FFVII: Blue Wanderer - In the lines von Ich_eben ================================================================================ Kapitel 22: Ungebetener Besuch ------------------------------ Die nächsten Tage verbrachte Cutter arbeitstechnisch ausschließlich im Büro des Generals, und obwohl die Arbeit schwierig und zeitaufwendig war - der Teenager fühlte sich nicht unter Druck gesetzt. Vielmehr half ihr die konzentrierte Ruhe, mit der Sephiroth all dem endlos scheinenden Papierkram begegnete, selbst Schritt für Schritt vorwärts zu kommen und Erfolge zu verbuchen. Über diese freute sich Cutter, war jedoch weit entfernt, sich etwas darauf einzubilden. Sie wusste, der eigentliche Grund für ihre momentane Arbeitsweise war der Fund ihres mentalen Fokus in Sephiroth, und betrachtete die ganze Situation als ein Geschenk. Manchmal fragte sie sich, ob auch er eine Art `Bonus´ erhalten hatte, traute sich aber nicht, das Thema anzusprechen. Sie wusste es nicht, aber Sephiroth ging es ähnlich. Manchmal, wenn er das Mädchen tief in den 2nd Lines (und somit von der Außenwelt völlig abgeschnitten) wusste, ertappte er sich bei nachdenklichen, ihr geltenden Blicken. Er hatte die Welt der Lines niemals gesehen. Sein Wissen besaß er aus Büchern – und den Erzählungen Cutters, welchen er stets aufmerksam lauschte um sein Bild der Lines um wichtige Details zu ergänzen. Der Teenager entdeckte fast täglich Neues in den 2nd Lines und machte ihm gegenüber niemals ein Geheimnis daraus. Langfristig mit einer Person konfrontiert zu sein, die überhaupt kein Interesse an Geheimnissen in der eigenen Welt zu haben schien... Eine Weile war es für den General unbegreiflich gewesen. Sein Leben bestand stellenweise ausschließlich aus Rätseln und Wahrheiten, die sich nicht auf den ersten Blick erschlossen, hauptsächlich für andere – manchmal jedoch ausschließlich für ihn selbst. Cutters Art, ihn in die Welt der Lines mit einzubeziehen... Anfänglich hatte er es für Schusseligkeit gehalten. Dann war ihm bewusst geworden, dass der Teenager sich absichtlich so verhielt. Es erinnerte an Wasser, so klar, dass man die Steine auf dem Grund zählen konnte. Und so war Sephiroth immer auf dem Laufenden. Eine der verblüffendsten Feststellungen war, dass Cutter mit Hilfe der 2nd Lines nicht nur den Status der gesuchten Person ausfindig machen konnte, sondern auch deren momentanen Gefühlzustand. Der Teenager war schockiert! Aber so gerne sie sich von den Gefühlen anderer ferngehalten hätte - Sephiroth erkannte die unermesslichen Möglichkeiten sofort und bestand darauf, dass sie auch diesen Teil übte. Cutter gehorchte, widerwillig, aber nicht respektlos, bis sie ein Level erreicht hatte, das der General gelten ließ. Die Rückkehr zur `normalen´ Arbeit brachte jedoch auch neue, Teenager-interne Probleme mit sich. Je routinierter Cutter wurde, je schwerer fiel es ihr, sich in Gegenwart Sephiroths zu konzentrieren, denn im Grunde war es jede einzelne seiner Bewegungen wert, sich ablenken zu lassen. Am liebsten hätte sie ihre Zeit ausschließlich damit verbracht, ihn zu beobachten. Leider war das nicht möglich, und so riss sie sich zusammen und beschränkte sich auf verstohlene Blicke in seine Richtung, sich ihres Wunsches, mit ihm flirten zu wollen, nicht bewusst, und fest davon überzeugt, er würde sie nicht wahrnehmen, denn er reagierte nie. Aber Sephiroth bemerkte sie alle. Und ignorierte sie wie alles von ihm für absolut unwichtig