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Das Feuer Eos

...Hamburg, 1890...
von

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Soo... ich bin ein paar Tage unterwegs, aber vorher gibt's noch Kapitel 5.

Wie gewünscht, sind die Übersetzungen zu den englischen Ausdrücken und Wörtern, die Farin in seine Sprache einbaut, unten aufgelistet (bis auf ein paar, die, denke ich, bekannt sind oder sich selbst erklären).

Anmerkungen und Geschichtsstunde finden sich gaaanz unten. ;)
 

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"Das Feuer Eos" - Kapitel 5
 

13. August 1890
 

Bela saß auf dem Bett in seinem engen Bedienstetenzimmer und versuchte im flackernden Kerzenschein, ein Buch zu lesen, das Lord Farin ihm geliehen hatte. Eigentlich war es sehr spannend, handelte von einem Piratenschatz und vielen Flaschen voller Rum, von Männern mit Holzbeinen, Papageien, Freibeutern, Meuterei und einer Insel voller Gefahren und Abenteuer. An und für sich sollte das Piratenleben ganz und gar nach seinem Geschmack sein, dachte er, aber augenblicklich drifteten seine Gedanken wieder zurück zu Lord Farin.
 

„Lass mich überlegen... ja, ich glaube, ich habe etwas, das könnte dir gefallen,“ hatte jener gesagt, als Bela ihn, fasziniert von der unstillbaren Leselust des blonden Briten, eines Abends darum gebeten hatte, ihm ein Buch zu leihen. „Mein Vater würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich einen solchen Schund lese, statt mich in die Wissenschaft zu vertiefen. Aber ehrlich gesagt... I’ve always wanted to be a little more like Long John Silver and a little less like my father. Wenn du verstehst, was ich meine.“

Bela hatte verständnislos dreingeschaut, woraufhin Jon in lachen ausgebrochen war und ihm ‚Treasure Island’ in die Hand gedrückt hatte. „Keine Sorge, lies das Buch und dann wirst du verstehen, was ich meine. Long John Silver ist der most selfish bugger den man sich vorstellen kann, aber dennoch der heimliche Held der Geschichte. Ein murderer und Pirat.“

Dann hatte er geseufzt. „Wünschst du dir auch manchmal, ein so freies Leben zu führen, wie ein buccaneer? Niemand, der dir etwas aufzwingen kann, was du nicht willst - und wochenlang nur der Wind, die Sonne und die waves, die Wellen um dich herum... Man wäre ein Dieb, ja, aber man wäre auch frei. Finally free...“

Bela war erschrocken. Der Lord konnte nicht ahnen, wie nahe er der Wahrheit über ihn selbst, seinen Valet gekommen war – und doch, wie würde er wohl reagieren, wenn er je davon erführe?
 

Stattdessen hatten sie gemeinsam über diese – vermeintlich – dumme Vorstellung gelacht und Bela das Buch mit auf sein Zimmer genommen. Das Lesen ging mühsam; die fremde Sprache und die vielen Buchstaben machten ihm zu schaffen. Dennoch hatte er mit Erstaunen festgestellt, dass Lord Farin ihn richtig eingeschätzt hatte. Das Buch gefiel ihm tatsächlich. Er hatte schon viele Stunden damit verbracht, darin zu lesen und war gespannt, wie die Geschichte um Jim und Long John Silver enden würde. Der Grund, dass er sich an diesem Abend nicht darauf konzentrieren konnte, war ein anderer.
 

Am Nachmittag hatte er sich mit Rodrigo in einer Schenke getroffen. Der Chilene war guter Dinge gewesen; er hatte nicht gemurrt, als Bela den teuren französischen Wein bestellt hatte, und ihm zur Begrüßung feierlich zwei Schlüssel überreicht, für die neuen Türen der Herrenschlafzimmer im frisch renovierten Ostflügel des Botschafter-Hauses.

„Nur für den neuen Safe, den Lord Farin installiert hat, habe ich keinen Schlüssel,“ hatte González bemerkt.

