Schreibübungen von ChasingCars ================================================================================ Kalter Espresso --------------- Schreibübung 1 - Dialoge Anm.: Ich weiß, es sollten sich Bekannte in einem Cafe treffen ... Leider sind's bei mir keine Bekannten geworden. ._. Verzeiht mir. „Ah, schön, dass Sie meiner Einladung doch noch gefolgt sind, Monsieur Paratonnerre.“ Ein undefinierbares Lächeln lag auf dem Gesicht des jungen Mannes, als er einen Mann im auffälligen Pelzmantel bedächtig auf sich zukommen sah. Er saß an einem Tisch auf der Außenterrasse eines Cafes. Vor ihm stand ein längst kalt gewordener Espresso und er schien auf den Mann im Pelzmantel gewartet zu haben. Dieser zögerte, bevor er sich auf den zweiten Stuhl am Tisch setzte. Er musterte den jungen Mann misstrauisch, dann beugte er sich leicht vor. Sein grauer Pelzmantel hatte die gleiche Farbe wie sein noch Haar. „Sagen Sie mirr lieberr, werr Sie siehnd!“, zischte er. Ein heftiger französischer Akzent. Ein böser Blick über die Designer-Sonnenbrille. „Welch eine nette Begrüßung“, erwiderte der Andere und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Verlangen Sie ein tanzendes Begrüßungskomitee?“ „Naja, mit einem schönen Strauß Blumen hatte ich schon gerechnet…“ Der Franzose konnte sich nicht mehr zurückhalten und rief ungehalten: „Isch gebe Ihnen gleisch Ihren Blümenstrauß!“ Sein Gegenüber legte das dreiste Lächeln nicht ab. „Na na, nicht so frech.“ „Das sagt derr Rrischtige!“ Eine kurze Pause entstand. „Wie geht es Ihnen?“, brach der junge Mann plötzlich die Stille. „Was wollen Sie von mirr?“, sagte Monsieur Paratonnerre kalt, als hätte er den Anderen nicht gehört. „Einen Blumenstrauß, aber das habe ich Ihnen schon gesagt!“ Paratonnerre hatte genug. „Merde! Spreschen Sie Klarrtext!“ „Ich wollte nur ein wenig plaudern.“ Der junge Mann zuckte mit den Schultern und lächelte. „Isch ‘alte nischt viel von reden!“ „Und ich halte nicht viel von Waffenschmuggel. Aber ich halte eine Menge von Verbrechern hinter schwedischen Gardinen“, konterte der junge Mann. „Ach, daher weht also derr Wiehnd!“ „Der Wind weht Richtung Geständnis.“ „IHRR Wind weht gleisch garr nischt mehrr!“, zischte der Franzose. Der Andere beugte sich ebenfalls ein bisschen vor und versuchte, ihm durch die Sonnenbrille in die Augen zu schauen. „Das versteh ich mal als Drohung.“ „So können Sie das auch verstehen!“ Ein warnender Unterton. „Ich mag aber keine Drohungen.“ „Und isch mag Sie nischt. Aber wissen Sie was? Sie können NISCHTS beweisen! Was ’aben Sie schon in der ’And gegen misch?“ Der junge Mann schmunzelte. „Wenn Sie das sagen, hört es sich gar nicht so bedrohlich an. Woran liegt das wohl?“ Er grinste. „Und ich habe sehr wohl eine Menge gegen sie in der Hand. Ein Spaziergang zum Freund und Helfer und Sie sind aufgeflogen, Monsieur.“ „Sie bluffen!“, entgegnete Paratonnerre. „Ich hab es nicht nötig zu bluffen.“ Der junge Mann lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Franzose lehnte sich zurück. „Warum ’aben Sie misch dann ’ier’her bestellt? Warum sind Sie nischt einfach zur Polizei gegangen?“ Sein Gegenüber hielt einen Moment inne, um nachzudenken. „Ich weiß nicht. Vielleicht wollte ich Sie nur ein bisschen quälen. Oder vielleicht bin ich ein bisschen einsam und brauche jemanden zum Smalltalk. Monsieur Paratonnerre warf ihm einen verachtenden Blick zu. „Ünd was, wenn isch sage, Sie sind ein elendes Arrschloch?“ „Ünd was, wenn isch sage, Sie ’aben eine ätzende Akzent?“ „Ünd was, wenn isch sage, Sie kriegen misch niemals wegen irrgendetwas dran? Das ’aben schon so viele vergeblisch versucht!“ „Und was, wenn ich sage, das tu ich sehr wohl? Die Andern haben eben keine Ahnung gehabt.“ „Ünd was, wenn isch sage, Sie werden mit Ihrer übertriebenen Selbstüberzeugüng noch ge‘örisch auf die Nase fallen?“ „Und was, wenn ich sage, ich will dreckigen Sex mit Ihnen?“ Der Franzose öffnete den Mund, als wolle er etwas erwidern, doch schloss ihn ganz schnell wieder. „… W-was?“ Er starrte seinen Gesprächspartner erschrocken an. Dieser lachte. „Sprachlos, Monsieur? Sehen Sie’s ein – Sie sind kein ebenbürtiger Rivale für mich. Wir sehen uns vor Gericht.“ Er stand von seinem Stuhl auf, nahm seine Tasche von der Lehne und wandte sich noch einmal kurz zu Paratonnerre um. „Mit Sicherheit möchten Sie mir den Espresso ausgeben. Vielen Dank.“ Damit drehte er sich um und ging. Dünnes Stück Pappelholz ----------------------- Schreibübung 2 - Tagebucheintrag Liebes Tagebuch, Ich vertraue mich nicht Vielen an - eigentlich niemandem außer dir - doch wenn das Licht in dem Gebäude, das sie alle „Louvre“ nennen, ausgeht und die Dunkelheit hier drinnen mit der dort draußen verschwimmt, würde ich das oft gern tun. So wie jetzt. Aber alles was ich nun habe, bist du. Die anderen Gemälde verbringen ihre Zeit mit Schweigen. Manchmal tauschen sie verächtliche Blicke aus, wenn ein Museumsführer Lügen über sie verbreitet. Ich frage mich, ob sie zufrieden mit ihrem Leben hier sind. Natürlich, wir haben es um Einiges besser als die armen Schweine, die in einer schlecht besuchten Galerie hängen müssen, schon verstaubt und bewohnt von Käfern und Spinnen… Dagegen ist unser Leben hier wirklich luxuriös. Man achtet sehr auf uns. Damit wir hier noch Ewigkeiten hängen können. Aber da ist eine Sache, die mich wirklich beunruhigt. Schon seit Jahren. Ach, was sage ich? Seit Jahrhunderten! Es ist diese ständige Beobachtung, die genaue Studierung und Musterung, die ich jeden Tag ertragen muss. Warum werde ich so unter die Lupe genommen? Warum hängen sie mich nicht einfach von der Wand, nehmen meinen Rahmen ab und zerschneiden mich? Dann könnte ich einen ruhigen, unbeobachteten Tot erleiden. Aber nein, da ist ja noch dieses verdammt schwere Panzerglas über mir. Nach dem Idioten, der unbedingt seine selbstgemixte Säure an mir ausprobieren musste – hat gebrannt wie sonstwas -, und dem Bolivier, der mich rüpelhaft mit einem Stein beschmissen hat, eine gar nicht so schlechte Idee. Ich bin doch auch nur ein dünnes Stück Pappelholz! Und ich weiß verdammt noch mal nicht, was da dieser unverschämte da Vinci mit seinen Farben auf mich gebannt hat. Damals hat es sich fürchterlich feucht und ungemütlich angefühlt. Aber wie soll sich ein kleines Stückchen Pappel wehren? Ich war ihm ausgeliefert. Und nun wollen sie mich alle sehen. Sie reden immer von den „verfolgenden Augen“ und dem „geheimnisvollen Lächeln“. Ich kann es nicht ertragen, dass sie meine Hülle loben, diese Hülle aus Farben. Aber mich selbst wollen sie nicht sehen! Wahrscheinlich würden sie bei meinem Anblick sagen „Was soll denn das sein? Ach, das ist’n Stück Holz? Wie langweilig! Und gar nicht schön anzusehen!“. Ich halte das nicht aus. Auch ich habe ein Selbstwertgefühl und Tag für Tag wird es nur verletzt! Auch ich möchte einmal angesehen werden in meiner ganzen nackten Pracht und hören, wie wunderschön ich doch sei. Möchte das nicht jeder? Heute standen sie schon wieder da, gafften mich an und verletzten mich mit ihren Worten. Schade, dass Pappelhölzer nicht weinen können, sonst hätte ich sofort angefangen. Dann hätten sie vielleicht bemerkt, wie weh sie mir tun und was ich wirklich möchte. Denn ich möchte nicht hier hängen, angestarrt werden und nachts in Selbstmitleid versinken. Das ist doch kein Leben. Seit dem 16. Jahrhundert habe ich noch nie etwas erlebt, was mich erfreut hat. Davor war ich noch Teil einer großen, starken kanadischen Pappel. Und ich war so jung und glücklich. Doch dann kamen sie auf die dumme Idee, mich einfach zu einem kleinen, dünnen Stück zu schneiden. Und jetzt werde ich so langsam alt. Alt und zerbrechlich. Ohne die Pflege der Menschen, die immer zu mir kommen und mich verwöhnen, wäre ich schon längst zu einem Häufchen Staub zerfallen. Aber mein Leben ist ja auch schwierig und aufregend gewesen, da darf man schon mal etwas schwächeln. Diese vielen Reisen. Diese Besuche bei machthungrigen Anzugträgern. Nicht sehr lustig, wirklich nicht! Und nicht zuletzt mein ungewollter Besuch in Italien. Da hatte mich doch tatsächlich ein gelegenheitskrimineller Anstreicher von der Wand genommen und war mit mir unter dem Mantel aus dem Louvre spaziert?! Die Zeit, die ich in Italien verbringen musste, war grausam gewesen und nichts hatte mich mehr erleichtert, als endlich wieder auf meinen gewohnten Platz im Louvre zu kommen. Doch hier möchte ich auch nicht bleiben. Ich kann nirgendwo bleiben, denn jeder kennt mich. Wo soll ich bloß hin, was soll ich tun, damit ich wie ein ganz normales dünnes Pappelholz leben kann? Aber du kannst es mir nicht sagen. Leider. Deine Mona-Lisa Anm.: Vielen Dank an Wikipedia für die (geschichtlichen) Fakten. =D Wenn ihr geht ------------- Schreibübung 6 - Abschied für immer „Sie werden die Geräte ausschalten, nachdem ihr gegangen seid.“ Schockiertes Schweigen. Als ob den Anwesenden auf einen Schlag alle Luft entweichen würde. Verstörte Blicke. Sie wollten es nicht hören, nicht verstehen, nicht wahrhaben. „Was?“ „Du hast schon verstanden“, sagte die alte Frau sanft und strich ihrer Enkelin liebevoll durch das dunkle Haar. Sie hatte es von ihrer Großmutter geerbt. Doch nun war deren Haar grau und ihr Gesicht wirkte müde und eingefallen. Die langen grauen Strähnen umspielten nicht wie sonst ihr Gesicht, sondern hingen schlaff auf ihre Schultern hinab. Nichts war von der starken, fröhlichen Oma geblieben, die immer einen pfiffigen Spruch auf den Lippen gehabt hatte. Ihre Enkel hatten sie vergöttert für ihre herzensgute, sorglose Art, doch nun lag sie dort schlaff und kraftlos auf dem Krankenhausbett. „Früher oder später werde ich an der Krankheit sterben“, fuhr sie fort. „Und ich möchte nicht weiter leiden, ich will euch keine Last sein.“ „Du bist uns doch keine Last!“, erwiderte ihre Tochter erschrocken. „Ganz im Gegenteil!“ „Ich weiß genau, dass ich sehr wohl eine bin. Sogar für mich selbst.“ Die alte Frau ließ den Blick durch den Raum schweifen. Doch überall schaute sie bloß in geschockte, verständnislose Gesichter. „Bitte versteht mich! Ich möchte nicht mein ganzes Leben an diesen Geräten hängen. Entweder ganz oder gar nicht.“ „Was redest du da bloß, Mutter?“ Die Hände ihrer Tochter zitterten. „Du hast also einfach entschieden, dass du sterben willst? Ohne auch mal zu fragen, wie es uns dabei geht?“ „So eine Entscheidung trifft man nur mit sich selbst, mein Schatz.“ Die Augen, mit der sie ihre Tochter anblickte, hatten ihren Glanz verloren. Sie wirkten verschlossen und undurchdringbar, fast sogar kühl. Dann eine Männerstimme von der anderen Seite des Raums. „Und … du hast dir das wirklich gut überlegt?“ Die alte Frau nickte entschlossen. „Ich habe schon darüber nachgedacht, als die Krankheit festgestellt wurde. Glaubt mir, körperlich bin ich am Ende meiner Zeit, doch meinem Geist geht es prächtig.“ Eine Träne rollte über das Gesicht ihrer Enkelin. „Ich will das aber nicht.“ Ihre Großmutter schloss sie tröstend in die Arme. Ein Teil von ihr mochte gegangen sein, doch eigentlich war sie immer noch die gute, alte Oma, die ihren Enkeln bei jeder Gelegenheit ein Stück Schokolade zusteckte. „Nicht weinen, mein Schatz. Weißt du, der Tod gehört zum Leben dazu. Und es ist nichts an ihm, wovor man sich fürchten muss. Du brauchst also keine Angst zu haben. Deine Oma ist immer bei dir.“ Die Kleine schüttelte vehement mit dem Kopf. „Nein, Omi, dann bist du nicht mehr bei mir, dann bist du ganz weit weg. Und dann kann ich dich nie mehr umarmen.