt? Welcher Trottel hatte ihm meinen Namen gesagt? Abermals überkam mich Wut. Er hatte meinen Namen in seinen Mund genommen. Ich sollte mir sofort einen anderen zulegen. Dieser war auf ewig besudelt.

Ruhig, ganz ruhig, rief ich mich zur Besinnung. Denk an das, was Rosa dir gesagt hat. Sein Verhalten ist gaaaanz normal. Trotzdem war er ziemlich aufdringlich in seiner Art. Es bereitete mir jedes Mal Unbehagen.

„Woher weißt du meinen Namen?“, giftete ich ihn an. Meine Augen waren nur ein schmaler Schlitz.

„Deine Freundinnen haben ihn mir netterweise verraten.“, antwortete er und grinste mich dabei an. Das würde ich den beiden nie verzeihen. Wie konnten sie nur? Das war nicht fair!

„Warum hast du nicht mich danach gefragt, hm? Es ist nicht sehr höflich, wenn man jemanden anders fragt, meinst du nicht?“, fauchte ich. Es juckte mich wieder in den Fingern und ich wollte ihm wirklich etwas tun.

„Ich konnte mir sicher sein, dass du ihn mir auf keinen Fall verraten würdest.“, erwiderte er. Okay, das stimmte. Ich hätte sicher nichts gesagt. Nicht mal im Traum hätte ich daran gedacht.

Verärgert rümpfte ich die Nase und sah ihn abfällig an.

„Sag mal, waren meine Aussagen nicht klar genug, oder wieso folgst du mir?“, wollte ich von ihm wissen. Er lachte belustigt auf. War meine Frage so witzig oder was?

„Aussagen?“, gluckste er und wischte sich theatralisch eine Träne aus dem Gesicht. „Das waren eher Drohungen!“ Ich musste zugeben, dass es das eher traf. Anscheinend wollte ich es für mich selbst nur ein bisschen verharmlosen.

„Ja, deine sogenannten ‚Aussagen’ waren schon klar genug.“, antwortete er mir auf meine eigentliche Frage. „Aber sie sind mir egal.“, hing er noch grinsend an.

Das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Voller Hass gab ich ihm eine schallende Ohrfeige. Was... was glaubte er, wer er ist? Gott persönlich oder was? Ich musste mich wirklich zurückhalten, um ihn nicht sofort hier und jetzt windelweich zu prügeln. Ein heißer Schauer lief mir den Rücken hinunter. Das Raubtier in mir war erneut zum Leben erwacht und wartete nur auf seinen Einsatz. Doch den würde es für ihn nicht geben. So weit würde ich es nicht kommen lassen. Darum machte ich meiner Wut einfach mit Worten Luft.

„Du elender...! Was glaubst du, wer du bist?! Lass mich gefälligst in Ruhe! Ich hasse dich! Ich hasse dich so sehr! Du zerstörst mein Leben!“, brüllte ich ihn fuchsteufelswild an. Mit geweiteten Augen sah er mich an. Geistesabwesend hob er eine Hand und fasste sich auf die gerötete Stelle an seiner Wange.

Danach stampfte ich davon. Ich kochte vor Wut. Als ich gerade hineingehen wollte, hörte ich Kasper noch hinter vorgehaltener Hand kichern. Das machte es mit meinem Hass keinesfalls besser.

Ich lief die Gänge sinnlos auf und ab. Nur noch fünf Minuten, bis die Stunde wieder anfing. So schnell wie möglich musste ich mich abregen. Heute würde ich nicht aus der Schule fliehen. Diesen Triumph würde ich ihm nicht gönnen. Da hatte er sich kräftig geschnitten.

Kurz bevor ich ins Klassenzimmer zurückmarschierte, wurde mir klar, dass ich ihm indirekt mit meinen Worten eine Bestätigung gegeben hatte. Eine Bestätigung, dass ich es wirklich gewesen war, die auf diesem Berg ihm gegenüber gestanden hatte. Wahrscheinlich hatte er es genau darauf abgezielt und mich deswegen provoziert. Ich klatschte mir verärgert gegen die Stirn. Wie blöd ich doch manchmal war. Wieso hatte ich Rosas Rat nicht befolgt? Warum hatte ich gerade jetzt die Beherrschung verloren? Jetzt konnte man leider auch nichts mehr dagegen machen.

Zara und Lise merkten nichts von meinen vorangegangen Turbulenzen. Sie verhielten sich ganz normal. Kasper kam erst auf den letzten Drücker in die Klasse zurück. Wahrscheinlich war er noch ein wenig paralysiert von meiner Ohrfeige. Geschah ihm ganz recht. Ab jetzt bedachte er mich nicht mehr mit neugierigen Blicken wie sonst immer. Wir beide taten so, als ob der andere nicht existieren würde. Meine Ohrfeige hatte ganz offensichtlich Wirkung gezeigt und darüber war ich froh. Das gab mir das Gefühl von Normalität zurück, woraufhin sich Zufriedenheit in mir ausbreitete. Ich konnte mich wieder ganz normal verhalten, ohne dass mich ständiger Hass beherrschte. Natürlich hoffte ich, dass dieser Zustand anhalten würde.

Als die letzte Stunde zu Ende ging und ich schon meine Sachen packte, trat Lisa noch einmal an mich heran.

„Hey Monica. Hast du heute Abend vielleicht Zeit?“, fragte sie mich und lächelte dabei zögernd.

„Öh... ja. Wieso?“, antwortete ich, dabei blickte ich sie fragend.

„Zara, ich und noch ein paar andere gehen aus. Willst du nicht mitkomen?“, lud sie mich freundlich ein. Das hätte ich mir gleich denken können. Zeitweise war ich echt schwer von Begriff. Zara und Lisa haben mich schon öfters eingeladen oder mitgenommen. Aber nur aus Höflichkeit, dachte ich mir immer. Ich nahm aber auch immer nur aus Höflichkeit an. Das war alles.

„Gerne.“, erwiderte ich also und versuchte ein Lächeln.

„Okay, wir treffen uns alle um zehn Uhr beim Belami.“, sagte sie mir und verschwand gleich darauf.

Na wenigstens hätte ich diese Nacht etwas zu tun und würde nicht wie eine Statue in meinem Bett ein Buch lesen. Ich nahm also meine Schultasche und beeilte mich, damit ich noch zu meinem Bus nach Hause kam. Der fuhr nämlich gleich bis vor die Haustüre, sehr praktisch.

Als ich im Gang ging folgte mir plötzlich jemand hastig. Ich bemerkte es jedoch nicht, da ich mir schon Gedanken machte, was ich anziehen sollte. Um nicht aufzufallen trug ich meistens eher schlichtere Sachen, nichts Neumodisches oder so. Darum bezeichneten mich manche auch als „altbacken“. Ich konnte ja Susan fragen, ob sie mir einige Sachen von ihr lieh. Sie hatte nämlich so ungefähr die Größe von mir.

Während ich noch in meinen Gedanken schwelgte, hatte mich derjenige, der mir folgte, schon eingeholt.

„Hi! Ich hab gehört, ihr wollt ausgehen!“, sagte mir auf einmal Kaspers Stimme von rechts. Erschrocken fuhr ich zusammen und blieb abrupt stehen. Er blieb ebenfalls stehen. Ich hätte mir gedacht, er ließe mich ab jetzt in Ruhe! Hatte meine wunderschöne Ohrfeige schon seine Wirkung verloren? Das konnte doch nicht sein! Ob ich ihm noch eine verpassen sollte? Nein lieber nicht, sonst verklagt er mich noch wegen Körperverletzung. Abermals schwappte Wut in mir auf. Die war aber nur mehr halb so groß. Irgendwas musste sie halbiert haben. Hatte ich etwa einen Teil meiner Wut mit der Ohrfeige ausgegeben?

„Ähm... hallo? Wer zu Hause? Erde an Monica!“, sagte Kasper zu mir, wobei er mit der Hand vor meinem Gesicht wedelte. Ich hatte zu lange geschwiegen. Schon wieder hüpfte er wie ein kleines Kind ungeduldig hin und her.

„Ach, lass mich in Ruhe!“, erwiderte ich verärgert und klatschte seine Hand weg.

„Das sagst du immer. Langsam hat das keine Wirkung mehr, meinst du nicht?“, meinte Kasper sarkastisch. Mein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich nur mehr wenig Zeit hatte. Deswegen setzte mich so schnell wie möglich in Bewegung und eilte davon. Kasper kam mir hastig hinterher.

„Bei dir hat sowieso nichts Wirkung.“, teilte ich ihm mit demselben Sarkasmus mit. „Da hast du Recht.“, antwortete er und grinste wieder sein Grinsen.

Für eine Weile marschierte er nur ein mit mir Schritt, dann plauderte er wieder drauflos.

„Alsooo...“, fing er an und räusperte sich vorher noch einmal. „Wollen wir zum eigentlichen Thema zurückkehren?“, schlug er unsinnigerweise vor.

„Welches Thema? Es hat nie eins gegeben.“, entgegnete ich kühl. Nun war ich wieder wachsam und passte auf, was ich sagte.

„Ach komm schon. Du weißt, wovon ich rede.“, sagte Kasper mit gespielter Beleidigung im Ton.

„Nein, weiß ich nicht.“, war meine kurze Antwort. Ich sollte ihm wirklich noch eine Ohrfeige geben. Die erste hatte ja offensichtlich nicht viel gebracht. Verstand er denn nicht, dass er sich selbst damit in Gefahr brachte? Niemand durfte von den Vampiren erfahren.

„Wieso leugnest du es immer? Das bring doch nichts.“, meinte Kasper plötzlich. Mein Arm zuckte schon, bereit zum Ausholen. Gerade hasteten wir die Treppen hinunter zur großen Eingangshalle. Es waren zwei Stockwerke bis dorthin. Unsere Schule war ziemlich groß.

„Red keinen Scheiß. Wenn ich nicht weiß, wovon du sprichst, kann ich auch nichts leugnen.“, sagte ich entschieden und hetzte dem Ausgang entgegen.

„Hmpf.“, war seine Meinung dazu. Fiel ihm nichts mehr ein?

„Okay lassen wir das.“, entschied er dann kurzerhand. Ich war froh über den Themenwechsel, auch wenn ich ja eigentlich widerwillig mit ihm sprach.

„Was willst du noch?“, fragte ich ihn genervt und konnte schon den Bus heranfahren sehen. Die Bushaltestelle war Gott sei Dank gleich gegenüber vom Ausgang.

„Ihr wollt ausgehen, hm?“, erkundigte er sich abermals. „Ja und? Was geht dich das an?“, fuhr ich in gleich an, aber ich bereute es nicht.

„Willst du mich nicht einladen? Dann würde ich mal das Nachtleben hier kennen lernen.“, wollte er von mir wissen und grinste wieder breit.

„Ha! Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich einladen werde! Nicht in einer Milliarde Jahre mein lieber Freund!“, antwortete ich und lachte dabei höhnisch. Im selben Moment stoppte der Bus. Ich verlangsamte meinen Schritt und steuerte auf die Tür zu.

„Du bist unfair!“, protestierte Kasper derweil. Eilig kramte ich nach meinem Ausweis. Eigentlich war das nicht wirklich nötig, da uns der Busfahrer alle schon gut kannte. Ich ließ es also bleiben und stieg mit Kasper im Schlepptau ein. „Die Welt ist nicht gerecht, gewöhn dich dran.“, riet ich Kasper derweil, meine Stimme triefte vor Sarkasmus.

„Fahrausweis bitte, mein Fräulein!“, ordnete auf einmal eine mir unbekannte Stimme an. Genau vor dem Fahrer blieb ich stehen und starrte ihn an. Das war alles andere als unser üblicher Fahrer. Verdutzt blieb ich erst einmal still, während der Mann noch immer auf meinen Ausweis wartete.

„Ich... äh... Wo ist denn Mister Brandt?“, fragte ich ihn ausweichend. Neugierig beobachtete Kasper das Geschehen vor seiner Nase.

„Der ist krank. Ich bin die Vertretung. Also, wo ist ihr Fahrausweis?“, erklärte er mir und forderte erneut meinen Ausweis an. „Aber bei Mister Brand musste man ihn nie zeigen.“, warf ich verzweifelt ein. Konnte ich ihn möglicherweise mit meinem Vampircharme um den Finger wickeln?

„Wie Sie sehen bin ich nicht Mister Brandt. Entweder Sie zeigen mir jetzt ihren Ausweis, oder sie kaufen sich ein Ticket. Sonst muss ich Sie bitten auszusteigen.“, stellte er mich vor ein Ultimatum. Döööt!, tönte es in meinem Kopf. Mein sogenannter „Charme“ hatte ihn anscheinend weiter von meinem Finger weggebracht als sonst was.

„Aber... ich hab meinen Ausweis vergessen...“, murmelte ich verzweifelt in mich hinein. Geld hatte ich blöderweise auch keins dabei. Wie ich das hasste. Warum ausgerechnet heute? Es war sowieso schon ein Scheißtag.

Aus dem Nichts schoss Kaspers Hand hervor und drückte dem Fahrer Kleingeld in die Hand.

„Reicht das für ein Ticket?“, erkundigte er sich. Der Herr zählte nach und nickte dann. Er ließ uns endlich vorbei.

Wie ein Roboter stakste ich zur hinteren Reihe. Das gibt’s doch nicht. Kasper hatte mir wirklich meine Fahrt bezahlt! Ich hätte mir eher gedacht, dass er mir von innen zuwinken würde, wenn der Bus abfuhr. Es überrascht und verwirrte mich vor allem. Kasper folgte mir natürlich und setzte sich direkt neben mich.

„Wieso hast du das getan?“, fragte ich ihn, nachdem ich mich halbwegs gefasst hatte.

„Na ja, erstens wollte ich nicht, dass du den ganzen Weg nach Hause laufen musst und zweitens schuldest du mir jetzt etwas.“, erklärte er mir grinsend. So war das also.

„Ich schulde dir also etwas?“, fragte ich gepresst.

„Jup. Und ich hab auch schon was Passendes um deine Schuld zu begleichen.“, eröffnete er mir freudig. „Und das wäre?“, wollte ich wissen.

„Du lädst mich zu eurem kleinen Treffen da ein.“, antwortete er. Jetzt war er am Höhepunkt seiner unbegrenzten Freude angekommen zu sein. Er hatte das also nur gemacht, damit ich ihn einladen musste. Das hätte ich mir auch gleich denken könne, dass er so ein Typ war. Jetzt wusste ich, dass er sich für nichts zu schade war, um an seine Ziele zu kommen.

„Du hast das Ticket nur bezahlt, dass ich dich zu diesem bescheuerten Abend einlade?“, wollte ich von ihm wissen und gaffte ihn wütend an. Er tat so, als ob ihn meine strafenden Blicke nichts anhaben konnten.

„Äh.. Ja, ich glaub schon.“, sagte Kasper etwas unentschieden. Das machte mich rasend. Wieder hatte ich das Verlangen, ihm den Kopf abzureißen.

„Wie blöd bist du eigentlich? Du bekommst aber auch immer alles was du willst, oder?“, fragte ich ihn hasserfüllt. Der Bus war schon längst losgesaust und schlängelte sich nun durch den dichten Mittagsverkehr.

„Wieder ja...“, war seine karge Antwort. Es sah aus, als ob ihm das auf einmal unangenehm war. Als ob es ihm leid täte, dass er diese Situation so ausnutzte.

„Und wenn ich meinen Ausweis dabeigehabt hätte und du das Ticken nicht bezahlen hättest müssen? Wärst du mir dann solange auf die Nerven gegangen, bis ich nachgegeben hätte?“, fragte ich ihn weiter aus. Jetzt erst war ich so richtig in Fahrt gekommen.

„Noch mal ja.“, sagte Kasper, trug diesmal aber sein übliches Grinsen auf den Lippen. „Also lädst du mich jetzt ein oder was?“, erkundigte er sich abermals.

„Mach, was du willst. Mir ist alles egal.“, antwortete ich ihm genervt und wedelte abwertend mit meiner Hand. „Das werd ich auch tun.“, sagte er selbstsicher und ich wollte ihm schon wieder eine Ohrfeige verpassen. Ich hielt mich aber zurück, da ich es nicht unbedingt vor Publikum machen wollte. Überhaupt würde das wahrscheinlich wenig nützen. Wie er selbst gesagt hatte, wird er das tun, was er will. Ein Sturkopf wie er im Buche steht. Hoffentlich würde er mir nicht den ganzen Abend mit seinen blöden Fragen verderben. Oder sollte ich vielleicht erst gar nicht kommen? Nein! Von ihm würde ich mich nie wieder verscheuchen lassen! Leider machte mich der Gedanke rasend, dass er dort sein würde. Ich seufzte genervt und ließ den Kopf hängen.

Das Verlangen, das ich bei unserem ganz ersten Aufeinandertreffen hatte, war dummerweise noch immer da. Ihm nah zu sein, das war alles was dieses verdammte Verlangen auszeichnete. Durch meinen Hass wurde es aber größtenteils unterdrückt, wofür ich dankbar war. Dieses Verlangen war so absurd, dass ich mich mit allem was ich hatte dagegen sträubte.

Ich war so froh, als Kasper ein paar Stationen vor meiner schon aussteigen musste. Wenigstens hatte ich die letzten Meter für mich allein und musste mir nicht sein Gelaber anhören. Ein vertrautes raues Gefühl machte sich in der Halsgegend breit. Durst meldete sich leise in meinem Kopf. Doch ich ignorierte ihn. Jetzt konnte ich nicht schon wieder etwas trinken. Da kam ich mir doch geradezu verschwenderisch vor.

Mit meinem Schlüssel schloss ich die Wohnungstür dann auf und trat in die leere Wohnung ein. Es war irgendwie selten, dass jemand zu Hause war, wenn ich kam. Wir lebten eher alle unsere eigenen Leben, als dass wir zusammen leben würden. Ich verkroch mich wie sonst auch in mein Reich. Die Hausaufgaben hatte ich schon während der Stunde in mein Heft gemacht. Für mich war Schule fast zu einfach, deswegen war es auch zeitweise ziemlich langweilig. Ich lebte ja schon lange genug, da hatte sich auch eine Menge Wissen angesammelt.

Bis zum Abend hindurch überlegte ich mir, was ich anziehen sollte. Auch Susans Sachen durchkramte ich, natürlich mit ihrer Erlaubnis. Es schien nichts wirklich Passendes dabei zu sein. Aber was zog man schon großartig zum Ausgehen an, wenn man in der Dunkelheit der Discos sowieso nichts sehen konnte? Na ja, man wollte höchstwahrscheinlich attraktiv und sexy wirken. Bis zuletzt konnte ich mich nicht entscheiden, was ich nahm. Dann fiel meine endgültige Entscheidung auf einen knielangen Rock und eine zugegebenermaßen enge Bluse. Meine Haare ließ ich offen, so wie immer. Make-up legte ich keines auf. Ich wollte auf keinerlei Weise auffallen.

Susan freute sich, als würde sie selbst zu dem Treffen gehen. Sie war richtig aus dem Häuschen deswegen.

Ich hatte mir schon oft Gedanken gemacht, wie es wohl wäre, einen Freund zu haben. Da ich aber ein Vampir war, würde eine Beziehung zwischen Mensch und Vampir nie funktionieren. Schon allein eine einfache Freundschaft konnte jederzeit Gefahr bedeuten. Gefahr in der Hinsicht, dass ich über denjenigen herfallen konnte sobald ich die Selbstbeherrschung verlor oder dass sie hinter unser Geheimnis kamen. Das wäre die schlimmste Situation überhaupt, denn darauf stand für den Menschen und den jeweiligen Vampir laut unseren Gesetzes die Todesstrafe. Ich kannte Næhan gut genug, um sagen zu können, dass er da keinesfalls eine Ausnahme machen würde. Zusätzlich hatte ich in Sachen Beziehung keine Ahnung. Zu meiner Zeit als Mensch hatte ich nicht wirklich viele Erfahrungen machen können. Irgendjemand hatte mal zu mir gesagt, ich sei ein richtiges Kind, wenn es das anging. Das konnte ich auch nicht abstreiten, aber es war schon ein seltsames Gefühl irgendwo.

Da ich schon spät dran war, beeilte ich mich noch rechtzeitig zum vereinbarten Zeitpunkt anzukommen. Die Nacht hatte schon alles in Dunkelheit gehüllt und Straßenlaternen erhellten alle paar Meter die Straßen der Stadt. Das Belami war nur ein paar Häuserblocks weiter. Lisa und Zara standen schon mit ihren Freunden und einigen anderen vor dem Eingang.

„Hallo! Schön, dass du gekommen bist.“, begrüßte mich Zara, als sie mich erblickt hatte. Ich lächelte sie an und grüßte die anderen.

Ich unterhielt mich mit Lisa und zwei anderen Mädchen, während wir noch auf die letzten Zwei unserer Gruppe warteten. Alle waren ziemlich modisch und „aufreizend“ angezogen. Dagegen fühlte ich mich wie eine graue Maus unter bunten Blumen.

Das Belami, in das wir gehen wollten, war eine ziemlich angesagte Disco in der Stadt. Sie war für meine Verhältnisse riesig und hatte mehrere Stockwerke mit jeweils einer überdimensionierten Tanzfläche. Ich war erst zwei Mal da drin gewesen und das hatte mir eigentlich auch schon gereicht. Die Techno-Musik war das genaue Gegenteil einer Liebkosung meiner sensiblen Ohren. Jedes Mal war ich halbtaub, als ich da rausging. Trotz der Musik fand ich den Laden nett. Er war gut eingerichtet und bot ein schönes Ambiente, oder wie man das nannte. Von den Getränken konnte ich nichts sagen, da ich ja nur Geschmackssinne für Blut hatte. Alle anderen Flüssigkeiten waren wie schon mal erwähnt Sand in meinem Mund.

„Hallöle.“, begrüßte mich Kasper von hinten. Sofort schwankte meine Stimmung von gut gelaunt in super genervt um. Ich drehte mich um, während er mir freudestrahlend entgegenkam.

„Hast du den eingeladen?“, fragte mich Florian, der Freund von Lisa. Er wirkte nicht sehr erfreut über die Anwesenheit von Kasper.

Gerade als ich sagen wollte, dass er sich selbst eingeladen hätte, kam mir Kasper blöderweise zuvor.

„Ja, das hat sie. Nicht wahr, Monica?“, sagte er und sah mich erwartungsvoll an.

Ich sagte nichts dagegen, sondern blickte einfach nur starr geradeaus.

„Auch egal. Je mehr Leute, desto besser.“, meinte Florian darauf. „Gehen wir.“

Darauf stellten wir uns erst einmal an und kamen nach einer geschlagenen halben Stunde endlich hinein. Kasper war dabei natürlich immer an meiner Seite. Er redete angeregt mit den anderen Jungs. Sie erzählten sich, was sie nicht schon so alles in den Discos erlebt hätten. Angeben wäre wohl passender, aber so waren sie nun mal.

Drinnen teilten wir uns in kleine Grüppchen auf, die sich auf die vielen Stockwerke verteilten. Zara, Lisa, deren Freunde, Kasper und ich setzten uns an einen Tisch in einer Ecke, wo man die Musik nicht so laut hören konnte. Florian besorgte uns erst einmal was zu trinken.

Zara und ich plauderten über belangloses Zeug, während Lisa, ihr Freund und Kasper darüber stritten, welches Getränk hier am besten wäre. Da jeder seinen eigenen Geschmack hatte, war diese Konversation endlos. Erst als Florian mit den Getränken in den Händen zurückkam, hörten sie auf.

Die anderen hatten sich jetzt schon ziemlich harte Sachen genommen, ich dagegen fing klein an. Es war so schon unangenehm genug, da musste ich mich nicht auch noch besaufen. Das war ziemlich lustig. Obwohl menschliches Essen oder sämtliche Getränke keine Wirkung auf uns hatten, konnte uns Alkohol genauso betrunken machen wie die Menschen.

Schon nach kurzer Zeit wollten alle tanzen gehen. Ich blieb jedoch sitzen. Tanzen war das letzte was ich konnte. Es war mir gewissermaßen peinlich. Mich vor allen Leuten so zu bewegen, auch wenn mir bestimmt nicht jeder zusehen würde. Auch Kasper wollten sich schon den anderen anschließen, als er sah, dass ich sitzen blieb, stoppte er. Er setzte sich direkt neben mich. Ich schaute den anderen hinterher. Lisa und Zara sahen so glücklich aus mit ihren beiden Freunden. Moment mal, ich war doch nicht etwa eifersüchtig? Ich doch nicht! Trotzdem driftete ich für wenige Sekunden in eine Traumwelt ab. Ich stellte mir vor, wie das so wäre mit einem Freund. Als jedoch plötzlich Kaspers Gesicht in meinen Gedanken auftauchte, stoppte meine Träumerei sofort. Wieso gerade Kaspers Gesicht? War ich jetzt komplett hirnlos? Jetzt spielte ich mir selbst schon einen Streich. Schnell versuchte ich mich auf andere Gedanken zu bringen. Leider hinderte mich Kasper selbst daran, dies zu tun.

„Wieso gehst du nicht auch tanzen?“, fragte er mich neugierig wie immer.

„So halt. Ich will nicht.“, antwortete ich darauf brüsk, schaute ihn dabei nicht an.

„Und wann willst du?“, wollte Kasper weiter von mir wissen.

„Warum fragst du mich immer aus? Das nervt.“, stellte ich eine Gegenfrage.

Er hielt einen Moment inne, bevor er antwortete.

„Okay, dagegen kann ich nichts sagen.“, meinte er und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass er grinste.

„Genau. Also warum gehst du nicht zu deinen neuen Freunden und amüsierst dich ein wenig?“, schlug ich sarkastisch vor. Ich musste zugeben, dass ich es mochte, sarkastisch zu sein, wenn Kasper mit mir sprach.