Bela hatte geseufzt. „Das dachte ich mir. Er hat ihn extra bei John Tann in London bestellt, hat er mir erzählt. Ich habe selbst die Bestellung zur Post gebracht. Es gibt nur zwei Schlüssel, einen behält er selbst, einen bekommt das Grafenpaar.“

„Ich bin mir sicher, du findest eine Lösung. Du weißt, wenn du für kurze Zeit an einen Schlüssel herankommst, kann ich in einer Stunde eine Kopie für dich machen lassen.“

„Das sagst du so leicht...“ hatte Bela in seinen nichtexistenten Bart gemurmelt und einen Schluck Wein getrunken.

„Nun... Du musst eben sein Vertrauen gewinnen.“ Rodrigos Blick war undeutbar gewesen, selbst für Bela, der ihn sehr gut zu kennen meinte.

„Das habe ich schon,“ hatte er zögernd geantwortet – und in Gedanken hinzugefügt: ‚und ich will es nicht missbrauchen. Nicht noch mehr als ich es schon tue.’

„Wir sollten einen anderen Weg finden,“ hatte er stattdessen gesagt. „Der Verdacht könnte zu leicht auf mich als Angestellten und Vertrauten fallen. Und wenn sie bei mir anlangen, ist der Rückschluss auf dich, vermeintlich unbescholtenen Bürger, nicht mehr weit. Es muss mehr wie ein Einbruch von außen wirken.“

„Vermutlich hast du Recht.“ Rodrigo hatte ihm ernst die Hand gedrückt und war aufgestanden.

„Ich habe vollstes Vertrauen in dich, alter Freund. Du findest schon eine Lösung. Auf Wiedersehen, die Geschäfte rufen. Halte mich auf dem Laufenden.“

Bela hatte es versprochen und war mit einem Kopf voller Sorgen in Lord Farins Haus zurückgekehrt.
 

Es war nicht so, dass er sich nicht zutraute, den extra importierten Safe zu knacken. Mit einigen guten Dietrichen und Engelsgeduld würde er das Schloss öffnen können, keine Frage – aber dafür brauchte er mindestens eine Stunde, wenn nicht mehr. So viel Zeit hatte er einfach nicht; nicht, wenn er sich selbst nicht verdächtig machen wollte.

Nein, er würde ihn sprengen müssen. Nur stellte ihn das vor völlig neue Probleme – der Lärm würde sicherlich...
 

Bevor er seinen Gedanken zu Ende bringen konnte, klopfte es an der Tür.

Erstaunt stand er auf, um sie zu öffnen. Er hatte keine Ahnung, wer es sein konnte – die meisten Bediensteten hatten einige freie Tage und Lord Farin selbst war vor einer Woche nach London abgereist, um einige geschäftliche Dinge zu erledigen und wurde erst in zwei Tagen zurück erwartet.

Doch genau jener junge Lord stand vor ihm, in Mantel und Stiefeln, die Haare, trotz Hut, vom Wind zerzaust, die schwere Reisetasche noch in der Hand, die Augen verzweifelt.

„Dirk,“ murmelte er, stellte die Tasche ab und blieb etwas ungelenk mit baumelnden Armen vor ihm stehen.

„Farin... Jon. Was...? Egal. Komm rein. Setz dich erst einmal.“

Er fasste den zitternden Botschafter am Arm und geleitete ihn, mangels weiterer Sitzmöglichkeiten, an sein Bett, auf das er ihn sanft hinunterdrückte und ihm Hut und Mantel abstreifte. Die Zweideutigkeit der Situation schoss durch seinen Kopf und in seine Lenden; der Blonde hatte ihm gefehlt und, anders als er sich erhofft hatte, waren seine – ungünstigen und verbotenen – Gefühle nicht weniger geworden.

Sofort schalt er sich einen Idioten und kniete sich besorgt vor Lord Farin, der keinen weiteren Ton gesagt hatte und zusammengesunken auf dem Rand seines Bettes kauerte.
 

Plötzlich griff er nach Belas Hand, krallte sich geradezu in ihr fest und sah Bela aus müden Augen an. „The scheming bastard,“ brachte er hervor. „Mein Vater... er hat mir in London aufgelauert.“

Bela wusste, dass das Verhältnis zwischen dem Baron von Inglewood und seinem Sohn zutiefst zerrüttet war. Dass Jonathan sich davon die gute Laune verderben ließ, geschweige denn so mitgenommen aussah, war jedoch noch nie vorgekommen.

