Ein Gedanke von abgemeldet (Vampirstory) ================================================================================ Kapitel 1: Tradition -------------------- „Wieso musste ich mitkommen?“, fragte ich nun das tausendste Mal genervt. Das Auto sauste leise über die einsame Straße, während wir uns stritten. Susan drehte sich auf dem Beifahrersitz zu mir um. „Monica, bitte...“,setzte sie an. Obwohl sie ebenfalls total genervt von meiner Nörgelei war, blieb ihr Gesicht immer noch weich. Keine Stressfalte, kein verzogener Mund. „So ist die Tradition.“, meinte sie mit sanfter Stimme. Ich stöhnte auf und klatschte mit der Hand gegen meine Stirn. „Die Tradition! Die Tradition!“, äffte ich sie nach und überdrehte dabei die Augen. Die karge Landschaft, rauschte noch immer monoton neben uns vorbei. Wer diese Tradition erfunden hat, sollte erschossen werden. Jedes Jahr dieselbe Tortur. Für nichts und wieder nichts. „Jetzt hör auf zu nerven!“, ging Alexej dazwischen und guckte argwöhnisch in den Rückspiegel. Er war immer am schnellsten auf 180, aber daran hatte ich mich mit der Zeit gewöhnt. „Du bist doch durstig?“, fragte er nun in milderem Ton. Damit hatte er ins Schwarze getroffen. Es stimmte. Ich hatte schon zwei Wochen nichts mehr getrunken. Das schien wirklich das oberste Limit zu sein. Dem konnte ich nichts entgegensetzen. Von da an schwieg ich und hoffte, dass wir bald da sein würden. Vielleicht sollte ich mal etwas zu meiner Wenigkeit sagen. Ich heiße Monica DuSolej und bin, glaube ich, so um die 115 Jahre alt. Richtig gelesen, hundertfünfzehn Jahre. Ich weiß es aber nicht so genau, weil ich ab neunzig aufgehört habe zu zählen. Und für einen Vampir ist Zeit eines der Dinge, die am wenigsten zählen. Ich wurde in Frankreich geboren, lebe aber seit meinem fünften Lebensjahr in Österreich. Wie und wann ich in einen Vampir verwandelt wurde? Tja, das wüsste ich auch gerne. Das einzige was ich noch weiß war, dass es sehr, sehr kalt war, es schlimmer als der Tod war und dass ich jetzt für immer 16 bleiben werde. An sich ist das ja was Gutes, ewige Jugend. Aber auf Dauer ist es wirklich nervtötend. Ich komme nicht ohne Ausweis in die Discos, nicht dass ich heiß darauf wäre, oder bekomme Alkohol. Das Schlimmere daran ist aber immer noch der Durst. Ewiges Verlangen und Verzehren nach Blut. Bis heute habe ich mich nicht damit abgefunden und es wird mir bestimmt immer widerstreben. Es ist der menschliche Verstand, der mich daran hindert, es zu akzeptieren. Wie eine Barriere steht er mir jedes Mal gegenüber, wenn der Durst fast unerträglich wird. Aus diesem Grund nehmen die meisten Vampire auch gerne Vorlieb mit Tierblut. Wenn man das nimmt, ist das schlechte Gewissen, ein lebendes und fühlendes Geschöpf getötet zu haben, nicht so schlimm. Das ist auch der Grund, warum mir diese „Tradition“, wie sie so schön genannt wird, nicht gefällt. Jedes Jahr um dieselbe Zeit treffen sich alle Vampire der Welt auf einem ausgewählten Berg, um gemeinsam jagen zu gehen. Das ist die allergrößte Zeitverschwendung überhaupt. Erstens bin ich die schlechteste Jägerin der Welt. Zweitens trinke ich nur Blut aus Konserven, „Plastikfutter“ sozusagen, weswegen ich auch keine gute Jägerin bin. Drittens habe ich besseres zu tun als das. Es gibt nicht viele Vampire auf der Welt. In einem Staat gibt es vielleicht allerhöchstens zwei oder drei. Bei einem dieser Treffen habe ich mal nachgezählt. Herausgekommen sind genau dreißig. Susan und Alexej sind nicht meine