„Sie sind nicht meine Freunde.“, erwiderte Kasper, schüttelte dabei entschieden Kopf.

„Ach ja? Wieso denn nicht?“, fragte ich ihn.

„Ich bin nur freundlich. Freundschaft macht sich nicht so schnell wie du vielleicht glaubst.“, beantwortete er meine sarkastische Frage. Oh, jetzt werden wir auch noch sentimental. Obwohl ich die Antwort eher abfällig behandelte, war ich trotzdem überrascht, dass er gerade so geantwortet hatte.

„Was bedeutet denn für dich Freundschaft?“, wollte ich von ihm wissen. Die Frage rutschte mir eher raus, als dass ich sie wirklich stellen wollte. Als hätten meine Gedanken für mich gefragt. Darauf schwieg er einen Moment.

„Freundschaft kann so vieles bedeuten. Es ist schwer zu sagen, um ehrlich zu sein. Wahre Freundschaft ist für mich, wenn man auch noch nach Jahren an den anderen denkt. Oder dass man immer füreinander da ist, auch wenn es einen selbst gerade nicht so gut geht. Das wichtigste, was Freundschaft braucht ist Zeit und Verständnis. Verstehst du?“, erklärte er mir. Daraufhin war ich baff. So etwas hätte ich ihm nicht zugetraut. Er hatte das mit so einer Ehrlichkeit in der Stimme gesagt, dass ich ihm einfach glauben musste. Es verwirrte mich ein wenig. Ich hatte eher mit einer blöden Antwort gerechnet, sodass ich ihm wieder irgendwelche Schimpfwörter an den Kopf werfen konnte. Ungewollt hatte ich meine Blick auf ihn gerichtet und gaffte ihn schon seit geraumer Zeit an.

Dann riss ich mich zusammen, schüttelte einmal den Kopf. Um von ihm wegzukommen, stand ich auf und ging zum Barkeeper. Diesmal folgte mir Kasper nicht. Wenigstens ließ er mich für wenige Minuten alleine.

Ich forderte ein Getränk an, das mehr als genug Alkohol enthielt. Der Barkeeper gab mir bereitwillig das, was ich wollte. Noch an der Bar schüttete ich alles in einem Zug hinunter.

Auf einmal konnte ich die Anwesenheit eines anderen Vampirs riechen. Erstarrt hielt ich in meiner Bewegung inne. Wie ein Roboter setzte ich das Glas Wasser ab, stellte es ab und drehte den Kopf langsam nach rechts. Vampire riechen ziemlich eigen. Der Geruch kommt stark dem Duft von Lavendel nahe, das glaubt man aber nur im ersten Moment. Denn wenn man ihn länger in der Nase hatte, kam immer mehr ein reizender und juckender Geruch dazu.

Der andere Vampir kam direkt auf mich zu und setzte sich auf den Hochstuhl neben mir. Er orderte genau das an, was ich zuvor getrunken hatte. Es irritierte mich, dass er so nah an mich herankam. Normalerweise blieben wir immer in einem gewissen Abstand zueinander.

Als er meinen starrenden Blick bemerkte, sah er mich an und bedachte mich mit einem höflichen Nicken. Wie automatisch nickte ich zurück.

Ich wusste nicht wieso, aber ich konnte jetzt nicht weggehen. Statt dass ich zurück zum nervigen Kasper ging, setzte ich mich ebenfalls auf einen Hochstuhl. Jetzt nippte ich bedächtig an meinem Getränk und schüttete es nicht wie vorher hinunter. Aus den Augenwinkel konnte ich mir den fremden Vampir näher ansehen. Er hatte lange wasserstoffblonde Haare, die im Nacken er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine blaue Augen hatten einen ziemlich durchdringenden Blick. Mir fiel auf, dass er ein richtiger Riese war.

Er bemerkte meinen Blick aus den Augenwinkel und schenkte mir ein unwerfendes Lächeln. Beschämt blickte ich weg. Ich machte es wirklich offensichtlich. Er drehte sich zu mir herum.

„Sind Sie auf Durchreise?“, fragte er mich direkt. Ich schüttelte nur den Kopf.

„S... Sie etwa?“, erkundigte ich mich stotternd. Es gefiel ihm, dass ich so schüchtern reagierte. „Ja, ich werde bald wieder gehen. Aber ich will vorher noch einen Freund besuchen.“, antwortete er mir.

„S..so?“, stotterte ich vor mich hin. Mein Glas hielt ich fest umklammert, sodass ich Angst hatte, dass es zerspringen würde.

„Ja. Sie kennen nicht zufällig einen Alexej?“, wollte er von mir wissen. Nun wurde ich wachsam. Meinte er meinen Alexej oder gab es plötzlich noch einen? Davon ging ich aber nicht aus, da dieser Name eher selten war. „DuSolej?“, setzte der Vampir fragend hinterher. Stirnrunzelnd nickte ich.

„Er... ist sozusagen mein ‚Vater’“, erzählte ich ihm. Auf diese Antwort wirkte er überrascht.

„Oh! Dann sind Sie... Monica? Oder doch Susan?“, hinterfragte er. Okay, jetzt wurde es gruselig. Er wusste ja ziemlich viel. Wer war das? Sollte ich ihn kennen? Alexej hatte nicht erwähnt, dass er einen Freund hatte.

„Ich bin Monica.“, sagte ich verwirrt.

„Mein Name ist Allen. Allen Vogt.“, stellte er sich vor. Der Name sagte mir nichts, ich kannte ihn nicht.

„Es tut mir leid, aber Alexej hat nie gesagt, dass er einen Freund hat.“, sagte ich ihm. Es war vielleicht direkt, aber ich musste es so sagen. Was wollte der Typ von Alexej? War er wirklich ein Freund oder gar ein Feind? Doch Allen lachte nur belustigt darauf.

„Das glaub ich dir! Über mich will er bestimmt nicht reden.“, entgegnete er noch immer lachend. „Wieso das?“, fragte ich.

„Na ja, wir haben in früher Zeit ein paar krumme Dinger gedreht, wenn du verstehst was ich meine. Und er ist halt jetzt so ein Spießer geworden.“, antwortete er mir. Ja, ich verstand ganz genau, was er meinte. Sie hatten sich ausgetobt und grundlos Menschen umgebracht. Damit machte er sich mich nicht gerade zum Freund.Und Alexej war meiner Meinung nach kein Spießer, er versorgte nur seine Familie. Das Geld wächst leider nicht auf den Bäumen, sonst würde er sowieso nicht arbeiten. Das war alles. „Ich habe sie noch nie beim alljährlichen Treffen gesehen. Gehen Sie nicht dorthin?“, fragte ich ihn nach einer Weile. Alle Vampire hielten sich an die Tradition, das war schon seit Anfang der Zeit so. Deswegen war es auch so seltsam, dass ich ihn nicht wenigstens vom Sehen her kannte.

„Ach das... Ich bin nicht gerne unter anderen Vampiren. Alexej ist auch mein einziger Freund.“, beantwortete Allen mir die Frage wahrheitsgemäß. Ich nickte nur darauf. Da war er natürlich kein Einzelfall. Es gibt nur wenige Vampire, die die Gesellschaft ihresgleichen mögen. Aber er hatte mir trotzdem nicht wirklich geantwortet. Immerhin kam ich ja ebenfalls – wenn auch widerwillig – zu diesen Treffen. Obwohl ich nachhaken wollte, ließ ich es bleiben. Es sah sowieso schon alles ziemlich nach einer Ausfragerei aus.

„Ich weiß, es geht mich nichts an... Aber darf ich fragen, wieso Sie Alexej besuchen wollen?“, wollte ich danach noch wissen. Ich musste ehrlich sagen, dass mir der Typ nicht ganz geheuer war. Er konnte Informationen über uns eingeholt haben und eigentlich ganz wer anderer sein. Aber wieso sollte uns wer etwas tun? Wir hatten uns bis jetzt an die Regeln gehalten, also gab es keinen Grund für einen Angriff. Wenn ich nach Hause kam, musste ich Alexej sofort davon erzählen. Vielleicht war es ja wirklich nur ein harmloser Vampirfreund.

„Sicher darfst du fragen.“, entgegnete er grinsend. „Ich hab ihn schon eine Ewigkeit nicht gesehen. Für lange Zeit hab ich nicht mal gewusst, ob er noch lebt. Jetzt hab ich mal geschaut, wo er wohnt und weil es zufällig in der Nähe war, wollte ich hier einen Abstecher machen bevor ich weiterziehe.“ Daraufhin nickte ich, immer noch skeptisch. Irgendwie konnte ich einfach kein Vertrauen zu ihm fassen. Wahrscheinlich der Verdienst meiner Vampirinstinkte.

„Wären Sie so nett und könnten ihm eine Nachricht von mir überbringen?“, bat Allen mich plötzlich mit Engelsblick.

„Natürlich. Was soll ich ihm ausrichten?“, erwiderte ich. Na toll, jetzt durfte ich auch noch Nachrichtenbote für ihn spielen.

„Sagen Sie ihm, dass ihn sein alter Freund Micha gern mal wieder sehen möchte. Er kann mich jeden Abend hier um elf antreffen.“, zitierte er mir. Was hatte er gerade gesagt? Micha? Vorher war er doch noch Allen gewesen.

„Micha? Aber haben Sie...“, wollte ich fragen, kam aber nicht weit, da er mir das Wort abschnitt. „Micha ist mein zweiter Vorname. Ich bin unter dem Namen Allen bekannt, aber Alexej hat mich immer mit Micha angesprochen.“, erklärte er mir bereitwillig.Hätte er mir das nicht schon vorher sagen können? Das war vielleicht ein seltsamer Typ. Ich war noch misstrauischer als sonst bei einem Fremden. Er hatte etwas an sich, dass mir nicht gefiel. Aber ich würde auf jeden Fall Alexej davon Bericht erstatten.

„Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden...“, verabschiedete Allen sich kurzerhand und rutschte vom Barhocker. Er verschwand in der dichten Menschenmenge, die sich in der Disco drängelte.

Nachdenklich bestellte ich mir noch mal dasselbe Getränk. Bereitwillig gab mir der Barkeeper was ich wollte. Ich stand ebenfalls auf und spazierte wieder zum Tisch zurück. Kasper war verschwunden, wahrscheinlich war er tanzen gegangen. Das war auch besser so, denn dann konnte ich mich auf meine Gedanken konzentrieren und wurde nicht dauernd von seinen nervtötenden Fragen gestört.

Alexej hatte unter den wenigen Vampire eigentlich viele Freunde, falls man das so sagen kann. Er verstand sich mit jedem gut und pflegte auch seine Kontakte. Besonders mit denen aus der Wüste Gobis stand er recht gut, unter anderem weil sie ebenso wie er Menschenblut tranken. Außerdem hatte Alexej für einige Zeit bei ihnen gelebt, bevor er auf Susan gestoßen ist. Susan und ich wussten von seinen Bekanntschaften, doch von diesem Allen oder Micha hatte er nie etwas erzählt. Vielleicht hatte er wirklich nur nichts davon gesagt, weil er sich für seine vergangenen Taten mit Allen schuldig fühlte. Oder Allen hatte das nur erfunden, um den wahren Grund zu verbergen. Ich konnte es wirklich nicht sagen, aus seiner Miene hätte ich nicht schließen können, ob er lügt oder nicht. Aber als ich mit ihm gesprochen hatte, haben bei mir alle Alarmglocken geläutet. In seiner Nähe fühlte ich mich ganz und gar nicht wohl. Genau das Gegenteil von Kasper... Ach, an Kasper wollte ich jetzt nicht denken! Ich bin froh, wenn er mich nur eine Minute in Ruhe lässt.

Als ich ausgetrunken hatte, beschloss ich, nach Hause zu gehen. Ich hielt kurz nach Zara und Lisa Ausschau, damit ich mich von ihnen verabschieden konnte. Leider waren sie nirgends auszumachen. Sie hatten sich bestimmt im ganzen Gebäude verstreut, sodass ich sie niemals finden würde. Nach vergeblicher Suche stellte ich das leere Glas auf der Bar ab und steuerte den Ausgang an. Das war gar nicht so leicht, wenn man sich zuerst durch die Leute durchquetschen musste. Für mich waren das regelrechte Höllenqualen, doch ich hatte nun wichtigere Gedanken als Blut oder sonstige Vampirbedürfnisse.

Ich merkte leider nicht, wie mich jemand an der Schulter packte. Erst als mich derjenige herumriss, kapierte ich es.

„Wieso gehst du schon?“, fragte Kasper mich, der auf einmal vor mir stand. Habe ich ihn mit meinen Gedanken herbeigerufen? Wieso tauchte er immer dann auf, wenn ich ihn so überhaupt nicht brauchte? Ein wenig verärgert klatschte ich seine Hand von meiner Schulter.

„Lass mich. Ich kann gehen, wann ich will.“, antwortete ich brüsk und drehte mich wieder um. Der Ausgang war nicht mehr weit von mir entfernt.

„Aber wieso...?“, wollte er fragen, endete aber nicht, da ich wieder herumwirbelte und ihm genervt antwortete.

„Bitte! Nur dieses eine Mal, lass mich in Ruhe! Okay? Danke!“, sagte ich und stampfte aus der Disco. Er musste gesehen haben, dass ich ihn jetzt wirklich nicht unbedingt in meiner Nähe haben wollte, da er zurückblieb. Es gab mir regelrecht ein triumphierendes Gefühl, dass er mich mal allein ließ.

Ich hastete durch die Straßen nach Hause. Meine Ohren klingelten noch immer von der Musik der Disco und das war ziemlich unangenehm. Nächstes Mal würde ich mir Ohrenstöpsel oder so mitnehmen. Die kühle Luft der Nacht tat mir unheimlich gut und ließ den Stresspegel ein wenig sinken. Auch dass sich die Beats der Disco entfernten war Balsam für meine geschundenen Lauscher. Die meisten Frauen hätten Angst, allein durch die Straßen nach Hause zu gehen, doch für mich war es wohl das schönste was es gab. Dafür gab es mehrere Gründe. Erstens war ich ja ein Vampir und musste mir Dank meiner Superkräfte nicht allzu große Sorgen um irgendwelche Vergewaltiger oder Killer machen. Zweitens war die frische Nachtluft perfekt, um mein Hirn ein wenig zu entlasten von all den besorgten Gedanken. Um auf Punkt eins zurückzukommen, sollte ich noch erwähnen, dass es mir herzlich egal wäre, wenn mich jemand umbrächte. Ich wäre ihm sogar dankbar dafür. Dieses Leben wollte ich nicht und wenn ich starb, wäre es für mich der Beweis, dass wenigstens noch ein Fünkchen Sterblichkeit in mir war. Für manche war das krank und hirnlos, aber für mich war es der einzige Weg um endlich Erlösung zu finden. Doch man machte mir wie immer ein Strich durch die Rechnung. Als Vampir biss man nicht mal eben ins Gras, da gehörte halt schon einiges dazu. Nach dem kurzen Weg zurück zur Wohnung schloss ich auf und trat ein.

„Alexej? Bist du da?“, rief ich in die dunkle Wohnung hinein und zog mir derweil meine Schuhe aus. Da ich nichts von ihm hören oder riechen konnte, glaubte ich, dass er schon wieder Überstunden machte. Im selben Moment als ich mich aufrichtete, trat er vor mich. Ein wenig erschrocken sprang ich zurück. Er war der einzige Vampir, der sich an mich heranschleichen konnte, ohne dass ich es bemerkte.

„Was gibt’s?“, fragte er mich und tat so, als wäre nichts geschehen. Er hatte einen aufgeschlagenen Aktenordner in der einen Hand und eine Menge Zettel in der anderen.

„Ähm... äh.... Ich weiß nicht, ob man es Problem nennen kann, aber ich muss mit dir reden.“, eröffnete ich ihm. Sofort runzelte er die Stirn und man merkte, dass er wachsam wurde. „Problem?“, wiederholte Alexej, ging in die Küche und ich folgte ihm.

Er legte seine Sachen auf dem Küchentisch ab und wir setzten uns auf die wenigen Sessel, die hier standen. Ich fragte mich, wo Susan war. Wenn Alexej wieder auf 180 kommen sollte, wäre sie das einzige Beruhigungsmittel. Falls sie nicht in den nächsten Minuten kam, musste ich beten für ein glimpfliches Ende.

„Also, was ist passiert?“, wollte er wissen und verschränkte dabei die Arme. Noch immer hatte er die Stirn gerunzelt und sah mich prüfend an. Ein schlechtes Vorzeichen.

„Äh... Ich glaube, ich habe einen alten Freund von dir in der Disco getroffen.“, erzählte ich zögernd. Es jagte mir jedes Mal einen Schauer über den Rücken, wenn er mich so mit seinen Blicken durchlöcherte.

„Freund?“, echote Alexej skeptisch. „Wen meinst du? Etwa Sheeta? Oder Zeras?“, bohrte er weiter. Schnell schüttelte ich den Kopf. Ich war mir zwar nicht sicher, aber ich glaubte, dass das die Vampire aus der Wüste waren. Nur diese nannte er beim Namen, da er ja bei ihnen gelebt hatte.

„Nein, nicht die aus der Wüste.“, verneinte ich. Seine stechenden Blicke ließen mich kaum ein richtiges Wort formulieren. Ich hasste es, wenn er mich so ansah.

„Na wer denn? Jetzt sag schon Monica.“, forderte er ungeduldig mit gereizter Stimme.

„Er hat gesagt, ich soll dir ausrichten, dass dich dein alter Freund Micha gern wiedersehen würde und dass er jeden Abend um elf in der Disco wäre.“, rezitierte ich ihm das, was mir Allen gesagt hatte. Zuerst erstarrte Alexej und starrte mich nur weiter an.

Sofort schossen mir die schlimmsten Gedanken in den Kopf. War Allen nun doch ein Scheinfreund? Hatte ich uns gar dem Feind auf dem Silbertablett serviert? Mussten wir jetzt fliehen? Alexejs Reaktion war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Wieso hatte ich so viele Informationen preisgegeben? Ich machte aber auch alles falsch.

Plötzlich und völlig unerwartet brach Alexej in schallendes Gelächter aus. Er lachte so laut, dass es sogar die Musik in der Disco übertönt hätte. Den Bauch haltend beugte er sich vor und griff sich an die Stirn. Mein Hirn brauchte sehr lange, bis es kapiert hatte, was er gerade tat. Überrascht und verwirrt schaute ich ihm bei seinem scheinbar sinnlosen Lachen zu.

„E... er...h.. hat’s... wirklich....ge... geschafft!“, brüllte Alexej und brauchte dafür mehrere Anläufe, da ihm schon nach kurzer Zeit die Luft ausging. Wie ein Irrer klopfte er sich auf die Schenkel. „Der alte Hund hat’s wirklich geschafft! Ich glaub es nicht!“

Mit verstörtem Gesichtsausdruck musterte ich ihn. War er jetzt verrückt geworden oder wieso lachte er wie blöd? Ich nahm die Sache hier ziemlich ernst und er kicherte vor sich hin?

„Öhm... sollte ich jetzt wissen, worum es geht?“, fragte ich etwas unsicher und lächelte dabei zögernd. Anscheinend hatte er mich schon total vergessen, da er erst nach mehreren Sekunden antwortete. Sein fast ohrenbetäubendes Gelächter war schon etwas abgeflacht.

„Hm? Nein, musst du nicht.“, antwortete Alexej mir und wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Gesicht. „Dass er mich noch kriegt, hätte ich nicht gedacht. Dabei hab ich mir solche Mühe gegeben!“, murmelte er lächelnd.

Nach diesem Satz fühlte ich mich ein wenig verarscht, beleidigt und vor allem fehl am Platz. Es nervte mich, dass die Situation diese plötzliche Wendung genommen hatte. Einerseits war das ja gut, weil es bedeutete, dass keine Gefahr drohte. Andererseits müsste er auch nicht so dumm lachen und mir endlich sagen, was los ist. Da es mir einfach zu blöd wurde, stand ich auf und wollte mich in mein Bett verkriechen. Wenn er wollte, konnte er sich ja weiter die Schenkel klopfen.

„Warte Monica! Warte einen Moment.“, bat mich Alexej, der sich regelrecht zusammenreißen musste, um diese Worte in einem Stück herauszubringen. Mitten in der Bewegung blieb ich stehen, drehte mich aber nicht um.

„Ich möchte es dir erklären, da das Ganze vielleicht nicht wirklich fair dir gegenüber war.“, meinte er und ich konnte heraushören, dass er sich anstrengen musste um ernst zu bleiben. Innerlich lachte er schon wieder über seine eigenen Gedanken.

„Aha? Na dann leg los.“, forderte ich ihn mit sarkastischem Unterton auf. Ich würde mich solange nicht umdrehen, bis er sich wieder halbwegs beruhigt hatte.

„Also es ist so... Micha und ich sind alte Freunde, uralte Freunde, wie du von ihm sicher schon gehört hast. Du musst wissen, wir sind lange miteinander umhergezogen.“, fing er an und musste sich vorher mehrmals räuspern. Von seiner tollen Vergangenheit mit Allen hatte ich ja schon gehört. Ein wenig angewidert verzog ich das Gesicht. Bei dem Gedanken daran, dass so viele Menschen durch seine Hand gestorben waren, wurde mir schwarz vor Augen. „Als Susan dann aufgetaucht ist, haben sich unsere Wege getrennt und wir wären uns wohl nie wieder über den Weg gelaufen. Also haben wir uns etwas ausgedacht, um das zu verhindern...“, nun zögerte Alexej und musste sich abermals ein Lachen verkneifen. Wenn er mir nicht ohne Lachanfälle erklären konnte, was es mit dieser Sache auf sich hatte, würde ich gehen.

„Es ist... eine Art Spiel.“, versuchte er zu erklären.

Spiel?!, schoss es mir durch den Kopf und verschlug mir dabei die Sprache. Sie hatten sich ohne Scheiß ein Spiel ausgedacht oder wie sollte ich das verstehen?

„Man könnte es als Versteckenspielen im größeren Stil betrachten. Die Regeln sind im Prinzip die selben. Einer versteckt sich, der andere sucht. Das Territorium, auf dem gesucht wird, ist aber weit größer als ein Garten oder irgendein Haus. Um genauer zu sein, es ist die ganze Erde.“, klärte er mich endgültig auf. Langsam und vor allem mit verstörtem Gesichtsausdruck drehte ich mich zu ihm um. Von da an war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich da wirklich Alexej vor mir hatte. So kannte ich ihn gar nicht. Sonst war er immer der Ernst in Person, aber jetzt war er zur Kichererbse mutiert.

„Jedenfalls haben wir erst vier Runden gespielt. Ich führe mit 3:1. Na ja, eigentlich steht’s ja jetzt 3:2, wo er mich doch gefunden hat.“, fügte er noch hinzu.

Das Ganze war... nur ein belämmertes Spiel, dass sie sich aus Langeweile ausgedacht haben?! Zwei Deppen haben sich irgendwo auf der Welt versteckt und suchten sich gegenseitig! Das ist doch kompletter Irrsinn! Wie blöd kann man eigentlich sein? Oder wie blöd können die Ideen von fadisierten Männern eigentlich noch werden?! Und ich hatte mir Sorgen gemacht! Mein Respekt vor Alexej hatte beträchtliche Risse bekommen und drohte in sich zusammen zu stürzen, als er so vor mir saß. Nun sah er nicht wie ein 400 Jahre alter Vampir mit viel Erfahrung aus, sondern eher wie ein 16-jähriger Junge, der gern Unsinn macht.

„Wie lange geht das schon?“, wollte ich wissen. Gott, wieso stellte ich jetzt auch noch Fragen zu diesem unsinnigen Thema? „Etwa 300 Jahre.“, antwortete Alexej mir kurz. So lange schon?

„Weiß Susan davon?“, war meine letzte Frage. Ein Kopfnicken ersetzte die Antwort. Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Das war mal wieder typisch. Alle wussten von dem Blödsinn Bescheid, doch nur die kleine, unwichtige Monica nicht. Mit einem tiefen Seufzer setzte ich mich abermals in Bewegung und zog mich auf mein Zimmer zurück.

Männer!, dachte ich verächtlich.

Jetzt fühlte ich mich schön blöd, dass ich mir Sorgen gemacht hatte, dass wir vielleicht in Gefahr schwebten. Wahrscheinlich müsste ich jetzt ein paar Tage Abstand zu Alexej halten, um das gänzlich zu verdauen. Das war doch echt einfach nur... kindisch. Oder etwa nicht?

Außerdem konnte ich mir nun sicher sein, dass er jedes Mal, wenn er mich sah, lachen würde. Er hatte sich seitdem ich ihn kannte nie so gehen lassen. Diese Seite an ihm war komplett neu für mich und ich war es nicht gewöhnt. Das beschäftigte mich so sehr, dass ich die ganze restliche Nacht an nichts Anderes denken konnte. Es war ja nicht so, dass ich schlafen müsste, aber unangenehm war es trotzdem. Und in der Nacht dachte ich grundsätzlich nicht viel, sondern schaltete mein Hirn ab, um es am Tag wieder voll einschalten zu können. Deswegen schafften mich diese Gedanken so sehr, dass ich am nächsten Tag nicht ganz da war. Mir passte das überhaupt nicht. Ich wollte nicht über das nachdenken.

Jedenfalls war ich am nächsten Tag ziemlich genervt. Zara und Lisa fragten mich wieso, doch als ich sie nur grimmig ansah, ließen sie mich den restlichen Tag in Ruhe. Dafür liebte ich sie geradezu. Leider oder sollte ich eher sagen wie erwartet, tat Kasper das genaue Gegenteil. Er belagerte mich von früh morgens bis kurz vorm Aussteigen aus dem Bus. Natürlich hätte ich ihn dafür erwürgen könne, aber ich beließ es nur bei der Vorstellung davon. Seit ich diese Rosa getroffen hatte, konnte ich mich ein wenig besser beherrschen, jedoch waren meine Gefühle noch immer dieselben.