“ „Oh, Schatz…“ Der alten Frau fehlten die Worte. Doch sie konnte jetzt nicht mehr zurück – Sie hatte sich entschieden. Sie wollte nicht von irgendwelchen piepsenden Geräten am Leben gehalten werden. Nein, das war kein Leben. Und sie konnte es ihrer Familie nicht antun, sie immerzu so kraftlos zu sehen. Es war keine Heilung in Sicht, sie würde allen nur Schmerz und Leid zufügen, wenn sie noch länger wartete. „Geht jetzt bitte.“ Nur ein rauhes Flüstern, so müde wie sie selbst. „Aber dann stirbst du, Oma!“ Ihre Enkelin packte ihre Hand nun noch fester. „Ich weiß, mein Engel.“ „Dann bleibe ich hier!“, rief das kleine Mädchen fest entschlossen. „Ich bleibe hier bis ich tot bin!“ „Mach es nicht noch schwerer, Schatz!“, sagte ihre Mutter mit tränenerstickter Stimme. „Oh mein Gott, ich ertrage das nicht!“ Ihr ganzer Körper begann zu zittern. Sofort eilte ihr Ehemann zu ihr und schloss seine Arme um sie. „Schatz, komm!“ Er machte eine unmissverständliche Geste, dass das kleine Mädchen jetzt mit hinauskommen sollte. Ihrer Großmutter standen die Tränen in den Augen, doch sie hatte sich vorgenommen, stark zu sein. „Ich will nicht!“, schrie die Kleine so laut sie konnte. „Oma darf nicht sterben!“ „Aber Oma muss“, flüsterte die alte Frau und drückte ihre Enkelin so fest, als wolle sie sie nie mehr loslassen. Doch sie ließ sie los und schubste sie sanft vom Krankenbett. „Es ist Zeit zu gehen“, sagte sie mit einem hauchdünnen Lächeln. „Für uns alle.“ Dann schaute sie zu ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn. Sie breitete die Arme zu einer Umarmung aus. Doch ihre Tochter schüttelte nur mit dem Kopf, während sie sich die Tränen mit einem Taschentuch abwischte. „Ich kann das nicht, verzeih mir.“ „Ich verstehe dich. Geht lieber. Ich liebe euch.“ Ihre Stimme klang verloren in dem sterilen Raum. Ebenso verloren wie sie in dem großen Krankenbett aussah. „Wir lieben dich auch!“ Sie brachte es kaum heraus unter all den Tränen der Verzweiflung, der Trauer, der Angst. Das kleine Mädchen rannte aus dem Zimmer, als wäre der Teufel hinter ihr her. Und ihre Eltern verließen es nur widerstrebend mit einem Gefühl, das niemand auf der Welt je beschreiben könnte. Dann schlossen sie die Tür. Ein Stück Himmel ---------------- Monats-Challenge Januar Ich schlug die Augen auf. Jede einzelne Faser meines Körpers schmerzte. Einer dieser Momente, in denen ich mir mein eigenes Bett herbeiwünschte. Unter gequältem Stöhnen setzte ich mich auf. Dieser Rücken würde mich noch umbringen… Fahles Licht fiel in den schmalen Raum. Mit Sicherheit wieder so ein Dreckswetter draußen wie schon die letzten Tage. Verschlafen betastete ich mein Gesicht. Eine Rasur war bald wieder fällig. Welcher Tag war heute? Seit ich hier war, hatte ich mein Zeitgefühl komplett verloren. Ich zählte die Tage nur noch nach Zelle dunkel oder Zelle hell. Der kahle Raum erdrückte mich, ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Mein Blick glitt aus dem Fenster. Dunkle Mauern, vergitterte Fenster und noch mehr gebrochene Seelen. Den Himmel konnte ich nur sehen, wenn ich mich rücklings auf den Boden legte. Aber das konnte ich meinem verspannten Körper gerade nicht antun. Trotzdem hätte ich gern ein Stück Himmel gesehen. Auch wenn er dunkel und wolkenverhangen sein würde. Ein Stück Freiheit, Hoffnung. Die Erinnerung daran, dass es dort draußen etwas gab, das auf mich wartete. Doch … mal ehrlich, was wartete denn da draußen auf mich? Die zurückgelassenen Trümmer meines alten Lebens – Ein Stapel Schulden, eine kleine Wohnung, die im Chaos versank, eine Schwester, die mich bei jeder Gelegenheit belehrte und mir Schuldgefühle einredete. Wollte ich wirklich wieder da raus? Die Welt war grausam und hart und vielleicht war ich hier drinnen besser aufgehoben als dort draußen. Ich seufzte. Nein, nein, nein. So durfte ich einfach nicht denken. Nur ein paar Gitterstäbe trennten mich von der Freiheit. Und die wünschte ich mir doch so sehr! Aber was würde ich mit ihr machen? Was, wenn meine ach so tollen „Freunde“ plötzlich wieder aufkreuzten und mir den Kopf verdrehten? Würde ich dann widerstehen können? Verdammt, nur wegen denen saß ich doch hier! Sie hatten mich, einen leichtgläubigen jungen Mann, den das Leben gründlich verarscht hatte, gefangen genommen mit ihren Träumen von Geld – viel Geld. Mit dem Geld würden sich all meine Probleme in Luft auflösen, versprachen sie. Ich war ein leichtes Opfer. Kaum hatten sie mir das Blaue vom Himmel versprochen, musste ich schon spüren, dass das Geld nicht einfach vom Himmel regnete, wenn meine „Kumpels“ das so wollten. Dabei war das anfangs alles nur ein kleiner Spaß gewesen, ein Zeitvertreib. Oder eine Chance, mein Leben in den Griff zu kriegen. Sie trugen mir die Drecksarbeit auf. Ich sollte rauben und betrügen, während die Anderen neue Pläne ausarbeiteten. Vor dieser erschreckenden Erfahrung hatte ich nie auch nur an ein Verbrechen gedacht. Ich hatte welche aus schlechten Krimis gekannt, vielleicht aus dem Fernsehen. Doch ich lernte sehr schnell dazu. Geld sah ich trotzdem niemals. Und irgendwann musste es ja so kommen, dass sie mich schnappten. Meine tollen Freunde konnten fliehen und ich, ahnungslos und dumm, wurde auf frischer Tat ertappt. Bloß eine Supermarktkasse. Ich hatte der Kassiererin meine Waffe an die Stirn gehalten, als sie bei Ladenschluss gerade die Alarmanlage einschalten wollte, und mit einer Knarre vor dem Gesicht tun die Menschen wirklich alles für dich. Leider hatte ich nicht bemerkt, wie sie den Notknopf hinter der Kasse drückte. Vor Gericht hatten sie mir noch einige andere Straftaten nachweisen können. Und ruckzuck – Hier saß ich. Ich hatte einige Monate abzusitzen, doch nächsten Monat war es geschafft. Ich würde endlich wieder ungesiebte Luft schnuppern können. Unbeholfen erhob ich mich vom Bett und machte ein paar Schritte. Vom Fenster bis zur Tür waren es nur knapp 4 Schritte. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, ich traute mich aber nicht hineinzuschauen. Viel zu große Angst vor meinem fast leblosen Gesicht. Es musste aussehen wie das Mondgesicht – Punkt, Punkt, Komma, Strich. Der Mann im Mond musste ziemlich ausdruckslos ausschauen, überlegte ich mir. Missmutig drehte ich den Hahn auf und klatschte mir eine Ladung eiskaltes Wasser ins Gesicht. Wenn ich hier rauskam, konnte ich doch nicht so weitermachen wie bisher. Auf keinen Fall! Das war hier doch eigentlich ein kräftiger Schubs in den Neustart! Nein, schon eher eine Tracht Prügel, aber wie auch immer – Hier sollte man doch „über seine Taten nachdenken“, oder nicht? Und dann … sein Leben umkrempeln? Ein guter Bürger werden? Keine Dummheiten mehr anstellen? Das war doch eine Chance, ich wollte es nur nicht wahrhaben. Plötzlich zitterten meine Hände. Ich würde neu anfangen. Ein neuer Job, eine neue Wohnung, ein völlig neues Leben. Ganz weit wegziehen, dorthin, wo sie mich nie finden würden. Ich hatte mein Schicksal selbst in der Hand. Das war schon immer so gewesen, ich hatte es einfach nicht gemerkt! Der Eifer überkam mich, Euphorie breitete sich bis in meine Fingerspitzen in mir aus. Der kahle Raum konnte mir nichts mehr anhaben. Bald begann mein neues Leben. Mein richtiges Leben. Da hörte ich, wie die Schlösser meiner Zellentür geöffnet wurden. Ein Wärter. „Essen“, brummte er trocken. Er riss die Augen ganz schön weit auf, als er das breite Lächeln in meinem Gesicht sah. „Na sowas“, murmelte er verwundert, doch senkte den Blick schnell wieder. Ich verließ unter seiner Aufsicht die Zelle. Meine Geschichte würde nicht weiter so verlaufen wie es für mich vorgesehen war. Popstar ------- Schreibübung 5 - Sucht „Okay, Scheinwerfer fünf und sechs bitte!“ Ein stechender Lichtkegel blendete ihn. Er wollte nicht die Hand vor das Gesicht halten, das hätte unprofessionell gewirkt. „Und Mikros eins bis vier!“ „An die Mikros bitte!“ „Na los, Jungs, ich will was sehen!“ Von überall irgendwelche Anweisungen, er wollte sie gar nicht hören. Aber sie taten ja alle nur ihren Job, genau wie er selbst. Der Boden, auf dem er stand, war übersät mit lauter Kreuzen und Klebebandstreifen, die die Stellen markieren sollten, an denen die Kameras später die besten Aufnahmen machen konnten. Doch diese Streifen würden in der Show alle nicht mehr da sein, bis dahin hatte er die Stellen sowieso wieder vergessen. Sie waren ein wenig wie die Choreographie – Es war vorteilhaft, sie zu kennen, doch man musste nicht unbedingt. Das Mikrophon in seiner Hand war eiskalt und fühlte sich fremd an. „Die Aufstellung, Jungs!“ Es war die Stimme des Produzenten, die ihn und die drei Versager hinter ihm die ganze Zeit herumkommandierte. Sehen konnte er ihn nicht, das grelle Licht brannte ihm in den Augen, doch er stand dort unten neben der Bühne, dessen konnte er sich sicher sein. Bei jedem gottverdammten Auftritt, jedem noch so kleinen Act stand der „Boss“, wie er genannt wurde und werden wollte, hinter der Bühne, studierte jeden Schritt seiner „Schützlinge“, wie er seine „Jungs“ gern bezeichnete. Und der Soundcheck, das war seine liebste Disziplin. Tut dies, macht das, steht so, singt so. „Jean, steh da nicht rum wie’n Affe mit Rückenproblemen!“ Selbst der Trottel in Person, ein Versager auf ganzer Linie, doch uns will er herumkommandieren, dachte der Angesprochene, während er sich in die Ausgangsstellung begab, die sie abgesprochen hatten. „Bereit?“ Doch die Tontechnikerin wartete nicht auf ein Zeichen. Sie machte nur ihren Job. Und danach konnte sie nach Hause gehen, dann hatte sie es für den Moment geschafft. Zuhause würde sie nicht mehr an ihren Job denken, dann war ihre kleine, idyllische Familie der Mittelpunkt ihres Lebens. Wie gern er so ein Leben gehabt hätte. Sein Job war nichts, das man beim Schließen der Haustür vergessen konnte. Nein, vergessen konnte er nur mit seinen Pillen. „Und Playback ab!“ Die Töne vom Band füllten die riesige Halle mit ihrer grausamen Massentauglichkeit. Das hörte sich einfach nach nichts an, nach gar nichts. Musik, die schon so komponiert war, dass die Stimmen kreischender Teenager nicht weiter störten. Das waren alles clevere Geldhaie, die diese … „Musik“ produzierten. Der Boss war das beste Beispiel, und das sollte wirklich kein Kompliment sein. Oh Mann, wie ihn das alles schon wieder ankotzte. Er brauchte dringend eine ordentliche Ladung Stoff, um die Show auszuhalten. „Jean, dein Einsatz!“, zischte es von hinten. „Hä?“ Na toll. Er hatte es verpatzt, wenn er es richtig von den wütenden Gesichtern der Anderen ablas. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren, da war nur noch Platz für die kleinen, bunten Pillen in seinem Kopf. Er hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, sich gegen das Verlangen zu wehren. Bloß ein Sklave war er, ein Sklave seiner Sucht und des Musikbusiness, mehr war er nicht. Und er hasste sich dafür. „Mensch, Jean, konzentrier dich doch mal! Du kannst so viel herumträumen wie du willst, aber nicht auf der verdammten Bühne! Du bist HIER und hier ist SOUNDCHECK und das vorhin war dein EINSATZ, den du VERPASST hast!“ Der Boss gestikulierte wild mit den Armen, sein Kopf glich einer aufgeplatzten Tomate, die bald zu Ketchup verarbeitet werden sollte, und er schien auf das Dreifache seiner normalerweise schon fülligen Figur anzuschwellen. Es brauchte nicht viel, um ihn zur Explosion zu bringen, ein kleiner Funke genügte. Doch einmal gezündet hörte er auch nicht wieder so schnell auf zu brennen. „So ein bisschen Disziplin kann ich von dir ja wohl mal erwarten! Ich mach alles für dich, wirklich alles! Ohne mich würdest du doch jetzt noch bei deinen Eltern wohnen und du wärst froh, wenn dich ein Mädchen auch nur mal anschauen würde! Ich hab dich da rausgeholt, aus deinem verdammten Versagerleben, und was ist der Dank dafür? Krümmst du auch nur einen Finger für mich? Nicht mal so einen beschissenen Soundcheck kannst du durchziehen! Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen!“ Ein paar Sekunden herrschte bloß Stille. Eine bedrückende, grausame Stille. Niemand der Anwesenden wusste, wie er mit einer derartigen Situation umgehen sollte. Vielleicht herrschte in all den anderen Bands, die je auf dieser Bühne gestanden hatten, die reinste Harmonie. Oder sie wussten den Hass aufeinander einfach gut zu unterdrücken. Gedanken durchzuckten Jeans Kopf wie Blitze. So schnell, dass er keinen erfassen konnte. Sein Mund wollte nicht auf seinen Verstand hören und der Verstand verstand im Moment überhaupt nichts. Es gab oft vergleichbare Gespräche zwischen dem Boss und ihm. Doch dieses Mal … Das war nicht der richtige Zeitpunkt, er war nicht stark wie sonst, er konnte nichts erwidern, er war einfach nicht vorbereitet. Manchmal fühlte er sich schlagkräftig und gewappnet, dann konnte er alles abblocken und ließ nichts an sich heran, was er nicht bei sich haben wollte. Und manchmal fühlte er sich so wie in diesem Augenblick – Kaputt, schwach, nur noch auf Reservemodus. Der Akku war leer, die letzten Reste Energie mussten mühsam zusammengekratzt werden. Er wollte etwas sagen, etwas, das nicht so klang, wie er sich gerade fühlte. „Fick dich.“ Hatte er das laut gesagt? Ja, hatte er – So ein Mist. Alle Blicke ruhten nun auf ihm. „Fickt euch alle.“ Er ließ das Mikro einfach fallen. Lautes Krachen in den Lautstärkern. Dann wandte er den Anderen den Rücken zu und verließ die Bühne über die Treppe an der Seite. „Was soll das?“, rief der Boss hinter ihm her. „Wo willst du hin?“ Jean ging einfach weiter. Schnell, doch er rannte nicht. „Das kannst du nicht machen, Jean! Komm zurück, auf der Stelle!“ Doch dieser war schon backstage verschwunden. „Der kommt gleich wieder angekrochen, keine Panik“, knurrte der Boss der Tontechnikerin zu, die so aussah, als wäre sie ebenfalls kurz davor, das Handtuch zu werfen. „Der muss erstmal wieder zu sich kommen…“ „Machen wir den Soundcheck trotzdem? Wir müssen den Zeitplan einhalten!“ „Aber natürlich.“ Sein linkes Auge zuckte nervös. „Diesen Nichtsnutz brauchen wir doch gar nicht.“ Sein Schützling steuerte unterdessen mit entschlossenem Schritt auf die Tür mit der Aufschrift „WC“ zu. Tür auf, an den Waschbecken vorbei, in die erstbeste Kabine, Tür zu, verschließen. Sein Atem ging schnell, er keuchte schon fast. Sein Herz pochte so laut, dass er Angst hatte, es könne aus seinem Brustkorb springen. Sein ganzer Körper zitterte. Es fiel ihm schwer, die Pillen aus der Innentasche seines Hemds hervorzuholen. Er konnte nicht mehr warten, nicht mehr nicht mehr nicht mehr, er konnte nicht mehr. Poch-poch-poch, sein Herz spielte verrückt, seine verschwitzte Hand kriegte die kleinen Dinger einfach nicht zu fassen, sein Keuchen wurde immer lauter. Dann riss er sich das Hemd vom Körper, schüttelte es so lange, bis sich der Inhalt der Innentaschen auf dem Boden verteilte. Kassenbons, Notizzettel, ein paar Münzen verteilten sich über den Boden. Und – einige wenige blaue und rosafarbene Pillen. Seine Notration, wenn er es nicht mehr aushielt. Wie ein ausgehungertes Tier stürzte er sich auf die kleinen Pillen. Er zögerte nicht lang, sondern nahm sie alle auf einmal. Er schluckte sie, Wasser brauchte er dafür schon lang nicht mehr. Endlich. Das Zittern ließ nach. Sein Verlangen war gestillt. Die Muskeln entspannten sich, der Atem wurde regelmäßiger. Endlich war alles wieder gut. Alles gut. Alles, alles, alles. So gut. Warum hatte er sich so aufgeregt? Warum saß er hier in diesem Dreckslocksloch von Toilette? Und warum lagen seine Sachen auf dem Boden? Ihm war plötzlich so angenehm warm, dass er gar nicht merkte, dass an seinem Oberkörper ein Hemd fehlte. Mit einem Lächeln sank er auf den Klodeckel. „I'm not like them, but I can pretend.“ Er sang. Leise, mit heiserer Stimme. „The sun is gone, but I have a light.“ Gleich würde er gehen müssen, zurück zum Boss und den Versagern. Und dann würde bald ihr Auftritt kommen. Er würde Schwierigkeiten haben, sich aufrecht zu halten, doch er würde es schaffen. Wie jedes mal. „The day is done, but I'm havin' fun. I think I'm dumb or maybe just happy.“ Seine Stimme klang verloren. Manchmal fragte er sich, ob es ihn eigentlich noch gab – Ihn, Jean. Das arme Scheidungskind, das nie etwas mit sich anzufangen wusste, das sich nichtmal selbst verstand, das am liebsten gar nicht leben würde. Wer war er eigentlich? War er noch jemand oder hatte er sich längst fressen lassen von den Drogen oder vom „Boss“ oder von der kreischenden Menge? Ja, wahrscheinlich. Er war der Name auf den Plakaten der kleinen Mädchen, sonst niemand. Es war Zeit zu gehen. Er konnte die Versager nicht im Stich lassen. Sonst würden sie ihn im Stich lassen. Er war bereit. Es würde schnell gehen und er würde lächeln und tanzen wie immer. Er würde diese sinnfreien Teenie-Texte singen, doch die Menge würde lauter sein. Er stand auf, las sein Hemd vom Boden auf und verließ die Kabine. The show must go on. Die Hoffnung stirbt zuletzt --------------------------- Monats-Challenge März Samuel Owens war schuldig. Er war ein Mörder der grausamsten Art und der Tod war seine gerechte Strafe, das war jedem klar – Jedem außer mir. Zugegeben, Samuel Owens war kein unbeschriebenes Blatt. Er kam aus dem ärmsten Viertel dieser Stadt und musste früh lernen, dass das Schicksal keine Geschenke machte. Er war jemand, dem die Steine von Geburt an in den Weg gelegt worden waren, jemand, der normalerweise keine Chance hatte, sein Leben zu ändern. Ich weiß nicht, wie seine Akte auf meinen Schreibtisch gekommen war, aber als ich sie aufmerksam gelesen hatte, war mir klar geworden, dass ich dem Jungen eine Chance geben konnte. Vielleicht die einzige, die er je bekommen würde. Meine Kollegen lachten über mich, als ich fragte, ob ich seine Verteidigung übernehmen könne, und mein Chef riet mir, das lieber zu vergessen, denn so ein verlorener Hinrichtungsprozess wäre keine gute Werbung für die Kanzlei. Doch ich hatte noch nie das getan, was andere für richtig hielten. Und genau aus diesem Grund parkte ich meinen Wagen an diesem wolkenverhangenen Dienstag auf dem Schotterparkplatz vor dem größten Gefängnis in der Gegend. Staub wirbelte auf, als ich aus dem Wagen stieg. Mir bot sich nicht gerade ein einladender Anblick, als ich zu den dicken, dunklen Gefängnismauern aufschaute. Doch schließlich war ich nicht zum Kaffeetrinken hergekommen. Ich schloss den Wagen ab und holte tief Luft. Auf zum schwierigsten Fall meiner Laufbahn. Ich verlangte Mr. Owens zu sprechen, als ich im Gebäude angekommen war. Ein Wärter führte mich durch die ungemütlichsten Gefängnisgänge, die ich je gesehen hatte. Und als Anwalt sah man leider so einige. Solche Gänge waren also das Letzte, was ein zum Tode verurteilter sehen musste. Dann hielt der Wärter vor einer der Gittertüren. „Ich bleibe zu Ihrer Sicherheit hier stehen, Mr. Downey.“ Ich nickte kurz, obwohl ich mir sicher war, dass das nicht nötig war, als ich den Jungen wie ein Häufchen Elend auf seinem Bett hocken sah. „Mr. Owens, Besuch für Sie.“ Der junge Mann schaute verwirrt auf. Er schien sich nicht gerade über Besuch zu freuen. Ich betrat seine Zelle und setzte mich ihm gegenüber auf eine Bank, die an der Wand angebracht war. Sein Blick war misstrauisch, doch auch ein wenig Angst konnte er nicht verbergen. „Wer sind Sie?“ „Ich bin Mr. Downey, dein Anwalt.“ Diese Worte schienen großen Eindruck auf ihn zu machen. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte, also schaute er zu Boden. „Ich werde dich in deinem Prozess verteidigen, aber du musst mir helfen.“ Plötzlich schien Leben in den Jungen zu kommen. „Ich habe nichts gemacht! Ich bin unschuldig! Ich würde niemals jemanden umbringen!“ „Ich weiß“, erwiderte ich. Das hatte er wohl nicht erwartet. „Sie glauben mir?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube dir nicht. Glauben kann man an etwas, das man nicht beweisen kann. Man muss wissen. Und ich weiß, dass du niemanden umgebracht hast.“ „Wieso sind Sie sich so sicher?“, fragte Samuel nun doch nach. „Ich meine… Wirklich jeder ist überzeugt davon, dass ich schuldig bin.“ „Und sie haben jeden Grund dazu“, erwiderte ich mit ernster Stimme. „Die Beweise sprechen ganz klar gegen dich.“ „Das haben die sich doch alles so zurechtgelegt! Das gehört zu deren Plan!“ „Ja, die Beweise sind gefälscht, das stimmt.“ Meine Zustimmung überraschte ihn. Als er nichts dazu sagte, fuhr ich fort: „Und jetzt müssen wir nur noch die Geschworenen davon überzeugen.“ „Ach, das ist doch unmöglich“, erwiderte Sam verbittert. „Wenn noch ein Fünkchen Gerechtigkeit existiert, dann ist es möglich!“, munterte ich ihn auf. Natürlich, die Aussichten waren nicht gerade rosig, aber er durfte sich nicht aufgeben. Auf keinen Fall. Da war ein Licht am Ende das Tunnels, das kleine Stückchen Hoffnung, das man stets sehen konnte. „Gerechtigkeit…“, murmelte Sam langsam. „Gerechtigkeit ist relativ.“ „Findest du?“ Ich stand auf und machte ein paar Schritte durch die Zelle. „Ich glaube, es gibt sie.“ „Wen?“ „Die eine Gerechtigkeit.“ Sam schüttelte den Kopf. „Dann würde ich hier nicht in der Dead Zone sitzen.“ „Ich hol dich hier raus“, sagte ich. Das war dann wohl ein Versprechen. Später sollte ich lernen, dass man nichts versprechen sollte, was man nicht halten konnte. Mit diesen Worten stand ich auf. „Ich tu, was ich kann. Wenn ich mehr weiß, komme ich wieder her.“ Und ich verließ die Zelle. In den folgenden Wochen besuchte ich Sam wöchentlich, manchmal jeden zweiten Tag. Den Feierabend verbrachte ich in meinem Büro vor dem Notebook, durchwühlte Akten, telefonierte mit jedem Justizbeamten, den es in diesem verdammten Land gab. Sam erzählte mir von seiner Vergangenheit. Von seinem Leben im Armenviertel, von der Ablehnung, die er immer wieder von der Justiz erfuhr, von seinen Wünschen und von seinen Ängsten, die ihn jeden Tag plagten. Und jedes Mal sagte er: „Und alles nur, weil ich schwarz bin.