(8)
23.8.1890
Bela war niemand, der von selbst aufwachte, wenn es am Vorabend spät geworden war.
So musste Farin ihn beim ersten Sonnenlicht wecken, mit einem kurzen Kuss auf die Nasenspitze und der zärtlichen, aber bestimmten Aufforderung, sich auf den Flur zu schleichen, sich umzuziehen und das Haus für den Tag vorzubereiten, bevor sich jemand wunderte, wo der Valet abgeblieben sein konnte.
So löste sich der Dieb widerwillig vom warmen Körper neben sich und fand sich prompt in der kalten Realität wieder.
Den Tag verbrachte er mit unzähligen kleinen und größeren Arbeiten, die ihm ausnahmsweise zusagten, da ihm zum Nachdenken wenig Zeit blieb. Er assistierte Farin beim Ankleiden und Rasieren, wie es sich für einen Valet geziemte, und beide waren froh um die unzähligen kleinen Berührungen, die kurzen gestohlenen Küsse, die die Morgentoilette mit sich brachte. Vor dem Frühstück trennten sie sich, mit dem geflüsterten Versprechen, sich Abends erneut in Farins Schlafzimmer zu treffen. Bela war sich allzu bewusst, dass er mit dem Feuer spielte, und doch konnte er es nicht lassen, strich ein letztes Mal über die frisch glattrasierten Wangen des Blonden, bevor sie beide, mit künstlich entspannten Gesichtern, auf den Flur traten und in verschiedene Richtungen davongingen.
Er frühstückte eilig in der Küche, brachte eine kurze Begegnung mit Katharina, die ihn anstrahlte und erklärte, sie hoffe, das wunderbare Wetter würde auch zum morgigen Tag halten, hinter sich und war gerade rechtzeitig an der Tür, um Farin Hut und Mantel zu reichen, ein geheimes Lächeln mit ihm zu tauschen und die ersten Bittsteller des Tages zu empfangen.
Am späten Vormittag kam Rod, wie versprochen persönlich, in der Hand eine Hutschachtel, hinter ihm zwei vielleicht zwölfjährige Burschen, die zwischen sich eine hölzerne, mit Eisen beschlagene Kiste trugen.
„Guten Tag,“ Rod schüttelte ihm förmlich die Hand, während er sorgfältig die Schachtel in seiner anderen Hand behielt. Mit seinen ordentlich gestutzten Koteletten, dem nicht teuren, aber gepflegten braunen Anzug und anständig gebürstetem Hut hätte ihn niemand für den Verbrecherkönig Hamburgs gehalten.
„Juan Santoro mein Name, ich komme im Namen von Meier und Söhnen, Kleidermacher.“
Er deutete auf die Hutschachtel und die Kiste.
Ich bringe Lord Farins Hut, sowie seinen Anzug für Lady Crowleys Hochzeit.“
Bela stellte amüsiert fest, dass der in Deutschland geborene Rodrigo erstmalig mit leicht spanischem Akzent sprach.
„In Ordnung,“ spielte er das Spiel mit, während die Schmetterlinge der Aufregung vor einem Diebstahl, die er so sehr liebte, in seinem Bauch Purzelbäume schlugen. „Kommen Sie bitte herein.“
Er führte Rod und seine jugendlichen Träger durch das Haus zum Ankleideraum. Er hatte beschlossen, dass dies der beste Ort war, die Utensilien für seinen Diebstahl zu lagern. Nur Farin, er selbst und Thea, das Hausmädchen, das für die privaten Räumlichkeiten des Lords zuständig war, hatten hier Zutritt. Thea war seit Ankunft der Crowleys so beschäftigt, dass er bezweifelte, dass sie hier am heutigen Tag noch einmal putzen würde, da sie am Vortag bereits alles in Ordnung gebracht hatte, und Farin selbst würde die Kiste und die Hutschachtel nicht bemerken, wenn Bela sie einfach jeweils zwischen die Deckenkisten und die anderen Kopfbedeckungen stellen würde; dafür war der Lord zu selten in diesem Raum und hatte zu viele Kleidungsstücke.