Ich überlebte den Tag ohne weitere seelische Schäden und gröbere Vorkommnisse. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass Zara sich mit Kirschensaft bekleckert hatte und im Biounterricht dem Lehrer ein angeblich wertvolles Skelett von irgendeinem Viech runtergefallen war.

3 Vampirjäger und nur ein Lebensretter

Am späteren Nachmittag lag ich auf meiner Matratze, die als Bett diente und las ein uraltes Buch von einem französischen Dichter. Ich war wie sonst auch allein. Alexej war arbeiten. Er war Rechtsanwalt und verdiente dadurch mehr als genug für uns drei. Susan hatte sich mit einer Freundin verabredet und würde erst später zurückkommen. Ich mochte es, allein zu sein. Einsamkeit war wohl mein engster Freund. Wenn ich alleine war, konnte ich um so vieles besser denken und mich konzentrieren. Dann fühlte ich mich wohl und ich konnte mich meinen geliebten Büchern widmen.

Ich hatte eine Vorliebe für alte Lektüren, die schon so vergilbt waren, dass man es nur schwer lesen konnte. Ich hatte keine Ahnung wieso, aber es erinnerte mich jedes Mal an mein Leben als Mensch. Meine Erinnerungen daran waren blass, genauso vergilbt wie die Bücher, die ich las. Immer wenn ich sie durchlas, konnte ich mich besser erinnern. Es schien mir wie Magie, dass das so war. Ein Zauber, der mir dieses furchtbare Leben wenigstens etwas versüßte, wenn man das so sagen kann. Und es tat so gut. Man hatte mich nicht gefragt, ob ich ein Vampir werden wollte. Mein sehnlichster Wunsch war daher auch, wieder ein Mensch zu sein. Es gab nichts Anderes was ich mehr wollte. Sterblich zu sein, das war alles. Sicher war Unsterblichkeit auch nicht schlecht. Aber die Ewigkeit dauert lange und das ständige Verlangen und der Durst nach Blut ist wirklich nicht etwas, das man als Dauerzustand haben wollte. Zu meinem Leiden gab es kein Gegenmittel, das mich wieder menschlich machen würde. Als ich noch nicht lange bei Susan und Alexej wohnte, durchforstete ich alles, suchte verzweifelt nach etwas, das mir einen Hinweis darauf gab, wie man wieder ein Mensch werden konnte. Doch es gab nichts. Rein gar nichts. Das war so enttäuschend, dass ich mich in die dunkelste Ecke verdrückte und so lange nichts mehr trank, bis ich schon halbtot war. Die Enttäuschung war so groß, dass ich lieber sterben wollte, als ewig zu leben. Alexej musste mir dann regelrecht meinen Mund aufreißen, um mich Zwangs zu ernähren.

Meine Gedanken wurden jäh durch ein Klopfen an der Haustür unterbrochen. Langsam setzte ich mich in Gang, stieg die Leiter hinunter und schaute durch den Späher. Was ich erblickte, ließ mir den Atem stocken. Kasper stand ungeduldig zappelnd vor der Tür. Als ich nicht öffnete, klopfte er noch einmal und schickte ein: „Monica, bist du da?“ hinterher. Woher zum Teufel hatte er meine Adresse?

Konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich hatte heute schon genug von ihm gesehen. Er war wie eine nervige Fliege, die einen stetig umsummte. Er hatte mich wiedererkannt, da war ich mir schon länger sicher, sonst würde er mich nicht so nerven. Natürlich wollte er jetzt wissen, was ich denn da mit der Ziege gemacht hätte. Dieses Thema hatte er schon des öfteren angerissen, aber da biss er auf Granit bei mir!

Trotz allem war da immer noch dieses Verlangen. Das Verlangen stärker als mein Durst. Seine Nähe war Folter und Befriedigung zugleich. Folter, weil ich wusste, dass er in ständiger Gefahr schwebte, weil er so nah dran war, unser Geheimnis zu enthüllen. Befriedigung, weil das Verlangen dann gestillt war. Es war ein regelrechter Zwiespalt, der sich in mir auftat, wenn ich auf ihn traf.

Aber ich wollte so sehr bei ihm sein! Wie konnte ich nur so egoistisch und selbstsüchtig sein?! Ich musste an das Wohl meiner Familie denken!

Also stapfte ich von der Tür weg und brüllte lautstark: „Geh weg!“

„Monica! Lass mich rein! Ich will mit dir reden!“, erwiderte er standhaft und klopfte weiter gegen die Tür.

„Ich will aber nicht mit dir reden!“, sagte ich und warf mich auf das Sofa.

„Okay, okay. Korrektur: Ich muss mit dir reden!“, meinte Kasper nun. Ich drückte mir die Sofakissen auf die Ohren, damit ich ihn nicht mehr hören konnte. „Lass mich in R-U-H-E!“, brüllte ich wütend.

„Das kann ich nicht!“, antwortete er mir. Ich konnte ihn leider noch immer hören. Meine Vampirohren machten es möglich.

„Wieso kannst du das nicht? Es ist ganz einfach! Du musst nur nach Hause gehen und mich aus deinem Gedächtnis streichen!“, erklärte ich ein wenig sarkastisch mit spöttischem Unterton.

„Ich werde solange hier stehen, bis du mich reinlässt!“, entschloss er sich kurzerhand und ich konnte hören, wie er sich vor der Tür hinsetzte. „Da kannst du aber lange warten!“, meinte ich darauf. Diese Konversation erschien mir so sinnlos. Und doch freute ich mich so sehr, seine Stimme zu hören. Warum nur? Ich musste einfach den Verstand verloren haben.

Stille legte sich über uns. Ich lauschte, ob er nicht vielleicht doch gegangen war. Seine ruhigen Atemzüge verrieten mir, dass dem nicht so war. Für einige Zeit blieb ich regungslos auf dem Sofa sitzen, die Kissen immer noch auf meine Ohren gedrückt. Ich hatte zwei Hoffnungen, die so gegensätzlich waren, dass sie eigentlich nebeneinander nicht existieren konnten. Die erste Hoffnung war, dass er verschwand und zwar für immer. Wenn er nicht bald damit aufhörte, konnte das Ganze tödlich ausgehen. Für ihn, für mich. Für uns alle. Meine zweite Hoffnung war, dass er wirklich dort sitzen blieb und weiter mit mir redete. Wieder stand es Verstand gegen Verlangen. Ein ewiger wie aussichtsloser Kampf.

Keine fünf Minuten später scharrte es leise vor dem Eingang. Kasper war aufgestanden und trottete nun hin und her. Er konnte nie lange stillsitzen. Kasper war einer dieser Menschen, die immer etwas tun mussten und nie für längere Zeit still stehen konnten. Was seine Geduld betraf, war es genau dasselbe. Sein Geduldsfaden brauchte nur eine kleine Anspannung, um zu reißen. Es trieb ihn wirklich an seine Grenzen, nur vor meiner Tür auf und ab zu gehen. Der Gedanke an sein ungeduldiges Gesicht, die kraus gezogene Nase, trieben mir unwillkürlich ein Lächeln auf die Lippen. Schnell schüttelte ich den Kopf, um das Lächeln ungeschehen zu machen. Die Kissen legte ich erst mal wieder bei Seite. Es half ja sowieso nichts. Im Gegensatz zu Kasper konnte ich still sitzen, solange ich wollte. Wie eine Statue zu sein, fiel mir leicht. So oft schon hatte ich fast tagelang auf meiner Matratze gelegen, immer ein gutes Buch in meiner Hand. Die einzigen Bewegungen dienten zum umblättern der Seiten. Dabei war es immer schön leise gewesen, diesmal aber waren die lauten Schritte von Kasper zu hören.

Ein stetiges Klackern auf dem Steinboden. Auch wenn es noch so nervtötend war, blieb ich steinern dort sitzen. Abrupt blieb Kasper plötzlich stehen.

„Monica! Lass mich rein!“, fing er erneut an zu betteln.

„Nein!“, sagte ich entschieden. „Geh. Weg.“

„Nein.“, verneinte nun er, worauf ich entnervt grummelte.

„Wieso lässt du mich nicht rein?“, fragte Kasper mich in einem Ton, der sehr verzweifelt klang. Ich fühlte mich sofort schlecht und wollte schon aufstehen. Doch ich hielt mich selbst zurück und krallte mich am Sofa fest.

„Man lässt keine Fremden in seine Wohnungen. Weißt du das denn nicht?“, antwortete ich ihm voller Sarkasmus. Jetzt war er es, der verärgert grummelte.

„Ich bin kein Fremder.“, erwiderte er kraftlos.

„Bist du wohl.“, entgegnete ich wie ein trotziges Kind.

Erneutes Schweigen trat zwischen uns. Das Klackern vor der Tür begann von neuem. Diesmal hielt er es länger aus, bevor er die nächste Frage stellte.

„Warum willst du es mir nicht erklären?“, wollte er von mir wissen. Schlechte Frage. Wieso musste er gerade dieses heikle Thema anschneiden? Ich konnte ihm nichts erzählen. Das war hier der Punkt. Es war nicht so, dass ich es ihm nicht erzählen wollte. Aber es würde alle in Gefahr bringen. Außerdem, wie sollte ich ihm halbwegs verständlich beibringen, was ich da mit der Ziege gemacht hatte? Sollte ich ihm etwa sagen: Hey, ich bin ein Vampir. Das war meine Mahlzeit gewesen. Das macht dir doch nichts aus, oder?

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“, antwortete ich ihm also, da mir gerade nichts Besseres einfiel.

„Doch das weißt du.“, beharrte Kasper starrsinnig. Seine unglaubliche Beharrlichkeit überraschte mich immer wieder.

„Nein, weiß ich nicht.“, sagte ich, erpicht darauf einen möglichst unschuldigen Ton hinzubekommen. Er seufzte einmal. Ein hohles Geräusch verriet mir, dass er sich nun gegen die Tür lehnte.

„Was hast du da auf dem Berg mit dem Tier gemacht?“, fragte er unvermittelt direkt. Aber in seinem Ton konnte ich erkennen, dass er sich keine Hoffnungen machte, dass ich ihm wahrheitsgemäß antwortete.

Ich gab mich geschlagen. Ich erlag meinem inneren Kampf und dem Kampf mit Kasper. Das einzige was ich jetzt noch tun konnte war beten. Beten, dass das alles ein möglichst gute Ende nahm. Die Chancen für ein halbwegs normales Ende standen aber so gut wie 1: unendlich.

Seufzend stand ich auf, marschierte niedergeschlagen zur Tür und drehte den Schlüssel zweimal im Schloss um. Klackend sprang die Eingangstür dann auf, als ich die Klinke hinunterdrückte und Kasper mir entgegenfiel, da er ja dagegen gelehnt hatte. Ich ließ ihn zu Boden plumpsen. Das letzte, was ich jetzt tun würde war, ihn anzugreifen. Das würde zu weit gehen. Das konnte ich mir nicht erlauben. Wer weiß, welche Seite dann in mir Überhand nahm. Des Weiteren war ich mir sicher, dass Kasper das schon aushalten würde. Er war ein robuster Kerl.

Also lag er nun vor mir.

„Komm rein.“, murmelte ich.

Überrascht und überglücklich zugleich sah er mich an. Langsam breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus. Bevor er von einem Ohr zum anderen lächelte, wandte ich mich ab und ging in die Küche. Ich hörte, wie er sich hastig aufrappelte und die Tür zu machte. Mit wenigen Schritten war er bei mir in der Küche.

„Möchtest du irgendwas?“, erkundigte ich mich. Eine gewisse Gastfreundschaft sollte ich wohl doch an den Tag legen. Er schüttelte den Kopf. Ich nahm mir trotzdem ein Glas aus dem Schrank und füllte es zur Hälfte mit Wasser. Das war eines der Dinge, die ich von Susan gelernt hatte. Wenn man Menschen um sich hatte, musste man sich auch so wie sie verhalten. Also man sollte eben nicht nichts trinken oder essen. Und man sollte auch nicht wie eine Statue in seiner Position verharren.

Kasper sah sich neugierig um, während ich mir das Glas füllte.

„Nett hier.“, meinte er nach seiner Inspektion.

„Eher zu klein.“, sagte ich karg. Die Wohnung bestand insgesamt nur aus drei Räumen. Das Badezimmer, das Arbeitszimmer von Alexej, das gleichzeitig als Schlafzimmer für die beiden diente und das größte Zimmer war durch eine Trennwand in Küche und Wohnzimmer geteilt. Mein „Zimmer“ war über dem Badezimmer angebracht. Das Obst und die Brotkiste waren nur Requisite. Keiner von uns rührte es jemals an. Susan kümmerte sich darum, dass alles stets frisch blieb.

Mit dem Glas in der Hand marschierte ich zu der Leiter und kletterte wieder hinauf. Kasper folgte mir und stand unschlüssig vor meiner Leiter. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er zu mir hochkommen sollte, oder lieber unten blieb.

„Ich dachte, du beantwortest mir jetzt meine Fragen.“, rief er von unten herauf in einem fast klagenden Ton.

„Ich hab gesagt, komm rein. Ich hab nicht gesagt, dass ich deine unsinnigen Fragen beantworte.“, antwortete ich kühl und schlug das Buch auf, das ich vorhin gelesen hatte. „Mein Fragen sind nicht unsinnig.“, antwortete Kasper entrüstet. Er sprang aber auch auf jedes Wort an, das man ihm hinwarf. Jetzt kletterte er entschlossen die Leiter zu mir herauf. Kurz blieb er noch auf der Leiter stehen, dann krabbelte er zu mir und hockte sich im Schneidersitz an meine Seite.

Für wenige Minuten sah er mir zu, wie ich das Buch las. Er blickte immer wieder von dem Buch zu mir und zurück.

„Französisch?“, stellte er in den Raum. „Genau. Richtig erkannt.“, sagte ich immer noch kühl.

„Du kannst französisch?“, fragte er erneut. Ich wendete meinen Blick vom Buch ab und schaute ihn an. Wiederholte er seine Fragen immer auf diese Weise?

„Sonst würde ich es nicht lesen.“, antwortete ich dann, als ich sah, dass er es ernst meinte. Es wäre komisch, wenn ich nicht Französisch konnte, wo ich doch dort fünf Jahre gelebt habe.

„Um was geht’s da?“, erkundigte Kasper sich weiter. Wenn er so nah bei mir war, konnte ich mich kaum auf das Buch konzentrieren, geschweige denn auf unser Gespräch. Jedes Mal trat regelrecht eine Nebelwand auf, wenn er bei mir war, sodass mein Verstand es schwer hatte, zu mir durchzudringen.

„Das sind Gedichte und kurze Geschichten von einem französischen Dichter.“, antwortete ich. Der kühle Ton ging mir am leichtesten von allen von den Lippen, deswegen behielt ich ihn bei.

„Wieso liest du so etwas?“, wollte er von mir wissen. Seine Fragerei nervte mich nicht wirklich. Es war anstrengend, ich musste immer darauf achten, dass ich mich nicht verplapperte. Besonders jetzt musste ich auf der Hut sein, weswegen es mir schwer fiel, meine Antwort richtig zu formulieren.

„Es...“, setzte ich an. „Wenn ich diese uralten Schinken lese, kann ich mich besser an meine Vergangenheit erinnern.“ Ich hoffte, nicht zu viel preisgegeben zu haben.

„An deine Vergangenheit?“, wiederholte Kasper erneut und legte den Kopf schief. Seine Augenbrauen zogen sich wie automatisch zusammen. Ich nickte nur und versuchte weiter zu lesen.

„Wieso kannst du dich nur damit erinnern?“, löcherte er mich weiter. Wieder zögerte ich kurz, damit ich meine Worte mit Bedacht wählen konnte.

„Das weiß ich auch nicht so genau. Meine Erinnerungen an meine Vergangenheit sind sehr... löchrig, vernebelt, wie auch immer.“, antwortete ich leise. An mein menschliches Ich kann ich mich nur schwach erinnern. Doch ab da, wo ich ein Vampir geworden war, konnte ich mir alles in Erinnerungen rufen.

„Was ist denn in der Vergangenheit passiert, damit du dich unbedingt daran erinnern willst?“, fragte Kasper noch weiter. Ich erstarrte zu Stein. Darauf konnte ich ihm nicht antworten. Wenn ich von meinem menschlichen Leben erzählen würde, lief ich Gefahr, dass er merkte, dass ich nicht vor 16 Jahren geboren wurde sondern schon vor circa 115. Die Unterschiede zwischen diesen Zeitaltern waren einfach zu groß. Kasper merkte, dass ich nicht antworten würde. Wieder verfielen wir in Schweigen. Mit gesenktem Kopf fuhr er unsichtbare Muster auf seiner Jeans nach. Seine schokoladenbraunen Locken hingen ihm wie immer ins Gesicht, diesmal vom tosenden Wind draußen noch zerzauster als sonst. Ich konnte nicht anders und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln heraus. Noch immer war ich fasziniert von seinen Augen. Durch die zwei unterschiedlichen Farben seiner Iris war er in der Schule schon eine kleine Berühmtheit. Aber ihn berührte das nicht wirklich. Er schien das gewöhnt zu sein.

„Von wem hast du deine seltsamen Augen?“, rutschte es mir plötzlich heraus. Im nächsten Moment, hätte ich mich dafür ohrfeigen können. Den Schmerz, den es verursachte, hielt ich fast nicht aus. Ich wollte und konnte einfach nicht noch enger als sonst schon mit ihm werden. Kasper registrierte die Frage erst Sekunden später, als ich mich schon längst selbst beschimpft und in Gedanken ausgepeitscht hatte.

„Meine Mutter. Sie und meine Großmutter hatten auch solche Augen. Alle in der Familie meiner Mutter haben sie.“, antwortete er mir geistesabwesend. Er schien die Frage eher automatisch als selbstständig beantwortet zu haben. Man musste ihn wohl schon oft darauf angesprochen haben.

„Monica, erzähl mir doch bitte etwas über dich.“, verlangte Kasper plötzlich unerwartet von mir. In seinem Blick lag Verzweiflung und unheimliche Neugier zugleich. Ich erstarrte erneut darunter, wo ich doch gerade angefangen hatte, mich wieder zu entspannen. Sein Blick war so durchdringend, es jagte mir einen Schauer über den Rücken. Langsam klappte ich das Buch zu, legte es weg und setzte mich ebenfalls in den Schneidersitz.

„Was.. was willst du denn wissen?“, fragte ich in einem Atemzug, wobei Misstrauen und Skepsis mitschwang. Ging ich damit zu weit? Ließ ich ihn zu viel wissen?

„Alles.“, war seine knappe aber bestimmte Antwort. Das Verlangen, ihm noch näher zu sein, als ich es ohnehin schon war, überschwappte mich plötzlich wieder. In diesem Moment wollte ich ihn ernsthaft berühren, wenn auch nur leicht. Eine richtige Welle riss mich in ihre Tiefen und ließ mich für einige Sekunden schweigen. Wie konnte er nur so etwas verlangen? War das normal? Erneutes Misstrauen tauchte in mir auf. Wieso tat er mir das an?

„Okay, ich bin 1,77 m groß, wiege 62 Kilo. Meine Hobbys sind vor allem alte Bücher lesen, Schach, Volleyball und Eislaufen. Ich hasse Spinat, Tomaten und jegliche Meeresfrüchte.“, plauderte ich munter drauf los. Ein Versuch es mit Humor zu nehmen war es wert. Entgegen meiner Erwartungen blieben Kaspers Züge voller Ernst. Sonst lachte er bei jeder Gelegenheit, die sich bot.

„Erzähl mir von deinen Erinnerungen.“, forderte er von mir. Natürlich wollte er von dem wissen. Wie konnte ich nur denken, dass ich ihn damit ablenken konnte? Halb verzweifelt biss ich mir auf die Lippen. Ich wusste wirklich nicht, was ich jetzt sagen sollte. Oder ob ich überhaupt etwas sagen sollte.

„Bitte.“, legte er noch nach und beugte sich etwas vor. Sein Duft schlug mir entgegen und unwillkürlich sog ich ihn tief ein. Er konnte froh sein, dass ich momentan keinen großen Durst verspürte, denn sonst bestand noch zusätzliche Gefahr. Ohne dass ich es merkte, beugte ich mich ebenfalls vor, nur damit ich noch mehr von seinem Duft riechen konnte.

„Ich..“, fing ich an. „Ich... weiß nicht wo ich anfangen soll.“ Das war die reine Wahrheit. Ich hatte wirklich keine Ahnung. Wenn er mir keine Fragen stellte, fühlte ich mich ein wenig hilflos.

„Wo bist du geboren? Wo kommst du her?“, half mir Kasper sogleich auf die Sprünge, wobei sein Blick noch immer auf mir ruhte.

Wieder hinderten mich Gewissensbisse, sofort zu antworten. War es wirklich gut so, dass ich ihm jetzt plötzlich doch etwas von mir erzählte? Konnte ich ihm trauen? Aber diese Zweifel wurden sofort mit dem nächsten Atemzug und somit mit dem nächsten Schub seines Duftes weggewischt.

„Ich... wurde in Frankreich geboren, deshalb kann ich auch so gut französisch. Bis ich fünf war, lebten meine Mutter und meine großen Brüder dort. Meinen Vater hab ich nie kennen gelernt.“, fing ich an.

„Was ist dann passiert? Wieso seid ihr weggegangen?“, fragte Kasper ein weiteres Mal.

„Das weiß ich nicht mehr so genau. Das ist... eine meiner großen Lücken. Es ist, als hätte ich einen Filmriss für mehrere Jahre. Ich kann mich nur erinnern, dass wir dann hier in Österreich für einige Jahre gelebt haben.“, erzählte ich in stockenden Worten. Bis jetzt hatte ich keinen Anschein darauf gegeben, dass ich älter war als ich aussah.

„Und weiter? Was habt ihr dann hier gemacht?“, sprang Kasper nun wieder ein. Er beugte sich noch weiter vor, sodass mich noch eine Woge seines Geruchs übermannte. Es war Folter. Kein anderes Wort würde es besser beschreiben. Aber ich hielt tapfer durch.

„Meine Erinnerung daran ist auch nur teilweise vorhanden. Kurz vor meinem 16. Geburtstag fingen wir plötzlich an, in der Gegend umherzuwandern. Wir sind nie lange an einem Ort geblieben, das weiß ich noch. Immer wieder sind wir von einem Ort zum anderen gezogen. Den Grund dafür hab ich nicht verstanden. Es war total anstrengend. Sehr sogar.“, beantwortete ich seine Frage. Mit jedem Wort mehr fühlte ich mich schlechter. Zweifel drangen immer wieder an die Oberfläche, die jedoch sofort durch seinen Duft wieder eliminiert wurden. Kasper war ebenfalls angespannt, hörte konzentriert zu und nickte des öfteren. „Wie ist es weitergegangen?“, fragte er weiter. Es war nur noch ein Flüstern. Jetzt kam der schwierigste und zugleich gefährlichste Part; meine Verwandlung. Ich musste es so gut wie möglich umschreiben.

„Eines Nachts, im Winter, als wir wieder durch die Gegend marschierten, wurden ....“, ich setzte ab. Diese Stelle war bis jetzt immer die lückenhafteste gewesen. Es war, als hielte ich ein altes Foto in den Händen, das überall schwarze Flecken hatte, sodass nur schwer zu erkennen war, wer darauf abgebildet war.

„Wir wurden überfallen. Aber... ich kann mich nicht gut daran erinnern, überhaupt nicht gut. Das einzige woran ich mich noch erinnern kann, sind die Schreie meiner Mutter und das Gefühl der Eiseskälte.“, erzählte ich weiter, den Kopf gesenkt. Das stimmte vollkommen. Die Schreie meiner Mutter, die damals regelrecht die Luft zerrissen hatten und diese Kälte, so eisig und kalt. Immer wieder spielte es sich in meinem Kopf ab. Ein Endlosfilm. Wenn ich weinen könnte, wären wahrscheinlich schon längst Tränen geflossen. Kaspers Atemzüge gingen nur noch stockend, sie waren nicht mehr regelmäßig. Das Gespräch hatte eine Spannung erreicht, die selbst er nicht aushalten konnte. Auch ich fühlte mich, als würden hundert Tonnen auf mir lasten. Gleichzeitig war ich froh, nicht zu viel verraten zu haben.

„Äh... und ja... irgendwann haben mich dann Susan und Alexej gefunden und adoptiert...“, sagte ich schnell, damit wenigstens etwas Positives hier hereinkam.

Ich wollte schon weitersprechen, da durchfuhr meinen rechten Arm ein regelrechter Blitz. Kasper hatte unbemerkt seine Hand auf meinen Unterarm gelegt. Es fühlte sich an, als würden mindestens 1000 Volt durch meine toten Adern schießen. Ein Stromschlag nach dem anderen erschütterte mich. Mein Verstand prügelte mich schon halbtot, während mein Herz vor lauter Freude jubelte. Total verspannt starrte ich seine Hand an, die immer noch dort ruhte. Das war eindeutig zu viel. Zu viel für mich. Zu viel für meinen Körper und Verstand. Es überschritt die Grenzen bestimmt um das dreifache.

Als ich zurückzuckte, nahm er sie weg. Ich stöhnte leise auf und ließ den Kopf hängen. Merkte er nicht, was er mir da gerade antat? Wie konnte er mich nur so foltern, ohne es zu merken? Ich griff mir an die Stirn und konnte spüren, dass sie glühte.

„Es ist besser, wenn du jetzt gehst.“, flüsterte ich und zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung Ausgang.