“ Mit so viel Hass, so viel Enttäuschung, so viel Verzweiflung in der Stimme, dass ich jedes Mal die Luft anhielt. Seine Worte machten mir zu schaffen. Weil er Recht hatte. Es gab keinen nachvollziehbaren Grund, weshalb diesem Jungen ein Mord angehängt werden sollte. Es machte einfach keinen Sinn. Warum taten sie ihm das an? Er hatte das nicht verdient. Ich denke, niemand hätte das verdient. Doch Samuel Owens war inoffiziell schon längst verurteilt. Er saß auf Henkers Stuhl, saß nur noch seine Lebzeit ab. Und er hätte sich schon längst aufgegeben, hätte die Tage bis zu seiner Hinrichtung gezählt, wäre ich nicht gekommen. Ich glaube, ich hatte ihm die Hoffnung gegeben, die er gebraucht hatte. Doch gleichzeitig wuchs der Druck auf mich. Wenn ich den Prozess nun verlor, würde das nicht nur bedeuten, dass ich es mir niemals würde verzeihen können, einen unschuldigen Jungen sterben gelassen zu haben, sondern auch, dass ich Sams ganze Hoffnung, die wir uns erarbeitet hatten, zerstören würde. Ich stellte mir vor, wie unendlich groß seine Enttäuschung sein würde… Meine Angst vor dem Prozess wurde von Tag zu Tag größer. Nachts konnte ich kein Auge mehr zu tun ohne Sams hoffnungsvolles Gesicht vor mir zu sehen. Ich versuchte, meine Angst in Arbeit zu begraben, doch zu Sam ging ich immer seltener. Mit der Zeit bemerkte ich erst, auf was ich mich eingelassen hatte. Das war nicht bloß ein Prozess, das war mehr. Ein erbitterter Kampf um Gerechtigkeit, um ein Menschenleben. Vielleicht hatte ich mich überschätzt. Es ging um zu viel, als dass man es auf die leichte Schulter nehmen konnte, so wie ich es sonst immer zu tun pflegte. Es regnete in Strömen, als ich am Tag vor dem Prozess zum Gefängnis fuhr. Mein letzter Besuch. Der Wärter stand auf, um mich wie gewohnt zu Sams Zelle zu führen, doch ich gab ihm mit einer ablehnenden Handbewegung zu verstehen, dass ich diesmal allein gehen würde. Meine Schritte hallten in den schäbigen Gefängnisgängen wider. Ich fröstelte leicht in meiner vom Regen feuchten Kleidung. Meine Füße trugen mich durch die Gänge und führten mich schließlich zur richtigen Zelle. Diesmal betrat ich die Zelle nicht, ich blieb vor der Gittertür stehen und schaute Sam eindringlich an, der wohl schon auf mich gewartet hatte. Er schien zu bemerken, dass etwas anders war, doch er sagte nichts, sondern erwiderte bloß meinen Blick. Ohne Umschweife kam ich zur Sache. „Das ist eine Verschwörung. Die Geschworenen stecken unter einer Decke mit dem Richter, der Richter macht gemeinsame Sache mit der Kriminalpolizei. Es ist alles eingefädelt, bis ins kleinste Detail geplant. Und ein einzelner wie ich kann den Plan nicht durchkreuzen. Die werden sich nicht einmal anhören, was ich zu sagen habe. Verstehst du?“ Sam starrte mich noch immer regungslos an. „Und … und das wird Ihnen jetzt klar? Jetzt, einen Tag vor dem Prozess?“ Seine Stimme klang heiser, leise, verloren in den dunklen Gefängnisgängen. „Ich weiß das alles aus sicherer Quelle.“ Schweigen. … „Wir werden den Prozess verlieren, Sam.“ Und dies war der Moment, der mich jahrelang verfolgen sollte. Sams Gesichtszüge verwandelten sich im Bruchteil einer Sekunde. Das erwartungsvolle Lächeln wurde Enttäuschung – Tiefe, verzweifelte Enttäuschung. Es riss mir das Herz auseinander. Ich konnte nicht mehr. Löste meinen Blick von Sam. Und drehte mich weg. Danke an Cally, meine Musik. ♥ Durdle Door ----------- Schreibübung 10 - Beschreibung Es war ein mörderischer Aufstieg gewesen. Anstrengend und kräfteraubend. Ich keuchte, als hätte mir jemand ein Loch in die Lunge geschnitten, und meine Füße brannten vor Schmerz. Hätte mir jemand gesagt, dass eine halsbrecherische Wanderung geplant war, hätte ich mein Schuhwerk mit Sicherheit sorgfältiger ausgewählt. Aber nein, wieso hätte sich auch jemand bequemen sollen, mich zu warnen? Die Riemen meiner Ballerinas schnitten mir tief ins Fußfleisch und die dünne Sohle mit dem harten Fußbett war nicht gerade für einen Marsch über Südenglands „Jurassic Coast“ gemacht. Jetzt war ich mir sicher, dass sie diesen Namen nicht wegen des heftigen Wellenbruchs an den Felsen trug, sondern wegen des tödlichen Aufstiegs. Nach dem gepflasterten Weg, der vom Tal aus fast senkrecht in den Himmel geführt hatte, dachte ich, es könne nicht schlimmer kommen. Doch falsch gedacht! Von da an ging es erst richtig los. Lauter enge Trampelpfade hatten uns an der englischen Südküste entlanggeführt. Noch ein paar Meter weiter, dann wären wir in Cornwall gelandet – Vielleicht. Und das „frische Lüftchen von Nordwest“, wie mein Vater es liebevoll nannte, hatte uns fast die Klippen hinab geweht. Doch – Ich musste zugeben, es hatte sich gelohnt. Ja, all die Strapazen, die kaputten Rücken und Füße, das wurde in diesem Augenblick alles wieder gut gemacht. Denn der Anblick, der sich mir bot, ließ mich für einen Moment ehrfürchtig die Luft anhalten. Wäre mein Leben ein Film, hätte ich auf die Pause-Taste gedrückt, um diesen Moment so lang wie möglich zu genießen. Dies war mit Sicherheit das Beeindruckenste, was ich je gesehen hatte. Endlos viele steinerne Stufen führten hinunter zum ozeanblauen Wasser. Dort erstreckte sich unter uns ein breiter Kieselstrand, der sich an die rauen Kalkfelsen schmiegte, bis sich der Blick am Horizont verlor. Doch der Strand allein war noch lange nicht der Grund für meine Faszination. Der Strand wurde auf Höhe der Treppen von einer gewaltigen Felswand, die aus den Klippen, auf denen wir standen, zu entspringen schien, vom Meer getrennt. Das dunkle Gestein der Felswand reichte bis ins Wasser. Die Wellen krachten mit lautem Getöse gegen sie und brachen. Das faszinierende an der Wand war, sie hatte ein Loch. Ja, ein Loch. Vielleicht so groß, dass ein Fischkutter ohne Probleme hindurchfahren konnte. Von hier oben konnte ich es nicht genau einschätzen. Das Loch wirkte wie ein riesiges Tor, ein Tor in die Freiheit. Wenn man auf dem Kieselstrand stand, konnte man direkt durch das Tor auf das tiefblaue, glitzernde Meer schauen. Als ob die gewaltige Felswand sagen wollte: „Komm, entdecke die Welt, sie ist groß und schön!“ Und die Felswand hatte völlig Recht – Die Welt war groß und schön, wenn es auf ihr einen Ort wie diesen gab. Night Drive ----------- Schreibübung 11 - Lipogramm Eine Geschichte ohne den Buchstaben 'F'. Die Digitaluhr am Armaturenbrett zeigte halb drei an, als sie den Blick einen kurzen Moment lang von der Straße abwandte. Die Müdigkeit versuchte sie zu überwältigen, doch sie wehrte sich mit dem billigen Energy-Drink, den sie sich an der letzten Tankstelle besorgt hatte. Das Radio spielte längst vergessene Hits aus den 70ern. Mit 120 brauste sie die unbeleuchtete Landstraße entlang. Es war nicht mehr weit bis in die nächste Stadt. Dort würde sie sich ein Hotel nehmen und bei Tagesanbruch würde sie sich wieder in ihr Auto setzen. Sie wollte so weit weg wie nur möglich. Wenn es sein musste, würde sie auch die Grenze überqueren, nur damit sie ihm in ihrem Leben nie wieder begegnen musste. Er hatte sie über alle Maßen enttäuscht, verletzt, ihr das Herz bei vollem Bewusstsein eigenhändig herausgerissen. Noch nie war sie so bloß gestellt worden, noch nie war sie sich so benutzt vorgekommen. Die Tränen standen ihr wieder in den Augen, als sie daran dachte. An den Anblick, der sich ihr im gemeinsamen Ehebett geboten hatte, als sie eher von der Arbeit nach Hause gekommen war. Sie wollte gar nicht daran denken, wie lange er sie wohl schon betrogen hatte. Wochen, Monate, Jahre? Bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Das, wovor sie schon immer eine riesen Angst gehabt hatte, war geschehen. Nicht selten hatten ihre Kolleginnen von untreuen Ehemännern erzählt, doch immer hatte sie sich gesagt, dass ihr das schon nicht passieren würde. Wieso auch? Er hatte nie den Eindruck gemacht, als wäre etwas nicht in Ordnung. Hätte er doch mit ihr darüber gesprochen, vielleicht hätte sie etwas ändern können in der Ehe. Ob es an ihr lag? Vielleicht war sie nicht die, die er sich immer gewünscht hatte. Vielleicht hatte sie sich verändert, ohne es zu bemerken. Oder er hatte sich eben nach einer Jüngeren gesehnt. Es war ihm bestimmt langweilig geworden mit seiner Gattin. Schluss jetzt, sagte sie sich. Er ist es nicht wert, dass ich mich verantwortlich mache. Sie trat das Gaspedal noch ein wenig weiter hinunter. 130, 140… Sie hasste ihn. Mehr als sie je jemanden gehasst hatte. Von diesem Moment an kannte sie ihn nicht mehr. Sie war nie verheiratet gewesen. Sie würde von vorn beginnen, ein Leben ohne ihn musste wunderbar sein. Nie wieder würde sie in ihr altes Leben zurückkehren. Nie wieder. Die Nacht nahm ihr die Sicht. Eigentlich konnte sie nichts von der Straße erkennen außer die beiden Lichtkegel der Vorderlichter ihres Wagens. Sie drückte das Gaspedal mit all ihrer Wut weiter herunter. „Verdammter Scheißkerl!“ Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie in Sturzbächen rannen sie ihr die Wangen hinunter. „Warum nur? WARUM?“ Sie schluchzte laut. RUMS – Dass sie von der Straße abgekommen war, hatte sie nicht bemerkt. Auch nicht den Baum, dem sie entgegen gerast war. Der Wagen war gegen den dicken Stamm geknallt. Später hieß es, die Dame, die am Steuer saß, sei nicht mehr zu retten gewesen. Aus Liebe --------- Schreibübung 9 - Die liebe Liebe Ihr Blut tropfte von seinen Händen, bildete eine dunkelrote Pfütze auf den schneeweißen Fliesen. Er legte ihren Kopf sanft auf dem Boden ab. Einige ihrer blonden Strähnen fielen in die Blutlache. Welch eine Ironie – Sie hatte sich die Haare ohnehin rot färben wollen. Doch niemals hätte sie gedacht, dass sie es mit ihrem eigenen Blut tun würde. Vielleicht hatte sie ihre Haare auch gar nicht färben wollen. Er konnte nicht wissen, ob sie es ernst gemeint hatte. Sie hatte viel geredet, viele Pläne geschmiedet und viele Versprechen gemacht, als sie noch gelebt hatte. Und seit knapp zwei Minuten tat sie das nun nicht mehr. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Ein wenig Stolz war er schon auf sich. Viele hatten ihm gesagt, er würde nichts auf die Reihe kriegen, niemals etwas zu Ende bringen. Tja, dies hier hatte er zu Ende gebracht. Und er konnte zufrieden mit sich sein. Sie war der Störfaktor in seinem Leben gewesen. Eine Überdosis von dem Stoff, den er unbedingt gebraucht hatte. Jetzt konnte er das Kapitel endlich abschließen. Und ein neues aufschlagen. Sein Atem ging ganz ruhig, als er mit dem Finger über ihr Gesicht fuhr. Ihre bleiche Haut im Kontrast zu dem kräftigen Rot ihres Bluts. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten ihn an, als wollten sie fragen: Warum? Sie war so naiv gewesen. Hatte gedacht, sie könnte mit ihm machen, was sie wollte. Er hätte sie schon nicht verlassen, er liebte sie schließlich. Ja, er hatte sie geliebt. So sehr hatte er noch nie eine Frau geliebt. Verdammt, sie war sein Ein und Alles gewesen, an sie hatte er sein ganzes Leben gehängt. Und sie … Sie hatte seine Liebe missbraucht. Sie hatte ihn enttäuscht. Wie hatte er jemals denken können, sie wäre besser gewesen als all die Anderen? Sie war bloß genauso eine falsche Schlampe gewesen. Hatte sich in aufreizenden Kleidern in den Clubs vergnügt, den Männern hinterhergeschaut. Er hatte ihr niemals so viel bedeutet wie sie ihm. Sie hatte ihn nicht geliebt. Da war er sich sicher. Und nun war sie tot. Er hatte sie umgebracht und bereute es nicht im Geringsten. Es war die einzige Lösung gewesen. Ein Mord aus Liebe. Der Tod war das Einzige, was sie verdient hatte. Er hatte ihr schon fast einen Gefallen getan. Vielleicht hätte sie irgendwann verstanden, was sie ihm angetan hatte. Und unter so einer Schuld, wie hätte sie da weiterleben sollen. Dabei hätte sie ihn doch bloß lieben müssen. Hätte ihn ehren müssen. Hätte verstehen müssen, was für ein Glück sie erfuhr, an seiner Seite zu sein. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Wie sehr wünschte er sich, sie hätte ihn genauso geliebt wie er sie. Doch die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen und Menschen veränderten sich nicht. Niemals. Mit einem letzten Blick auf ihren leblosen, seltsam verdrehten Körper wandte er sich zur Tür. Ihr Lächeln ----------- Monats-Challenge Mai Malte kam aus dem Bad, ein Handtuch lässig um die Schultern gelegt. Auf der Suche nach seiner Freundin ging er durch die Räume und fand sie schließlich in der Küche. Sie trug Mantel und Stiefel und packte ihre schwarze Tasche, in der sie, wenn nötig, einen Elefanten verstauen konnte, wie Malte manchmal witzelte. Er hatte sich oft gewundert, wieso sie zur Arbeit so eine große Tasche mitnahm, dann hatte sie ihm erklärt, dass sie ihre Uniform darin verstaute. Sie lief nicht gern in ihr durch die Straßen, deshalb nahm sie sie mit und zog sich erst dort um. Als sie Maltes Schritte hinter sich hörte, wandte sie sich zu ihm um und lächelte. Dieses offene, herzliche Lächeln, das Malte so an ihr liebte. Oft lag ihr Gesicht in nachdenklichen Falten, als ob sie über eine lebenswichtige Frage nachdenken würde. Dann sah sie immer so grimmig aus, schon fast bedrückt. Doch wenn sie dieses Lächeln lächelte, fiel alles Besorgte von ihr ab und ihr Gesicht verwandelte sich in ein glückliches, kindliches. Malte hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihr dieses Lächeln so oft wie möglich aufs Gesicht zu zaubern. Das waren die schönsten Momente für ihn. Vor allen Dingen, wenn er wusste, dass er der Grund für ihr Lächeln war. Es erfüllte ihn voll und ganz. „Seit wann arbeitest du denn donnerstags?