„Beruhige dich erst einmal ein bisschen... du siehst furchtbar aus.“ Er drückte Farins Hand. „Willst du einen Tee? Etwas zu essen vielleicht...?“ fragte er schließlich, hilflos.

Der Blonde schüttelte seinen Kopf. „Nein. Ich muss mit jemandem darüber sprechen.“
 

„In Ordnung,“ Bela hockte sich vor Farin, legte seine Hände auf seine Knie, allen Abstand zwischen Lord und Valet, zwischen Meisterdieb und Mittel zum Zweck vergessen, und blickte ihn ernst an. „Ich bin hier. Erzähl mir davon. Was ist passiert?“
 

Farin atmete tief ein und wieder aus, um sich ein bisschen zu fangen, dann lächelte er schwach.

„Danke... wo anzufangen? Ich war in London, wie du weißt. Ich hatte ein appointment zum Dinner mit Foreign Secretary Iddesleigh und einigen anderen members of parliament, zur Besprechung von... nun, das ist egal.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Wenn ich dir das erzählte, würde ich wegen treason to the crown eingesperrt. Dabei hast du mehr Verstand als diese pigheads zusammengenommen.“ Er haute mit der Faust auf Belas Bett, plötzlich wütend. „Ich,... - hast du etwas von deinem Brandy da...?“

Bela sah seinen zeitweiligen Arbeitgeber erstaunt an – er hatte ihn fast nie Alkohol zu sich nehmen sehen, nicht einmal Wein, und zu mehreren Gelegenheiten hatte er betont, wie sehr ihm der Geschmack und der Effekt zuwider seien.

„Ja, natürlich,“ antwortete er, öffnete seine kleine Kommode und goss etwas von der goldenen Flüssigkeit in einen Schwenker.

„Drink with me... wenn ich schon against alle meine Prinzipien gehe, dann mit einem guten Freund. Bitte.“

Bela tat wie ihm geheißen, sie stießen an und während er bedächtig an seinem Glas nippte, sah er zu, wie Farin den Inhalt seines Schwenkers hinunterstürzte und dabei das Gesicht verzog.
 

„Danke,“ sagte er und schien sich wieder ein wenig gefasst zu haben.

„Das Dinner,“ erinnerte ihn Bela vorsichtig. „Was ist passiert, das dich so durcheinander gebracht hat?“

Farin sah auf, seine grünbraunen Augen blitzend im spärlichen Licht der Kerze. „Ich bin nicht durcheinander. Ich bin wütend und bestürzt. Melancholy, ein bisschen traurig, auch. Aber du hast Recht, ich benehme mich wie ein Idiot und sollte wohl endlich erzählen, was passiert ist. Bei diesem Dinner also sollte es um wichtige affairs of state gehen. Ich darf dir nicht erzählen, worum genau, aber es berührte auch Deutschland, einen möglichen Krieg gegen euren lächerlichen Kaiser und military Taktiken. Soviel wusste ich vorher und hatte mich darauf vorbereiten können, knallhart gegen einen Krieg zu argumentieren.“

Er gestikulierte traurig lächelnd um sich. „Dieses Haus, meine Freiheit, du... und all die Anderen. Hamburg. Ich will das nicht verlieren. None of it. Und... ich will schon gar nicht, dass es in einem Krieg untergeht.“
 

Bela erschrak. Er befasste sich nicht groß mit Politik, hatte er auch noch nie. Er wusste, dass der junge Kaiser Wilhelm II und Bismarck sich überworfen hatten und General von Caprivi, ein politisch unerfahrener preußischer Veteran, der neue Reichskanzler war.

Viel mehr wusste er nicht, obwohl die verschiedenen politischen Strömungen im täglichen Hamburger Leben förmlich spürbar waren. Die Konservativen und die Liberalen, in ihrem ewigen Hin und Her zwischen Tradition und Handelsdenken, zwischen Heldenverehrung und Marktöffnung, langweilten und befremdeten ihn. Der Nationalismus, geprägt von einem allgemeinen Überlegenheitsdenken – und einer Angst vor allem, was vom Bekannten abwich, war ihm fremd; höchstens eine gewisse Affinität zu Hamburg, seiner Stadt, und ein gesundes Misstrauen gegenüber Preußen würde er sich bescheinigen. Auch die ewig demonstrierenden Sozialdemokraten und Sozialisten waren ihm herzlich egal. Er wusste, dass die Arbeit in Industrie, Bergwerken und Häfen alles andere als angenehm war, aber deshalb hatte er das Diebesgewerbe gewählt, statt sich in, wie er fand, ineffektive Massen-Protestbewegungen zu stürzen.