„Wa..?“, wollte er fragen und beugte sich erneut weiter vor. Mit einem leisen Wimmer zuckte ich zurück und schüttelte heftig den Kopf. Unbeabsichtigt trat ich mit meinem Fuß gegen das Glas Wasser, sodass es umfiel und sich das Wasser langsam auf dem Boten ausbreitete.

„Bitte geh!“, flehte ich ihn an, wobei ich weiter zurück zur Wand rutschte.

Nun schien er meine Verzweiflung endlich zu sehen und entfernte sich ohne weiteres. Vor dem Eingang zögerte er noch kurz, machte dann aber die Tür auf und flüsterte ein „Es tut mir leid“ beim Hinausgehen.

Mein Verstand sagte mir: Gut so! Schick ihn zum Teufel! Mein Herz heulte: Lauf ihm nach! Aber ich blieb standhaft.

Ich war so dumm. So dumm und blind. Wieso hatte ich ihm das alles erzählt? Das ging ihn einen Scheißdreck an! Die Gefahr stand regelrecht im Raum und ich erzählte ihm trotzdem alles?! Mit jedem Wort waren wir mehr in die Schwärze hineingerutscht und ich hatte es nicht gemerkt. Jetzt war alles aus. Wenn er hinter unser Geheimnis kam, konnte ich mir sicher sein, dass wir alle dem Tod geweiht waren. Næhan kannte da keine Ausnahme und es würde keiner eine Träne vergießen, wenn ein einzelner Vampir und ein Mensch aus der Welt verschwanden. Doch das was mir am meisten wehtat war, dass ich damit meiner Familie unendlich wehtat. Sie vertrauten mir und ich hinterging sie einfach. Susan würde wahrscheinlich in tiefste Depressionen versinken. Und Alexej... er würde es ertragen, ohne Emotionen zu zeigen. Auch wenn er sehr schnell an die Decke ging, spielten sich seine Gefühle im Kopf ab.

Um mich ein wenig abzulenken, wischte ich erst mal das ausgelaufene Wasser auf, das sich schon über die halbe Galerie verteilt hatte. Mit einem Lappen machte ich es so schnell wie möglich weg. Als ich dort stand, wo Kasper gesessen hatte, stieg mir erneut sein Duft in die Nase. Sein Geruch war noch immer so präsent, es war, als wäre er noch immer hier. Ich musste das Verlangen, seinen Geruch abermals einzuatmen unterdrücken. Hastig verzog ich mich nach unten und legte mich aufs Sofa. Wieder erstarrte ich zur Statue, wobei ich die Augen schloss. Am liebsten wollte ich jetzt schlafen, da ich mich noch nie so entkräftet gefühlt hatte wie jetzt. Aber das war natürlich nicht möglich, ich konnte höchstens mein Gehirn ausschalten. Das versuchte ich jetzt auch, dabei musste ich aber immer darauf achten, dass das vorige Geschehen nicht plötzlich vor meinem inneren Auge Revue passierte.

Dann auf einmal erfasste mich unbändiger Durst. Überrascht riss ich die Augen auf und vergaß für einige Minuten zu atmen. Wie konnte ich jetzt durstig sein? Vor fünf Minuten hatte ich noch keinen einzigen Gedanken daran verschwenden müssen.

Es war komisch. Jedes Mal, wenn Kasper bei mir war, spielten meine Sinne total verrückt.

Anfangs versuchte ich, den Durst zu unterdrücken und ihn zu verdrängen. Es konnte doch nicht sein, dass ich nur wegen ihm durstig war. Doch er war so stark, als hätte ich eine Woche nichts zu mir genommen. Ich wollte jetzt aber nichts trinken. Leider handelte mein Überlebensinstinkt für mich, indem er mich zum aufstehen brachte. Eilig marschierte ich in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Dort kühlten wir die Blutkonserven. Nicht gerade klug, es so offensichtlich zu machen, aber in dieser Wohnung gab es sonst keinen besseren Platz.

Ich schnappte mir irgendeine, nicht darauf bedacht, zu achten, ob diese zu Alexej oder Susan gehörte. Wir hatten da nämlich ein Ordnungssystem. Wie eine Irre schüttete ich die rote Flüssigkeit hinunter. Sie rann mir mit vollem Aroma den Rachen hinunter und sprengte all meine Sinne. Ich trank es vollkommen aus, bis zum letzten Tropfen. Dabei hätte ich normalerweise nicht einmal die Hälfte gebraucht. Danach fühlte sich mein Körper wohl, aber mein Gewissen schenkte mir jede Sekunde mehr Schuldgefühle.

„Monica?“, ertönte plötzlich Susans Stimme hinter mir. Ich hatte sie nicht kommen hören. Keuchend stützte ich mich an der Anrichte ab und drehte ihr mein Gesicht zu. Mein Gesichtsausdruck musste ziemlich verwirrt aussehen, da sie mich plötzlich in die Arme nahm und mich besorgt fragte, was los sei.

„Es tut mir leid... ich...“, setzte ich an, brach aber ab. Ich konnte ihr jetzt einfach nicht davon erzählen. Dafür wäre ich noch zu labil. Später vielleicht, dachte ich mir. Ich schwieg.

„Schon gut. Du musst es nicht erzählen...“, flüsterte sie in mein Ohr und drückte mich noch fester. Susan war wirklich nett und ich mochte sie sehr. Sie war für mich eine Mutter. Nein, sie ist mein Mutter. Sie war die letzte, die ich verletzen wollte.

Danach verdrückte ich mich wieder auf die Galerie und bat sie, die Sauerei, die ich in der Küche veranstaltet hatte, aufzuwischen.

Die darauffolgenden Tage blieb ich zu Hause in meinem Bett. Kasper in der Schule sehen zu müssen, könnte ich nicht aushalten. Ich musste mich erst wieder sammeln, bevor ich dorthin zurückging. Susan rief in der Schule an und sagte, ich sei krank. Sie fragte nicht mehr nach, was ich hatte, sondern ließ mich glücklicherweise in Ruhe. Susan war einer der Typen, die sofort verstanden, wann man ihre Hilfe wollte oder nicht. Alexej tat so, als wäre alles okay. Er war es gewöhnt von mir, dass ich bei alles und jedem überreagieren konnte. Einer meiner großen Schwächen. Er bedachte mich nur mit einem mitleidigen Lächeln. Sein kindisches Verhalten von gestern hatte ich schon fast vergessen.

In den Tagen meiner Abwesenheit wurde mir ziemlich fad und ich wusste nichts mit mir anzufangen. Meine Lektüren konnte ich nicht lesen, weil ich mich im Moment an nichts erinnern wollte, nicht einmal an meine Vergangenheit.

Am vierten Tag machte ich also zur Abwechslung einen gedehnten Spaziergang durch den Park. Er war verlassen und ruhig. Nur die Vögel in den Baumwipfeln zwitscherten ihre Melodien. Meine Schritte durch den Kies und das Laub waren rhythmisch und leise. Gelegentlich kam ein Fußgänger oder ein Fahrradfahrer vorbei. An einem so kühlen Herbsttag, blieben die Menschen lieber in ihren Häusern. Aber ich mochte das. Denn wenn niemand hier war, war ich allein. Ich war für mich.

Morgen wollte ich wieder in die Schule gehen, weil es nun schon ganze vier Tage waren, die ich fehlte. Ich konnte nicht ewig davor davonlaufen. Darum musste ich mich noch ein wenig vorbereiten. Kasper hatte mich Gott sei Dank nicht mehr belästigt, auch er schien darüber nachzudenken. Ich fragte mich, ob er mir sofort wieder auflauern würde, wenn ich wieder da war.

Die kühle Luft tat gut und half mir wie sonst auch dabei, einen klaren Kopf zu bewahren. Meine Gedanken schienen sich nicht sofort wieder in sich selbst zu verstricken, sondern liefen parallel nebeneinander her.

Eine Weile ging ich durch die verschiedenen Wege des Parks. Ein sehr groß angelegter Park in einer großen Stadt. Seine Routen und Straßen glichen einem Labyrinth und man musste wirklich aufpassen, wo man hinging. Ich wählte immer die verlassensten von allen, die, wo nur wenige entlangspazierten. Das lag an meiner blöden Paranoia, dass ich immer allein sein wollte.

Ich dachte über mich nach. Nichts deutete äußerlich daraufhin, dass ich ein Vampir war. Meine hellen Haare, die dunklere Strähnen enthielten, hingen schnurgerade herunter bis zum Kinn, meine Augen waren so dunkel wie die Nacht. Selbst unsere Haut veränderte sich nach der Verwandlung nicht. Die blasse Haut, die ich zur Zeit meiner Verwandlung hatte, ist geblieben. Aber seitdem mich Kasper auf diesem Berg gesehen hatte, glaubte ich, dass mich plötzlich jeder als Vampir identifizierte. Kasper hatte bis jetzt nur mich belästigt, er hatte niemanden etwas verraten, was er gesehen hatte. Doch was wäre, wenn er endgültig hinter unser Geheimnis kommen würde? Würde er uns dann verraten? Steckten wir schon knietief in der Scheiße? Und was würden meine Eltern darüber denken, wenn ich es ihnen erzählen würde? Könnten sie meine verzwickte Situation verstehen? Oder würden sie mich sofort hinauswerfen?

Ich bemerkte nicht, wie sich mir drei Männer näherten. Sie sahen ganz normal aus, weswegen ich sie nicht weiter beachtete. Doch als sich einer von ihnen direkt vor mich stellte und mir somit meinem Weg abschnitt, schaute ich ihn an. Ich schritt zur Seite, um weitergehen zu können, aber er tat genau dasselbe und verstellte mir wieder meinen Weg.

„Lassen Sie mich bitte vorbei?“, fragte ich verärgert, wobei ich einen Schritt zurückmachte. Ein Grinsen breitete sich auf seinem kantigen Gesicht aus. Der Mann war mindestens zwei Köpfe größer als ich und sah ziemlich bullig aus.

„Nein, du Blutsauger.“, sagte er plötzlich mit tiefer Stimme. Wie vom Blitz getroffen schreckte ich zurück und funkelte ihn an. Wer waren diese Typen? Woher wussten sie, dass ich ein Vampir war?

Nun traten seine zwei Gefährten in den Vordergrund. Sie waren nur einen Kopf kleiner als der bullige Mann und glichen sich ein Ei wie dem anderen. Zwillinge also.

„Was wollt ihr von mir?“, fauchte ich verärgert. Ich wich noch ein Stück zurück vor ihnen.

„Ach, Joe... Jetzt hast du die Kleine verängstigt.“, meinte einer von den Zwillingen schelmisch. Joe grinste nur noch breiter und griff unter seinen Mantel.

„Wir wollen nur ein bisschen spielen, nicht wahr, Steve, Noah?“, meinte er nun und holte einen Holzpflock aus seinem Mantel hervor.

Sie wollten mich umbringen, das war mir von dem Moment an klar. Warum, wusste ich nicht. Meine Instinkte übernahmen das Handeln für mich. Ich beugte mich leicht nach vorn, meine Hände zu Klauen geformt. Niemand hatte mir erzählt, wie man einen Vampir töten konnte. Also wusste ich auch nicht, ob ein Kreuz, Weihwasser oder ein Holzpflock mir etwas anhaben konnten. Aber ich wusste, dass es Vampirjäger gab, die uns schon seit jeher jagten und ausrotten wollten. Alexej hatte mir erzählt, dass sie einen oft wochenlang beobachteten, um sicherzugehen, dass man ein Vampir war. Sie schritten erst zur Tat, wenn sie sich ganz sicher waren.

„Genau, nur ein bisschen spielen.“, stimmten die Zwillinge zu. Jetzt kamen auch sie näher und hatten plötzlich ebenfalls Waffen in der Hand. Einer hatte eine Art Armbrust der andere ein langes Schwert mit dünner Klinge.

Die wollten mich ernsthaft im Park umlegen. Joe war mir am nächsten, also würde er mich wahrscheinlich als erstes angreifen.

Drei gegen einen, das war unfair. Für die Jäger war das ganz natürlich, hatte mir Alexej erklärt. Das unfaire Spiel war ihr Merkmal. Somit gingen sie sicher, dass sie gewannen.

„Woher wisst ihr von mir?“, wollte ich wissen. Sie mussten mich wirklich Wochen beobachtet haben. Doch statt einer Antwort kam ein gespucktes: „Klappe, Parasit.“

„Sie ist noch jung. Das wird ein Kinderspiel.“, freute sich der Zwilling mit der Armbrust. Das stimmte in der Tat. Mit 115 Jahren war man für einen Vampir noch nicht wirklich alt.

„Genug der Vorrede. Jetzt geht’s zur Sache.“, meinte Joe entschlossen.

Er stürzte auf mich zu, den Pflock fest in der Hand. Gehetzt sprang ich zwei Meter zur Seite, sodass er mich nur um ein paar Zentimeter verfehlte. Mit einem harten Ruck kam ich wieder zum Stehen. Joe war keine Sekunde später wieder auf den Beinen und drehte sich erneut zum Angriff in meine Richtung. Ich wollte ihn gerade anspringen, da packten mich plötzlich die beiden Zwillinge unwirsch an den Oberarmen. Die zwei hatte ich gar nicht kommen sehen. Ich war eine schlechte Kämpferin, was man jetzt sichtlich merkte. Alexej dagegen hätte sie in zwei Sekunden zur Strecke gebracht. Er war hier die Kämpfernatur.

So schnell ich konnte riss ich mich mit einem Arm los, damit ich den anderen, der mich noch festhielt, wegstoßen konnte. Eilig versuchte ich mich noch weiter von ihnen zu entfernen. Das einzige woran ich jetzt denken konnte, war die Flucht. Der Kampf gegen die drei war aussichtslos. Ich würde sterben, wenn ich jetzt nicht fliehen würde.

Also rannte ich los, hinein in den Wald. Ich konnte hören, wie die drei zu lachen anfingen und mir folgten. Vor lauter Angst stolpert ich öfter als gewollt. Es war, als würden sich die Steine und abgebrochenen Äste absichtlich in meinen Weg legen. Vor lauter Panik vergaß ich, dass ich eigentlich noch schneller laufen konnte. Der Abstand zwischen meinen Verfolgern und mir wurde immer kleiner, obwohl ich im Zickzack lief, um sie abzuhängen.

Leider hatte ich komplett den Orientierungssinn verloren, deswegen war ich total überrascht, als ich wieder an unserem Ausgangspunkt angelangt war. Wenn man seine Vampirsinne brauchte, ließen sie einen im Stich.

„Scheiße!“, fluchte ich und wollte weiterlaufen. Jetzt richteten sich meine Gedanken in Richtung Öffentlichkeit. Sobald ich aus dem Park war, konnten sie mich nicht unter so vielen Zeugen hinrichten. Ich kam aber nicht mehr dazu, da ich plötzlich gegen den nächstbesten Baum geschleudert wurde. Joe hatte mich an der Schulter zu fassen bekommen. Krachend splitterte ein wenig Holz weg und Blätter rieselten vom Baum auf meinen Kopf, blieben teilweise in meinem Haar hängen. Ich rutschte auf den Boden. Mein Kopf fing nach dem Aufprall lautstark zu dröhnen an. Es war, als würden tausend Nadeln in meinem Kopf stecken. Bewegen konnte ich mich auch nicht mehr. Hilflos lag ich im Gras und konnte keinen Finger rühren.

„So, du kleines Monster... Jetzt ist es aus mit dir.“, flüsterte mir Joe ins Ohr, wobei ich sein mit Triumph gezeichnetes Gesicht sehen konnte.

Er packte mich unsanft am Hals und zog mich am Baum hoch. Kraftlos zog ich an seinem Arm, doch sein Griff war selbst für mich zu fest. Ich bekam keine Luft mehr, sodass ich danach zu ringen anfing. Seine Finger krallten sich immer mehr in meinen Hals. Nicht einmal ein leises Wimmern brachte ich zu Stande.

Er wird dich umbringen. Hier und jetzt., schallte es in meinem Kopf. Meine Gegenwehr war nichts gegen ihn. Ich konnte tun was ich wollte, es nützte nichts. Seine zwei Gefährten standen siegessicher neben ihn und betrachteten mich grinsend. Wie konnte er nur so stark sein? Ich müsste doch eigentlich viel mächtiger sein als er. Dieses Beispiel bewies leider nur das Gegenteil.

„Gib mir den Pflock. Ich hab meinen unterwegs verloren.“, forderte Joe an und streckte sein Hand nach hinten aus, ohne eine der beiden anzusehen. Der Mann mit dem Schwert gab ihm bereitwillig einen seiner Holzpflöcke, die er ebenfalls unter seinem Mantel versteckt hielt. Wie ein Spielzeug spielte Joe noch ein wenig damit herum.

So schnell, dass ich erst nach ein paar Sekunden realisierte, durchfuhr mich ein stechender Schmerz in der Brust. Joe hatte mir den Holzpflock mitten durchs Herz gerammt. Für einen kurzen Moment erstarrte ich, die Augen weit aufgerissen, dann erschlafften meine Muskeln vollkommen. Ich hatte keine Kraft mehr. Jetzt würde ich sterben.

Der Pflock war durch mich hindurch gegangen und hatte sich im Holz des Baumes verkeilt. Wie ein Sandsack hing ich da und wartete auf den Tod. Joes Griff wurde lockerer und ließ schließlich gänzlich los.

Wie ein Stück Beute von einer erfolgreichen Jagd musste ich für sie gerade aussehen. Der Pflock paralysierte mich und trieb mich zur Regungslosigkeit.

„Wir müssen noch warten, bis sie zu Sand zerfallen ist.“, sagte einer der zwei Zwillinge und ich konnte einstimmiges Gemurmel hören.

Mit jeder Sekunde mehr spürte ich, wie mich die Lebenskraft verließ. Sie zog sich ganz langsam aus meinen Finger- und Zehenspitzen zurück, kletterte meine Beine und Arme hinauf zu meinem durchbohrten Herz. Mein Herz schlug schon lange nicht mehr, aber ich spürte, dass es da war.

Mit reiner Willenskraft versuchte ich, die Kräfte in meine leblosen Arme und Beine wieder zu treiben. Die ersten Versuche waren sogar erfolgreich, aber dann konnte ich selbst keine Willenskraft mehr aufbringen, um das zu tun.

Mein Überlebenskampf schien Stunden zu dauern, vielleicht sogar Wochen. Nur noch für Gedanken konnte ich Kraft aufbringen, sonst nichts. Allein mein Gehirn schien noch zu arbeiten.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dort hing, doch plötzlich sagte jemand, dass irgendwer käme und sie sofort verschwinden mussten.

„Sie wird schon längst zu Sand zerfallen sein, wenn derjenige hier aufkreuzt.“, meinte Joe. Darauf verließen sie hastigen Schrittes das Gelände und ließen mich hier zurück. Es folgte Stille, nicht einmal den Wind konnte ich durch die Blätter rauschen hören. Oder war ich schon taub? Langsam versank ich in ein dunkles Loch, in tiefste Schwärze. Jetzt machte sogar schon mein Hirn schlapp. Ich konnte den Boden unter mir nur noch schwer ausmachen, alles verschwamm irgendwie und wurde immer blasser. Nun wusste ich, dass doch nicht so viel nötig war, um einen Vampir zur Strecke zu bringen. Ich wurde aber auch immer eines Besseren belehrt.

Als ich schon längere Zeit in dem Sud des schwarzen Loches schwamm, gerade davor, gänzlich davon verschlungen zu werden, rüttelte auf einmal jemand an mir. Ich rührte mich nicht, ich konnte mich ja nicht bewegen. Das Rütteln hörte nicht auf. Ein kurzer Schmerz durchfuhr meinen tauben Körper, jemand hatte den Pflock entfernt. Irgendwer fing mich auf, als ich vom Baum fiel und trug mich weg.

Meine Sinne kehrten nach einer Weile kriechend zu mir zurück. Reumütig und demütig begannen sie wieder zu arbeiten. Als erstes konnte ich wieder hören. Nicht so scharf wie sonst, aber immerhin.

„Monica! Moncia! Gott, was ist denn mit dir passiert?“, fragte eine wohlbekannte Stimme, die mich regelrecht aus dem schwarzen Loch riss.

Kasper, schoss es mir schlagartig durch den Kopf. Er war der letzte, den ich jetzt gebraucht hatte. Am liebsten wollte ich mich von ihm losmachen, aber ich konnte mich immer noch nicht bewegen. Ein lebloser Körper hing in seinen Armen.

Was hatte er hier zu suchen? Konnte er nicht einfach auch zu Hause bleiben wie die anderen? Warum gerade er? Wenn Alexej hier wäre, hätte ich vielleicht eine Chance zu überleben, aber bei Kasper bestand keine Möglichkeit. Wut stieg in mir auf und ich war überrascht, dass ich das überhaupt noch empfinden konnte.

„Lass mich.“, flüsterte ich wütend, da ich neue Kraft aus der plötzlichen Wut geschöpft hatte. Meine Augen waren immer noch geschlossen, aber ich konnte geradezu hören, wie sich sein Gesicht verzog. „Nein, ich werde dich jetzt nicht gehen lassen.“, sagte Kasper entschieden. „Ich werde dich zu einem Arzt bringen.“

„Nein!“, keuchte ich sofort und riss erschrocken die Augen auf. Ein normaler Arzt würde mir nicht helfen können. „Bitte, alles nur nicht zu einem Arzt!“, setzte ich hinterher.

„Was? Aber wieso...?“, wollte er fragen, doch ich schnitt ihm das Wort ab. „Nein, bitte, bitte nicht.“, flehte ich ihn an. Kasper seufzte ergeben. Er legte mich auf die nächste Parkbank, die er finden konnte. Er setzte sich so auf die Bank, dass mein Kopf auf seiner Brust ruhte. Seine Körperwärme durchströmte mich allmählich mehr und mehr.

„Was ist passiert?“, fragte er mich, während er meine zerfetzten Kleider anschaute. Es floss kein Blut aus der Wunde, weil kein Blut durch meine Adern schoss. Kasper schien das nicht wirklich zu stören.

„Geh weg, Kasper.“, sagte ich kraftlos und in dem Wissen, dass er das sicher nicht tun würde. Es war das erste Mal, dass ich ihn beim Namen nannte.

„Nein.“, war seine knappe Antwort. Danach schwieg er. Er wusste nicht, was er jetzt genau tun sollte und ich konnte mich noch immer nicht bewegen. Seine Nähe, erfüllte mich wieder mit diesem einzigartigen Verlangen. Es war absurd, jetzt daran zu denken oder es zu fühlen. Aber ich konnte es nicht unterdrücken.

Mein Atem ging ziemlich schnell.

Das einzige was mich jetzt noch retten konnte war Blut. Meine Selbstheilungskräfte konnten mich nur schleppend heilen, da ich seit dem letzten Treffen mit Kasper nichts mehr getrunken hatte.

Als ich mein Gehirn wieder vollständig benutzen konnte, konzentrierte ich mich darauf, dass Loch in meiner Brust zu schließen. Gleichzeitig dachte ich nach, was jetzt passieren würde. Kasper ließ sicher nicht von mir ab, bis er wusste was genau geschehen war.

„Ich weiß, was du bist.“, meinte er plötzlich und jagte mir damit einen riesigen Schrecken ein. Erschrocken fuhr ich leicht zusammen. „Oder ich glaube es zumindest.“, fügte er dann noch hinzu. Nur schwer konnte ich meinen Kopf so drehen, dass ich ihn ansehen konnte. Das was er gerade gesagt hatte, war sein totaler Ernst. Seine Miene ließ keinen Zweifel daran. Ungeduldig zappelnd wartete er auf eine Antwort von mir. Okay, jetzt wäre es wirklich besser zu sterben, wenn er es sowieso schon wusste.

„Glaub, was du willst.“, keuchte ich entkräftet. In dem Moment war es mir wirklich egal, was er wusste und was nicht. Ich wollte nur nach Hause zu Susan und Alexej, sie würden wissen, was zu tun wäre.

Für kurze Zeit hielt er seinen Mund, anscheinend überlegte er, was er tun sollte. Dann fasst er meinen Kopf und hielt mein Gesicht an seinen Hals. Die Verrenkung rief einen stechenden Schmerz in meinen Nacken hervor. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was diese blöde Aktion sollte, also verharrte ich verwirrt in der Position, bis er zu sprechen anfing.

„Tu es.“, sagte er wild entschlossen. Ein weiterer Schock durchfuhr meine Glieder und ich verstand mit einem Mal, was er da von mir wollte.

Er bot mir sein Blut an.

Sein Blut.

„Bist du blöd? Was tust du da?“, krächzte ich verärgert und versuchte mich vergeblich aus seinem Griff zu befreien. Er musste komplett den Verstand verloren haben. War er noch ganz bei Sinnen?

„Monica, ich weiß, was du bist und was du jetzt brauchst. Also, tu es.“, meinte Kasper und drückte meine Lippen gegen seinen Hals. Ich konnte seinen beschleunigten Pulsschläge unter der Haut spüren. Der Geruch seines wohlriechendes Blutes stieg mir in die Nase. Ich war wirklich schon fast versucht es zu tun.

„Nein!“, erwiderte ich, wobei ich versuchte den Kopf zu schütteln. Er folterte mich in Zeiten des Schmerzes. Ich hoffte inbrünstig, dass ich mich halbwegs beherrschen konnte.

„Wieso nicht? Ich seh doch, wie schlecht es dir geht.“, entgegnete er trotzig.

„Bitte hör auf.“, bettelte ich ihn an. Wenn er so weitermachte, stellte er mich wirklich auf die Probe. „Bitte.“

„Ich lasse nicht zu, dass du stirbst.“, meinte Kasper felsenfest und drückte meine Lippen nur noch mehr gegen seinen Hals. Ich konnte fühlen, dass meine Eckzähne schon wieder um einiges gewachsen waren und nur darauf warteten, seine weiche Haut durchstoßen zu dürfen.