Eltern, sondern nur meine Adoptiveltern. Sie sind auch Vampire und sehr viel älter als ich. Ich habe sie kennen gelernt, als ich mal wieder zu durstig durch die Straßen gezogen bin. Es war jedes Mal dasselbe. Bevor ich sie kannte habe ich den Durst immer solange hinausgezögert, bis es nicht mehr auszuhalten war und ich meistens über irgendwen oder irgendwas hergefallen bin. Ich kam damit einfach nicht klar. Jedenfalls torkelte ich gerade durch eine verlassene Straße, als mir Susan entgegenkam. Ich erkannte nicht, dass sie ebenfalls ein Vampir war und mir somit ebenbürtig. Ihr müsst wissen, Vampire haben keine besonderen äußerlichen Merkmale, die Augen sind nicht irgendwie rot und unsere Hautfarbe bleibt auch nach der Verwandlung gleich. Nur das mit den Reißzähnen und der übermäßigen Kraft stimmt. Ich fiel also halb verhungert über sie her. Sie blockte aber leichtfertig ab und trieb mich mit einem gekonnten Schlag in die Bewusstlosigkeit. Susan brachte mich, liebevoll wie sie war, in deren Wohnung und überredete Alexej dazu, mich aufzunehmen. Am Anfang hielt er so gar nichts von mir und wollte mich am liebsten in die Wüste schicken. Nach und nach gewöhnte er sich aber an mich. Sie zeigten mir, wie sie lebten und passten von da an auf mich auf. Wenn ich ehrlich bin, hätte mir nichts Besseres passieren können. Sonst würde ich wahrscheinlich jetzt noch umherziehen und vor mich hinfristen. Mit einem abrupten Ruck blieb das Auto stehen, somit waren wir an unserem Ziel angelangt. Die ausgesuchten Berge, auf denen wir uns trafen, waren jedes Jahr in einem anderen Kontinent. Diesmal war es Gott sei Dank einmal in unserer Nähe, sodass wir nicht weit fahren mussten. Derjenige, der diese Treffen veranstaltete und die Orte aussuchte war der älteste von uns und hieß Næhan. Woher er unsere Nummern hatte und das alles, wusste ich nicht. Es war auch sein Problem. Die meisten von uns waren nämlich Nomaden und hatten somit keinen festen Wohnsitz. Stillschweigend stiegen wir aus und schlossen uns der Gruppe, die schon am Waldrand stand, an. Diesmal waren es weniger als voriges Jahr. So um die zwanzig. Næhan ragte über alle anderen hinaus, er war ein wahrhaftiger Riese. Da er nach unserem Kommen uns herzlichst begrüßte, nah mich an, dass wir die letzten waren. „Wie immer ist es eine nicht oft genutzte Route.“, erklärte er. Natürlich, das musste sie sein. Das Risiko, einen Menschen unabsichtlich zu töten, wenn man von seinen Instinkten beherrscht wird, ist einfach zu groß. „Aber für die anderen unter uns, gibt es natürlich noch einen anderen Weg.“, fügte er lächelnd hinzu. Mit „die anderen“ meinte er die, die menschliches Blut nehmen. Danach gingen wir auch schon los. Mein Blick wanderte die Bergkette entlang. Ein schönes Plätzchen. Ich fühlte mich trotzdem nie gut bei dieser Sache, es kam mir so vor als würden wir diese Orte regelrecht entweihen. Die Sonne stand noch tief, lugte gerade Mal über den Horizont, und die kühle Luft hing zwischen den mächtigen Bäumen. Trotzdem zwitscherten die Vögel munter und fröhlich. Nichts hätte das Ganze hier in ein Szenario der Gewalt besser verwandeln können als wir. Der Weg war nicht gekennzeichnet und auch nur schwer zu folgen. Ich hielt mich eher im Hintergrund, während Alexej und Susan vorne mitliefen. Die zwei freuten sich immer auf dieses Treffen, aber ich mochte es aus gegebenen Gründen nicht. Ich suchte nach bekannten Gesichtern und erkannte sogar einige wenige wieder. Da waren einmal die zwei aus Amerika, dann