Außenpolitik schließlich hatte ihn schon immer gelangweilt und die Möglichkeit eines Krieges hatte er, nach langen Jahren ausgleichender Politik Bismarcks, nie ernsthaft in Erwägung gezogen.

Farin hatte Recht – ihrer beider Freiheit stand auf dem Spiel, genau wie die vieler anderer – dabei hatte er sie immer als selbstverständlich hingenommen. Die Worte, die er in seiner Familie bis zum erbrechen gehört hatte, kamen ihm in den Sinn: für einen jungen Deutschen sollte es selbstverständlich – schon wieder dieses Wort - sein, sein Leben mit Freuden für das endlich vereinte deutsche Vaterland zu geben. Ruhm und Ehre waren alles gewesen in seiner Familie von preußischen Soldaten und Unteroffizieren. Ihm selbst jedoch war der bloße Gedanke an Krieg bereits ein Greuel; der Dreck und die Schmerzen, das sinnlose Blutvergießen der Schlachtfelder waren ihm fremd.

Geld und Vergnügen, das waren seine Antriebsmechanismen – nicht umsonst hatte er schon vor langen Jahren jegliche Verbindungen zu seiner Familie durchtrennt, war ein Dieb geworden, der so gut war, dass er nie erwischt wurde, um nicht vor die Wahl des Tötens oder getötet Werdens gestellt zu werden.

Er fing Farins Blick, der Blonde schwieg und sah ihn an, die ebenmäßigen Gesichtszüge bereits etwas entspannter als zuvor.
 

„Ich verstehe... das... danke,“ stotterte Bela, während ihm zum ersten Mal bewusst wurde, wie viel Macht Lord Farin, durch seine geerbten Kontakte im Vereinigten Königreich besaß – aber auch, wie unmöglich es für ihn war, den Weg zu wählen, den Bela gegangen war, selbst wenn er es gewollt hätte. Auf einmal verstand er die Sehnsucht des jungen Lords, auch einmal wie Long John Silver zu sein; frei von allen Verpflichtungen über die sieben Weltmeere zu segeln.
 

„Danke mir nicht zu früh, du hast ja noch nicht gehört, was eigentlich passiert ist.“

Farin richtete seinen Blick am nach wie vor vor ihm knienden Bela vorbei, auf die Wand.

„Wir hatten also dieses Dinner. Während wir aßen gab es nur den üblichen Dinner-Smalltalk unter britischen Lords, es gilt als ungesund, beim Essen über matters of state zu sprechen. Lords sind die größten hypocrites der Welt.“

Er krauste verächtlich die Nase.

„Anyway, wie dem auch sei, als wir uns zum geschäftlichen Teil des Abends in den smoking room begaben und die Herren ihre disgusting pipes anzündeten, stand auf einmal mein Vater in der Tür. Wie immer lachte er polternd, war übermäßig freundlich zu allen und tat, als wäre er stolz auf mich beyond belief. Unter den anwesenden Herren gab er damit an, welch exzellente Bildung ich genossen habe, wie gut mein Deutsch sei, wie vertrauenswürdig und amiable ich auch andere wirken könnte, ‚if his mind’s set to it’ hat er gesagt.“

Farin schnaubte, plötzlich wütend.

„Er wollte mich an den Hof des Kaisers schicken lassen. Ich soll für die vermehrte glory of the United Kingdom and the crown spionieren.“

Farins Hände suchten Belas, er nahm sie und drückte verzweifelt zu, zum zweiten Mal an diesem Abend.

„Später nahm er mich beiseite, sagte mir, das negligent Lotterleben in Hamburg müsste endlich ein Ende finden. Der Secretary of State habe ihm die Mission als Spion angeboten, aber er wolle mir diese Chance bieten, to prove him wrong.“

Er biss sich auf die Lippen, seine Hände zitterten in Belas.

„He tried to set me up, the baboon. Ich sei eine einzige Enttäuschung, immer gewesen, und habe nun die Chance to set die Dinge right. Er hatte keine Lust, selbst seine Hände schmutzig zu machen, also versuchte er to provoke me into going.“
 

Bela drückte seine Hände, versuchte ihn zu beruhigen.