„Vielen Dank,“ sagte Rod und drückte den Trägern einige Münzen in die Hand. „Ihr seid tüchtige Burschen. Nun lasst uns bitte allein, ich muss die Rechnung mit Herrn Nestor begleichen.“
„Meier und Söhne?“ fragte Bela amüsiert, sobald sie allein waren.
„Ja,“ Rod zog leicht einen Mundwinkel nach oben. „Eine meiner Deckungsfirmen. Völlig legitime Kleidungsmacher. Und sehr effiziente Geldwäscher.“
„Du erstaunst mich immer wieder, Rodrigo. Gibt es irgendeinen Geschäftszweig, in dem du nicht deine Finger hast?“
Rod wollte antworten, doch Bela unterbrach ihn lachend.
„Lass nur, ich will gar keine Antwort darauf, glaube ich. Nun denn, zum Geschäftlichen. Hast du alles dabei?“ fragte er und deutete auf Kiste und Hutschachtel.“
„Natürlich. Vorsichtig mit der Schachtel. Die ist... explosiv, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Völlig. Danke alter Freund.“
„Danke nicht mir – deine Arbeit ist um ein Vielfaches gefährlicher.“
„Dafür bekomme ich ja auch meinen Anteil. 70 Prozent, wie abgemacht?“
„70 Prozent. Ich stehe zu meinem Wort, das weißt du doch.“
„Ein ehrlicher Verbrecher. Wer hätte das gedacht?“
„Lach du nur. Aber es stimmt nun einmal. Du hast die schwierigste Aufgabe, du bekommst den Löwenanteil. Ich bin nur... dein Makler, sozusagen.“
Bela lächelte. „Manchmal frage ich mich, wie du so weit gekommen bist. Du bist viel zu nett.“
Rods Gesichtsausdruck war unlesbar, wie so oft.
„Glaub mir, mit nett habe ich nichts zu tun. Die Leute wissen, dass mein Wort etwas wert ist, deswegen bekomme ich all die guten Aufträge. Obendrein arbeite ich gerne mit dir zusammen – es ist selten, dass ein Dieb ein so zuverlässiger Freund ist wie du.“
Bela hätte schwören können, dass Rods Augen ihn prüfend ansahen. Er musste sich das einbilden, beschloss er – es lag alles an seinem schlechten Gewissen. Er würde sich ganz einfach an den Plan halten, dann würde alles gut gehen. Er hatte schon weitaus schwierigere Aufgaben hinter sich gebracht – und der Gedanke an blonde Briten musste hinten an stehen, vorerst zumindest.
„Wir sollten gehen,“ sagte Bela schließlich. „Bevor sich Ames fragt, warum ich nicht an der Tür bin und Bittsteller abwimmele.“
„In Ordnung.“
Rod umarmte ihn kurz, Bela beantwortete die Geste. Es stimmte, Rod war nicht nur sein Arbeitgeber, er war ein guter Freund, der beste.
„Viel Erfolg,“ sagte der Chilene. „Wir sehen uns morgen. Wenn alles gut gegangen ist.“
„Natürlich wird alles gut gehen,“ sagte Bela. „Du kennst mich.“
- TBC -
---
Anmerkungen:
Zugegeben, ein sehr kurzes Kapitel, aber es wollte einfach nicht länger sein. Im nächsten geht es dann endlich um den Diebstahl selbst. Ob das mal gutgeht?
Zur Geschichtsstunde: diesmal gibt es nicht viel zu erklären. Höchstens, dass braune (oftmals Cord- oder Leinen-)Anzüge und Hüte tatsächlich modisch waren zu jener Zeit. Und Koteletten natürlich auch, je breiter, je besser. Wenn man schon keinen Bart hatte, dann die Dinger.
Farin trägt in dieser Geschichte nur keinen Bart, weil blonde Bärte absolut lächerlich sind - und Bela... sieht einfach doof aus mit Rotzbremse. *lach*