die Frau aus Asien und zuletzt noch die drei aus der Wüste Gobis. Man mochte es nicht glauben, aber es gab wirklich Vampire, die in der Wüste überleben konnten. Deren Namen kannte ich nicht, niemand außer Næhan kannte sie. Anonymität wurde hier ganz groß geschrieben. Das war auch gut so. Nach wenigen Minuten deutete Næhan in eine andere Richtung, hier spaltete sich der Weg. Alexej und die kleine Gruppe aus der Wüste gingen die andere Route. Die vier waren diejenigen, die keine „Vegetarier“ waren. Alexej hat nie geleugnet, dass er nur menschliches Blut trinkt. Ich verurteilte ihn auch nicht dafür, immerhin war es seine Entscheidung und ich konnte ihn auch nicht ändern. Wir marschierten weiter hinauf, wo der Wald immer dichter wurde und die Sonnenstrahlen nur mehr teilweise durch das dichte Blätterwerk fielen. Nach oben hin lösten wir uns allmählich auf. Sobald jemand eine potenzielle Beute gerochen hatte, verließ er die wandernde Gruppe. Ich war die letzte, die noch auf dem Weg ging, sogar Næhan hatte sich schon aufgemacht. Wenn man ganz oben war, hatte man seine Ruhe, so hatte ich es bis jetzt immer gemacht. Ich versuchte mich gänzlich auf meine Instinkte zu besinnen und mein Hirn auszuschalten. Mein Durst verhalf mir auch unweigerlich dazu. Automatisch bewegten sich meine Beine und meine Nase suchte für mich mein Opfer. Schnell und geschmeidig lenkte ich meinen Körper zwischen den engstehenden Bäumen hindurch. Nicht ein Knacken oder Krachen verursachten meine leichtfüßigen Schritte. Das Raubtier, das in mir wohnte, freute sich übermäßig, endlich wieder die Kontrolle zu haben. Keine Sekunde später konnte ich schon etwas riechen. Langsam folgte ich dem Geruch und schlängelte mich dabei zu einer Felswand durch. Der Duft trieb mich nach oben. Hastig kletterte ich hinauf und versuchte dabei möglichst leise zu sein. Auf einer kleinen freien Grasfläche entdeckte ich eine Bergziege. Sie war alt und ich fühlte mir des Sieges schon sicher bei ihrem gebrechlichen Anblick. Ich versteckte mich hinter einem riesigen Stein, während ich auf den richtigen Moment wartete. Sie graste nichtswissend vor sich hin. Ungewollt bleckte ich die Zähne und beugte mich ein wenig nach vorn. Jetzt hieß es auf den richtigen Moment warten, um sie zur Strecke zu bringen. Ich machte mich bereit zum Sprung. Noch im selben Moment, als sie mir ihren ungeschützten Rücken zudrehte, raste ich hinter dem Stein hervor und auf sie zu. Wieder einmal bewies sich, dass ich eine lausige Jägerin war, da die Ziege auf einmal wie von der Tarantel gestochen wegrannte. Kurz bevor ich sie zu fassen bekommen hatte, war sie kurzerhand meinen Krallen entfleucht. Hatte sie mich etwa gehört? Ich war doch mucksmäuschenstill gewesen! Oder etwa nicht? Die Ziege hetzte einen Abhang hinunter und ich ihr rannte ihr natürlich nach. Für mich war es ein leichtes, ihr zu folgen. Meine Beine schienen ihr Eigenleben zu haben. Auch wenn es sich anfühlte, als würde ich fallen, hatte mein Körper alles unter Kontrolle. Mein Blick war auf meine Beute fixiert und folgte ihr stets. Sie lief geschickt zwischen den Bäumen hin und her, sodass ich sie sogar manchmal außer Sicht kam. Nun bemühte ich mich nicht mehr wirklich leise zu sein, was man auch merkte. Hier und da krachte ich mit der Schulter gegen eine Baum und riss zeitweise ein Stückchen Holz mit. Die Steine, auf die ich volle Wucht trat, zerbarsten unter meiner scheinbar endlosen Vampirkraft. Das Viech war vielleicht schnell! Ich konnte