Ich wollte nicht sterben, andererseits wollte ich auch nicht sein Blut nehmen. Niemals. Einen mir bekannten Menschen würde ich, oder könnte ich nicht beißen. Außerdem wäre er sich dann erst recht sicher, was ich war. Ich fragte mich, woher er überhaupt ahnte, dass ich ein Vampir war. Es war in dem Moment egal. Er war im Begriff unser Geheimnis zu lüften. Aber wenn ich jetzt nicht sofort Blut bekam, würde ich mit Sicherheit sterben. Verenden an dem Loch in meiner Brust. Wie konnte ich nur so in eine missliche Lage geraten? Wieso hatte ich ihn nicht damals sofort zur Strecke gebracht um dem ganzen gleich ein Ende zu setzen bevor es überhaupt anfing? Wie töricht ich doch war.

Mein inneres Tier dürstete immer mehr nach Blut und bald würde ich es nicht mehr zurückhalten können. Es kratzte an dem Schutzwall in meinem Kopf, den ich um es herum aufgebaut hatte. Entweder ich nahm sein Angebot an oder ich starb und brachte meinen Eltern somit das größte Unglück überhaupt.

Unter seinen Lippen fing ich leise an zu Schluchzen. Es war kein weinen, weil ich ja nicht weinen konnte. Unregelmäßig sog ich die Luft ein und aus. Blitze durchzuckten mich und ließen mich wieder und wieder erschaudern. Kaspers Griff lockerte sich sofort. Besorgt blickte er mich an, während sich seine Brauen erneut zusammenzogen.

„Monica...“, murmelte er, gefesselt von meinem gequälten Gesichtsausdruck. „Willst du wirklich sterben?“, wollte Kasper von mir wissen. Ich schüttelte den Kopf, soweit mir das möglich war.

„Dann nimm mein Angebot an.“, sagte er, jetzt klang es fast schon bettelnd, verzweifelt sogar. Erneut drückte er meine Lippen an seinen Hals und ich musste ein Wimmern unterdrücken. Damit war meine Selbstbeherrschung endlich gebrochen. Ich konnte nicht mehr. Das Raubtier hatte den Wall mit einem Mal niedergerissen und deswegen fühlte ich mich noch dreckiger.

„Deine Hand.“, sagte ich schließlich entkräftet. In den Hals würde ich ihn bestimmt nicht beißen, das wäre zu auffällig. Aber beim Handgelenk konnte man es besser verstecken, wenn Wunden bleiben sollten. Ich hatte mich also geschlagen gegeben. Sollte ich das jetzt selbstsüchtig oder normal nennen? Verwirrt ließ mich Kasper los und hielt mir bereitwillig seine Hand hin. Er war wirklich bereit, das Opfer zu spielen. Ich verstand nicht, wieso er das für mich tat. Wieso er dazu bereit war. Ekelte ihn das nicht an?

Mit der letzten Kraft die ich aufbringen konnte, drehte ich sein Handgelenk so um, dass ich die Unterseite mit den sichtbaren Blutbahnen zu Gesicht bekam. Für einen kurzen Moment hielt ich noch inne, sah mich um und checkte, ob keiner da war. Aber dann konnte ich einfach nicht mehr anders und biss ihn in sein Handgelenk. Ich versuchte, es so sanft wie möglich zu machen. Kasper stöhnte leise auf und zuckte zusammen. Jahrzehnte war es her, dass ich das letzte Mal von einem Menschen Blut angenommen hatte.

Aber diesmal war es nicht so abstoßend, wie ich es sonst immer empfand. Ich fühlte einfach nur Erleichterung. Sie füllte meinen Körper gänzlich aus und gab mir ein wohltuendes Gefühl. Sein Blut rann mir voll und süß den Rachen hinunter. Alle Sinne kehrten mit einer Geschwindigkeit zurück, die mich überraschte. Meine Augen konnten alles wieder mit unendlicher Schärfe sehen, mein Geruchssinn stand mir wieder mit einer großen Bandbreite zur Seite. Ich hörte wieder alles, was um mich geschah. So wie immer entstand ein lautloses Feuerwerk in meinen Kopf. Alle Farben sprangen hin und her, leuchteten auf, tanzten auf und ab, schienen alles zu sprengen. Es war stärker und intensiver als bei Tierblut. Das Loch in meiner Brust schloss sich binnen Sekunden. Nur eine Narbe blieb zurück. Sobald es sich geschlossen hatte, ließ ich sofort von ihm los. Ich würde nicht mehr von ihm nehmen als nötig. Meine überaus starke Selbstbeherrschung überraschte mich ein wenig. Vielleicht war es ja das Wissen, dass das hier Kasper war und nicht irgendwer, das mich davon abhielt, zuviel zu trinken.

Mit einem resigniertem Seufzer ließ Kasper seinen Kopf auf meinen sinken, wobei seine Locken mich ein wenig an der Wange kitzelten. Ihm musste schwindlig sein, da er plötzlich zu wenig Blut im Körper hatte. Aus den zwei kleinen Löcher, die meine Zähne hinterlassen hatten, tröpfelte noch ein wenig Blut bevor sie sich langsam wieder schlossen. Das hatte ich noch nie gesehen, dass sich die Löcher so schnell wieder schließen können. Aber es war gut so, denn so hatte er keine bleibenden Narben.

Dann drückte ich seine warme Hand gegen meine Wange und flüsterte ein kaum hörbares „Danke“ und dann noch ein „Entschuldigung“. Seine Nähe war diesmal Gott sei Dank keine solch eine Folter, ganz im Gegenteil, es war sogar gut. Ich ließ mich von einem warmen Fluss der Gefühle fortreiben. Es war, als würde ich das erste Mal seit 115 Jahren wieder schlafen. Und die Wärme von Kaspers Körper durchflutete mich stetig, sodass ich immer sicher war, dass er noch hier war. Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass er ging.

Somit trieb ich weiter im Wasser meiner eigenen Eindrücke und verlor mich in eine Art Schlaf. Verloren gegangene Erinnerungen drangen in mir hoch.

Menschliche Erinnerungen, die eigentlich nicht mehr da sein sollten.

„Schon wieder verloren?“, fragte Dominic überrascht. „Das gibt’s doch nicht!“, meinte er verärgert und checkte seine Karten und den Stapel vor sich noch einmal. Als er sich sicher war, dass alles stimmte, verfinsterte sich seine Miene. Er war eben ein schlechter Verlierer und nun musste er einsehen, dass ich schon zum neunten Mal hintereinander gewonnen hatte.

„Das ist nicht fair!“, sagte er dann und warf die Spielkarten auf das Feldbett. Ein Mann mit grauen Haaren drehte sich zu uns um und schaute meinen Bruder verwirrt an. Obwohl wir alle deutsch konnten, sprachen wir französisch. Unser einziger Grund war wohl, dass uns nicht jeder verstehen sollte.

„Jetzt motz nicht rum weil du verloren hast. Du wolltest doch spielen, nicht ich.“, entgegnete ich und musste ein Grinsen unterdrücken. Wie ein trotziges Kind verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Ich sehe, dass du verloren hast.“, stellte René fest, der nun zu uns stieß. Geschickt hielt er drei Teller voller Essen und überreichte sie uns sogleich.

„Danke für die Information, Bruder!“, erwiderte Dominic sarkastisch und warf ihm einen wütenden Blick zu. René schenkte ihm im Gegenzug ein engelsgleiches Lächeln. Bevor ich mein Teller entgegennahm räumte ich noch schnell die Karten weg, sodass sich René zu uns setzen konnte.

Unser Essen bestand eigentlich nur aus einer Menge Reis und drei Putenstreifen, die aber wie Gummi schmeckten. In so einem unheimlichen Obdachlosenheim musste man sich aber damit zufrieden geben. Das war nun schon der dritte Ort diese Woche. Wir wanderten seit Wochen durch das Land und blieben nie lange irgendwo. Obwohl meine Brüder und ich Mama dauernd fragten, wieso wir das täten, gab sie uns keine Antwort. Immer wieder vertröstete sie uns auf eine spätere Zeit und bat uns um Verständnis. Ich verstand das nicht. Es schien mir wie gestern, dass alles noch okay und im grünen Bereich war. In meinen Gedanken tauchte unser Haus, das idyllisch inmitten von mehreren Feldern stand, auf. Mein kleines Zimmer, das ich mir mit René teilen musste. Und nicht zu vergessen war die riesige Eiche, die hinterm Haus stand. Dort im Schatten verbrachte ich im Sommer die meiste Zeit.

Doch nun schlichen wir wie Schwerverbrecher durch die Gegend und schienen uns vor irgendwem zu verstecken. An die neuen Umstände hatten wir uns schnell gewöhnt, aber trotzdem zehrte das Ganze an unseren Kräften. Gestern erst hatte ich bemerkt, dass sich meine Rippen unter der Haut schon abzeichneten.

Auch René und Dominic ging es nicht besser. Obwohl sie gut gebaut waren und beide schwere Arbeit gewöhnt waren, sahen sie ziemlich fertig aus. Renés rabenschwarze Haare hatten längst ihren Glanz verloren und seine Augen wirkten trübe und ohne Leben. Sogar Dominic, der am vitalsten und lebhaftesten von uns war, hatte seine Reserven aufgebraucht. Sein goldiges Haar war ganz zerzaust und stand in alle Richtungen ab. Von seinen sonst so schönen Augen wollte ich gar nicht erst reden.

„Wie fühlt man sich so als Verlierer?“, erkundigte sich René bei Dominic, der darauf genervt grummelte und ihm in die Seite boxte.

Auch wenn René schon achtzehn und Dominic sogar schon einundzwanzig waren, konnten sie sich wie kleine kindische Jungs benehmen. Meinen sechzehnten Geburtstag hatte ich erst vor wenigen Tagen gefeiert.

Ich kicherte leise, worauf mir Dominic einen strafenden Blick zuwarf.

Während ich aß, suchte ich den Raum nach meiner Mutter um. Sie war ständig irgendwo unterwegs und blieb nie lange bei uns. Dabei brauchten wir sie doch so sehr. Unser jetziger Aufenthaltsort war das genaue Gegenteil von einem Luxushotel. Uralte, gebrechliche Feldbetten und zähes Essen inklusive Ungeziefer waren hier an der Tagesordnung. Des weiteren drängelten sich hier manchmal so viele Leute, dass man selbst in dem kleinen Raum den Überblick verlor. Eigentlich waren die Personen hier ja ganz okay, aber die meisten hatten nicht mehr alle Latten am Zaun. Die einzig Nette hier war die Köchin, die uns vom ersten Moment an gemocht hatte.

„Nein, wie niedlich ihr doch nicht alle seid!“, hatte sie gleich zur Begrüßung gesagt. Dabei war Dominic unabsichtlich ein Würgelaut entkommen, worauf René und ich grinsen mussten. Auch nach längerem Suchen konnte ich Mama nirgends erblicken.

Wir aßen alle brav bis zum letzten Rest auf. Dominic brachte die Teller zurück, weil er von uns zwei höchstwahrscheinlich die Schnauze voll hatte.

„Weißt du, wo Mama ist?“, fragte ich René während ich noch immer meinen Blick über die Menschen schweifen ließ.

„Da ganz hinten gleich neben der Klotür. Siehst du sie?“, erklärte er mir und nickte in eine Richtung. Sofort folgte ich seinem Blick und erkannte meine erschöpft aussehende Mutter. Sie redete mit einem Mann, der ganze zwei Köpfe größer war als sie. René musste eine Art Radar eingebaut haben, sonst wüsste er nicht immer, wo wir uns gerade aufhielten.

Mama hatte sich in den wenigen Wochen so sehr verändert, das mochte man kaum glauben. Vorher war sie jederzeit gut gekleidet und sah meistens top aus. Doch jetzt glich sie mehr einer Amazone, als einer alleinerziehenden Mutter. Außerdem plauderte sie immer mit irgendwelchen zwielichtigen Gestalten, die sie früher nicht einmal angeschaut hätte. Ein Kloß machte sich in meinem Hals breit und ein ungutes Gefühl erfasste mich. Mir gefiel das gar nicht, so wie es momentan verlief. Wenn das so weiterging, würden wir drei das nicht mehr lange mitmachen.

„Wie lange glaubst du, werden wir dieses Mal bleiben?“, wollte ich weiter wissen. Diese Frage stellte ich schon automatisch und jedes Mal kam die gleiche Antwort von meinen Brüdern.

„Ich weiß es nicht.“, war die erwartete Antwort von René, der sich auf dem engen Bett ausbreitete und dabei die Schachtel mit den Karten zerdrückte.

„Hey, aufpassen! Nicht die Karten kaputt machen, die brauch ich noch!“, mahnte ich hastig und zog sie unter seinem Bein hervor.

„Wozu? Um Dominic noch wütender zu machen?“, wollte er von mir mit einem Grinsen wissen. Ich lachte auf. Ja, das stimmte wohl.

Auch wenn die Zeiten nicht gerade gut standen, konnten wir dennoch miteinander lachen und unseren Spaß haben. Es fiel uns natürlich nicht unbedingt leicht, da wir jederzeit Gefahr laufen konnten, dass unser Lachen heuchlerisch klang. Und das wollten wir nicht.

„Wer ist wütend?“, erkundigte sich Dominic, der wieder zurückgekehrt war.

„Niemand.“, antwortete René ihm karg. Mit einem Seufzer ließ sich Dominic auf dem gegenüberliegenden Bett nieder. Uns standen insgesamt vier von diesen unbequemen Dingern zur Verfügung. Eine kratzige Decke gab’s auch dazu, denn sonst würde man hier erfrieren. Es war nämlich eisiger Winter, was die Sache nicht gerade erleichterte. Wir konnten unsere Hände und Füße oft nicht mehr spüren, wenn wir unsere nächste Unterkunft erreicht hatten. Ein grausiges Erlebnis.

„Noch ’ne Runde?“, fragte ich Dominic mit einem Grinsen und schüttelte dabei demonstrativ die Spielkarten. „Aber klar, Schwesterherz. Diesmal mach ich dich fertig.“, meinte er daraufhin vergnügt und nahm mir die Karten aus der Hand. Seine Stimmung hatte sich sichtlich wieder gebessert. In meinem Rücken konnte ich spüren, wie Renés Brust von seinem unterdrückten Lachen bebte. Wir spielten solange, bis Dominic mit viel Schummeln und einer Menge Fehler meinerseits gewann. Danach verlangte Mama von uns, dass wir uns hinlegten.

„Ihr müsst morgen ausgeruht sein.“, sagte sie zu uns. Wenn sie das sagte, konnten wir uns sicher sein, dass wir am nächsten Tag wieder aufbrechen würden. Bis jetzt war das zumindest so gewesen und ich dachte nicht, dass sich das ändern würde. Auf meine Frage hin, wer dieser Mann gewesen sei, lächelte sie mich nur an und meinte, ich solle jetzt schlafen. Nur widerwillig legte ich mich nieder und versuchte, so schnell wie möglich einzuschlafen.

Wie erwartet weckte Mama uns in aller Herrgottsfrühe und forderte uns zum Packen unserer Sachen auf. Unser Gepäck bestand nur aus zwei Rucksäcken, die von meinen Brüdern getragen wurden. Die Prozedur des Packens war schon reine Routine und verlief ohne Komplikationen.

Die Köchin gab uns noch ein wenig zu essen mit, bevor wir endgültig verschwanden. Danach wagten wir uns nach draußen und mussten feststellen, dass alles mit einer dreißig Zentimeter dicken Schneedecke bedeckt war. Nicht gerade optimal, aber dagegen konnte man auch nichts mehr machen.

„So ’ne Scheiße.“, war Dominics Kommentar dazu. René grummelte genervt.

Die Route, die wir gingen, legte einzig und allein unsere Mutter fest. Nur sie bestimmte den Weg. Wir landeten Gott sei Dank immer dort, wo sie hinwollte und verliefen uns nicht. Schweigend folgten wir ihr. Ich war direkt hinter ihr, dann war Dominic und als letzter René.

Zuerst marschierten wir den Weg, der aus der Stadt führte, entlang um danach gleich in den erstbesten Wald zu stapfen. Wälder konnte ich nicht ausstehen. Sie gaben mir immer ein Gefühl von Unsicherheit und Angst. Die ganze Zeit über pfiff Dominic ein Lied vor sich hin. Es war immer dasselbe, die Melodie änderte sich nie. Zu meinem Glück kamen wir bald wieder aus dem unheimlichen Wäldchen heraus und marschierten dann über ein Feld oder eine Wiese. Ich konnte nicht sagen was es war, da ja der Schnee darüber lag.

Kurze Zeit später fing es an zu schneien. Die Flocken fielen schon bald so dicht, dass man schwer damit zu tun hatte, die Umgebung zu erkennen. Wir konnten aber nicht Halt machen, da wir dann Gefahr liefen, uns den Arsch abzufrieren. Weitergehen war auch nicht wirklich die bessere Idee, da man sich jetzt verlaufen könnte, doch uns blieb nichts Anderes übrig.

Wir liefen schon ziemlich lange über dieses Feld oder diese Wiese und weit und breit war noch kein Ende in Sicht. Nicht einmal ein kleiner Strauch oder so etwas ragte aus dem Boden. Alles war in die weißen Schneeflocken gehüllt.

Ich seufzte gerade, als plötzlich René zu schreien anfing. Er brüllte wie am Spieß. Blitzartig drehten wir uns alle synchron um. Was ich erblickte war blanker Horror. Wenige Meter hinter uns lag René regungslos am Boden und die weiße Schneedecke um ihn herum färbte sich blutrot. Ich konnte erkennen, dass ihm jemand die Kehle wortwörtlich aufgeschlitzt hatte. Mit einem Mal wurde mir schlecht und ich fühlte, wie mein Frühstück im Anmarsch war.

„Wer ist da?“, fragte Dominic mit fester Stimme in das weiße Gestöber hinein, doch ich konnte sehen, dass seine Augen voller Angst waren. Niemand antwortete ihm.

Wir alle standen wie angewurzelt da und keiner von uns konnte sich auch nur einen Zentimeter rühren. Panik stieg in mir auf und ließ meinen Atem schneller gehen. Wer war uns gefolgt? Was wollten sie von uns?

„Lauft weg!“, wollte Mama hinter mir schreien, doch sie konnte den Satz nicht mehr beenden, da sie auf einmal in meinem Rücken loskreischte. Ich erstarrte komplett und traute mich nicht, mich umzudrehen. Mein Herz hatte derweil einen Puls von 300 erreicht und pochte wie wild gegen meine Rippen. Was passierte hier gerade?!

„Mama!“, rief Dominic entsetzt. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass er sich umgedreht hatte und somit sah, was man mit Mama angerichtet hatte. Ihre Schreie waren nun auch verstummt. Sie war auch tot. Wer tat so etwas? Warum passierte uns das? Ich verstand die Welt nicht mehr.

Oh Gott. Wir werden sterben, war mein einziger Gedanke. Ich konnte nichts tun, mein Körper hätte nicht auf die Befehle meines Gehirns reagiert. Dominic rührte sich ebenfalls nicht vom Fleck, sondern schaute sich nach den Tätern um und rief immer irgendetwas. Für längere Zeit tat sich nichts und man konnte nur den tosenden Wind hören. Angestrengt lauschten wir auf irgendein Geräusch, doch ich konnte nichts vernehmen.

Als wir uns schon in Sicherheit glaubten, tauchte vor mir ein dunkler Schatten auf. Er schien nur wenige Meter vor mir zu stehen. Schnell kam er näher und wollte sich schon über mich stürzen. Ich kreischte auf und kniff die Augen zusammen. Mein letztes Stündlein hatte geschlagen. Glaubte ich zumindest. Mein Herz hatte vorsorglich schon mal zum schlagen aufgehört und seinen letzten Schlag vor wenigen Sekunden gemacht.

„Monica!“, brüllte Dominic neben mir, der den Schatten auch bemerkt haben musste.

Im letzten Moment schubste er mich weg, sodass ich in den kalten Schnee fiel. Schon im nächsten Moment konnte ich seine Schreie aus nächster Nähe hören. Sie zerrissen die Luft für eine unscheinbar lange Zeit. Total verängstigt und geschockt hielt ich mir die Ohren zu und fing selbst an zu schreien. Ich konnte das nicht aushalten. Mein Bruder hatte mir das Leben gerettet und musste dafür mit seinem eigenen bezahlen. Wer zum Teufel waren diese Typen?

Der kalte Schnee ließ meine linke Gesichtshälfte halb taub werden. Meine Zähne klapperten in der Eiseskälte und ich hatte von Zeit zu Zeit komische Zuckungen. Noch immer lag ich zusammengekrümmt da und wartete auf den Tod. Diese Typen würden mich wahrscheinlich auch gleich zur Strecke bringen, wenn sie schon mal meine Familie ermordet hatten. Ich hatte aufgehört zu schreien, da es mich zu viel Kraft kostete.

Wieder passierte eine Weile nichts. Machten sie sich etwa einen Spaß daraus, mich so ausharren zu lassen? Konnten sie es nicht gleich hinter sich bringen? Das einzige, was ich hören konnte, waren meine lauten Herzschläge. Sie dröhnten mir regelrecht in den Ohren. Zuvor hatte mein Herz schon einen Aussetzer gehabt und nun schien es so, als ob sie die verloren gegangen Schläge wieder aufholen wollte.

Tränen kullerten mir unbemerkt die Wangen hinunter. Ich machte keine Anstalten sie wegzuwischen. Wie eine Irre rang ich nach Luft und versuchte nicht an Atemnot zu sterben, was sowieso sinnlos war, weil ich ja gleich getötet werden sollte.

Unerwartet packte mich jemand im Nacken und zog mich unwirsch aus dem Schnee. Ich kreischte auf und hielt mir automatisch schützend die Arme vors Gesicht. Mühelos brachte mich derjenige in eine sitzende Position. Nun bebte ich am ganzen Körper vor lauter Todesangst. In regelrechten Strömen liefen mir die Tränen mein Gesicht hinunter.

„Mädchen.“, sagte eine tiefe Männerstimme. Kurz schrie ich auf und zuckte dabei zusammen. Wollte er mich vorher noch ein wenig foltern, bevor er mich endgültig kalt machte? Da ich nichts sagte, griff er nach meinen Armen und zog sie von meinem Gesicht weg. Obwohl ich mich mit den letzten Kräften dagegen wehrte, konnte er sie ganz leicht herunterziehen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in ein Gesicht von einem blassen Mann. Im ersten Moment war ich sogar überrascht, dass er so normal aussah. Ich hatte irgendwie etwas Anderes erwartet. Jemanden, der mehr furchteinflößender war. Keine wunderbar goldigen Augen und gepflegte brünette kurze Haare. Sein Gesicht ließ darauf schließen, dass er erst um die 25 sein musste. Wenn ich ihn in einer anderen Situation kennen gelernt hätte, hätte ich gesagt, dass er attraktiv wäre. Aber in diesem Moment war er für mich einfach nur der Mörder. Der Feind, der Täter. Was auch immer. Man konnte sagen, dass es ihm für mich geradezu auf der Stirn stand.

„Mädchen.“, wiederholte er mit seiner rauchigen Stimme. Abermals zuckte ich zusammen. Ich schluchzte so heftig, dass es mich am ganzen Körper schüttelte.

„W... wer sind Sie?“, heulte ich mit letzter Kraft. Hauptsache ich fange vor meinem Tod noch ein Gespräch mit dem Trottel an. Auf meine Frage antwortete er mir nicht, sondern starrte mich nur weiter an. Sein Blick war ziemlich durchdringend und kalt, auch wenn seine Augen noch so eine schöne Farbe hatten.

„Name?“, wollte er von mir wissen. Warum wollte er jetzt auch noch meinen Namen wissen? Um ihn auf seiner Liste der letzten Opfer eintragen zu können? Wie krank war der Typ eigentlich?

„M...Monica“, antwortete ich ihm weinend. Ich konnte mir sicher sein, dass er Gewalt anwenden würde, wenn ich ihm nicht sagte, wie ich hieß. Außerdem war es sowieso egal, weil ich gleich ins Gras beißen würde.

„Monica.“, setzte der Mörder an und packte mich noch ein wenig fester im Nacken. „Ich mache dir jetzt ein Geschenk.“ Nun verstand ich gar nichts mehr. Was denn für ein Geschenk? Konnte ich nicht einfach sterben und aus? Warum es so kompliziert machen, wenn es auch einfach ging? Dafür hasste ich den Kerl schon mal. Ich brachte nur ein schwaches „Häh?“ zustande.

Ohne zu zögern ließ er seinen Worten Taten folgen. Seine Hand wanderte von meinem Nacken zu meinen Haaren. Er krallte sich fest und zog meinen Kopf zurück. Wimmernd gab ich dem Schmerz nach. Seine andere Hand, mit der er meine Arme hielt, schlang er nun um meine Schultern und zog mich näher an sich heran. Ich kapierte überhaupt nichts und glaubte erst, dass das irgend so eine perverse Tour war, die er gerade mit mir abzog. Mein Hirn war völlig nutzlos zu diesem Zeitpunkt, als hätte man es einfach ausgeschaltet. Gegenwehr war somit nicht möglich und eigentlich auch völlig sinnlos.

Ich stöhnte laut auf, als ich stechenden Schmerz in meinem Hals spürte. Es fühlte sich an, als würden sich zwei kleine Messer in meine Haut bohren. Ab da war ich mir sicher, dass mein Leben nun endete. Leider musste ich vorher noch diese Höllentour mitmachen. Da der Schmerz immer schlimmer wurde und sich in meinem ganzen Körper ausbreitete wie ein Lauffeuer, wollte ich sogar schnellstmöglich sterben. Doch anstatt aufzuhören, ging es einfach weiter.