“, fragte Malte erstaunt. Normalerweise arbeitete sie nur am Wochenende in der Restaurantkette. „Seit heute“, erwiderte Lina schulternzuckend und zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu. „Tut mir Leid, dass ich es dir nicht erzählt habe. Ich hab’s ganz vergessen.“ „Macht nichts.“ Malte kam auf sie zu und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Aber schade ist es schon. Ich dachte, wir könnten uns einen schönen Abend machen. Und wenn ich schön sage, meine ich schön.“ Lina grinste und schielte auf Maltes nackten, noch leicht nassen Oberkörper. „Den können wir auf morgen Nachmittag verschieben, wenn du dann immer noch dieses irre Sixpack hast.“ „Sixpack? Ich hätte höchstens eins im Kühlschrank!“ „Ach, Malte!“ Sie zerstrubbelte ihm liebevoll das nasse Haar. „Sieh doch ein, dass du der heißeste Typ bist, den man sich vorstellen kann!“ Er grinste verlegen. „Ah, der heißeste Typ also? Und was ist mit Brad Pitt oder Hugh Jackson, oder wie der heißt?“ „Hugh Jackman, Malte, Jackman!“, verbesserte sie ihn lachend. „Aber ich meine es ernst – Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein könnte dir nicht schaden.“ „Jaja, ich weiß“, winkte Malte ab. Lina kritisierte oft seine Selbstzweifel, obwohl sie manchmal selbst an ihm herumnörgelte. Er war eben nicht perfekt im Gegenteil zu ihr. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. „Ich muss jetzt los, warte nicht auf mich, wenn du müde bist!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Abschiedskuss. „Mach’s gut!“ „Bis später“, erwiderte Malte und schaute ihr ein bisschen wehmütig hinterher, als sie die kleine gemeinsame Wohnung verließ. Dann würde er sich eben allein einen schönen Abend machen. Einen guten Film schauen, ein wenig lesen und dann ins Bett gehen. Schon jetzt vermisste er Lina. Lina parkte ihren kleinen Wagen auf dem Bordstein vor dem Mietshaus, in dem sie mit ihrem Malte wohnte. Ein alter, fünfstöckiger Bau, dessen ockergelbe Außenfarbe abblätterte. In ihrem Taschenspiegel prüfte sie ihr Gesicht und wischte sich sorgfältig über den Mund. Malte durfte den roten Lippenstift nicht sehen. Er würde ihm sofort verdächtig vorkommen, denn so etwas trug sie normalerweise nicht. Auf den Kopf gefallen war ihr Freund wirklich nicht. Er schien jedes Detail an ihr regelrecht aufzusaugen und zu interpretieren. Und dabei meinte er das nicht böse, das wusste sie. Er hatte eben ein Blick für Kleinigkeiten. Sie hatte sich sogar eine graue Stoffhose und eine schwarze Bluse besorgt und sie ihm als Dienstuniform verkauft. Es war wirklich nicht leicht, ihn zu täuschen, doch Lina schaffte es tatsächlich jeden Tag von neuem. Obwohl sie es nicht mochte, ihm etwas verheimlichen zu müssen. Lange Nächte hatte sie sich hin und hergewälzt, hatte schließlich eingesehen, dass es keine andere Möglichkeit gab. Er würde sie verlassen, wenn er es wüsste. Und sie selbst würde ihm vor Scham nie wieder in die Augen blicken können. Sie hängte sich ihre Tasche um die Schulter, stieg aus und warf die Autotür hinter sich zu. Hoffentlich schläft er schon, dachte sie sich, als sie das schmuddelige, nach Unrat stinkende Treppenhaus bis zur obersten Etage emporstieg. Nach einem anstrengenden Abend wollte sie lieber für sich sein und sich nicht verstellen müssen. Doch als sie die Haustür aufschloss und ihre Schuhe im Flur abstellte, brannte noch Licht in der Küche. Seufzend öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer und wollte ihre Tasche abstellen, da erkannte sie in der Dunkelheit, dass es nicht mehr so aussah, wie sie es verlassen hatte. Verwundert knipste sie das Licht an. Und erstarrte schockiert. Das Schlafzimmer hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt – Der Inhalt der Schränke lag auf dem Boden verteilt, auch die Schränke selbst schienen Schaden genommen zu haben. Die Kommode war in ihre Einzelteile zerlegt worden, das Bett, das Gestell seltsam schief, stand quer im Raum, das Bettzeug lag halb zerrissen im Raum verteilt. Lina schluckte. Zerbrochene Bilderrahmen, zerknüllte Zettel. Ein Raum wie in Wut zerlegt. Einbrecher? Entführer? Orkan? Eine eingeschlagene Bombe? Der Kopf schwirrte ihr. Dann bekam sie plötzlich furchtbare Angst. Wer hatte das angerichtet? Was war hier passiert? Und ging es Malte gut? Sie stolperte aus dem Zimmer in die Küche, die nackte Furcht in den Augen. „MALTE!“, schrie sie außer sich. „WAS IST HIER…?“ Sie stoppte. In der Küche stand ihr Malte. Wie ein Geist. So unwirklich. Das schummrige Licht der Küchenlampe warf dunkle Schatten auf sein Gesicht, das er etwas gesenkt hielt. Mit der Hand stützte er sich am Tisch. Er stand dort wie festgefroren, bewegte sich keinen Millimeter. „Malte… Was…“, hauchte sie atemlos. „Was ist passiert?“ Sie schaute sich unsicher um. Die Küche sah noch genauso aus wie vor einigen Stunden, als Lina sie verlassen hatte. Eine Gänsehaut schlich ihr den Rücken hinauf. „Malte, sag doch was!“ Er wurde ihr unheimlich, wie er so regungslos dastand. Dann sprach er endlich. Ganz ruhig, als müsse er sich beherrschen, nicht loszubrüllen. Seine Stimme zitterte. So hatte Lina ihn noch nie erlebt. „Woher… Sag mir woher… hast du dieses ganze Geld?“ Mit einer steifen Bewegung hob er eine blaue Sporttasche vom Stuhl neben sich und ließ sie auf dem Tisch fallen. Heraus fielen ein paar Geldbündel. Die Tasche war randvoll mit ihnen gefüllt. Linas Herz pochte schneller. „Wie… wie…“ Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Spürte, wie sich der kalte Schweiß auf ihrer Stirn sammelte. Fühlte sich wie betäubt. „Ich hab sie gefunden. Hinter dem Schrank.“ Lina hatte das Gefühl, sie bekäme keine Luft mehr. Ein riesiger Kloß blockierte ihren Hals. „Ich kann das…“ „Ja, ich hoffe doch sehr, dass du das erklären kannst.“ Seine Stimme riss ein Loch in ihr Herz. Eiskalt. Bittersüß. „Es ist…“ Sie musste mehrmals schlucken, um überhaupt ein verständliches Wort herauszubringen. „Es ist für ein Studium. Für die Zukunft.“ „Für die Zukunft?“ Jetzt hob er den Kopf und sah sie direkt an. Sein Blick war unergründlich. Seine Stimme wurde mit jeder Silbe lauter. „Wessen Zukunft?“ „Unsere Zukunft…“ Sie schaute zu Boden. „Und deshalb versteckst du das Geld vor mir?“, fuhr er Lina an. „Weil es für uns ist? Erklär mir das!“ „Ich wollte es dir erst zeigen, wenn genug beisammen ist.“ „Genug wofür?“ „Für ein besseres Leben!“ Jetzt wurde auch ihre Stimme allmählich lauter und gewann an Stärke. „Oder glaubst du, wir könnten unser Leben lang in dieser Bruchbude hocken? Wir müssen jeden verdammten Cent umdrehen. Wir haben nichts, einfach gar nichts! Kapierst du das nicht?“ Er machte einen bedrohlichen Schritt nach vorn. „Wir haben uns!“ „Aber nur von uns kann ich mir kein Kleid kaufen und nicht in ein edles Restaurant gehen!“ „Also geht es doch bloß um dich!“ „Gönnst du es mir nicht, dass ich mal was erreiche? Ich will mich nicht mit diesem Drecksloch zufrieden geben! Wir können doch so viel mehr haben!“ Die Wutesröte stieg in Linas Gesicht. Zuerst dachte sie, Malte würde innehalten und über ihre Worte nachdenken, doch dann schrie er wieder los: „Drecksloch? Das bedeutet unser Leben also für dich? Gut zu wissen!“ Er schlug mit der flachen Hand mitten in den Stapel von Geldbündeln. „Und jetzt sag mir endlich, woher du das alles hast! Bestimmt nicht von deinem Job im Restaurant!“ Ihr entfuhr ein hohes Lachen. „Ich arbeite in keinem Restaurant und habe es noch nie getan!“ „…Was?“ Malte stierte sie an, als wolle er mit seinem Blick ein Messer in ihre Brust rammen. Sie nickte überschwänglich. „Und wenn du es genau wissen willst – Ich habe das Geld im Puff verdient! Ja, IM PUFF! AUF DEM STRICH!“ Sie schrie es ihm regelrecht ins Gesicht. „Ich bin ’ne Prostituierte, Malte, eine Nutte! Und hier…“ Mit einem Griff in ihre Tasche, die sie noch um die Schulter baumeln hatte, holte sie ein weiteres Bündel Scheine hervor. „Das habe ich heute verdient! Als Kellnerin würde ich nicht einmal die Hälfte verdienen!“ Ihre Stimme schwoll zu einer hohen, kreischenden Woge an, die auf ihn zukam und an ihm brach. „Ich mach’s nicht gern, aber ich tu es! Für uns und auch für mich! Weil ich’s nicht mehr aushalte in diesem beschissenen Leben! Liebe ist nicht alles, Malte!“ Für einen Moment sackte er in sich zusammen. Ihre Worte ließen ein Wirrwarr von Gefühlen in ihm aufkochen – Zorn. Verwirrung. Enttäuschung. Trauer. Hass. Und er konnte sich nicht entscheiden, welchem er nachgeben sollte. Plötzlich sprang er auf. Tränen rannen über sein Gesicht. „WARUM?“, brüllte er. „VERDAMMTE SCHEISSE!“ Er stürzte so schnell auf sie zu, dass sie gar nicht reagieren konnte. Packte sie an den Handgelenken und drückte sie gegen die Wand. „DU HAST ALLES KAPUTT GEMACHT!“ „Nein… nein…“, wimmerte sie. Er machte ihr Angst, oh ja, große Angst! „Verzeih mir… verzeih mir!“ „VERZEIHEN?“ Er holte aus und schlug mit der Faust auf sie ein – Ins Gesicht. Auf den Oberkörper. In den Bauch. Überall, wo er sie treffen konnte. „Hör auf, hör auf!“, presste sie hervor. Die Schmerzen drückten sie zu Boden, doch Malte ließ sie nicht los. „DU DRECKIGE SCHLAMPE!“ Er würde nicht aufhören. Sie wollte sterben. Der Alptraum sollte zu Ende sein. Sofort! Sie hielt es nicht länger aus. „Hast du – diese Fremden – auch so – angelächelt?“ Er holte aus. Wieder und wieder. „Hast du – ihnen – dein Lächeln – geschenkt?“ Er ließ ihre Hände los und griff sie an den Schultern, schüttelte sie. „ES IST MEIN LÄCHELN! GANZ ALLEIN MEINS! ES GEHÖRT MIR!