den Abstand zwischen uns kein bisschen verringern. Wir sausten weiter den Berg hinab. Aber ich würde nicht aufgeben, der Durst zwang mich dazu. Er führte mich durch den dichten Wald hindurch und warnte mich, wenn Gefahr drohte. Meine Nase konnte die Angst, die das Tier hatte, geradezu riechen. Diese Angst spornte das Raubtier in mir noch mehr an. Es gefiel ihm. Entfernt glaubte ich das Kichern der anderen zu hören, die schon längst ihre Beute gerissen hatten. Ich ließ ein lautes Knurren hören und legte ich noch einen Zahn zu. Mein Knurren hatte die Ziege aber nur noch mehr verängstigt, wodurch sie auch schneller wurde. Schon fast verzweifelt versuchte ich sie zu erreichen. Sie rannte wie verrückt, versuchte mich des öfteren im Zickzack abzuhängen. Das sich das Tier bei dem Tempo noch nichts getan hatte, wunderte mich. Noch dazu war es doch so alt! Müsste es nicht schon langsamer sein als ein junges Tier? Im der selben Sekunde stolperte die Bergziege über einen Ast, den sie nicht gesehen hatte. Ich nutzte die Gunst der Sekunde und trieb mich weiter nach vorne. Und diesmal klappte es! Obwohl sie hastig weiterhetzte konnte ich ihren Vorsprung verringern. Ich bereitete mich auf den Sprung vor und ging tiefer. Als der Abstand gerade passend war, stieß ich mich von einem hervor ragenden Stein ab. Was ich jedoch nicht bemerkt hatte war, dass sich vor uns ein Abgrund auftat. Leider kapierte ich das erst zu spät und somit flogen das Tier und ich einem größeren Steinbecken, das sich mit Quellwasser gefüllt hatte, entgegen. Natürlich wussten sich meine Instinkte zu helfen. Ich schnappte mir das Tier, umklammerte es und konnte mich so herumdrehen, sodass meine Füße zuerst ins Wasser kamen. Keine zwei Sekunden später kamen wir mit einem lauten Platscher im Wasser an. Dort strampelte plötzlich die Ziege wieder los. Ich konnte spüren, wie ihr die pure Angst durch die Adern floss. Damit sie nicht länger leiden musste, brach ich ihr kurzerhand das Genick. Ein harter Stich fuhr mir durchs Herz, als ich das tat, aber ich konnte nicht anders. An der Wasseroberfläche angekommen schwamm ich mit ihr zur Steinwand. Ich schwang das Tier auf meine Schulter und hievte mich selbst hinauf auf einen Felsvorsprung. Wenn man in Rage war, fiel einem alles leicht. Schnell hatte ich den Vorsprung erreicht. Erst einmal spuckte ich all das Wasser, das ich im Mund hatte aus und hustete ein paar Mal. Die Ziege legte ich kurz zur Seite. Aber dann konnte ich mich nicht mehr länger beherrschen. Schmerz explodierte plötzlich in meinem Oberkiefer, ich konnte spüren wie meine Eckzähne länger wurden und in meine Unterlippe pieksten. Gierig fasst ich das tote Tier, zog es zu mir heran und senkte meine Reißzähne in die vorhandene Wunde vom Genickbruch. Blut floss mir in den Mund und lief schwer und voll meine Kehle hinunter. Ein Feuerwerk startete in meinen Kopf. Grelles Licht schien mich zu blenden. Wärme breitete sich vom Magen ausgehend aus. Diese Momente waren das Wohlgefühl überhaupt, gleichzeitig waren sie so abstoßend. Doch ich hatte gelernt, nicht daran zu denken, was ich gerade machte. Der Selbsterhaltungstrieb war hier stärker als der Verstand oder das Gewissen. Meine Sinne waren mit einem Mal wieder geschärft, erneute Stärke durchflutete meinen Körper. Das Feuerwerk stoppte nicht. Das Licht wurde immer greller und gleißender. Schnurrend zog sich das Raubtier in mir zurück und rollte sich wie eine Schmusekatze in meinem Bauch zusammen. Ich konnte nicht aufhören, so durstig war ich. Plötzliches Knacken und Rascheln ließ mich aufschrecken. Automatisch ließ ich sofort die Beute los, sprang auf und ging in Kampfstellung. Ich war überrascht, als ich sah, dass auf der gegenüberliegenden Seite ebenfalls auf einem Felsvorsprung ein Junge stand. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er angewidert oder entsetzt dreinschauen sollte. Angewidert, weil er die verdörrte Leiche des Tieres sah. Entsetzt, weil ich mit blutverschmierten Mund und völlig durchnässt dastand. Das Denken des Raubtieres hatte mich noch immer im Griff. Somit knurrte ich ihn unbewusst durch gefletschte Zähne lautstark an. Ehrfürchtig und ängstlich wich er zurück und drückte sich an die Steinwand. Er musste ein Wanderer sein, was ich aus seiner Kleidung und dem Rucksack schließen konnte. Im Nachhinein fragte ich mich, was der Typ zu so früher Stunde hier zu suchen hatte. Obwohl ich satt war, wollte ich ihn ernsthaft anspringen. Zum Glück kam mein menschlicher Verstand noch rechtzeitig zurück und rettete uns beiden somit das Leben. Entschlossen schüttelte ich den Kopf, nahm dabei eine entspanntere Stellung ein. Was hatte er hier zu suchen? Næhan hatte doch gesagt, dass das eine verlassene Route sei! Was sollte ich jetzt nur tun? War unser wohlgehütetes Geheimnis jetzt entlüftet? Ich musste schnell handeln. Zuerst wischte ich mir erst einmal das Blut aus dem Gesicht. Dann inspizierte ich ihn durchdringend. Er war wahrscheinlich so um die 16, 17 Jahre alt. Braune Locken hingen ihm ins Gesicht. Seine Iris hatten jeweils zwei verschiedene Farben, was mich erstaunte. Das linke Auge war in sanftes Grün getaucht, das rechte in goldiges Braun. Doch jetzt waren sie erfüllt von blanker Angst. Gebannt und vor allem geschockt hielt er den Atem an. Seine Beine zitterten nicht, schienen aber an ihrem jetzigen Standort festgewachsen zu sein. Das einzige woran ich momentan denken konnte war, dass ich so schnell wie möglich von hier weg musste. Leider blieben wir einige Minuten. Er sah nicht danach aus, als ob er jetzt weglaufen würde oder konnte. Auch wenn er jetzt völlig verängstigt war, strahlte seine Aura etwas total Anziehendes aus. Es war verrückt. Ich war wie verzaubert. Dieses Gefühl war so neu für mich, dass ich ziemlich lange brauchte, um zu reagieren. Ich musste meinen Blick regelrecht losreißen von ihm. Hatte ich jetzt den Verstand verloren? Damit keine Spuren hier blieben, nahm ich die Ziege wieder auf meine Schulter und kletterte weiter nach oben. Immer wieder wollte ich mich zu ihm umdrehen und nach ihm sehen. Um den Jungen konnte ich mich jetzt aber nicht mehr kümmern. Er war bestimmt nicht allein hierher gekommen. Seine Gefährten würden bald nach ihm suchen und ihn finden. Dann gäbe es nur noch mehr Zeugen. Und das wäre nicht gut. Mein zweites Problem war, dass er möglicherweise jemanden von seinem furchtbaren Erlebnis erzählen würde. Das konnte ich nicht verhindern. Ich musste bei dieser Sache einfach darauf vertrauen, dass er niemanden etwas sagen würde. Und wenn, dann würde ihm keiner glauben. Ein raschelndes Geräusch ließ mich für einen Moment zusammenzucken. Ich hörte, wie sich der Junge langsam bewegte. Er will flüchten, schoss es mir durch den Kopf. Das konnte er auch tun, nur musste ich vorher so weit wie möglich weg sein. Noch eiliger als zuvor, kletterte ich weiter, bis ich wieder auf eine Ebene kam. Den Kadaver ließ ich hinter einem großen Stein unter einem Gebüsch liegen. Schon bald würde nichts mehr an ihn erinnern. So schnell ich konnte raste ich den Berg hinunter, damit ich zu unserem Ausgangspunkt gelangte. Doch immer drehte ich mich um, als würde ich verfolgt werden. Jedes Mal sah ich nur die eintönige Waldlandschaft. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass mich dieser Junge verfolgte, obwohl das überhaupt nicht möglich war. Seine seltsamen Augen blinkten immer wieder in meinem Kopf auf und ich hatte schwer damit zu tun, diesen Gedanken zu verdrängen. Unten angekommen, warteten die anderen schon auf mich. Nach der Jagd warteten wir alle noch einmal aufeinander. Auch wieder Tradition. Næhan verabschiedete sich dann immer noch ausladend von uns und wünschte uns ein angenehmes Jahr. Alexej sprach mit den Leuten aus der Wüste und Susan ging mir ein Stück entgegen, als ich den letzten Abhang hinunter rutschte. Ich wusste nicht wieso, aber ich warf mich sofort in ihre Arme und drückte sie so fest ich konnte. „Wieso bist du ganz nass? Ist etwas passiert?“, fragte sie sofort besorgt. Im Eifer des Gefechts hatte ich total vergessen, dass ich eigentlich total durchnässt war. Schnell schüttelte ich heftig den Kopf. „Nein, nein.“, verneinte ich hastig. „Es ist nur... ich jage nicht gerne. Ich bin unabsichtlich in einen Steinbecken gefallen, das sich mit Quellwasser gefüllt hatte.“ Das mit dem Jagen wusste sie schon vom ersten Treffen an. Wegen meinem Zustand musste ich auch nicht lügen, ich war ja wirklich ungewollt ins Wasser gefallen. „Ach, Monica... Du brauchst keine Schuldgefühle wegen dem Jagen zu haben.“, versuchte sie mich zu trösten. Ich war sehr froh, dass sie mir das abkaufte. Eigentlich sollte ich es ihr erzählten, aber ich empfand es als das Beste, jetzt lieber zu schweigen. Ich würde den Jungen nur unnötig in Gefahr bringen, wenn ich jetzt plauderte. Und ich wollte keine Menschenleben auf dem Gewissen haben. Außerdem war ich mir sicher, dass er auch den Mund hielt. Um so schwerer stand mir der Schock ins Gesicht geschrieben, als er und einige Personen aus dem Wald kamen. Sofort erstarrte ich zu Eis und hielt den Atem an. Susan bemerkte von meiner Starre nur wenig, tätschelte meinen Arm und redete mir gut zu. Ihre Worte drangen aber gar nicht bis zu meinem Gehirn durch. Mein Blick war auf den Jungen geheftet, der ein bisschen ungeschickt seinen Leuten hinterher latschte. Ich versteckte mich hinter Susan, sodass er mich nicht sehen konnte. So wie ich, schien er ein bisschen durch den Wind zu sein. Ganz im Gegensatz zu seinen lachenden und plaudernden Gefährten, sah er aus, als wäre er sich nicht ganz sicher, was er gerade gesehen hatte. Erneut verspürte ich den Drang, der mich zu ihm hinzog. Es war so ungewöhnlich. So neu. Mein Verstand sagte mir: Du bist verrückt. Mein Gefühl sagte mir: Geh zu ihm hin! Zwei Fronten schienen sich in mir aneinander zu reiben, was einen stechenden Schmerz in meiner Brust verursachte. Wie konnte ich nur so fühlen? War ich noch ganz dicht? Mein Verstand handelte für mich. Gott sei Dank. Wer weiß, was ich sonst getan hätte. Ich drängte Susan, dass wir endlich fahren sollten, weil ich noch etwas für die Schule machen müsste. Ja, ich ging zu Schule. Das war Susans Idee gewesen. Sie meinte, dass ich mein soziales Verhalten bessern müsste, da das im Laufe des Jahrhunderts ein wenig verkommen geworden war. Jedenfalls fuhren wir dann endlich nach Hause und ich konnte endlich den Jungen in die Kategorie Vergangenheit schieben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)