Das Seltsamste war, dass mich meine Lebenskräfte nach und nach verließen, aber das Leid gleich blieb. Nicht einmal schreien konnte ich, dass es aufhören sollte, so schnell verließ mich meine Energie.

Ich dachte nicht darüber nach, was er da mit mir tat, sondern was mit mir passierte. Auch wenn ich schon fast zu schwach zum Denken war, ging es noch halbwegs.

Meine Körpertemperatur schien langsam aber sicher zu sinken, obwohl ich mir mehrere Schichten übergezogen hatte. Es war, als würde ich mit dem Untergrund verschmelzen. Meine Tränen versiegten ebenfalls schlagartig und mein Herzschlag verlangsamte sich komischerweise auch stetig.

Ich glaubte schon, die Grenze von Leben und Tod überschritten zu haben, da ließ dieser Irre endlich von mir ab. Komplett regungslos hing ich in seinen Armen, starrte ihn aber immer noch mit weit aufgerissenen Augen an. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht deuten. Das Pokerface hatte er perfekt einstudiert. Nach wenigen Sekunden, in denen er mich ansah, ließ er mich in den kalten Schnee, der für mich jetzt keine Temperatur mehr hatte, zurücksinken. Sein Gesicht verschwamm vor meinen Augen, ich konnte nicht mehr klar sehen.

Trotzdem konnte ich erkennen, dass sein Mund blutverschmiert war. Was zum Teufel hatte der da mit mir gemacht? Der Kerl hatte doch nicht etwa...? Jetzt stempelte ich ihn als völlig geisteskrank ab.

Ab hier wollte ich nur noch sterben, auf der Stelle. Doch statt zu sterben, blieb ich am Leben und musste die Tortur weiter über mich ergehen lassen.

Als nächstes verschwand er aus meinem Blickfeld. Für kurze Zeit keimte die blödsinnige Hoffnung in mir auf, doch noch zu überleben. Doch das konnte ich getrost streichen, da ich nun so oder so ins Jenseits wechseln würde. Die Verletzung an meinem Hals, die mir dieser Gestörte gemacht hatte, und die Kälte würden mich in wenigen Stunden zur Strecke bringen.

Schon im nächsten Moment kam er erneut und zog mich abermals an sich, eine Hand wieder in meinen Haaren, der Arm um meine Schultern geschlungen. Aber anstatt erneut meinen Hals zu durchbohren, drückte er seine Lippen auf meine. Ein erschrockener Laut entkam mir und ich fragte mich sofort, woher ich die Kraft dazu hatte. Ich öffnete ein wenig die Lippen, um zu schreien, falls das überhaupt noch ging. Daraufhin spürte ich den salzigen Geschmack von Blut in meinem Mund.

Blut, hallte es in meinem Kopf wider. Oh. Mein. Gott. Hatte er das alles geplant oder wie ging das hier ab? Ich fühlte mir wirklich, als wäre ich im falschen Film gelandet. Angewidert verzog ich das Gesicht und die Gewissheit, ihn nicht wegstoßen zu können, machte es auch nicht besser.

Aus einem Reflex heraus, schluckte ich das Zeugs sogar unabsichtlich. Mein eigentlich ausgeschaltetes Hirn brauchte mehrere Sekunden, um das zu registrieren.

Das allergestörteste war ja danach dann, dass es mir gefiel und ich mehr wollte. Ein fremdes Ich schien in mir erwacht zu sein. Jemand, der zu diesem Zeitpunkt stärker war als ich und somit die Kontrolle leicht über meinen verletzten Geist nehmen konnte. Was ging hier vor? Wieso gefiel mir das auf einmal? Jedenfalls gab mir der Fremde das, wonach ich für kurze Zeit verlangte. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da gerade tat. Ich musste einfach nicht ganz dicht sein. Am besten sollte ich selbst mein Herz dazu bringen, aufhören zu schlagen. In derselben Sekunde, an der ich an mein Herz dachte, merkte ich, dass ich es gar nicht mehr pochen hören konnte. Das war jetzt aber nicht wahr, oder? Doch da war wirklich nichts mehr. Kein Schlagen. Kein Pochen. Nichts. Nicht einmal ein Flimmern.

Auf diese Erkenntnis hin wurde ich komplett geschockt und erschöpft bewusstlos.

Langsam drang ich wieder an die Oberfläche dieses seltsamen Wassers, ließ in der Tiefe davon auch die Erinnerungen zurück und erwachte aus meinem „Schlaf“.

Kaspers Gesicht war das erste, was ich zu sehen bekam. Er musterte mich und wusste nicht so recht, welchen Gesichtsausdruck er beibehalten sollte. Seine Hand hielt ich immer noch festumklammert an meine Wange. Ich hatte mich richtig in ihn hineingekuschelt. Hastig suchte ich wieder Distanz. Wie vom Blitz getroffen rappelte ich mich auf und rutschte weg von ihm.

Was würde er jetzt von mir denken? Wie würde es jetzt weitergehen? Überrascht von meiner überreagierenden Reaktion sah er mich an. Wir saßen noch immer auf derselben Parkbank. Ich bemerkte, dass er mir seinen Mantel als Decke gegeben hatte, der jetzt auf meinen Schoß rutschte.

„Das eben ...“, wollte ich anfangen zu reden. „...ist nie passiert.“, beendete er den Satz. Ungläubig gaffte ich ihn an. Wie konnte er das nur sagen? Er hatte mich von seinem Blut trinken lassen!

„Was?“, sagte ich. „Aber ich bist du nicht...?“

„...schockiert? Angeekelt?“, führte er den Satz weiter. Ich nickte und schluckte schwer. Für die Antwort brauchte er einen Moment.

„Ich weiß nicht so recht. Vielleicht hab ich das Ganze noch nicht wirklich kapiert.“, antwortete Kasper mir.

„Werde ich jetzt auch zu einem... äh... Vampir?“, fragte er mich und wusste nicht recht, ob er es ernst meinen sollte oder nicht.

„Nein! Natürlich nicht! Ich könnte niemals...!“, empörte ich mich und schnappte nach Luft. „Schon gut, schon gut. Entschuldige.“, sagte Kasper schnell und hob beschwichtigend eine Hand. Es brauchte schon mehr als nur einen Biss, um einen Menschen in einen Vampir zu verwandeln. Das ganze war so wie ein blödes Ritual aufgebaut, wenn man ganz genau nach der „Tradition“ ging, aber es hat mich nie interessiert, deswegen konnte ich darüber keine Auskunft geben. Ich schwieg eine Weile, weil mir eine viel wichtigere Frage auf der Zunge lag. Noch nie war es mir so schwer gefallen, eine einfache Frage zu stellen.

„U...und was wirst du jetzt tun?“, fragte ich ihn vorsichtig. Von Kaspers Antwort hing jetzt alles ab. Wie es weitergehen würde, was jetzt passieren würde. „Na ja, ich schätze, ich bringe dich nach Hause.“ Er hatte meine Frage falsch verstanden. Manchmal fragte ich mich, ob er das mit Absicht machte. Ich seufzte genervt.

„Ich meinte, ob du uns jetzt verraten wirst...“, verbesserte ich mich und schaute in seine außerordentlichen Augen, die neutral auf mich wirkten. Keinerlei Anzeichen von Ekel oder Verachtung. Unerwartet nahm Kasper meine Hand und ich zuckte sofort zurück. So wie immer durchfuhren mich Stromschläge, stärker als alles andere. Er bemerkte meine Reaktion und ließ mich los.

„Monica, ich hab dich nicht in Ruhe gelassen, weil ich wissen wollte, was du bist und nicht damit ich es dann irgendjemanden verrate.“, erwiderte er ernst. Ich konnte keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass er mich jetzt anlog. Die Erleichterung stand mir ins Gesicht geschrieben. Wenn er uns nicht verraten würde, war die Situation nur halb so schlimm.

„Und was wirst du tun, jetzt, wo ich dein Geheimnis kenne?“, wollte er nun von mir wissen. Die Frage traf mich unerwartet. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich umgekehrt auf fragen würde. Gleichzeitig war es eine gute Frage, worüber ich mir schon Gedanken gemacht hatte, aber noch zu keinem Schluss gekommen war.

„Ich... ich weiß nicht. Erst mal muss ich mit meinen Eltern reden.“, entgegnete ich kurzerhand. Das würde ich auf jeden Fall machen. Susan und Alexej konnte ich es nicht weiter verheimlichen. Schon allein, weil ich mich ihnen gegenüber dazu verpflichtet fühlte.

„Sind sie auch...?“, erkundigte Kasper sich zaghaft. „Ja.“, bejahte ich mit einem gezwungenen Lächeln.

Spaziergänger gingen mit knirschenden Schritten an uns vorüber und beäugten uns mit neugierigen Blicken.

„Ich denke, wir sollten gehen.“, meinte Kasper und stand auf. Ich runzelte die Stirn. „Wir?“, wiederholte ich. Sein übliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er sprang auf und hielt mir seine Hand hin.

„Hör zu, nur weil ich hinter dein Geheimnis gekommen bin, heißt das noch lange nicht, dass ich dich ab jetzt in Ruhe lasse. Außerdem hab ich gesagt, dass ich alles von dir wissen will und ich weiß noch nicht alles.“, erklärte er mir seinen Standpunkt. Ohne seine Hand zu nehmen, stand ich auf. Unglücklicherweise knickten meine Beine weg. Anscheinend war die Menge Blut nicht genug gewesen, um mich gänzlich zu heilen. Kasper fing mich auf, noch bevor ich den Boden in meinem Gesicht spüren konnte. Er stützte mich vorsichtig ab.

„Willst du noch mehr?“, fragte er mich und hielt mir erneut seine Handgelenk hin. Wie konnte er mir nur so bereitwillig sein Blut anbieten? „Sei nicht albern.“, meinte ich und schüttelte den Kopf. Wieso wollte er das Opfer spielen?

„Ich bin nicht albern, ich mein es ernst.“, sagte Kasper fast schon beleidigt.

„Nein.“, sagte ich entschlossen. „Bring mich einfach nur nach Hause.“

„Yes, Sir.“, erwiderte Kasper wieder mit seinem breiten Grinsen.

Etwas benommen wankte ich durch die Straßen. Kasper hatte mir seinen Mantel geliehen, damit ich das auffällige Loch in meinen Kleidern verstecken konnte. Ich war heilfroh, dass unsere Wohnung nicht weit entfernt war. Während wir unserem Ziel näher kamen, unterhielten wir uns. Eigentlich war Kasper es, der anfing zu sprechen.

„Sag mal, das, was du mir über deine Vergangenheit erzählt hast, stimmt das?“, wollte er von mir wissen.

„Ja, alles entspricht der Wahrheit.“, flüsterte ich. Seine Frage überraschte mich nicht sehr. Bei so einem Geheimnis lag es nahe, dass man sich eine Geschichte ausdachte, um das Gesicht zu wahren.

„Wieso hast du mich nicht angelogen?“, fragte Kasper mich als nächstes. Er sah ziemlich verwirrt aus. Obwohl ich die Frage erwartet hatte, hatte ich keine Antwort. Ich hatte es ihm einfach erzählt. „Ehrlich gesagt, ich hab keine Ahnung. Ich.... konnte dich einfach nicht anlügen.“, bastelte ich mir eine Antwort zusammen. Des Weiteren war ich eine schlechte Lügnerin, eine ziemlich schlechte sogar.

„Wer hat dir das angetan?“, erkundigte er sich und verzog wütend das Gesicht. Unbemerkt zog er mich näher an sich, als wollte er mich vor einem erneuten Angriff schützen. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Meine Lippen drückte ich merklich zu einem Strich zusammen.

„Das waren...“, ich brauchte eine Sekunde, um das Wort hervorzupressen, “Vampirjäger. Sie wollten mich umbringen.“ Beim letzten Satz entfuhr Kasper ein verärgertes Murren. „Ich will jetzt nicht darüber reden.“, fügte ich noch hinzu.

„Was werden deine Eltern jetzt tun, wo ich dein Geheimnis kenne?“, fragte er nach wenigen Minuten des Schweigens. Ich konnte mir schon vorstellen, wie das ganze Szenario aussehen würde. Alexej würde toben wie sonst wer, während Susan sich erst einmal um mein leibliches Wohl kümmern würde. Sie müsste Alexej dann auch noch zusätzlich beruhigen und zusehen, dass nichts zu Bruch ging.

„Wir werden sehen.“, meinte ich und dann ging mir schlagartig ein Licht auf. „Du willst doch nicht mit reingehen?“, fragte ich schockiert und starrte ihn an.

„Natürlich.“, antwortete er entschlossen, als wäre es das normalste der Welt.

„Bist du lebensmüde?“, fragte ich ihn fassungslos und rüttelte an seinem Hemdärmel. „Ich denke nicht.“, erwiderte er ernst.

„Wieso...?“, setzte ich an führte die Frage aber nicht zu Ende.

„Wenn du es deinen Eltern schon beichten muss, dann können sie gleich sehen, wer Schuld an dem Ganzen ist.“, erklärte Kasper.

Darauf entgegnete ich nichts. Er würde sich wie immer nicht davon abhalten lassen. Er war sprichwörtlich ein Dickkopf. Vielleicht war er auch eine Hilfe, eine Stütze, während ich Susan und Alexej alles erklärte. Das würde sich dann noch herausstellen. Ich hoffte so sehr, dass mich die beiden verstehen würden. Um mich selbst von meinen quälerischen Gedanken zu entfernen stellte zur Abwechslung mal ich eine Frage.

„Kasper?“, nannte ich ihn beim Namen.

„Ja?“, sagte er und blickte mich an.

„Wie... wie bist du darauf gekommen, dass ...“, ich konnte nicht weitersprechen. Mich selbst als Vampir zu bezeichnen würde mir wahrscheinlich nie über die Lippen kommen. Aus dem einzigen Grund, dass ich nie akzeptiert hatte, was ich bin.

„...du ein Vampir bist?“, beendete Kasper für mich den Satz. Ihm schien es keine Schwierigkeiten zu bereiten, das Wort einfach so auszusprechen. Die Antwort kam ihm nicht so leicht über die Lippen.

„Zuerst dachte ich ja, ich hätte den Verstand verloren, als ich dich da mit blutverschmierten Mund und der Ziege sah.“, als er das sagte, verzog ich automatisch den Mund; Kasper merkte es und fuhr mit etwas anderem fort, “Ich hab wirklich lange darüber nachgedacht. Mir fiel einfach keine plausible Erklärung ein. Ich war schon dabei, dich zu vergessen und das alles als Einbildung abzutun.“

Das hättest du auch lieber tun sollen, seufzte ich in meinem Kopf.

„Dann bin ich an deine Schule gekommen und hab dich wiedergesehen. Alle Erinnerungen drangen wieder zu mir durch. Meine Neugier war ebenfalls geweckt worden. Ich war total überrascht, dich gerade hier zu sehen. Ich hab lange nachgedacht, bevor ...“, erklärte er weiter.

„Bevor du angefangen hast, mich zu belästigen.“, setzte ich für ihn fort. Sein übliches Grinsen leuchtete in seinem Gesicht auf, seine Augen glänzten dabei.

„Wenn du es so nennen willst...“, meint er dazu. „Jedenfalls hab ich dich beobachtet. Was mir als erstes auffiel war, dass du jeglichen Körperkontakt meidest, du hast zu den meisten immer einen Sicherheitsabstand gehalten.“

Das hat auch seinen guten Grund, dachte ich. Meine Selbstbeherrschung wurde jedes Mal auf die Probe gestellt, wenn ich unter so vielen Menschen war. Ich ging kein Risiko ein.

„Zweitens hab ich nie gesehen, wie du etwas gegessen hast. Du hast nie mit deinen Leuten in der großen Pause irgendwas gegessen. Nur getrunken hast du. Irgendwann ist mir dann unterbewusst der Gedanke gekommen. Jede Sekunde hat er mehr festere Gestalt angenommen. Welches Wesen würde sonst schon Blut trinken? Okay, am Anfang wollte ich es selbst nicht glauben. Aber was ist heute schon unmöglich? So ungefähr war das.“, endete Kasper mit zufriedenem Gesicht. Ich nickte nur bestätigend. Er hatte also nicht von Anfang an Verdacht geschöpft. Nun fühlte ich mich irgendwie noch enger mit ihm verbunden. Ich hatte das Gefühl, dass ein dünnes aber sehr starkes Band entstand, das uns immer fester aneinander band. Ob es gut oder schlecht war, konnte ich nicht sagen.

Im selben Moment standen wir vor der Eingangstür zu unserer Wohnung. Wir waren mit Müh und Not die Treppen hinaufgekommen, da ganz zufälligerweise der Fahrstuhl kaputt war. Mit zitternden Händen drehte ich den Schlüssel im Schloss herum, die Tür sprang klackend auf und trat ein. Vorher gab ich Kasper noch seinen Mantel zurück.

„Halt dich zur Sicherheit hinter mir.“, ordnete ich an und er tat bereitwillig, was ich wollte.

„Susan?“, fragte ich in den Raum hinein. „Alexej?“

Kopfreibend kam Alexej um die Ecke. Er war überrascht und dann schockiert, als er das Loch in meiner Kleidung entdeckte. Ich dagegen war ein bisschen verunsichert, weil nur er da war. Wenn Susan ebenfalls da gewesen wäre, wäre es besser gewesen.

„Was ist passiert?“, fragte er ernst und bedeutete mir, mich auf das Sofa zu legen. Kasper blieb am Eingang zurück.

„Vampirjäger haben mich angegriffen.“, antwortete ich. Alexejs Gesicht hat sich gerade entspannt, da sah er mich wieder geschockt an. Sein Blick wechselte schnell zu Kasper, da ich vor ihm so offen über Vampire geredet hatte. Nun war er verwirrt. Mitten im Raum war er zur Statue erstarrt.

„Alexej... ich... er weiß es.“, beichtete ich schweren Herzens. In dem Moment hoffte ich wirklich, dass er mir nicht gleich den Kopf abreißen würde.

„Was?“, presste er hervor. Sein Gesichtsaudruck war versteinert, trotzdem konnte ich sehen, dass er kurz davor war auszurasten.

„Das... das kann doch nicht wahr sein!“, fuhr er mich an und machte einen Schritt nach vorn. Wie Messer durchstachen mich nun seine Blicke. Er rang geradezu nach Luft. Seine Schultern bebten vor Wut.

„Es war meine Schuld.“, schritt nun Kasper ein. Er hatte sich nicht gerührt, ebenfalls verängstigt von Alexejs Art. Der bedachte ihn mit einem todbringendem Blick. „Ich habe sie... bedrängt. Bitte geben Sie ihr nicht die Schuld.“, fuhr er fort.

Er war wirklich ein seltsamer Junge. Jeder normaler Mensch wäre schon längst geflohen. Doch er verteidigte mich sogar noch tapfer! Ich sah ihn verzweifelt an, sodass er merken musste, dass er gefälligst damit aufhören sollte. Er machte es nur schlimmer. Alexej würde als allerletztes auf einen Menschen hören. Ich sah uns beide jetzt schon in kleine Stücke zerfetzt am Boden liegen.

Überraschenderweise hatte es trotzdem seine gewünschte Wirkung. Alexej beruhigte sich ein wenig und konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche.

„Okay, das können wir später noch besprechen.“, meinte er und zog mir plötzlich meine Sachen aus, damit er sich die vernarbte Stelle ansehen konnte. Total überrascht gaffte ich Kasper an, als ob er das achte Weltwunder geschaffen hätte. In forschem Ton forderte mich Alexej auf, alles zu erzählen und das tat ich dann auch. Kasper trat vorsichtig an meine Seite und hörte ebenfalls zu.

„Joe, Steve und Noah also. Sie müssen dich schon längere Zeit beobachtet haben, sonst hätten sie dich nicht angegriffen.“, meinte Alexej nachdem ich geendet hatte. Ich nickte schwach.

„Ich werde mich, sobald ich kann, umhören. Das dürfen wir auf keinen Fall außer Augen lassen.“, entschloss er kurzerhand. Deswegen war ich froh, dass es Alexej gab. Er bewahrte bei solchen Sachen einen kühlen Kopf und reagierte nicht überhitzt, so wie sonst. Seine Pläne waren bis jetzt immer todsicher gewesen.

„Glaubst du, dass sie von euch auch Bescheid wissen oder nur von mir?“, fragte ich ihn. „Das ist schwer zu sagen. Ich denke, dass sie nur von dir wissen, weil sie ja nur dich angegriffen haben. Aber bei denen kann man ja nie wissen.“, antwortete er mir ernst. Kasper schien nicht viel von unserem Gespräch zu verstehen. Danach widmete sich Alexej meinen Verletzungen.

„Es ist ziemlich gut verheilt für so ein großes Loch. Aber von wem hast du das Blut genommen?“, fragte er mich nach seiner Analyse. Ich rührte mich nicht, sagen konnte ich es auch nicht. Unabsichtlich zuckte Kasper ein bisschen. Für Alexej war das schon Antwort genug. Mit einem Seufzen nahm er es zur Kenntnis.

„Nun gut. Aber du brauchst noch mehr. Dein Körper hat sich noch nicht vollständig geheilt.“, sagte er noch. Kasper glaubte wohl, dass das eine verdeckte Aufforderung an ihn gewesen sei, denn er beugte sich schon vor, abermals bereit das Opfer zu spielen. Ich drückte mich gegen das Sofa. Ein weiteres Mal würde ich nicht Blut von ihm nehmen. Einmal reichte vollkommen. Außerdem war es diesmal kein Notfall mehr. Als Alexej kapierte, was Kasper da tat, lachte er auf. Kasper sah ihn verwirrt an.

„Ich werde dein Blut nicht noch einmal nehmen.“, sagte ich und drehte ihm den Kopf zu. „Aber...“, wollte er erwidern.

Alexej ging zum Kühlschrank, nahm eine Blutkonserve heraus und füllte ein Glas damit. Nicht gerade appetitlich, aber es ging im Moment nicht anders. Er reichte es mir und ich nahm es dankend. Danach drehte ich mich erneut zu Kasper, der noch immer verwirrt dastand.

„Dreh dich um.“, befahl ich ihm. Ich wollte nicht, dass er zusah, wenn ich mich mit Blut beglückte. „Häh?“, sagte er.

„Ich will nicht, dass du dabei zusiehst.“, erklärte ich. „Also dreh dich um.“

„Ach so.“, erwiderte er und drehte sich mit rotem Kopf um. Ich wusste, dass er mir irgendwann seine vielen Fragen aufdrängen würde.

In einem Zug trank ich das Glas aus, wieder mit dem angewiderten Gefühl. Das Feuerwerk blieb aus, ich konnte nur spüren, wie sich mein Körper mit jedem Zug mehr besser fühlte. Ich fühlte mich wie vorher. Alexej nahm mir das Glas wieder ab und stellte es zum erledigenden Abwasch. Er setzte sich neben mich und atmete einmal tief durch, dabei sah er mich fast väterlich an. Ich sagte Kasper, dass er sich wieder umdrehen konnte. Im nächsten Moment stand er wieder mir gegen über.

„So...“, setzte Alexej an, „Und jetzt erzählst du mir mal, wie es dazu gekommen ist.“ Demonstrativ zeigte er auf Kasper, der daraufhin ehrfürchtig zurückwich.

„Ich...äh... also...“, stotterte ich erst Mal, riss mich dann aber zusammen. „Es fing alles an dem Tag an, an dem die Jagd stattgefunden hatte. Als ich...“, ich brach ab, weil ich nach eine passende Umschreibung suchen musste. Ich konnte schlecht vor Kasper sagen: Als ich die Beute gerissen hatte. „Als ich fertig war hörte ich Kasper hinter mir. Ich ergriff so schnell wie möglich die Flucht.“, erzählte ich weiter. Kasper trat wieder einen Schritt nach vorn, es schien ihn zu interessieren, dass ich alles aus meiner Sicht erzählte. Alexej hörte aufmerksam zu.

„Das Risiko, dass er ausplaudert, ist zu groß. Warum hast du nicht...?“, fragte er mich plötzlich, ohne darauf zu achten, was Kasper sich dabei denken könnte.

„Du weißt, was mein sehnlichster Wunsch ist und dass ich Menschen nie etwas tun könnte.“, erwiderte ich mit fester Stimme. Das war mein Grundsatz, den ich leider vorhin gerade gebrochen hatte. Aber Kasper hatte es mir immerhin angeboten, somit war es nicht so schlimm. „Und danach?“, wollte Alexej weiter wissen.

„Ich glaubte, dass er das, was er gesehen hatte, nicht glauben würde und somit auch nichts sagen würde. Vor einer Woche kam dann Kasper zu uns an die Schule. Er hatte mich wiedererkannt. Natürlich war ich erst mal überrascht, dass ich ihn wiedersah. Jedenfalls hat er mich dann...“, ich wollte schon sagen belästigt, aber das würde in Alexejs Ohren bestimmt überhaupt nicht gut klingen. „...ausgefragt. Zuerst war ich ja noch standhaft. Aber irgendwie wusste er es schon unterbewusst, was ich war. Dieses... Ereignis vorhin hat die endgültige Bestätigung gebracht.“, endete ich und seufzte einmal.

„Und wieso hast du ihn nicht nach eurem Wiedersehen zum Schweigen gebracht?“, erkundigte sich Alexej dann. Ich grummelte und legte eine finstere Miene auf. „Wieso bist du so erpicht darauf, dass er stirbt? Magst du das Jagen so sehr oder wie?“, knurrte ich. Zuerst war er überrascht in welchem Ton ich mit ihm sprach und wie respektlos ich war. „Wird ja nicht frech, mein Fräulein!“, warnte er mich.