„Was hast du gemacht?“ fragte er schließlich.

„Ich habe ihm gesagt, er könne hingehen, wo der Pfeffer wächst. Die hohen Herren habe ich damit besänftigt, dass ich sagte, ich fühle mich sehr geehrt, aber fühle mich zu jung for such a task.“

Er entzog Bela seine Hände und barg sein Gesicht darin.

„Ich weiß nicht, Dirk, vielleicht hat mein Vater recht. Maybe I am a failure. Not even serving my country when it needs me.“
 

Bela schluckte und nahm zärtlich wieder Farins Hände, wollte nicht, dass er schamerfüllt sein Gesicht verbarg, wenn er so stolz auf sich sein konnte.

Der Dieb fühlte sich schmerzhaft an sich selbst erinnert – nur dass er eine Wahl getroffen hatte, die einem jungen Lord wohl für immer verschlossen bleiben würde. Als Mitglied einer alten Adelsfamilie konnte man nicht einfach verschwinden, und erwarten, nie gefunden zu werden...
 

„You are not a failure,“ flüsterte er, über die fremden Worte stolpernd, aber dennoch froh, sie ausgesprochen zu haben. „Du bist ein großartiger Mensch, der viel mehr wert ist, als gleich welche Krone. Vaterland, was ist das schon? Eine Hand voll Staub. Was wichtig ist...“

Er richtete sich auf, ließ Farins Hände los und legte seine eigenen auf die Schultern des Botschafters – einerseits dem Bedürfnis nach Nähe folgend, das in seinem Herzen aufflammte, andererseits von Angst davor erfüllt, was passieren würde, wenn er zu weit ginge, die Zeichen falsch gedeutet hätte.

„Was wichtig ist, bist du. Nicht dein Vater, nicht dein Land, schon gar nicht irgendein Altherrenverein, der meint, dir Vorschriften machen zu können. Du bestimmst über dein Leben. Niemand sonst.“
 

Ihre Gesichter waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt, er spürte Jons warmen Atem an seinen Lippen und wollte nichts mehr, als ihn zu küssen. Aber das durfte er nicht, konnte er nicht – zu viel stand zwischen ihnen, und Farin hatte genug Sorgen, ohne dass er sich ihm...
 

Bevor er den Gedanken zuende bringen konnte, beugte Farin sich vor, legte seine Hände an Belas Wangen und ihre Stirnen aneinander. Ihre Nasen berührten sich und Belas Herz setzte ein paar Schläge aus, als er die warmen Augen so nah vor sich sah.

„Dirk,“ flüsterte der blonde Lord. „Sometimes I think I’d go mad without you. Danke. Danke, dass du da bist. Danke, dass wenigstens du ehrlich zu mir bist.“
 

Belas Magen zog sich zusammen. In diesem Moment wollte er die Lüge nicht weiterleben, wollte, dass Farin Recht hatte, wollte sein Valet sein und nichts anderes, wollte alles gestehen, und dann... dann küssten sie sich - und sein Denken setzte aus.
 

Im Nachhinein war es ihm unmöglich zu sagen, wer den Kuss angefangen hatte. Farins Lippen waren unsicher und schmal auf den seinen, aber sie passten perfekt, und als ihre Zungen sich trafen, jagte ein Stich durch seine Brust und die verzweifelte Zärtlichkeit, die er fühlte, erschreckte ihn zutiefst.

Er ließ sich von der Welle mitführen, willenlos, strich mit seinen Händen über die hohen Jochbeine, durch die vom Wind zerzausten Haare, legte sie schließlich in Farins Nacken.

Seine Hände lagen auf Belas Wangen, warm und rau, fast schon Halt suchend.
 

Der Kuss schien unendlich anzudauern, doch als Farin ihn schließlich brach, wünschte Bela sofort, er hätte tatsächlich nie geendet.

„Ich...“ Jons Augen glänzten verdächtig. „Das können wir nicht tun,“ brachte er schließlich hervor. „Dirk, ich vertraue dir mit meinem Leben und... was ich dir erzählt habe ist... more than my life’s worth. Aber...“

Er strich Bela durch die Haare, unendlich traurig, unendlich zärtlich, und jagte dem Dieb mit jedem Wort einen Stich durch die Brust.