erachtete. Stattdessen entwickelte er ein untrügliches Gespür dafür, ob Cutter intensiv arbeitete oder aber träumte. Da diese Pausen jedoch für gewöhnlich nie lang dauerten und der Teenager hinterher mit doppelter Intensität arbeitete, ließ er sie gewähren. Wie auch hätte er wissen können, dass jeder dieser Tagträume ihm galt? Oder dass Cutter winzige, ihn betreffende Augenblicke, die für sie etwas Besonderes darstellten, in ihrem Herzen sammelte und hütete wie einen wertvollen Schatz, und dass ihr jeder dieser Momente das Gefühl gab, sich ihm ein klein wenig mehr zu nähern und besser kennen zu lernen? Von all dem ahnte Sephiroth nichts. Und Cutter war zu verliebt und unerfahren, um diesem Detail die entsprechende Bedeutung zukommen zu lassen. Eben verlor sie sich vollkommen in einem dieser seltsam schönen Tagträume, in dem die SOLDIER Legende die Hauptrolle spielte, und... „Pause beendet, Cutter!“ Der Teenager zuckte zusammen. „Äh... Ja, Sir“, antwortete sie dann ertappt. Aber dieser eine Sonnenstrahl fällt durchs Fenster genau auf deine Haare, und die glitzern bei jeder Bewegung... wie soll ich mich da konzentrieren können?? „Entschuldigung.“ Gleichzeitig hob sie die aktuelle M.I.A. Akte an wie ein Schutzschild, um der Schärfe in Sephiroths Blick (man hätte mühelos Diamanten damit schneiden können) zu entgehen. General Crescent betrachtete den kreativen aber völlig sinnlosen Fluchtversuch wortlos. So unproblematisch sich die Gegenwart des Teenagers auch gestaltete – heute war ihr Konzentrationspegel absolut inakzeptabel. Sephiroth hielt es für angebracht, diesen ein wenig anzuheben. Lautlos griff er nach dem neben sich platzierten Katana. Ohne die Schutzhülle hätte Masamune die Akte ohne die geringste Kraftanstrengung in zwei Hälften teilen können. So jedoch drückte es die Dokumentenansammlung lediglich weit genug nach unten, um Cutters Augen frei zu legen. Sephiroth sandte einen einzigen, alles durchschauenden Blick zu ihr hinüber, ohne zu blinzeln. Einen klaren Befehl. Reiß dich zusammen! Cutter konnte nur stumm nicken, während ihr Herz begann, schneller zu schlagen – aber nicht aus Angst. Sephiroths Augen waren zwei grünfunkelnde, perfekt gearbeitete Edelsteine unter langen, silbernen Wimpern. Tore in eine andere Welt. Und wunderschön. Ich wünschte, ich könnte dir einfach sagen, was ich für dich fühle... Aber dann schob sich das Katana unter die Akte, drückte sie wieder nach oben (die Bewegung glich dem Ausrufezeichen hinter einem sehr ernst zu nehmenden Satz), und beendete den Moment. Für den Rest des Tages gelang es Cutter, vernünftig zu arbeiten, und um die verlorene Zeit aufzuholen, verließ sie das Büro nicht zum üblichen Feierabend. Sephiroth hatte die Überstunden kommentarlos zur Kenntnis genommen. Auf seinem Schreibtisch stapelte sich genug des verhassten Papierkrames, um die ganze Nacht hier zu verbringen. Erst das Eintreffen des Abendessens schuf eine kurze Pause, aber selbst in dieser drehten sich die Gedanken des Generals um die ShinRa Electric Power Company. Wichtige Inspektionen standen an. Einer der etwas abseits gelegenen Reaktoren würde schon bald ein neues Ersatzteil benötigen, dessen Transport ins SOLDIER Aufgabengebiet gehörte. Missionen mussten so vorteilhaft wie möglich besetzt und vorbereitet werden. Am drängendsten jedoch war die Vorgehensweise gegen die Rebellenaktivitäten innerhalb Midgars. Die Angriffe `Liberation´s waren wesentlich aggressiver geworden – und richteten