„Kasper ist mein Freund und das bleibt er auch. Und zwar lebendig.“, sagte ich entschlossen, ein wenig überrascht, welche Worte ich gerade gesagt hatte. Seit wann war Kasper mein Freund? Hatte ich das gerade wirklich von mir gegeben?

Auch Kasper selbst konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Sein breites Grinsen breitete sich daraufhin wieder auf seinem Gesicht aus. Es schien ihm zu gefallen.

„Dann solltest du lieber auf ihn aufpassen. Ich werde nicht zögern, sobald sich die Möglichkeit bietet.“, meinte Alexej ohne Kasper dabei anzusehen. Ich konnte nicht fassen, was er da sagte. Mit offenem Mund starrte ich ihn an und suchte nach Anzeichen, dass er einen sehr schlechten Witz machte. Doch es war sein Ernst. Ich kapierte, dass das mehr als nur Ernst war. Er würde es tun.

Kasper war neben mir erstarrt. Er hatte aufgehört zu atmen. Sein Mund stand ebenfalls offen und seine Augen waren vor Schreck geweitet.

„Das werde ich nicht zulassen.“, zischte ich entschlossen. „Wir werden ja sehen.“, entgegnete er und schenkte Kasper ein bittersüßes Lächeln. Ein Schauder lief Kasper den Rücken hinunter. Als wäre es das normalste der Welt, griff ich nach seiner Hand und drückte sie fest. Überrascht von meiner Aktion wich das Entsetzen aus seinem Gesicht. Stromschläge durchzuckten wie sonst meinen Körper. Daran würde sich in geraumer Zeit bestimmt nichts ändern. Meine Finger wollten sogleich wieder loslassen, aber diesmal musste ich dem standhalten. Kasper würde der letzte sein, den Alexej zu fassen bekam.

„Ich bin wieder da!“, trällerte derweil Susan und tanzte durch die Tür.

Als sie das Szenario sah, veränderte sich ihre Miene ebenfalls von fröhlich in besorgt und entsetzt.

Zu meinen Gunsten über nahm Alexej für mich das Erklären. Ich hätte es wahrscheinlich nicht noch einmal erzählen können. Während er redete, drückte mich Susan immer fester an sich.

„Oh Gott, wie schrecklich!“, sagte sie schließlich und küsste mich auf die Stirn. Kaspers Hand hielt ich derweil noch immer fest, was dazu führte, dass er sich ein wenig verrenken musste, um das mit Susans Umarmung zu vereinbaren. Die Stromschocke ließen nicht nach. Sie tanzten stetig über meine Hand bis hin zur Schulter und verteilten sich überall.

Dann erzählte Alexej ihr noch die Sache mit Kasper. Sie nahm es nicht so verärgert auf wie er, sondern seufzte einmal resigniert.

„Da haben wir wohl ein kleines Problem.“, meinte sie und schaute sich Kasper an, der etwas betreten dastand. „Klein!“, wiederholte Alexej verächtlich.

„Was werden wir jetzt tun?“, fragte ich die beiden.

„Wir?“, echote Alexej abermals. „Wir sollten eher fragen, was er jetzt tun wird.“

Erschrocken drückte ich Kaspers Hand noch fester. Ich wollte für ihn antworten, aber er fing an zureden, bevor ich es tun konnte.

„Ich werde nichts sagen.“, sagte er mit fester Stimme.

„Das sagen alle am Anfang.“, meinte Alexej finster. Jetzt durchlöcherte er Kasper mit seinen wütenden Blicken.

„Sei nicht so misstrauisch!“, warf Susan ein.

„Stellst du dich jetzt etwa auf seine Seite?“, fragte Alexej entrüstet.

„Wieso hätte er mir dann das Leben gerettet? Nur um mich dann sowieso zu verraten? Das ist doch irrsinnig!“, verteidigte ich ihn nun.

„Ich will nur nicht, dass er meine Familie zerstört.“, sagte Alexej und wechselte zwischen meinem zu Susans Gesicht hin und her. Darauf wurden wir zwei schwach. Dieser Grund war am schwerwiegendsten.

„Ich versichere euch, dass ich nichts verraten werde. Wenn nicht, dann werde ich euch nicht daran hindern, mich umzubringen.“, meldete sich nun Kasper wieder. Jetzt starrten wir ihn alle an. Alexej seufzte einmal tief.

„Okay, okay. Fürs erste glauben wir dir. Wir habe andere Probleme.“, beendete er die Diskussion. „Aber falls es auch nur danach aussieht, dass du plauderst, mach ich dich eigenhändig kalt“, warnte Alexej Kasper vor. Der blieb aber von der Drohung eher unberührt. Entweder war er sich der Situation nicht klar, oder er hatte einen ziemlich starken Charakter.

Danach zerrte ich Kasper hinaus, da Susan und Alexej anfingen über die Vampirjäger zu besprechen. Vor der Tür atmete ich einmal tief durch und ließ ihn los. Meine Hand schien schon ganz taub von seinen Stromschlägen zu sein. Ich war so froh, dass ich das hinter mir hatte und es vorbei war. Nun fühlte ich mich nicht nur körperlich sondern vor allem auch seelisch besser.

„Ich mag deinen Vater.“, meinte Kasper auf einmal.

„Du bist seltsam.“, antwortete ich darauf. Nachdem ihm Alexej sämtliche Drohungen gemacht hatte, mochte er ihn auch noch? „Ich weiß.“, erwiderte er.

„Er hat seinen eigenen Kopf, er weiß, was er will und was er tun wird.“, erklärte Kasper seine Aussage. Das waren dieselben Gründe, wie ich sie hatte.

„Das... stimmt.“, stimmte ich ihm zu. Daran konnte man nicht viel rütteln.

„Sag mal... ist das wahr? Bin ich wirklich dein Freund?“, fragte er mich nach wenigen Sekunden. Plötzlich glühten seine Augen und warteten gespannt auf meine Antwort. Der Strom, der sonst nur bei Berührung auf meiner Haut prickelte, entstand auf einmal nur durch seinen Blick. Es dauerte mehrere Sekunden, bis ich antworten konnte. Sprichwörtlich elektrisiert stand ich da. Es war mir vorhin zwar mehr oder weniger herausgerutscht, aber es war nicht gelogen. Auch wenn er noch so nervig sein konnte, mochte ich ihn. Es klang schon ein wenig verrückt, aber es war wirklich so. Darüber wurde ich mir in dem Moment klar.

„Ich... denke schon... Ja.“, flüsterte ich, ohne seinem fesselnden Blick entweichen zu können. Noch immer glühten seine Augen, heller als vorher. Er war sichtlich erfreut über meine Antwort, denn er strahlte übers ganze Gesicht.

Das Band zwischen uns zog sich noch fester, jede Sekunde einen Zentimeter mehr.

„Kasper... ich... ich verdanke dir mein Leben.“, setzte ich an. „Ich stehe tief in deiner Schuld. Wenn ich etwas für dich tun kann, sag es mir.“ Sein Gesicht nahm sanfte Züge an. Er wollte mir über meine Wange streicheln, aber ich zuckte zurück. Die Stromschläge auf den Armen hielt ich schon aus, aber im Gesicht konnte ich noch nicht. Kasper bemerkte das und ließ seine Hand augenblicklich sinken.

„Monica!“, ertönte Susans Stimme aus der Wohnung. „Ich komme!“, rief ich zurück.

„Ich geh dann.“, verabschiedete sich Kasper dann schnell. „Tschüss.“, sagte ich und blickte ihm nach, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Erst jetzt bemerkte ich, wie breit seine Schultern eigentlich waren und wie groß er war. Das war mir vorher nie wirklich aufgefallen.

Kasper war also jetzt ein Freund von mir. Der erste überhaupt seit meiner Verwandlung, soweit ich mich erinnern konnte. Tiefe Freude durchströmte mich bei diesem Gedanken. Lisa und Zara in der Schule waren meiner Meinung nach nur „bessere“ Schulkolleginnen, die mich gelegentlich zu einem Kaffee und in die Disco einluden.

In der Wohnung teilten mir die beiden mit, dass sich Alexej umhören würde und wir ab jetzt vorsichtiger sein mussten. Wir konnten uns keine Fehler erlauben. Denn jetzt, wo ich entkommen war, würden sie noch mehr Jäger auf mich ansetzen. Das hieß, dass ich ab jetzt nicht mehr alleine mehr auf die Straße durfte.

Ruhe? Von wegen!

In den nächsten Tagen ging ich wieder zur Schule und alles nahm seinen geregelten Lauf. Ich redete mich auf eine Erkältung heraus, als mich einige fragten, weswegen ich gefehlt hätte. Es war schön, wieder einen normalen Tagesablauf zu haben. Trotzdem verließ mich nie das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Als würden mir die Vampirjäger auf Schritt und Tritt folgen.

In der Schule ließ mich Kasper die meiste Zeit über in Ruhe, aber er redete mit mir so oft es ging. Darum versuchte ich, immer woanders zu sein als er. Und wenn er mal um die Ecke kommen sollte, konnte ich ihn schon von weitem riechen und mich noch rechtzeitig irgendwo verstecken. Auch wenn er nun mein „Freund“ war, wollte ich nicht unbedingt, dass das die anderen in der Schule mitbekamen.

Kasper glaubte leider von diesem Tag an, er müsse mich vor diesen Wahnsinnigen beschützen, deswegen begleitete er mich immer bis vor die Wohnungstür. Wenn es wirklich hart auf hart kommen sollte, würden die Jäger dieses Opfer bringen, um mich zur Strecke zu bringen, da war ich mir sicher. Sie würden keine Mühe scheuen und nicht eine Sekunde zögern.

„Du musst mich nicht immer begleiten!“, sagte ich ihm also einmal.

„Ich will aber!“, entgegnete er, verschränkte dabei die Arme vor der Brust.

„Falls sie wieder auftauchen sollten, würden sie nicht davor zurückschrecken, dich aus dem Weg zu räumen!“, meinte ich und fuchtelte demonstrativ mit den Händen. „Das soll mir mal einer von denen beweisen.“, erwiderte er wiederum trotzig und ballte eine Hand zur Faust.

„Aber du musst doch auch nach Hause!“, warf ich ein. „Keine Sorge, meine Eltern machen sich so schnell keine Sorgen.“, antwortete er brüsk.

„Das... das ist doch irrsinnig!“, sagte ich und sah ihn an. Er war wild entschlossen, das konnte man seinem Gesichtsausdruck nach einwandfrei ablesen.

„Nein, ist es nicht.“, tat er ab und schüttelte den Kopf.

Jedes Mal wenn ich ihn darauf ansprach, blieb er standhaft bei seiner Meinung. Er ließ sich nicht davon abbringen, mich zu begleiten. Dabei brachte er sich damit nur unnötig in Gefahr! Verstand er das nicht? Die Gespräche liefen immer vom selben Schema ab und er gewann jedes Mal. Seine Standhaftigkeit half ihm dabei. Bald hatte ich keine Kraft mehr dafür und ließ es bleiben. Unsere Mitschüler glaubten schon, wir wären zusammen, weil wir so oft gemeinsam zu sehen waren, wo ich doch gerade das nicht wollte.

Zu allem Überfluss kam er auch jeden zweiten Tag zu mir, immer sein breites Grinsen auf den Lippen.

„Kannst du nicht mal zu Hause bleiben?“, fragte ich ihn, als er mal wieder vor meiner Tür stand. „Das nervt. Ich will alleine sein.“ Dadurch wurde sein Grinsen nur noch breiter.

„Na, na! Nicht frech werden! Außerdem hast du mir selbst gesagt, wenn ich ein Problem hätte, würdest du mir helfen würdest.“, entgegnete Kasper immer noch lächelnd. Wie von selbst trat er in die Wohnung ein.

Alexej hatte sich noch immer nicht mit ihm abgefunden und sah es gar nicht gerne, wenn er da war. Kasper juckte das herzlich wenig. Er hatte mir sogar einmal gesagt, dass sein Verhalten gerechtfertigt und richtig wäre.

Wie jedes Mal kletterte er die Leiter nach oben zu meinem kleinen Reich. Ich kam ihm schnellstmöglich nach.

„Was für ein Problem könntest du denn schon haben?“, fragte ich ihn also sarkastisch. Genau heute hatte ich mir eine Menge alter Bücher aus der Stadtbibliothek geholt, die alle auf einem Haufen auf meinem äußerst niedrigen Schreibtisch lagen. Der Tisch stand mitten im Raum, da meine Matratze schon eine Seite an der Wand einnahm. „Das könnte ich dich genauso fragen. Ist das so ein Zwang mit den alten Büchern oder wieso hast du dir so viele davon besorgt?“, stellte er mir eine Gegenfrage und deutete auf den Bücherhaufen.

„Wenn es dir nicht passt, dann geh halt.“, schnauzte ich zurück.

„Kann ich leider nicht. Ich muss deine Dienste in Anspruch nehmen.“, antwortete Kasper darauf und setzte sich auf meinen Stuhl. Ich brauchte einen Moment, dann musste ich auflachen.

„Meine Dienste? Was verstehst du darunter?“, hinterfragte ich immer noch lachend. Er ließ seinen Rucksack zu Boden plumpsen und fischte ein dünnes Buch heraus.

„Mathe. Wir haben nächste Woche Test, wie du weißt, und ich kapier die Hälfte des Stoffs nicht.“, erklärte er mir und wedelte dabei mit unserem Lehrbuch in der Luft herum.

„Und dazu brauchst du mich? Das können dir deine Kumpels genauso gut erklären.“, antwortete ich darauf, während er meine Bücher möglichst sorgfältig beiseite räumte. „Na hör mal, du bist die Klassenbeste.“, meinte er und legte nun die Schulbücher auf den Tisch. Ich setzte mich ihm gegenüber und sah ihm zu, wie er die jeweiligen Seiten aufschlug. Ich brauchte nicht hineinzusehen, ich kannte alles auswendig. Man mochte es nicht glauben, aber als Vampir hatte man im Kopf plötzlich viel mehr Raum. Es war wie mit dem Horizont, so ungreifbar wie er, schien meiner zu sein. Meine ganzen Schulhefte waren ebenfalls leer, es war alles in meinem Gehirn abgespeichert. Nur in den Büchern machte ich mir hin und wieder Notizen.

„Kannst du mir deine Hefte zeigen? Meine kann ich vergessen.“, fragte er mich, nachdem er die richtige Seite gefunden hatte. Erwartungsvoll streckte er mir die Hand entgegen. „Sind sie so schlampig gehalten oder wie?“, neckte ich ihn, machte aber keine Anstalten, ihm meine Hefte zu geben.

„Das auch, ja. Gibst du mir jetzt deine Mitschrift oder nicht?“, erwiderte Kasper und rutschte wieder ungeduldig hin und her.

Ich zog eines der Bücher näher heran und sah mir kurz die Seite an, dann wusste ich auch schon, worum es ging. „Das wäre überflüssig.“, sagte ich nebenbei. Für den Test würde ich nur einmal kurz vor dem Test in die Bücher schauen müssen, da wäre wieder alles wie frisch gelernt. Das einzig gute am Vampirdasein.

Kasper schaute verwirrt drein, er verstand den Sinn hinter meinem Satz nicht.

„Bitte was?“, hinterfragte er noch mal und blinzelte. „Überflüssig. Alles hier in meinem Kopf.“, antwortete ich so locker wie möglich und tippte gegen meine Schläfe. Es sah aber nicht danach aus, als hätte er es kapiert.

„Häh?“, entfuhr es ihm. Ich seufzte einmal und legte das Schulbuch zur Seite. „Ich bin ein verdammtes Monster, schon vergessen?“, erinnerte ich ihn höflich.

„Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“, wollte er wissen. War es wirklich so schwer zu verstehen? Es bereitete mir Unbehagen, mit ihm über mich zu sprechen. Noch immer war es in meinem Hirn vorprogrammiert, darüber den Mund zu halten. Wie eine schwarze Mauer legte es sich jedes Mal über meine Gedanken.

„Wir werden sehr alt, da sammelt sich schon eine Menge Wissen und vor allem Geld an.“, erklärte ich in möglichst klaren Worten. Hoffentlich kapierte er es jetzt. Sofort leuchteten seine Augen auf und er beugte sich interessiert nach vorne. Eine Woge seines unwerfenden Geruchs vernebelte mir für kurze Zeit meine Gedanken. Der Tisch war gerade so breit wie mein sonstiger Sicherheitsabstand gegenüber fremden Menschen. Aber wenn er sich so vorbeugte, war es wieder wie beim ersten Mal, als er hier war. Sicherheitshalber rückte ich ein Stückchen weg.

„Ach ja?“, sagte Kasper noch immer mit diesem Leuchten in den Augen. „Und wie alt bist du?“

„So etwas fragt man keine Frau.“, entgegnete ich. Es widerstrebte mir, ihm mein wahres Alter zu sagen. Dann fühlte ich mich irgendwie als Oma. Er war gerade mal siebzehn und ich schon gute 115. Außerdem würde ihn das sicher schockieren.

„Ach, sei doch nicht so altmodisch. Komm schon, sag!“, drängelte er weiter und ruckelte noch mehr hin und her. Er sah aus wie ein kleines Kind, wenn er so ungeduldig war. Ich wollt es ihm nicht sagen. Alles stellte sich dagegen.

„Nein!“, hielt ich also dagegen, verschränkte dabei demonstrativ die Hände vor der Brust. „Mann, das ist unfair.“, meinte er enttäuscht und ließ die Schultern hängen.

„Hör auf damit, oder du kannst dir deine Mathenachhilfestunde sonst wohin schieben!“, drohte ich ihm an. Ich meinte es ernst, ich würde nicht zögern, ihn hinauszuwerfen.

„Schon gut, schon gut. Tut mir ja leid.“, entschuldigte Kasper sich hastig und hob beschwichtigend die Hände.

Danach zeigte er mir, was er vom Stoff nicht verstand. Es war mehr als die Hälfte des Stoffes, nur die wirklich einfachen Sachen schien er zu verstehen. Also bemühte ich mich, es für ihn so leicht wie möglich zu machen. Nur war das nicht einfach, wenn für einen selbst alles sonnenklar war und man nicht hinterfragen musste, wieso und warum. Kasper kämpfte wirklich hart, damit er endlich verstand. Für ihn waren Zahlen wie eine Fremdsprache. Nach einer Weile hatte er wenigstens etwas kapiert. Für mich war es noch schwerer, weil er mich mit seinen Fragen und andauernden wieso und häh aus dem Konzept brachte. Nach einer Weile machten wir eine Pause, da selbst ich nicht mehr konnte. Des Weiteren war ich schon leicht genervt.

„Sag mal bist du so blöd oder tust du nur so?“, fragte ich also und ließ mich auf mein Bett fallen.

„Hey, sei doch nicht so. Zahlen sind für mich so unverständlich, wie sonst nur die Frauen.“, antwortete er entrüstet. Ich schloss die Augen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, denn jetzt hatte sogar ich zu viel ins Hirn bekommen.

„Frauen sind für dich also unverständlich? Sehr interessant.“, erwiderte ich sarkastisch und musste dabei grinsen.

„Na sicher. Immer endlos telefonieren und für Stunden in einem Geschäft nach dem richtigen Top suchen, das ist doch Blödsinn. Frauen sind so kompliziert.“, antwortete Kasper dabei und zappelte schon wieder unruhig. Kasper war wirklich komisch. Einerseits ging er gern in eine Wohnung voller Vampire, andererseits fand er die Frauen kompliziert.

„Du redest aber grad mit einer. Irgendwie widerspricht sich das, meinst du nicht?“, sagte ich. Darauf schwieg er für eine Weile. Obwohl ich hörte, wie er aufstand, rührte ich mich nicht. Trotzdem wartete ich gespannt auf seine Antwort, es interessierte mich, wie er darüber dachte.

„Ich denke, du bist eine Ausnahme.“, flüsterte er plötzlich vor mir. Ich hatte ihn nicht kommen hören, nur, wie er aufgestanden war.

Erschrocken wollte ich aufspringen, doch ich klatschte wie ein Fisch gegen seine Brust und drohte wieder nach hinten zu fallen. Noch bevor ich die Wand an meinem Hinterkopf spüren konnte, hatte Kasper blitzschnell reagiert und mich am Handgelenk zu fassen bekommen. Abermals tanzten Blitze über meine Haut, bis zu meiner Schulter. Das war in dieser Sekunde jedoch nur ein Hintergedanke. Wie selbstverständlich zog er mich zurück an seine Brust. Ich verharrte unter den plötzlichen Stromschlägen, die stärker wie nie zuvor meinen Körper durchzuckten. Es fühlte sich an, als würde auf einmal wieder mein Herz schlagen. Als würde ich wieder leben. Es tat einerseits gut, andererseits war es die Hölle schlechthin. Ein Zwiespalt wie er besser nicht hätte sein können.

Ich glaubte, blaue Blitze über meine Arme zucken zu sehen. Es fühlte sich wirklich an, als würde mein Herz wieder pulsieren. Die Schläge kamen immer in gleichmäßigen, rhythmischen Abständen. Andererseits war mein Atem gestockt und ich atmete schon seit ungefähr einer Minute nicht mehr.

Kasper drückte mich fest an sich, beugte sich ein wenig zu mir herunter und presste seine Wange sanft gegen meine. Sofort war dort die heißeste Stelle und die Blitze schienen nun dort ihr Zentrum zu haben.

Seine Brust hob und senkte sich, sein Atem fuhr mir am Hals entlang. Einen Arm hatte er mir um die Taille gelegt, die andere um meine Schultern.

Sein Duft, der in stetigen Wellen über mich herfiel, betäubte all meine Sinne.

Ich fragte mich, wie lange ich das noch aushalten konnte. Mir kam es so vor, als hätte es eigentlich schon jegliche Grenzen überschreiten müssen. Noch nie zuvor war ich einem Menschen so nahe gekommen, ohne über ihn herzufallen. Entweder war das Raubtier in mir so überrascht wie ich, oder es schien genauso paralysiert zu sein. Weswegen auch immer, ich verspürte nicht direkt das Verlangen ihn zu beißen. Es war seltsam. So ungewohnt.

Nun bewegte er sich von meiner Wang weg, weiter hinauf zu meiner Stirn. Ich war zur Statue erstarrt und konnte keinen Finger rühren. Ich stand einfach nur da. Innerlich ließen die Blitze jedoch meinen ganzen Körper vibrieren.

Unerwartet nahm Kasper mit beiden Händen mein Gesicht und presste sachte seine Lippen gegen meine Stirn. Im ersten Moment registrierte ich gar nicht was er tat, weil die Stromschläge mein Gehirn langsamer arbeiten ließen. Dann traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Man könnte sagen, der Stromschlag würde direkt mein Hirn angreifen. Als hätte ich einen Kurzschluss sackte ich auf einmal in Kaspers Armen zusammen.

Das war zu viel gewesen. Damit hatte er die Schmerzgrenze deutlich überschritten. Zuerst sah ich Sterne vor meinen Augen aufblitzen, dann fiel ich in Ohnmacht. Kasper hatte mich wirklich in die Bewusstlosigkeit getrieben. Gerade er! Nur mit einfachen Berührungen! Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen? Wieso tat er das? Warum musste mir das passieren? Ich wollte doch nur in Frieden leben!

Für lange Zeit blieb es Schwarz in meinem Kopf. Als würde ich in einem schwarzen Sud dahinschwimmen, durch den man nicht hindurchblicken konnte. Warum hab ich ihn nicht gleich weggestoßen, als er mich zurückgezogen hatte? Waren es wirklich nur die Stromschläge, die mich davon abhielten? Oder noch etwas anderes?

Wieder einmal zog sich das Band zwischen uns noch enger. Ich konnte spüren, wie es mir langsam meine Bewegungsfreiheit nahm. Langsam begannen die hauchdünnen Faden sich in meine Haute zu schneiden.

Wenn das so weiterging, würde ich Kasper nur noch mehr Gefahren aussetzen. Und das war das letzte, was ich wollte. Irgendeinen Menschen auf dem Gewissen zu haben ist ja eine Sache, aber bei einem nahestehenden Menschen wäre es am allerschlimmsten.

Allmählich kam ich an die Oberfläche des schwarzen Suds. Ein Licht kam mir langsam entgegen und meine Lider begannen zu flattern. Zuerst konnte ich nur verschwommen sehen, dann wieder scharf.

„Monica...“, murmelte Kasper neben mir. Ich lag zugedeckt auf meinem Bett. Kaspers Gesicht war von Schuldgefühlen gezeichnet und er sah sehr unglücklich aus.

Blitzschnell rappelte ich mich auf und brachte den größtmöglichen Sicherheitsabstand zwischen uns. Ich seufzte erschöpft. Mir schwirrte noch immer etwas der Kopf von dem Ganzen.

„Du bist der erste Mensch, der mich mit so was bewusstlos gemacht hat, wusstest du das?“, scherzte ich halbherzig und versuchte ein Lächeln, das jedoch misslang. Kaspers Mundwinkel zogen sich automatisch noch weiter nach unten.

„Es tut mir leid. Ich bin zu weit gegangen, das hätte ich nicht tun dürfen.“, entschuldigte er sich, wobei er demütig den Kopf senkte. Da konnte ich nicht widersprechen. Er war wirklich zu weit gegangen. Sehr weit sogar. Aber ich konnte ihn nicht beruhigen, weil es die größte Lüge wäre, wenn ich jetzt sagen würde, dass es okay sei. Wie ein begossener Pudel saß er vor mir. Ich sah ihm an, dass er es gerne rückgängig machen würde, jetzt, nachdem er wusste, was dabei für mich raussprang.

Hastig strampelte ich die Decke weg und stand auf, noch immer den doppelten Abstand wahrend. Er folgte mir mit seinen Augen, während ich mich wieder zum Tisch mit den Schulsachen setzte.