“ Sein Gesicht war eine verzerrte Fratze. Angst. Schmerzen. Panik. Ihre Hand berührte etwas Langes, Festes. Ein Küchenmesser. Sie griff danach, auch wenn sie keine Kraft mehr besaß. Es fühlte sich gut an in ihrer Hand. Gab etwas Sicherheit. Eine Chance, dass es aufhörte. Seine Hand traf ihren Magen. Die Rippen. Sie spürte es genau. Er würde sie umbringen, wenn sie ihn nicht aufhielt. Ohne zu zögern hielt sie das Messer vor sich. Er bemerkte es gar nicht. War wie im Rausch. Genau wie sie. Und wie im Rausch nahm sie ihre letzte Kraft zusammen, streckte es seinem Körper entgegen. Berührte mit der Spitze seine Brust. Erst da nahm er es war. Schaute erschrocken. Und sie stach zu. Immer und immer wieder. Malte… Ihr Malte… Ihm gehörte ihr Lächeln. Es hatte ihm gehört. Routine ------- Schreibübung 12 - Assoziation Es war seltsam, mit welcher Selbstverständlichkeit sie die Begegnung mit den dreien erwartete. Zumindest vermutete sie, dass es drei Männer gewesen waren, die sie eine Stunde zuvor an diesen abgelegenen Ort bestellt hatten. Am Telefon hatten sie sich mit dem Sprechen abgewechselt, im Hintergrund war klassische Musik zu hören gewesen. Das waren Profis, da war sie sich sicher. Die Musik hatte andere Hintergrundgeräusche unterdrücken sollen, sodass der Aufenthaltsort der drei Verbrecher nicht so leicht bestimmt werden konnte. Doch ihre Stimmen hatten sie nicht verstellt und dass sie zu dritt waren, hatten sie ebenfalls nicht verheimlicht. Vielleicht war das bloß eine Art Trick gewesen, um sie in die Irre zu führen. Oder es ging den Entführern nicht um Anonymität. Wahrscheinlich hatten sie vor, im Ausland abzutauchen, sobald dieser Coup durchgezogen war. Das große Ding, das ihnen das Geld bringen sollte, um irgendwo weit weg den Rest des Lebens zu genießen. In einer Villa mit Pool und jeden Tag an der Strandbar sitzen. Gut versteckt im angrenzenden Waldstück warteten fast 50 uniformierte Polizisten genau wie sie auf die Ankunft der Entführer. Hochkonzentriert und schussbereit. Sie wusste, dass sie kein bisschen Angst haben musste. Und die hatte sie auch nicht. Treffen mit Entführern waren zwar nicht gerade an der Tagesordnung der erfahrenen Kriminalkommissarin, doch leider kamen sie des öfteren vor. Eine gewisse Routine hatte sich eingefunden bei solchen Einsätzen. Doch genau aus diesem Grund schämte sie sich in diesem Moment. Ein kalter Windstoß zog vorbei und sie klappte den Kragen ihrer Jacke hoch. Die Drei hatten ein Kind auf dem Schulweg entführt. Ein kleines Mädchen, die Tochter eines Firmenmanagers. Sie hatte nie jemandem etwas getan, hatte mit Sicherheit eine riesen Angst. Die Entführer fassten sie wohl kaum mit Samthandschuhen an. Und das alles bloß, weil ihr Vater Geld hatte – Eine Menge Geld. Die Entführung eines unschuldigen Kindes war grausam. Trotzdem ließ es sie kalt. Zu oft hatte sie etwas Ähnliches erlebt, zu oft war alles gut ausgegangen und auch zu oft war das Opfer vor ihren Augen getötet worden. Irgendwann in ihrem Beruf war ihr klar geworden, dass sie nicht jede unmenschliche Tat verhindern konnte. Es gab gute und schlechte Tage. Doch egal, wie ein Tag endete, es blieb bloß ein Job. Nicht mehr und nicht weniger. Es geschahen zu viele grausame Dinge auf dieser Welt, als dass man sie alle verhindern konnte. Oder zumindest bestrafen. Sie konnte das Verbrechen bloß in Schach halten, doch verschwinden oder gar weniger werden würde es niemals. Und ganz sicher nicht wegen ihr. Da durchschnitt das Röhren eines Motors die Stille. Ein weißer Van näherte sich. Er hielt ein paar Meter von ihr entfernt. Zwei Personen stiegen aus, beide trugen Blaumänner, dunkle Sonnenbrillen, obwohl der Himmel bedeckt war, und rote Baseballcaps. Sie konnte mit Sicherheit sagen, dass der Dritte im Bunde am Steuer saß. Einer der ausgestiegenen Männer kam näher, der andere hielt sich im Hintergrund. „Das Geld!“, forderte er ohne Umschweife. Seine Stimme war hart und auch seine Körpersprache sagte ihr ganz klar, dass mit ihm nicht zu scherzen war. Doch sie hatte schon mit Verbrechern ganz anderer Kaliber zu tun gehabt. Sie deutete auf den kleinen, grauen Koffer, der zu ihren Füßen stand. „Hier ist es. Aber zuerst geben Sie mir das Mädchen!“ Ohne den Blick von ihr abzuwenden, rief er: „Sie will das Mädchen. Bring es raus!“ Der Mann, der ein Stück hinter ihm stand, ging um den Van herum und öffnete die Türen zum Laderaum. Er kehrte mit einem zierlichen, dunkelhaarigen Mädchen zurück, höchstens zehn Jahre war sie alt. Den Kleidern, die sie trug, sah man an, dass sie sie länger nicht mehr gewechselt hatte und auch ihr Haar wirkte ungewaschen. Ihr Schluchzen zerriss die angespannte Stille, in die die Szene getaucht war. Sie musste oft geweint haben in den letzten Tagen, die Tränen hatten ihre Wege auf ihren Wangen gezeichnet. „Hier ist sie.“ „Geben Sie sie mir!“ „Und wie sollen wir sicher gehen, dass wir das Geld bekommen?“ Das war keineswegs als Frage gemeint, wie ihr sein barscher Ton vermittelte, sondern ein Befehl. Sie blieb ruhig. War ja nicht das erste Mal, dass sich Entführer absichern wollten. „Okay, ich stelle den Koffer dort in der Mitte zwischen uns ab und gleichzeitig lassen Sie das Mädchen zu mir.“ Die beiden Männer warfen sich einen kurzen Blick zu, dann nickte der Vordere. „Gut. Keine falschen Tricks.“ Sie hob abwehrend die Hände. „Natürlich nicht.“ Bedächtig hob sie den Koffer an und machte ein paar vorsichtige Schritte auf die Männer in Blau zu. Eine falsche Bewegung hätte sie vielleicht ihr Leben gekostet. Doch sie war völlig konzentriert, ein Fehler würde ihr nicht unterlaufen. Wie in Zeitlupe streckte sie den Arm vor und deutete an, dass sie den Koffer nun abstellen würde, doch kurz vor dem Boden hielt sie inne und blickte ihren Gegenüber auffordernd an. „Das Mädchen!“ „Lass sie laufen, Mann!“, rief der Eine dem Anderen zu. Dieser löste seinen Griff um ihren Arm und… PENG. Ein Schuss zerschnitt die angespannte Stille. Sie schreckte auf, ließ den Koffer geschockt fallen. Der Schuss – Er war aus dem Wald gekommen. Das bemerkten auch die Entführer. Augenblicklich begannen sie, wild durcheinander zu rufen. „Scheiße!“ „Verdammt!“ „Halt das Mädchen fest!“ Mit einer hektischen Bewegung riss der Hintere die Kleine wieder an sich, diesmal drückte er ihr eine Pistole, die er blitzschnell aus seinem Blaumann gezogen hatte, gegen den Kopf. „Wie viele sind es?“, brüllte der Vordere und machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. „Wie viele?“ „Ich…“ Ihre Stimme versagte. Wie konnte das passieren? Welcher gottverdammte Anfänger war auf die Idee gekommen, einfach drauflos zu schießen? Die Entführer waren alarmiert, das Mädchen schwebte in höchster Gefahr! „Ich bin allein gekommen, so wie Sie gesagt haben.“ „Lüg nicht!“, schrie er und das, was sie von seinem Gesicht erkennen konnte, verzerrte sich zu einer angsteinflößenden Fratze. Die Kleine wimmerte, sie wagte es nicht mehr zu weinen. „Es kann ein Jäger gewesen sein!“, versuchte die Kommissarin verzweifelt, die Situation zu retten. Der Entführer hielt für einen kurzen Moment inne. Das schien ihm gar nicht allzu abwegig. Doch da riss ihn die Stimme des Fahrers, der das Fenster an der Beifahrerseite geöffnet hatte, aus seiner Starre. „Mann, lass dich von der nicht verarschen! Lass uns abhauen!“ Der Vordere schien dem Fahrer aufs Wort zu gehorchen und rannte zurück zum Van. Die Kommissarin stürzte panisch vor. „Nein, das Mädchen!“ „Hey!“, schnitt der Entführer ihr warnend das Wort ab. Im nächsten Moment blickte sie in den Lauf einer Pistole. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Jetzt musste sie einen kühlen Kopf bewahren. Bloß nicht aus der Ruhe bringen lassen. Nichts Falsches tun – Obwohl ‚falsch‘ in solchen Situationen schwer zu definieren war. „Okay, keine Panik“, versuchte sie vorsichtig, ihm gut zuzusprechen. „Ich möchte nur das Mädchen. Wie abgemacht. Dann können Sie verschwinden.“ Sie konnte das Ganze retten, das wusste sie. Sie konnte es schaffen. Davon hing viel ab, doch mit Druck wusste sie umzugehen. Schließlich hatte sie nicht umsonst eine jahrelange Ausbildung an der Polizeischule absolviert, hatte sich durch schwierige Auswahlverfahren und niedere Posten gekämpft. Das alles, um Situationen wie diese in den Griff zu bekommen. Der Entführer hielt die Pistole weiter direkt auf ihr Gesicht gerichtet. „Und war es auch abgesprochen, dass da im Wald…?“ Er wurde unterbrochen durch lautes, unkontrolliertes Rufen, laute, polternde Schritte, die sich rasch näherten. Oh nein. Nein, nein, nein. Das durfte nicht wahr sein. Sie hätte es wieder hinbekommen, alles wäre nach Plan verlaufen. Diese Idioten – Kaum sahen sie eine Waffe, schon stürzten sie aus ihren Verstecken! Jetzt war alles vorbei. Sie machten alles zunichte. Da waren sie auch schon. Stürzten auf die Entführer zu. Rissen ihren Gegenüber zu Boden, die Waffe traten sie ihm weg. Alles ging so schnell. Panik bei den Entführern, Panik bei ihr. Ein riesiges Chaos, wie konnte das passieren? PENG. Schuss. PENG. Ein zweiter. PENG. Der dritte. Sie fuhr herum. Was war passiert? Da sah sie das Mädchen – In einer immer größer werdenden Blutlache am Boden. Und es überraschte sie nicht. Ja, es ließ sie kalt. Gefühlslose Routine. Bis in den Tod. Mondscheinkind -------------- Monats-Challenge Juli Ich drücke auf den Klingelknopf und sofort höre ich Lillis kleine Schritte zur Tür tapsen. Sobald die Sonne untergegangen ist, ist sie kaum noch zu bändigen. Ein echtes Energiebündel. Sie öffnet die Tür und begrüßt mich mit einer stürmischen Umarmung. „Onkel Paul!“ Mit dem breiten Lächeln, das sich jedes Mal, wenn ich die Kleine sehe, auf meinem Gesicht ausbreitet, schlinge ich meine Arme um sie, hebe sie hoch und drehe mich ein paar Mal im Kreis, sodass sie vergnügt quiekt. Ihr Lachen ist immer wieder ein Grund für mich, sie abzuholen und die Nacht zum Tag zu machen. Anfangs habe ich es noch getan, um meiner Schwester einen Gefallen zu tun, weil ich gesehen habe, dass sie mit der Situation nicht fertig wird, doch inzwischen sind diese kleinen Spaziergänge schon zu einer Gewohnheit geworden, die nicht mehr wegzudenken ist. Als ich Lilli wieder auf dem Boden absetze, zieht sie mich am Arm in die Wohnung. „Komm, Onkel Paul, Mama wartet schon!“ Sie zerrt mich in die Küche, in der Licht brennt. Schon bevor ich über die Schwelle trete, schlägt mir schlechte Luft und eine beklemmende Stimmung entgegen. „Hey, Jenny“, grüße ich meine Schwester, die am Küchentisch sitzt. Wie ein Häufchen Elend hockt sie da, die Hände gefaltet auf die Tischplatte gelegt, um wenigstens noch ein klitzekleines bisschen Haltung zu bewahren. So ist sie, auch wenn die Lage noch so aussichtslos erscheint und ihre Welt schon längst völlig in sich zusammengefallen ist, verliert sie nie die Fassung. Sie ist viel zu stolz, um die anderen sehen zu lassen, wie schlecht es ihr wirklich geht. Als die große Schwester ist sie schon immer die Starke gewesen, die Konstante, die alles tapfer durchsteht. Immer wollte sie mir das Gefühl geben, beschützt zu werden. Vielleicht bin ich deshalb so ein verantwortungsloser Faulenzer geworden, wie sie es mir viel zu oft vorwirft. Doch das ist schon okay. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was sie alles durchgemacht hat mit der Kleinen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und Jenny trägt gleich ein ganzes Fass auf dem Rücken. „Paul…“, erwidert sie mit brüchiger Stimme und hebt den Blick. Das künstliche Licht wirft dunkle Schatten unter ihre Augen, so geschafft hat sie schon lange nicht mehr ausgesehen. Sie bemerkt den zitternden Klang ihrer eigenen Stimme und räuspert sich schnell. In all den Jahren hat sich nichts geändert. Mir gegenüber ist sie immer noch die große Schwester, die die bösen Jungs, die mich auf dem Spielplatz ärgern, mit einem warnenden Zischen und einem ihrer berüchtigten Todesblicke in die Flucht schlägt. Ihre Gesichtszüge verhärten sich, als sie mit mir spricht. Ihre Stimme klingt jetzt gar nicht mehr gebrochen und die Hände verschränkt sie abwehrend vor der Brust. Es wäre mir lieber, sie würde in Tränen ausbrechen. „Du kommst ja reichlich spät. Aber naja, Pünktlichkeit existiert in deinem Wortschatz ja nicht. Du kannst immer kommen und gehen, wann du willst, schon klar.“ Ich versuche verzweifelt, gegen diese negative Stimmung hier drin anzukämpfen. Was Jenny braucht, ist eine Aufmunterung und mal etwas Abwechslung. Oder ein Wunder. „Zum Glück weiß ich, dass du das nicht so meinst, Schwesterherz“, entgegne ich grinsend. „Ich stand eben im Stau. Auch um diese Uhrzeit sind die Straßen leider nicht leer.“ Lilli steht immer noch neben mir und erkundet mit kindlicher Neugier das Innenleben meiner Hosentaschen. Wenn sie Glück hat, findet sie das Wechselgeld aus dem Supermarkt. „Schatz, zieh dir doch schon mal deine Schuhe an“, unterbricht Jenny die Kleine da bei ihrer Suche. Lilli lässt von meiner Hose ab und antwortet mit einem Anflug von Trotz: „Aber Onkel Paul soll mir die Schleife binden!