sich stets nach etwas offiziell nicht existentem: Den Schwachstellen im als perfekt geltenden ShinRa System. Allgemein wurde eine Sicherheitslücke im Computersystem vermutet. Präsident Shinra zeigte großes Interesse an einer schnellen Beseitigung des Fehlers, und in den Gesichtern der IT Profis war nackte Panik zu erkennen, weil es ihnen nicht gelang, die Schwachstelle zu finden. Rufus Shinra war nicht bekannt für seine Geduld... Von SOLDIER erwartete er harte Maßnahmen, und Sephiroth war mehr als bereit, diese Erwartungen zu erfüllen, sobald eine entsprechende Situation herbeigeführt werden konnte oder sich von selbst ergab. Alles in allem... Jede Menge Arbeit für SOLDIER und Blue Wanderer, dachte der General. Sein Instinkt sagte ihm, dass es einige Überraschungen geben würde, aber er sah diesen mit der gewohnten, unerschütterlichen Erhabenheit entgegen. Wieviele von ihnen wohl Cutter betreffen würden? Momentan war es um den quirligen Teenager ruhig, aber diesen Zustand langfristig einzuplanen... Der General dachte nicht einmal daran. Er betrachtete Ruhe niemals als dauerhafte Zeitspanne, sondern stets als Atempause zwischen Situationen, in denen Luft quasi nicht existierte. Um zwischen diesen beiden Varianten zu wechseln brauchte es nur eine einzige Sekunde. Bei Cutter eine halbe. Er widmete sich wieder der vorherigen Arbeit, hochkonzentriert und unermüdlich, bereit, einmal mehr die Nacht durchzuarbeiten, während andere diese zum schlafen nutzten. Auch Cutter gehörte zu diesen anderen, und auch, wenn sie nicht (wie bestellt) von Sephiroth träumte, so war ihr Schlaf doch tief und fest. Warum auch hätte er es nicht sein sollen? Zum ersten Mal seit langer Zeit gab es keinerlei die Zukunft betreffende Bedrohungen, die Arbeit war hart, aber zu schaffen, sie durfte in der Nähe einer geliebten Person sein... Alles war gut. Als sie irgendwann erwachte, wusste sie nicht sofort, warum. Sie blinzelte verschlafen und lauschte. Aber alles war still. Dennoch... irgendetwas... stimmte nicht. Ihre Augen schienen sich diesmal langsamer als gewohnt an die selbst Nachts herrschende Dämmerung (unvorteilhaft platzierte Beleuchtung vor dem nur mit Jalousien ausgestatteten Fenster) zu gewöhnen, die abgeschlossene Umstellung jedoch ließ den Teenager augenblicklich erstarren. In dem winzigen Quartier besaß jeder Schatten eine vertraute Bedeutung. Jetzt aber... gab es einen neuen. Groß. Bedrohlich. Begann am Fuße des Bettes. Und, das spürte Cutter sofort, gehörte einem Fremden. Einem Urinstinkt gehorchend lag der Teenager einen Augenblick lang völlig bewegungslos da, sammelte Mut – dann griff sie blitzschnell nach dem Schalter der Nachttischlampe... und ins Leere. „Hallo Cutter-chan.“ Die Stimme war völlig fremd. Männlich. Und erinnerte an aneinanderreibende Knochen. „Ausgeschlafen?“ Cutter rückte hektisch ab, bis die kühle Wand an ihrem Rücken jegliches Weiterkommen untersagte. Der unvorteilhafte Kontakt verwandelte Angst in jähe Wut. „Wer sind Sie?! Was gibt Ihnen das Recht, hier einfach so einzudringen?!“ Gleichzeitig streckte sie blitzartig die Hand aus, tastete nach der einzigen Verteidigungsmöglichkeit, ihrer Feuermateria... „Suchst du das hier?