„Na komm, machen wir weiter. Du kannst noch nicht alles.“, forderte ich ihn auf. Ein wenig verwirrt sah er mich an, folgte aber meiner Forderung. Es schien ihn zu überraschen, dass ich mich so schnell wieder gefasst hatte.

Darauf versuchte ich, ihm den letzten Rest beizubringen. Dabei hielt Kasper sich ziemlich zurück, er legte nicht einmal seine Hände auf den Tisch. Er merkte, wie sehr er mich damit verletzt hatte. Wir erstarrten beide, wenn wir nur einander nur einen Zentimeter zu nahe kamen.

„Monica...“, flüsterte auf einmal Alexejs Stimme von unten. Nur ich konnte sie hören.

Ich bat Kasper, kurz zu warten und krabbelte zur Leiter hin. Alexej stand stirnrunzelnd und unschlüssig vor meiner Leiter. Er schaute zu mir herauf, als ich am oberen Ende auftauchte.

„Was tut ihr da wenn ich fragen darf?“, fragte er mich. Er hatte anscheinend bemerkt, was wir hier oben gemacht hatten.

„Lernen.“, antwortete ich kurz. Ich log nicht, wir hatten ja wirklich gelernt. Es war nur etwas Unvorhergesehenes dazwischen gekommen. Alexej musterte mich skeptisch, ihm gefiel das überhaupt nicht.

„Ach ja? Da hab ich aber etwas ganz anderes mitbekommen.“, meinte er und verzog dabei den Mund.

„Wir haben nur gelernt. Sonst nichts.“, erwiderte ich stur. Für einen kurzen Moment schwieg Alexej. Er schien Kasper abgrundtief zu hassen.

„Du solltest aufpassen. Der Junge ist mir nicht ganz geheuer.“, warnte er mich noch einmal. Den letzten Satz sagte er extra laut, dass ihn sogar Kasper verstehen konnte. „Ja, ja.“, sagte ich noch, dann wandte ich mich wieder Kasper zu, der nicht wirklich verstand.

„War das dein Vater?“, fragte er mich und blickte zur Leiter, als stünde Alexej dort. Ich nickte nur bestätigend.

„Was wollte er?“, wollte er weiter wissen. „Er hat mich vor dir gewarnt.“, antwortete ich, schlug dabei die nächste Seite, die wir durchnehmen wollten auf.

„Aha.“, war sein letztes Wort dazu.

Wir büffelten weiter, oder besser gesagt er rackerte sich weiter ab, während ich versuchte es ihm möglichst verständlich zu erklären. Als es sechs Uhr war, bat Susan mich höflich, dass ich Kasper nach Hause schicken sollte, weil es schon dunkel wurde. Das war natürlich nicht der Grund dafür. Alexej wollte es so. Susan machte es nur für mich auf die freundliche Tour, außerdem war sie nicht der Typ, der grob mit anderen umging.

Schnell packte Kasper seine Sachen zusammen und verabschiedete sich von mir. Er berührte mich nicht einmal. Auch nicht Susan.In der Stille wirkte das Klacken der Tür noch lauter als sonst. Ohne ihm nachzusehen oder dergleichen verkroch ich mich wieder auf mein Zimmer. Ich war noch immer ein bisschen benommen von dem vorigen Geschehen. So intensiv gefühlt hatte ich schon seit... ja seit wann eigentlich nicht mehr? Ich wusste es nicht. Das hatte wahrscheinlich schon vor meinem sechzehnten Geburtstag aufgehört.

Durcheinander und verwirrt legte ich mich auf mein Bett und versuchte meine Gedanken zu ordnen, soweit das möglich war. Doch ich konnte nicht viel schlichten, weil da nur Fragen in meinem Kopf auftauchten und rasend schnell durch neue ersetzt wurden.

Über all den Fragen stand eine ganz wichtige, und zwar wieso Kasper das getan hatte. Wollte er mich ärgern? Machte er sich einen Spaß daraus, mich zu foltern? Oder bemerkte er nicht einmal mein Leiden? Ich befürchtete stark, dass er gar von meinen supervampirischen Kräften irgendwie angezogen wurde. Für einen Vampir konnte es ein leichtes sein, einen einfachen Menschen zu beeinflussen. Ich hoffte wirklich inbrünstig, dass ich diese Wirkung nicht auf ihn hatte. Doch Kasper war ohnehin schon seltsam, also warum sollte er nicht auch seltsame Sachen tun?

Das zweite, was mich extrem daran beschäftigte war, dass ich mich bei all diesen Berührungen wahrhaftig lebendig gefühlt hatte. Als wäre ich nicht mehr eine Untote, sondern ein lebender Mensch mit einem schlagenden Herz und funktionierenden Organen. Eben genau das, was ich seit jeher wollte. Doch dieser Impuls konnte auch genauso gut nur von den Blitzen, die jedes Mal meinen Körper durchzuckten, kommen. Trotz aller Gedanken darum, wieso und warum das so war, gab es eine Tatsache, an der man nichts rütteln konnte.

Die Berührungen und das sonst ungreifbare Gefühl der Sterblichkeit taten gut. Zumindest meiner Seele.

Diese Erkenntnis überraschte mich derart, dass ich mich aufsetzen und noch mal darüber nachdenken musste. Auch die Bestie war in mir verstummt und schien mich für irre erklärt zu haben. Sollte sie doch. Wenigstens war ich jetzt für mich allein in meinem Kopf und wurde nicht von ihr gestört. Aber es stimmte wirklich, Kaspers Nähe war vielleicht, nein, sogar sicher eine Folter für meinen Körper, jedoch war er derjenige der für wenige Momente meine sehnlichsten Wünsche befriedigte. Eine wirklich komische Feststellung.

Vor wenigen Tagen noch wollte ich ihn in Stücke reißen und jetzt konnte er mir das geben, was ich wollte!

Das kann noch was werden, seufzte ich innerlich.

Zur Beruhigung griff ich mir ein Buch aus dem riesigen Stapel aus der Bibliothek und fing an zu lesen. Schon bald war ich darin vertieft und es schoben sich keine anderen Gedanken mehr in meinem Kopf, womit ich mich gänzlich auf das Buch konzentrieren konnte. Eigentlich hätte ich noch meine Hausübung erledigen sollen, für die ich auch die ganze Nacht Zeit gehabt hätte, doch ich ließ sie links liegen und las einfach weiter. Es war das erste Mal, dass ich sie nicht machte.

Nächsten Morgen saß ich wieder pünktlich in der Schule, auch wenn ich fast meinen Bus verpasst hätte. In der Nacht hatte ich mich so in meine Bücher hineingelesen, dass ich gar nicht merkte, wie es dämmerte. Sobald ich das Buch zur Seite gelegt hatte und ich wieder in die Realität zurückkehren musste, brachen wieder Bilder von gestern auf mich ein. Rüde schob ich alles davon beiseite und konzentrierte mich auf anderes, wie zum Beispiel meine nicht gemachte Hausübung. Ich fragte Lisa, ob ich von ihr abschreiben könnte und sie gab mir auch bereitwillig ihr Heft. So oft schon hatte ich die zwei abschreiben lassen, wenn sie mal wieder durchgefeiert und auf schulische Arbeiten vergessen hatten.

Der Tag verlief ziemlich normal. Zu normal meiner Meinung nach. Erst in der letzten Stunde bemerkte ich, dass Kasper fehlte. Als ich Zara fragte, wo er sei, sagte sie mir, dass er schon den ganzen Tag fehlen würde. Darum hatte ich immer das Gefühl, als würde etwas fehlen. Eigentlich hätte ich ja ganz froh darüber sein müssen, dass er einmal nicht da war und er mir nicht mit irgendwas in den Ohren lag. Doch das erste, was ich mir dachte, als Zara mir antwortete war, dass er wegen mir nicht hier war. Ich wusste es nicht, aber ich konnte mir vorstellen, dass Kasper sich irgendwelche Vorwürfe machte, auch wenn es nicht unbedingt seinem Typ entsprechen würde. Vielleicht glaubte er ja, ich wäre beleidigt, weil er mich gestern sprichwörtlich fertig gemacht hatte. Und zwar nur durch Berührungen, wohlgemerkt. Eigentlich hätte ich das ja auch sein sollen. Ich hätte wütend und verärgert werden sollen, ihn anschreien und ihn sofort in hohem Bogen rauswerfen sollen. Aber nichts von alledem war eingetroffen, obwohl ich es von mir selbst erwartet hätte. Das einzige was eingetreten war, war erst einmal große Verwirrung über die Erkenntnis, dass das vorangegangene Geschehen mir ein kleinen Teil meiner „Sterblichkeit“ zurückbrachte. Auch wenn ich versuchte, diese Tatsache beiseite zu schieben, fragte ich mich immer wieder, wieso gerade er das verursachte. Wie gesagt, große Verwirrung.

Ich brachte den Tag stillschweigend hinter mich. Am Nachmittag fragte ich mich, ob ich Kasper vielleicht die Hausübungen bringen sollte, um diese Gelegenheit gleich dazu nutzen, um das Ganze aufzuklären. Kopfschüttelnd tat ich diesen Gedanken ab. Ich wusste ja nicht einmal, wo er wohnte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie ich diese Sache richtig anpacken sollte, ohne alles zu ruinieren.

Was sollte ich denn ruinieren?, erklang plötzlich eine Stimme in meinem Kopf. Eine gute Frage, die andere Fragen aufwarf. Ich dachte eine Weile nach, obwohl ich die Antwort doch eigentlich schon wusste.

Wollte ich ihn als Freund nicht verlieren? Wollte ich diese Freundschaft, die alles gefährdete, aufrechterhalten? Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit war es genau das. All das wollte ich nicht missen, aus meinen selbstsüchtigen und egoistischen Gründen. Vor diesem standhaften Grund konnte ich die Augen nicht verschließen. Nicht mehr.

Seufzend ließ ich zu Hause meinen Kugelschreiber sinken. Ich saß gerade bei einem Aufsatz, den wir bis morgen fertig machen sollten.

„So eine Scheiße.“, fluchte ich. Noch nie hatte mich jemand in meinem langen Leben so in Aufruhr versetzt. Diese ganze Situation schien mich total zu überfordern.

„Probleme?“, ertönte Susans fürsorgliche Stimme von unten. Ihren Ohren entging aber auch nichts. Hier musste man Angst haben, dass selbst die eigenen Gedanken zu laut waren. „Zur Genüge.“, antwortete ich, schnappte mir meine Jacke und rauschte nach draußen. Ich hörte noch, wie Susan mich zurückrufen wollte, weil es ab jetzt ja angeblich zu „gefährlich“ für mich war. Aber wenn ich jetzt nicht bald frische Luft bekam und meinen Kopf klären konnte, würde ich noch durchdrehen. Es machte mich richtiggehend rasend, dass mich das, diese super einfache Sache, so dermaßen beschäftigte. Kaum war ich um die erste Ecke gebogen hatte ich ein beträchtliches Tempo erreicht. Ich rannte sozusagen fast. Als wollte ich davor wegrennen. Ein entnervtes Murren entfuhr mir und ich legte noch einen Zahn zu.

Tief sog ich die Luft ein, die heute nicht so rein zu sein schien wie sonst. Das half mir natürlich nicht wirklich weiter. Ich ging noch eine Weile weiter und der Kampf zwischen meinen Grundsätzen und dem, was ich wollte, schien noch unendlich weiter gehen zu können. Zwei Fronten, die sich ständig aneinander rieben und keine von beiden würde nachgeben. Mittendrin stand ich und wurde von allem zerdrückt und zerquetscht. Ich stöhnte laut auf und fuhr mir mehrmals grob durch die Haare.

„Ah! Monica, bist du das?“, erklang eine bekannte Stimme hinter mir. Schnell drehte ich mich um und erblickte Rosa hinter mir, die ihr typisches Lächeln auf den Lippen hatte. Augenblicklich musste ich auch lächeln, wohl eher wegen ihres Auftretens als wegen ihrer Ausstrahlung. Die alte Dame hatte wirklich eine Vorliebe für rosa Kleidungsstücke.

„Oh, guten Tag! Wie geht es Ihnen?“, erkundigte ich mich höflich. Rosa war gerade aus einem Trödelladen herausgekommen und trug eine Holzfigur in Form einer Katze vor sich her. Sie lugte gerade mal über die Schulter der Statue. Hastig nahm ich ihr das Ding ab, worauf sie sich bedankte.

„Sollte ich nicht eher dich fragen, wie es dir geht?“, fragte sie zurück, als sie ihre Hände endlich wieder frei hatte. „Wieso das?“, wollte ich wissen. Für mich war diese Holzkatze nichts mithilfe meiner supervampirischen Kräfte. Wieder ein Pluspunkt für das Vampirdasein. Leider.

„Schätzchen.“, setzte sie an. Schätzchen?, dachte ich mir und musste innerlich grinsen. „Dir sieht man doch an, dass du etwas auf der Seele hast.“ Mit einem Mal verflog mein innerliches Grinsen. Schon fast geschockt fragte ich mich, ob es mir wirklich so leicht anzusehen war, dass ich Probleme hatte. Sehr schön, dass das jetzt auch schon wildfremde Menschen erkennen können.

„Wieder Lust auf eine Tasse Kaffee?“, lud sie mich abermals ein. „Gerne, aber dieses Mal lade ich sie ein, okay?“, schlug ich vor und sie nickte nur.

Gemeinsam steuerten wir das nächstgelegene Café an. Es war nicht wohlbekannt und Rosa wäre ja am liebsten wieder in ihr Lieblingscafé gegangen, doch das lag am anderen Ende der Stadt.

„Und bitte sagen Sie mir, was sie mit diesem Monstrum wollen!“, verlangte ich von ihr zu wissen, worauf sie laut lachte. „Ach, das wird nur die neue Stütze für mein Regal sein.“, antwortete sie mir danach. Ich musste noch einmal nachfragen, da ich nicht verstand, was sie da gerade gesagt hatte.

„Zu Hause habe ich ein kleines Bücherregal, das ohne eine Stütze zur Seite wegknicken würde. Meine letzte Stütze war auch so ein Ding, ist aber neulich zusammengebrochen. Und diesen netten Job wird jetzt das Kätzchen hier für mich übernehmen.“, erklärte Rosa mir bereitwillig und streichelte einmal über den Kopf der Holzkatze. Ich war so überrascht und baff von ihrer Erklärung, dass mir erst einmal der Mund offen stehen blieb. Sie war doch wirklich eine seltsame Frau. Statt das Holzding als Deko zu benutzen, war es für sie nur ein Mittel zum Zweck. Abermals musste Rosa über mich lachen.

Wir setzten uns an einen Tisch am Fenster des Cafés. Ohne weiteres stellte ich die Holzkatze neben mir ab, während Rosa für sich einen Kaffee und für mich einen Tee bestellte. Ich konnte jetzt schon spüren wie der Tee mir das komische Gefühl von Sand im Mund zurückbringen würde.

„So und jetzt erzähl mal.“, forderte sie mich auf. Ich brauchte einen Moment, um zu antworten. Sollte ich ihr schon wieder mit meinen Problemen in den Ohren liegen? Eigentlich ging es sie ja abermals nichts an. Es war auch eine Sache, die nicht nur mich und meine dummen Gefühle betraf.

„Ich... äh... weiß nicht.“, stotterte ich blöd herum. „Ach komm schon, Monica. Ich seh doch, dass du darüber reden willst.“, meinte Rose hartnäckig. Keinen Moment später kam der Kellner und brachte die Bestellung, wodurch unser Gespräch kurzzeitig unterbrochen wurde. Eilig nahm ich ein paar Züge von meinem Tee, um das Ganze noch länger hinauszuziehen.

„Also, fang an!“, ordnete sie an.

„Wollen Sie jetzt mein persönlicher Seelenklempner werden, oder wie sehe ich das?“, fragte ich sie scherzeshalber und trank in einem Zug meine Tasse aus. Ernst schüttelte sie den Kopf. „Das habe ich nie gesagt, es interessiert mich nur, was in deinem jungen Leben so passiert.“, erwiderte sie. Mein Gott, wie konnte man nur auf so eine Weise antworten? So kannte ich es nur von Kasper.

Kasper, hallte es in meinem Kopf wider. Automatisch verzog ich das Gesicht. Auf meine Reaktion schmunzelte Rosa nur und ich fragte mich, was sie sich jetzt schon wieder dachte.

„Ein Junge?“, fragte sie sich. „Ein Junge.“, bestätigte ich.

„Derselbe wie vom letzten Mal?“, hinterfragte sie weiter und ich nickte nur beschämt.

„Ein anderes Problem oder noch immer dasselbe?“, hakte Rosa nach. „Ein anderes.“, antwortete ich knapp.

„Oh, das ist ja interessant.“, meinte sie amüsiert und schlürfte an ihrem Kaffee. Ich hatte einfach kein anderes Wort als seltsam, um diese Frau passend zu beschreiben.

„Und? Was ist jetzt? Erzählst du es mir?“, ließ sie nicht locker und ruckelte ungeduldig auf dem Sessel hin und her. Ergeben seufzte ich, lehnte mich nach vorne und stützte den Kopf auf meine Hände.

„Es ist zum sterben.“, sagte ich entnervt. Man konnte diesen Satz wortwörtlich nehmen.

„Und du willst lieber sterben, als dieses Problem aus der Welt zu schaffen?“, fragte sie, wobei ich mir denken konnte, dass sie die Antwort sowieso schon wusste. „Mehr oder weniger.“, antwortete ich trotzdem.

„So schlimm kann es doch nicht sein.“, meinte Rosa darauf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Doch.“, hielt ich dagegen.

„Mein Gott, erzählst du jetzt oder nicht?“, wollte sie wissen. Dabei hörte sie sich an wie ein ungeduldig Teenager.

„Also gut, also gut! Sie sind ganz schön hartnäckig!“, warf ich ihr vor. „Ich weiß.“, erwiderte sie selbstsicher und lächelte. Ich sah sie noch einmal an, bevor ich anfing. Erwartungsvoll erwiderte sie meinen Blick.

Wie konnte ich ihr nur davon erzählen? Sie war noch immer eine Fremde, oder etwa nicht? Doch bei unserem letzten Treffen hatte ich ihr auch mein Herz ausgeschüttet, ohne großartig nachzudenken. Ich stand sowieso schon knietief in der Scheiße, also brauchte ich mir um den Rest auch keine Sorgen mehr machen.

„Ich... äh...“, versuchte ich einen Anfang, wusste aber nicht so recht, wo ich eben anfangen sollte. „Also, zwischen mir und dieser einen ganz bestimmten Person ist etwas vorgefallen, das nicht sein sollte.“, erklärte ich und gestikulierte dabei ein wenig mit den Händen.

„Was ist denn zwischen euch passiert?“, hinterfragte sie, als ich gerade fortfahren wollte. Hierauf zögerte ich natürlich. Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. „Das...“, wollte ich ansetzen, aber sie kam mir zuvor.

„Schon gut, wieder etwas, worüber ich nichts wissen soll?“, sagte Rosa und ich nickte nur. Sie bat mich dann fortzufahren.

„Und heute ist er nicht in die Schule gekommen. Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, dass er denkt, ich sei böse auf ihn wegen der Sache. Das stimmt aber nicht! Ganz im Gegenteil sogar!“, ich rang bei dieser Stelle geradezu nach Worten. Es verlangte mir viel ab, davon zu reden. „Und er ist so ein sturer Typ und reitet sich immer gleich in so was rein. Er denkt nicht einmal an andere Möglichkeiten! Jetzt weiß ich nicht, wie ich das alles wieder ausbaden soll, weil es für mich ja auch irgendwie unangenehm ist.“, endete ich und wenn ich sowieso nicht mehr amten müsste, wäre ich wohl außer Atem gewesen. Als würde sie mir bei etwas zustimmen nickte Rosa hier und da. Sie überlegte ziemlich lange, bevor sie etwas sagte.

„So ist das also.“, ergriff sie nach einer endlosen Weil das Wort. „So schlimm wie beim letzten Mal hört es sich aber nicht an.“

„Es ist aber schlimm.“, beharrte ich trotzig. „Schlimmer als schlimm.“

„Okay, lassen wir’s dabei beruhen und widmen uns der Lösung deines Problemchens. Gut?“, schlug sie vor, worauf ich nur ein betretenes Ja herausbrachte.

„Was hindert dich so sehr daran, dass du nicht einfach mit ihm redest?“, fragte Rosa ohne groß herumzureden. „Das... es... es ist mir in gewisser Maßen peinlich.“, antwortete ich darauf etwas lasch.

„Nun gut, doch wenn du so weitermachst, wirst du das hier nie lösen.“, meinte sie entschlossen. „Ich weiß....“, entgegnete ich niedergeschlagen. Das wusste ich schon und sie musste es mir nicht noch einmal sagen.

„Das ist so, als würdest du einen Ball immer wieder an wen anderen abgeben. Irgendwann kommt er dann zurück und dasselbe fängt von vorne an. Doch wenn du den Ball länger behältst und ihn nicht weitergibst, kann er auch nicht mehr zu dir zurückkommen. Besseren Gewissens kannst du ihn dann ablegen und musst ihn dann nicht an einen Anderen geben.“, gab sie wieder einer ihrer seltsamen Erklärungen ab, die für mich aber irgendwie sehr viel Sinn hatten. Diese Dame überraschte mich immer wieder. War sie überhaupt von dieser Welt?

Ein wenig sprachlos starrte ich sie an und suchte nach einer guten Erwiderung. Doch was für eine Erwiderung wäre gut genug auf eine solche Erklärung? Ich zumindest wusste keine. Verwundert schüttelte ich den Kopf.

„Sie sind wirklich erstaunlich Rosa, wissen Sie das?“, sagte ich ihr, worauf Rosa breit zu grinsen begann. „Natürlich weiß ich das.“, antwortete sie selbstsicher und schlürfte den letzten Rest ihres Kaffees.

„Nächstes Mal gehen wir wieder zum anderen Café.“, meinte sie, nachdem sie die Tasse abgestellt hatte. Ihr Gesicht ließ darauf schließen, dass Rosa der Kaffee nicht so gemundet hatte wie in ihrem Lieblingscafé. Was mich aber mehr beschäftigte war ihre Aussage. Seltsamerweise musste ich lachen, anstatt irgendwelche Angstgedanken zu bekommen. Anscheinend konnte man in der Nähe dieser Frau einfach nicht anders, als auch genauso wie sie seltsam zu sein.

„Rechnen Sie schon so bald wieder damit, dass ich erneut ein Problem habe?“, wollte ich von ihr wissen. „Du bist interessant, Monica. Und interessante Leute haben eben Probleme, sonst wären sie ja nicht interessant.“, erklärte sie mir wieder auf ihre komische Weise. Abermals musste ich den Kopf schütteln und seufzte dabei. Erneut hatte mir Rosa auf ihre Weise weitergeholfen. Ich wusste nicht wieso, aber sie konnte das einfach.

Nur noch einmal ließ ich die Situation mit Kasper vor meinem inneren Auge ablaufen. Blitze und Unbeweglichkeit waren an diese Erinnerungen geheftet. Und natürlich nicht zu vergessen das unbeschreibliche Gefühl der Sterblichkeit. Daraufhin fasste ich einen Entschluss. Ich würde mit Kasper reden und ihn in gewissermaßen aufklären, falls er die Situation falsch interpretiert hatte. Das einzige was ich danach tun konnte, war abwarten und auf eine positive Reaktion hoffen.

„Nun gut, ich verabschiede mich dann.“, sagte plötzlich Rosa und stand schon auf. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und brauchte ein paar Sekunden, um wieder in die Realität zu finden. „Äh... Brauchen Sie nicht noch Hilfe bei der Holzkatze?“, fragte ich sie hastig und warf einen Blick auf das Mörderding. Doch Rosa winkte ab und meinte nur, dass es nicht mehr weit zu ihr nach Hause sei und dass sie das schon schaffen würde. Ich war zwar skeptisch und wollte sie überreden, aber sie ließ sich einfach nicht umstimmen. Besorgt sah ich ihr nach, als sie die schwere Statue die Straße hinunterschleppte. Bevor ich ihr noch nachlaufen konnte, um ihr doch noch gezwungenermaßen zu helfen, hielt mich der Kellner auf, der mich bat, die Rechnung zu bezahlen. Aus meiner Jackentasche und Hosentaschen kratzte ich das nötige Geld zusammen. Wie immer hatte ich bei meiner Einladung zum Kaffee nicht bedacht, dass ich eigentlich gar nicht viel Bargeld bei mir hatte. Ohne sich zu verabschieden zog der Kellner endlich von dannen und ließ mich in Ruhe. Rosa war längst außer Sichtweite und somit musste ich ohne ihr zu helfen wieder nach Hause gehen.

Auf meinem Nachhausweg war ich klugerweise etwas vorsichtiger als vorher und rannte nicht mehr blindlings durch die Straßen. Ich hatte jetzt, da ich mir wieder mal meine Probleme von der Seele geredet hatte, andere Gedanken und beachtete die ausdrückliche Warnung von Alexej hinsichtlich der Vampirjäger endlich. Ich hatte nämlich echt Angst vor diesen Leuten, auch weil ich mich nicht richtig verteidigen würde können. Mein Weg führte mich durch belebte Straßen, wo ich unter den vielen Menschen nicht auffiel und geschützt war.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Bernsteinseele
2008-10-07T15:05:01+00:00 07.10.2008 17:05
Bin dahaaaa .. wer nooohoooch ^^

Interessante Story .. ich vermute mal, du wirst mir nicht verraten, was Kasper ist? ^^"
Von:  kisha
2008-09-04T18:41:57+00:00 04.09.2008 20:41
awwwww *O*
ich mag die story voll =3
bin echt gespannt wie es weiter geht °u°
und ich mag kasper *grins*
:DD
*als yuki liest vorschlägt*
x3


lg
kisha


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