“ „Okay, aber zieh sie dir wenigstens schon einmal an…“ Die Sonne ist gerade hinter dem Horizont verschwunden, trotzdem scheint es, als wäre Jennys Geduld bald schon aufgebraucht. Sie braucht dringend eine Auszeit. Gut, dass ich da bin. Lilli gibt sich mit dem Kompromiss zufrieden und läuft aus der Küche, um ihre Schuhe zu suchen. „Setz dich, das kann dauern“, fordert Jenny mich auf. Ich setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber und lehne mich seufzend zurück. „Wie war dein Tag?“, fragt sie mich noch etwas steif, doch langsam scheint sie warmzulaufen. Diese Tag-Nacht-Umstellung tut ihr nicht gut. Sie sagt es zwar nie, aber mit all ihren sonst so zahlreichen Freunden hat sie kaum noch etwas zu tun. Unsere Eltern melden sich bei ihr höchstens an Geburtstagen und Weihnachten, in besonders guten Jahren sogar noch an Ostern. Einsamkeit ist nichts für Jenny, sie braucht gute Freunde, die zu ihr stehen, und es muss sie sehr enttäuscht haben, dass kein einziger von ihren dies getan hat. „Ein bisschen stressig“, antworte ich ihr wahrheitsgemäß. „Ich musste ständig zwischen meiner Wohnung und diesem muffigen Aufnahmestudio hin und her fahren. Die Band und der Produzent wurden sich einfach nicht einig, ob die Halbkreise unten rechts nun blau oder schwarz werden sollten. Und mit den Entwürfen waren sie auch nicht zufrieden, aber am liebsten hätten sie das bescheuerte Cover schon morgen fertig. Fürchterlich, glaub mir…“ „Eigene Schuld, wenn du dir gerade so einen unsicheren Beruf aussuchst“, wirft Jenny schnippisch ein. „Freischaffender Künstler… Das Chaos ist eigentlich schon vorprogrammiert.“ „Die Wörter frei und Kunst kommen drin vor“, verteidige ich mich grinsend. Wie oft haben wir dieses Gespräch schon geführt. „Besser geht es doch gar nicht.“ „Du wirst dich nie ändern, oder?“ Einen kurzen Augenblick kommt es mir so vor, als huscht ein Lächeln über ihr Gesicht, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil ich es so gern sehen würde. Ich zucke mit den Schultern. „Man muss sich schließlich selbst treu bleiben.“ Das ist eine lahme Entschuldigung dafür, dass ich bloß einmal die Woche für sie und Lilli da bin. Im Vergleich zu Jenny bin ich eine Niete. Ich bin ein schlechter Bruder und ein schlechter Onkel. Ich tu das, wonach mir ist, ich weiche der Verantwortung mit einem schnellen Ducken aus, wenn sie direkt auf mich zukommt, und ich ändere nichts daran, auch wenn mir das alles völlig bewusst ist. „Onkel Pauuuul“, ruft Lilli aus dem Flur. „Du musst mir jetzt eine Schleife machen!“ „Bin unterwegs!“ Ich will aufstehen und zu Lilli gehen, doch Jennys schneidende Stimme hält mich auf. „Creme sie noch ein bisschen im Gesicht ein! Die Sonnencreme steht auf der Kommode. Und nimm zur Sicherheit die Handschuhe mit!“ „Wie jeden Freitag“, seufze ich und verlasse die Küche. „Und sie soll sich eine Jacke anziehen, es ist kalt draußen!“, ruft sie mir noch hinterher. „Jaja!“ Ich binde der Kleinen die Schuhe zu, helfe ihr in die Jacke und höre sogar auf Jennys Rat und creme ihr das Gesicht ein. Die Creme ist dickflüssig wie Beton kurz vor dem Trocknen und Lilli glänzt wie eine Speckschwarte, weil sich die Creme beim besten Willen nicht verteilen lassen will. Normale Kinder würden meckern oder sogar trotzig um sich schlagen und heulen, doch Lilli hält still und hilft mir, die Creme zu verteilen. Sie ist nicht normal. Aber das macht sie nicht weniger liebenswert. Ihre Handschuhe mit den Blümchen drauf stecke ich in die Jackentasche. Die werden wir sowieso nicht brauchen, doch ich will Jenny nicht unnötig beunruhigen. Sie ist so übervorsichtig. Am liebsten würde sie Lilli in der Wohnung einsperren und niemals an die frische Luft lassen. Die Sonne ist zu ihrem persönlichen Erzfeind geworden und mit der Welt dort draußen hat sie schon abgeschlossen. Ich kann mich nicht ganz entscheiden, was ich davon halten soll. Lilli ist lebhafte sechs Jahre alt, man kann sie nicht völlig isolieren, gleichzeitig wäre das der sicherste Weg, sie zu schützen. Schutz braucht jedes Kind, aber Lilli braucht mehr als das. „Können wir endlich gehen?“, fragt sie ungeduldig. Ich nicke und schiebe sie sanft zur Tür. „Los geht’s!“ „Seid bloß nicht zu spät zurück!“, ruft Jenny aus der Küche, aber da habe ich die Tür auch schon hinter uns zugezogen. Lilli umklammert mit ihrer kleinen Hand meine große und so gehen wir nebeneinander die nur spärlich beleuchtete Straße entlang. Der kalte Herbstwind, gegen den wir anlaufen müssen, pfeift uns um die Ohren. „Wohin gehen wir heute, Onkel Paul?“ „Wir schauen uns ein Feuerwerk an.“ Aus Zufall habe ich vor ein paar Tagen in der Zeitung von dem Feuerwerk ganz in der Nähe gelesen. Als Abschluss irgendeines Filmfestivals, von dem ich bei all der Arbeit, die sich in den letzten Wochen bei mir gestapelt hat, gar nichts mitbekommen habe. „Ein Feuerwerk?“ Lillis Augen strahlen. „Die Farben, die am Himmel explodieren?“ „Ja, genau“, erwidere ich lächelnd. „Und für uns beide habe ich die besten Plätze reserviert!“ „Wirklich? Wow, du bist der Beste, Onkel Paul!“ „Ich weiß“, entgegne ich grinsend. „Wir sind schon fast da.“ Unser Ziel ist das große Parkhaus auf der anderen Straßenseite. Eine bessere Aussicht als auf dem obersten Parkdeck gibt es in der ganzen Stadt nicht. Vereinzelte Passanten kommen uns entgegen. Trotz der Dunkelheit sehe ich den abschätzenden Blick, mit dem sie Lilli und mich mustern. Sie denken: „Was macht das kleine Mädchen um diese Zeit noch draußen? Wie verantwortungslos von ihrem Vater“, vielleicht fragen sie sich, ob sie Zeuge einer Entführung sind. Warum sonst läuft der Mann nachts mit dem Mädchen durch die Stadt? Die Nacht ist nichts für Kinder, denken sie. Wenn die wüssten. Wir überqueren die Straße und steuern auf das Parkhaus zu. Lilli schaut mich ein wenig verdutzt an, als ich ihr die Tür zum Treppenhaus aufhalte. „Ladies first!“ „Wieso gehen wir hier rauf?“, fragt sie mich mit großen Augen. Mit einem geheimnisvollen Lächeln antworte ich: „Weil da oben unsere Plätze sind!“ „Achso!“, ruft sie und hüpft fröhlich an mir vorbei, die Treppe hinauf. „Warte auf mich!“, lache ich und folge ihr so schnell ich kann. Sie läuft die Treppen hinauf, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ich komme kaum hinterher. Als ich sie endlich auf der obersten Etage eingeholt habe, ringe ich schon nach Luft, während sie ungeduldig von einem Bein auf das andere tippelt und wissen will, wo denn nun unsere Plätze sind. Ich muss ein paar Mal tief Luft holen, bevor ich ihr antworten kann. „Nur noch… durch die Tür…!“ Lilli legt ihre Hand wieder in meine und gemeinsam betreten wir das Parkdeck. Sofort empfängt uns wieder der kalte Wind, doch auch der dunkle, aber sternenklare Himmel. Das perfekte Wetter für ein Feuerwerk. Kein einziges Auto steht auf dem Deck, besser könnte es nicht sein. Ich führe sie über das Deck, als würde ich die Queen höchstpersönlich zu ihrem Schlafgemach begleiten. „Und wo sind unsere Plätze?“, fragt sie. „Ich sehe keine Stühle!“ „Wir brauchen keine Stühle“, antworte ich zwinkernd. „Dahin setzen wir uns! Da hast du alles im Blick!“ Ich zeige auf die Mauer vor uns, die zwei Parkreihen voneinander trennt. Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, hebe ich sie hoch und setze sie darauf. „Gut festhalten!“ Dann schwinge ich mich selbst neben sie. „Warum sind hier keine anderen Leute?“, will Lilli wissen, als wir einen Moment lang schweigend nebeneinander sitzen. „Weil diese Plätze ganz allein für uns sind“, sage ich und streiche ihr durch das kurze, blonde Haar. Sie ist so ein hübsches Mädchen. Wären da nur nicht diese roten Stellen in ihrem Gesicht. Kleine, rote Narben verteilen sich auf ihrer empfindlichen Haut. Sie sind Überbleibsel von Operationen oder von UV-Strahlen gereizte Stellen. Trotzdem ist sie das hübscheste Mädchen, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. „Niemand steht uns im Weg und keiner versperrt uns die Sicht.“ „Okay“, sagt Lilli und schaut in den dunklen Himmel. „Hast du Durst?“ „Ja…“ „Hier!“ Ich hole eine kleine Flasche Cola aus meiner Tasche und gebe sie ihr. „Aber sag Mama nichts davon!“ Die Kleine kichert und nickt. Während sie die Cola mit gierigen Schlucken leert, schaut sie wieder gedankenverloren in den Himmel. „Onkel Paul…?“ „Ja?“ „Wie sieht der Himmel aus, wenn die Sonne scheint?“ Erstaunt sehe ich sie an. Was soll ich ihr darauf antworten? Ich habe gelesen, dass Kinder in diesem Alter oft sonderbare Fragen stellen und nicht locker lassen, bis sie eine Antwort bekommen haben, doch Lilli stellt andere Fragen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie anscheinend gar keinen Tag kennt. Aber sie schaut mich so bittend an, dass ich angestrengt nach den richtigen Worten suche. „Manchmal ist er ganz blau…“ „So wie Mamas Kaffeekanne?“ „Nein, noch viel heller. So wie die Tapete in deinem Zimmer.“ „Das muss schön aussehen…!“ „Ja, das tut es… Aber an manchen Tagen ist er auch ganz grau.“ „Grau ist keine schöne Farbe“, stellt Lilli abschätzend fest. „Nein, das stimmt. Am schönsten finde ich es, wenn der Himmel blau ist und ein paar weiße Tupfer hat.“ „Weiße Tupfer?“ „Ja, die Wolken sind am Tag meistens weiß.“ „Weiß…“, haucht Lilli und trinkt den letzten Schluck Cola. „Schön… Hoffentlich sehe ich so einen Tupfer-Himmel auch einmal!“ „Mit Sicherheit!“, verspreche ich ihr. „Du wirst alle Himmelsfarben einmal sehen! Und dann sagst du mir, wie dir der Himmel am besten gefällt, okay?“ „Ja, mach ich!“, strahlt sie und nickt heftig mit dem Kopf. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich daran denke, dass es gar nicht sicher ist, dass ihr Wunsch tatsächlich in Erfüllung geht. Es ist gefährlich für sie. Doch sie soll nicht auf all diese wunderschönen Dinge verzichten. Das hat sie nicht verdient. „Willst du etwas essen?“ Sie schüttelt den Kopf. „Äh-äh.“ „Okay. Wenn du Hunger bekommst, sag Bescheid!“ „Mach ich!“ Eine Weile lang schweigen wir. Alles, was man hören kann, ist das Rauschen des Windes in den Baumkronen, die weit unter uns sind, und Lillis Schuhe, die im Takt gegen die Mauer klopfen. Doch Lilli hält die Stille nicht lange aus. „Wann fängt das Feuerwerk endlich an, Onkel Paul?“ Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. „Eigentlich müsste es…“ In diesem Moment wird der Himmel über uns nach einem lauten Knall in ein zitterndes, purpurnes Licht getaucht. Wie glitzernes Konfetti regnen Funken gen Erde, verblassen und verschwinden ganz. Eine zweite Rakete folgt. Und eine dritte. Der Himmel schillert in den verschiedensten Farben, die Luft riecht nach Feuer. „Oooooooh…!“, macht Lilli. Sie starrt nach oben und reißt den Mund auf, als wolle sie die bunten Farben in sich aufsaugen. „Das ist sooooooo schöööön…“ Ich kann meinen Blick nicht von ihrem faszinierten Gesicht abwenden. Das Feuerwerk interessiert mich gar nicht. Lilli dreht sich kurz zu mir und schaut mich mit einem breiten Lächeln an. „Sowas Tolles hab ich noch nie gesehen!