“ Etwas Dunkelrotes glühte kurz am Fuß des Bettes auf – und flog dann locker geworfen zusammen mit dem Armband zu ihr hinüber. Cutter streifte die Waffe so schnell wie möglich über, visierte den Schatten an... und lauschte nur Sekunden später dem leisen, spöttischen lachen. „Oh Cutter-chan, sieh dich nur an. Du bist noch fast ein Kind. Dir fehlen sowohl Kälte als auch Stärke, um direkt auf einen Menschen loszugehen. Ganz im Gegensatz zu mir. Aber deshalb bin ich nicht hier. Noch nicht. Vielleicht... auch gar nicht. Es liegt ganz bei dir.“ Cutter versuchte Angst und Irritation zu ignorieren. „Sie sollen verschwinden!“ „Sei nicht so unhöflich!“ Augen von undefinierbarer Farbe glitzerten kurz in der Dunkelheit. „Also, Cutter-chan... Flucht ist sinnlos! Sitz einfach still da und hör zu! Brav. Und jetzt... Aus mir völlig unerklärlichen Gründen bist du im Besitz einer... Sache... die mir ebenso zusteht, auf die ich aber leider keinen Zugriff habe.“ Diese Stimme! Sie schien sich förmlich in ihrem Kopf festzufressen. Jedes Wort schmerzte, aber dem mochte auch die zutiefst empfunden Hilflosigkeit zugrunde liegen. „Du bist ein cleveres Mädchen und wirst schon darauf kommen, was ich meine. Ich möchte, dass du diese Sache mit mir teilst. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, wirst du mir deine Entscheidung mitteilen, verstanden? Wir können diese kleine Ungerechtigkeit friedlich oder gewaltvoll lösen. Ich rate dir zur ersten Variante. Cutter-chan? Mach die Augen zu und zähl bis 10. Laut. Und wenn du die Augen öffnest, bist du wieder allein, versprochen. Fang an!“ Die Augen zu schließen, während sich ein völlig Fremder ungebeten in unmittelbarer Nähe aufhielt... Es schien die größte Dummheit der Welt zu sein! Beinahe schon eine Einladung! Aber der verzweifelte Wunsch, diese Situation zu beenden, war stärker. Cutter schloss die Augen. Wenn du versuchst, mich anzufassen, ich schwöre dir, ich werde beißen, kratzen, treten, ich werde schreien, die Feuermateria einsetzen, ich werde... Aber im tiefsten Grunde ihres Herzens wusste sie, dass sie zu geschockt sein würde, um auch nur irgendetwas zu tun. Sie begann zu zählen, nahm wahr, dass ihre Stimme zitterte und sich nicht beruhigen ließ; gleichzeitig versuchte sie, auf andere, vorwarnende Geräusche zu achten, aber es gab keine. Als sie endlich bei der klärenden `Zehn´ angekommen war, gab es kein Halten mehr. Cutter riss die Augen auf, sprang blitzartig aus dem Bett und rannte in Richtung Tür. Sephiroth stellte gerade die Teilnehmer für eine neue Mission zusammen, als seine Bürotür respektlos aufgerissen wurde und Cutter in den Raum stürmte, kurz vor dem Schreibtisch abbremste... „Beschütz mich!!!“ General Crescent ließ ohne jegliche sichtbare Gefühlsregung den Blick über den vor ihm stehenden, völlig aufgelösten Teenager gleiten, griff nach dem Telefon... „Zackary Fair, solltest du hiermit auch nur das Geringste zu tun haben, darfst du dich ab sofort wieder als Kadett betrachten!“ Auch, wenn seine Stimme klang wie die Innschrift eines Grabsteines, so schmolz sie doch die eben noch empfundene Angst Cutters, brachte ihre aufgewühlten Gedanken zur Ruhe – und schuf die Basis für neue Erkenntnisse. Nach dem überstandenen, gewaltigen Schrecken den sichersten Ort der Welt, Sephiroths Nähe, aufzusuchen, war bestimmt keine schlechte Idee gewesen. Aber dies im Schlafanzug zu tun... In der Hoffnung, die Situation retten zu können, nahm Cutter Haltung an und salutierte. „Und jetzt, Zackary“, fuhr Sephiroth völlig unbeeindruckt mit dem Telefonat fort, „holst du Cutters Uniform aus ihrem Quartier und bringst sie in mein Büro!“ Er beendete das Gespräch, befahl `Badezimmer!