„Aber das dürfen wir nicht. Nicht du und ich. Es tut mir Leid...“
 

Mit einem Ruck stand er auf, machte zwei große Schritte zur Tür und schloss sie hinter sich, bevor Bela eine Antwort überlegen konnte.

Nur sein Hut und sein Mantel auf Belas Bett erinnerten daran, dass er wirklich da gewesen, es wirklich passiert war – sonst hätte Bela vermutlich gedacht, er sei über seinem Buch eingeschlafen und hätte einen wilden Traum gehabt, wie sie ihn in letzter Zeit allzu oft des Nachts heimsuchten.
 

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Übersetzungen
 

„I’ve always wanted to be a little more like Long John Silver and a little less like my father.“ – „Ich wollte schon immer ein bisschen mehr wie Long John Silver und ein bisschen weniger wie mein Vater sein.“

„selfish bugger“ – „Egoistischer Mistkerl“

"Buccaneer" – Bukanier, Freibeuter

„scheming bastard“ – „Pläneschmiedender Bastard“

„treason to the crown“ – Verrat an der Krone

„matters of state“ / „affairs of state“ – Staatsgeschäfte

"hypocrites" - Heuchler

"disgusting pipes" – Widerliche Pfeifen

"beyond belief" - unglaublich

"amiable" – freundlich, nett

„if his mind’s set to it“ – wenn ihm der Wille danach steht / wenn er sich ein bisschen anstrengt

„glory of the United Kingdom and the crown“ – Ruhm des Vereinigten Königreichs und der Krone

„negligent“ – nachlässig, liederlich

„to prove him wrong“ – um ihm zu beweisen, dass er Unrecht hat.

„He tried to set me up, the baboon“ – „Der Idiot hat versucht, mich hereinzulegen“

„...to provoke me into going“ – „...mich dazu zu provozieren, zu gehen“

"for such a task" – "für eine solche Aufgabe"

"Maybe I am a failure. Not even serving my country when it needs me." – "Vielleicht bin ich ein Versager. Schließlich diene ich nicht einmal meinem Land, wenn es mich braucht."

„more than my life’s worth“ – mehr als mein Leben wert ist
 

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Anmerkungen
 

ich bin grade zu müde, alles zu schreiben, was ich hierzu eigentlich sagen wollte.

Die komprimierte Geschichtsstunde: nein, es kam historisch (zumindest um 1890) nicht zu einem Krieg zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich; es kam unter Caprivi und Wilhelm II sogar zunächst zu einer Annäherung der beiden Mächte. Das ändert nichts daran, dass die Zeiten ungewiss waren und jederzeit das eine oder andere politische Pulverfass explodieren konnte - eine Tatsache, der die verschiedenen Regierungen in der Tat mit exzessiver Spionage und Gegenspionage beizukommen suchten.

Belas politische Meinungen in diesem Kapitel sind nicht die meinen - aber seine Beobachtung seiner Zeitgenossen ist relativ akkurat (hoffe ich): um 1890 gab es diverse, alltäglich beobachtbare politische Strömungen, die in ihrer starken Ideologisierung um so gefährlicher - und radikaler - wurden. Die Ansätze zu bedingungsloser Helden- und Kaiserverehrung und Nationalismus waren genauso zu beobachten, wie der Beginn des Kapitalismus, der wiederum sozialdemokratische und sozialistische Gegenentwürfe insbesondere in der Arbeiterklasse fand. Auch Antisemitismus war weitverbreitet, desweiteren eine generelle Xenophobie, verknüpft mit Patriotismus und einer Vaterlandsliebe, die uns heute zutiefst fremd erscheint.

Für ein besseres Verständnis dieser Zeit sei den Lesefritzen unter euch jederzeit Heinrich Mann als Zeitgenosse und großartiger Autor ans Herz gelegt - insbesondere "Der Untertan" und "Professor Unrat" sind ganz und gar grandios.
 

Ähm. Ja. Was wollte ich noch sagen?