“ Sie ist so fröhlich, so glücklich. Als gäbe es nichts, worüber sie sich Sorgen machen müsste. Als wäre alles in Ordnung. Für Lilli ist alles in Ordnung. Sie ist ein Sonnenschein… Sie ist der Sonnenschein in der Dunkelheit, in der sie lebt. _____________ In Deutschland leiden etwa 50 Menschen an der unheilbaren Hautkrankheit Xeroderma pigmentosum, auch Mondscheinkrankheit genannt. Die meisten davon sind Kinder, denn die Lebenserwartung der Patienten ist gering. Wenn UV-Strahlen auf die Haut eines Patienten treffen, bilden sich sofort Entzündungen oder Tumore, die Hautkrebs verursachen können. Betroffene können sich mit spezieller Folie an den Fenstern, langer Kleidung, etc. vor UV-Strahlung schützen. Einige stellen ihren Tag-Nacht-Rythmus vollkommen um, um kein Risiko einzugehen. Euphorie -------- Schreibübung 15 - Gefühlswahrnehmung Euphorie durchströmt mich wie Strom. Elektrisiert mich bis in die Fingerspitzen. Es kribbelt und juckt und dann bricht es aus mir heraus. Wie eine schwere Last, die ich endlich abwerfe. Ich will meine Arme dem Himmel entgegenstrecken und laut schreien. Ich will weinen. Ich will rennen und springen. Stattdessen formen sich meine Lippen zu einem Lächeln. Und ich fühle mich so befreit. Ich schaue mich um und staune über die Perfektion des Augenblicks. Die Zeit scheint stillzustehen. Die Euphorie nimmt jeden um mich herum gefangen, sie verbreitet sich wie ein Virus. In mir regnet es Konfetti. Ich hebe den Kopf, blicke in den schwarzen Nachthimmel und kann die kleinen Schnipsel auf meiner Haut spüren. Dieser Augenblick, dieses Gefühl ist irgendetwas zwischen ausgelassenem Jubeln und stiller Faszination. Mir ist nicht mehr nach Schreien oder Weinen oder Rennen. Ich merke, dass dies keine normale Freude ist, die mich in Atem hält, sondern etwas, was ich auskosten muss, so lange es noch da ist. Da ist so viel, was auf mich einprasselt, und ich kann nur versuchen, es voll und ganz zu spüren. Dankbarkeit, Zufriedenheit, Hoffnung, Freude. Alle mir bekannten und unbekannten positiven Gefühle durchfließen mich wie ein reißender Fluss. Der Augenblick fühlt sich an wie der Höhepunkt in der Mitte einer Spannungskurve, die Entschädigung für schlechte Zeiten, das Wasser in der Wüste. Worte reichen nicht aus, um das Gefühl zu beschreiben. Es scheint eine Ewigkeit anzuhalten. Und es soll niemals vorbeigehen. Stadt ----- Schreibübung 22 - Tod Dieser Text ist eigentlich nicht im Rahmen der Schreibübung entstanden, aber nachdem ich ihn geschrieben habe, fand ich, er würde doch eigentlich auch ganz gut dazu passen. Falls ihr das anders seht, lasst es mich wissen. Für mich ist kein Platz in dieser Stadt. Die Häuser ragen mir über den Kopf. Der Smog teert mir die Lungen. Die Autos hupen. Die Menschen meckern. Mir ist schlecht. Ich habe keinen Lieblingsplatz. Es gibt nichts, was mir mehr gefällt als alles andere. Mir gefällt nichts. Nicht hier und auch sonst nirgendwo. Ich habe dieser Stadt alles gegeben und sie hat mir niemals etwas zurückgegeben. Sie ist undankbar und gnadenlos. Wenn ich die Menschen auf den Straßen sehe, unzufrieden, gestresst, frage ich mich, weshalb sie hier sind. Aber dann sehe ich mich. Und ich weiß, weshalb. Man kann der Stadt nicht entfliehen. Wenn sie dich erst einmal aufgenommen hat, lässt sie dich nicht mehr los. Nie mehr. In meiner Jackentasche finde ich eine Münze. Ich nehme sie in die Hand und sie fällt mir in den Rinnstein. Egal wohin ich gehe, die Stadt sitzt mir im Nacken. Sie gönnt mir kein Glück, keinen Frieden. Sie gönnt mir nichts. Ich hebe sie auf. Neben der Hot-Dog-Bude im Bahnhof sitzt ein alter Mann an die Wand gelehnt. Seine Augen sind geschlossen, sein Bart ist grau und verfilzt. Die Stadt hat ihm alle Kraft genommen, ihn bis aufs letzte ausgesaugt. Ich werfe die Münze in seinen Becher. Müde öffnet er ein Auge. Ich weiß nicht viel und erst recht nicht über mich selbst, doch ich weiß, dass ich niemals werden möchte wie er. So weit wird es nicht kommen. Ich gehe weiter und höre seine Stimme hinter mir. „Haben Sie vielen Dank! Einen schönen Tag noch!“ Einen schönen Tag hatte ich nicht mehr, seit die Stadt mich in Ketten gelegt hat. Doch es gab schon schlimmere als den heutigen. Der Bahnsteig ist überfüllt. Menschen und Menschen und Menschen. Die Stadt hat mich gelernt, Menschen zu verabscheuen. Sie haben die Stadt geschaffen und wollten sie regieren, doch jetzt regiert die Stadt sie. Menschen sind machtlos, nutzlos, sinnlos. Ich halte den Blick gesenkt, weil ich die Gesichter nicht ertragen kann. Die vielen Gesichter machen mich krank. Sie zeigen das verhasste Gesicht der Stadt. Die Anzeige kündigt die Ankunft der nächsten Bahn an. In zwei Minuten. Zwei Minuten. Ich widme diese zwei Minuten der Stadt, die mein Leben zerstört hat. Ich habe schon so viel an sie verloren, da sind diese letzten Minuten nur die Spitze des Eisbergs. Ich schließe die Augen. Konzentriere mich auf den Hass, den ich für die Stadt empfinde. Und es ist eine Menge Hass. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mensch so viel Hass empfinden kann. Die Zeit rennt. Ich höre die Zeiger vorrücken. Ich bin völlig ruhig. Der Hass ist alltäglich, er macht mich nicht mehr wütend. Meine Gefühle hat die Stadt mir geraubt. Ohne sie lebt es sich hier einfacher. Geholfen hat es mir trotzdem nicht. Stimmen dringen an mein Ohr. Gepöbel irgendwo. Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der heute geht. Schon höre ich das Rattern, spüre einen Luftzug. Ich öffne die Augen und trete näher und näher und näher. Viel zu schnell ist die Zeit vergangen, aber ich denke, ich habe mich verabschiedet, wie es sich gehört. Und kann mit gutem Gewissen gehen. Ich trete so nah, dass ich nicht weitertreten kann und doch noch einen Schritt näher. Die Schreie hinter mir werden lauter. Aber dann verstummen sie einfach. Alles verstummt. Für immer. Auf Wiedersehen, Stadt, schade, dass ich nicht länger bleiben konnte. Ich kam her, unschuldig, neugierig, naiv. Ich gehe fort, befleckt, abgestumpft, zerrissen. Platzverweis ------------ 100-Themen-Challenge + Platzverweis (Titel) Platzverweis. Marius, du bist ein Arsch. Hast den Bogen überspannt, die Zeichen nicht gesehen. Die gelbe Karte ist bloß ein Stück Papier. Jaja, schon klar. Das hast du jetzt davon. Dass du dich auch immer in den Vordergrund spielen musst. Dass du denkst, du kannst mit dem Ball besser umgehen als elf Brasilianer auf einmal. Zweikämpfe hältst du für die Gelegenheit, dich den Talentscouts zu präsentieren. Würde mich nicht wundern, wenn du bald noch ein Schild auf der Brust trägst. "Ich bin der Beste im Team! Nehmen Sie mich!" Aber du denkst ja sowieso, nächste Woche bist du schon bei Barce. Die Arroganz verspeist du wohl auch morgens zum Frühstück. Du verdammter Trottel. Ich trete nervös von einem Bein auf das andere, während du mit zornesrotem Kopf und an manchen Stellen wütend Stücke aus dem Gras tretend vom Platz gehst. Und mich einfach im Stich lässt. Wie soll ich das denn ohne dich schaffen? Ich habe auf dich gezählt! Denn auch wenn du der größte Angeber bist, den ich kenne, hast du ganz schön was drauf. Du hast gestern Abend noch groß getönt, dass du uns heute in die Regionalliga schießt. Hast du ja klasse hingekriegt, Marius. Du hast dich höchstens vom Platz geschossen. Du hättest diesem Wenzelmann ja auch wirklich nicht ins Gesicht schlagen müssen, nur weil er dir den Ball an eine empfindliche Stelle geschossen hat. Wir sind doch nicht mehr auf dem Bolzplatz. Aber du musstest ja mal wieder beweisen, dass du dir sowas nicht gefallen lässt, weil du der Größte bist und blablabla, das kennen wir alle inzwischen. Und jetzt stehe ich allein im Sturm und hoffe, dass ganz plötzlich faustgroße Hagelkörner vom Himmel fallen. Das hier hätte unser Aufstieg werden können. Das können wir uns jetzt abschminken. Danke, Marius! Denn aus mir wird innerhalb der nächsten Minuten wohl kein gefürchteter Torjäger werden. Ich bin der Typ, der die Flanke mit dem Oberschenkel erwischt, dabei fast über seine eigenen Füße stolpert und den Ball dann irgendwie rüber zu dir manövriert, sodass du deine Show abziehen und das Ding reinhauen kannst. Ich habe genau zwei verzeichnete Saisontore auf dem Papier stehen. Das eine war pures Glück, weil ich mich aus einem Pulk von gegnerischen Defensiven befreien wollte und dabei plötzlich ein Ball an meinem Bein abgeprallt ist, das andere war ein unangenehmes Eigentor, das mir jetzt noch übel genommen wird. Miserable Aussichten also auf einen Sieg. Es steht zwei zu zwei, ich bin ein lausiger Stürmer und du bist auf dem Weg in die Kabine. Ich könnte in die Luft springen vor Freude. Der Schiedsrichter steckt die rote Karte sorgfältig zurück und pfeift unseren Untergang an. Ich tu wirklich mein Bestes und versuche, noch irgendetwas aus der Situation rauszuholen. Doch sobald ich irgendwie an den Ball gelangt bin, spiele ich bloß ins Leere, wenn ich dir zuspielen will. Es will einfach nicht in mein Hirn – Du wurdest zum wahrscheinlich ersten Mal in deinem Leben für dein Verhalten bestraft. Vielleicht hast du das mal gebraucht. Helfen tut es mir und der Mannschaft gerade trotzdem nicht. Wenzelmann grinst mich jedesmal, wenn ich mich ihm nähere, provozierend an, aber ich bin nicht so der Typ, der sich aufstacheln lässt. Das übernimmst eigentlich du. Ich unternehme ein paar klägliche Versuche, den Ball in Richtung Tor zu bewegen. Es ist hoffnungslos. Ich bin ein furchtbarer Spieler, noch nie ist mir das so klar geworden. Ich glaube, ich darf überhaupt nur auf dem Feld stehen, weil du auch da bist. Wir funktionieren nur in Kombination, hat der Trainer einmal gesagt. Er hat sowas von recht. Vier Minuten später renne ich einen meiner Teamkollegen um, strauchele und lege mich fast noch selbst lang. Das scheint endlich Grund genug für den Trainer zu sein, mich zu erlösen und Tim Tegel für mich einzuwechseln. „Mann, Hannes“, empfängt er mich und hat nur ein müdes Kopfschütteln übrig. War es wirklich so schlimm? Ohne mich zu verteidigen, wofür es eigentlich auch keinen Anlass gibt, steuere ich auf die Kabine zu. Ich hoffe für dich, du sitzt heulend in einer Ecke und bereust deine bescheuerte Aktion! Meinetwegen sollst du deine Show haben, aber wenn deshalb die Mannschaft für die nächsten zehn Jahre in Kuhdörfern wie diesem hier spielen muss, darf das nicht ohne Konsequenzen… Hä? Ich muss zweimal hingucken, als ich die Umkleide betrete. Denn eigentlich fläzen sich Spieler, die gerade einen Platzverweis bekommen haben, nicht gemütlich zwischen Taschen und Jacken und… Ich glaub’s ja nicht! Ist das da eine PSP in deiner Hand? Du zockst in aller Seelenruhe Mario Kart, während wir auf dem Feld eine bittere Niederlage erleben? Mann, du bist echt noch dreister als ich gedacht hätte. Ich räuspere mich auffällig laut, woraufhin du dich überrascht umdrehst. Als du mich siehst, breitet sich doch tatsächlich ein Lächeln auf deinem Gesicht aus. „Auch rausgeflogen?“ „Ich habe gespielt wie ein Affe mit Knieproblemen und bin fast über Lukas gestolpert.“ „Typisch“, lachst du. „Ohne mich geht halt gar nichts.“ Mein Ärger verpufft mehr und mehr, wenn du mich so triumphierend grinsend ansiehst. Wie machst du das bloß immer? „Ganz schön dumme Sache“, sagt er schulternzuckend. „Du hast ihm deine Faust ins Gesicht gerammt!“, gebe ich zu bedenken. „Aber er hat es verdient.“ Ich kann nichts dagegen tun, dass ich jetzt lachen muss. Du bist wirklich unverbesserlich. Du sitzt hier, nimmst selbst eine rote Karte völlig locker und bereust natürlich nichts. Du bist eben wie du bist und irgendwie bist du genau deshalb der beste Freund, den ich jemals hatte. „Auch mal?“, fragst du auf einmal und hältst mir die PSP hin. Ohne zu zögern nehme ich sie und setze mich neben dich. Noch acht Minuten sind da draußen zu spielen. Genug Zeit für die Mario Kart-Meisterschaft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)