- Achja richtig. Farins Akzent, der mehr wird, statt weniger. Das ist kein Fehler meinerseits, sondern liegt a) daran, dass er grade aus London wiederkommt, b) die Konversationen, die er dort geführt hat und von denen er berichtet, tatsächlich auf englisch waren, c) er sehr aufgeregt ist und er d) ganz genau weiß, dass Bela ihn gut versteht. Ihr seht: Realismus pur ;)

- Das Buch, das Bela liest, ist natürlich nichts anderes als Treasure Island von Robert Louis Stevenson, das tatsächlich wunderbar spannend ist (und als kostenloses E-Book bei Projekt Gutenberg unter http://www.gutenberg.org/etext/120 herunterladbar). Eigentlich wollte ich ihm Kipling in die Hand drücken, aber der hatte damals das Jungle Book noch gar nicht geschrieben. Upps. ;)
 

So. Benehmt euch, während ich unterwegs bin - und ihr wisst ja, ich bin eine Kommentar-Hure (hm. commentwhore klingt irgendwie besser XD ).



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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  Kokuren2
2008-09-17T16:46:21+00:00 17.09.2008 18:46
herrlich.....aber auch herzzerreißend. </3
TT.TT
Von: abgemeldet
2008-08-19T13:05:20+00:00 19.08.2008 15:05
So, jetzt hab ich endlich mal wieder Zeit zu lesen...und natürlich auch ein Kommi zu hinterlassen.

Aber was soll ich noch groß sagen? ^^
Dein Schreibstil ist wie immer beeindruckend und auch die Geschichte wird immer besser, je wieter sie sich entwickelt.
Auch die Hintergrundinfos und die eingebaute englische Spreche sind interressant und zeigen wie gut du deine Geschichte recherchierst.
Dafür nochmal ein extra Lob.

Schreib schnell weiter, ja?

liebe Grüße
black-wulf
Von: abgemeldet
2008-08-14T19:47:46+00:00 14.08.2008 21:47
Also..eigentlich lese ich sehr ungern unfertige Geschichten, weil ich nie warten will...
aber Ich ab mir mal die Beschreibung durchgelesen und mir gedacht weil wir die Zeit grad in Geschi haben, les ichs mal...und ich bin begeistert!
Die Art wie du schreibst ist grandios, vor allem immer wieder farins englisch zwischendurch...
und der Konflikt in Bela ist auch ...perfekt..das wär noch was für Hollywood wirklich=D

ich find auch total Klasse das du a) die englischen sachen erklärst und b) auch begründest wieso du was schreibst
und den geschichtlichen Hintergrund immer..
da liest man sone Geschichte und lernt dabei für zwei Schulfächer xD

Mach Bitte weiter...ich freu mich schon tierisch auf das nächste Kapi =D

Lg un viel insiration
Mimiken
Von:  YouKnowNothing
2008-08-14T17:43:29+00:00 14.08.2008 19:43
*reingehuscht kommt*
soo, auch ich bin da ^^'
hehe, ich hab's mal wieder verschlungen und geliebt! dein stil ist jedes mal besser... deine ausführungen unten zu Farins Akzent fand ich voll verständlich, ich hab nichts gegen. und danke für die übersetzungen - den groben sinn schnall ich ja noch so, aber nicht alles... *lacht*

und der kuss... *____* danke, endlich!! herrlich...

LG Sharingan-Moerder
Von: abgemeldet
2008-08-14T09:15:18+00:00 14.08.2008 11:15
Wooow O.O
Also... genial, kann ich nur sagen!!
Echt spannend...und obwohl ich den Kuss eigentlich erwartet habe, hat es mich voll überrascht, irgendwie =)

Ich bin total gespannt, wie es weitergeht...ist ja alles sehr verzwickt, jetzt.

LG♥
Johanna

...e piove
Von:  weniger_suess
2008-08-11T14:42:41+00:00 11.08.2008 16:42
Juhu, noch so ein tolles Kapitel. Find das total lustig dass du nochmal genau das selbe mir erzählst wie mein Geschichstlehrer nur dass ich um einiges mehr interessiert bin. Seltsamerweise. ^^ :)
Und sie haben sich geküsst. Hach da warte ich schon seit Farins erstem auftritt drauf. Jetzt bin ich glücklich.

lg
weniger süß
Von: abgemeldet
2008-08-11T08:26:03+00:00 11.08.2008 10:26
*___*
toooooooll! wieder mal ein grandioses kapitel!
und ich hoffe das wird noch zwischen bela und farin! ;)

LG
Clara


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