´, und der Teenager beeilte sich, hinter der entsprechenden Tür zu verschwinden, bis Zack ihr die Uniform brachte. „Hey Seph“, hörte Cutter ihn höchst amüsiert sagen, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, „vielleicht hätte ich für uns zwei auch Schlafanzüge mitbringen sollen?“ Die Antwort erfolgte unhörbar, aber als Cutter das Badezimmer verließ, hatte Zack unter dem eisigen Blick des Generals Haltung angenommen, und der Teenager beeilte sich, es dem 1st gleich zu tun. Die nächsten Sekunden vergingen in ohrenbetäubender Stille. „Auch wenn ihr euch nicht einmal ansatzweise vorstellen könnt, wie viel Irrsinn mir täglich präsentiert wird...“, Sephiroths Stimme erinnerte an einen bis zum toten Punkt gedrückten, roten Knopf mit der Aufschrift `Apokalypse´, „so sind wir, wie ich sehe, mit der Kreativität noch nicht am Ende. Was ist hier los?!“ „Sir, Zack hat damit nichts zu tun!“ General Crescent vermochte wie kein Zweiter einzuschätzen, ob sein Gegenüber die Wahrheit sagte. Er warf dem Teenager einen langen, prüfenden Blick zu... „Sie hat Recht, Seph“, schaltete sich Zack ruhig ein und parierte unerschrocken den eben noch allein Cutter geltenden Blick. Im Grunde wusste Sephiroth, dass Cutter sein Büro niemals grundlos auf eine derart respektlose Art und Weise betreten würde, und so bedeutete er ihr, zu sprechen. Als sie endete, gestattete er ihr sich zu setzen und ging in Gedanken das eben Gehörte durch. Eine Sache, die sich im Besitz des Teenagers befand, aber einem Fremden ebenso zustand? „Ich nehme nicht an, dass du die Stimme erkannt hast?“ Er klang jetzt etwas sanfter. Es bestand kein Grund, Cutters Aufregung durch unangebrachte Strenge noch weiter zu steigern. Eben schüttelte sie den Kopf und merkte an, dass es leider auch zu dunkel gewesen sei, um körperliche Details zu erkennen. Somit schieden die 2nd Lines als Suchmöglichkeit aus. „Hast du eine Ahnung, wovon er gesprochen hat?“ Cutter schüttelte den Kopf. „Ich habe“, klinkte sich Zack ein, „mir Cutties Quartier vorhin genau angesehen. Tür und Schloss sind völlig intakt, ebenso das Display für den Zugangscode.“ Aller Albernheiten zum Trotz - es war ein Verhalten wie dieses, welches Sephiroth immer wieder bestätigte, den Mann nicht umsonst zum 1st Class SOLDIER befördert zu haben. Er nickte kurz. Keine Einbruchsspuren. Das hieß, der Einbrecher war in Besitz des Türcodes gewesen. Ein prüfender Blick in Richtung Cutter. Diese verstand sofort, versicherte aber glaubhaft, den Code nicht weitergegeben zu haben. „Das hier allerdings“, fuhr Zack fort, „lag auf dem Boden.“ Er reichte einen Gegenstand zu Sephiroth hinüber, und dieser betrachtete ihn eine Weile schweigend. Es war ein in ShinRas High Tec Computeruniversum völlig veraltet anmutendes Objekt: Ein Schlüssel. „Deiner?“, erkundigte sich Zack. Cutter schüttelte den Kopf. Wie kam so etwas in ihr Quartier? Der Einbrecher musste ihn dort verloren haben. Auf die Variante, der Schlüssel könne mit Absicht zurückgelassen worden sein, kam sie nicht für eine Sekunde. Aber genau dieser Spur folgte Sephiroth. Immer noch betrachtete er eingehend das Objekt in seinen Händen. Ein... sein Schlüssel. Gar kein Zweifel. Es war schon so lange her... aber der völlig überholte Gegenstand erfüllte seinen Zweck, entriegelte die Türen zu tief vergrabenen Erinnerungen und katapultierte so einen Teil der Vergangenheit in die Gegenwart. Logisch gesehen, dachte der General, ist es unmöglich. Du kannst nicht überlebt haben. Aber das hier ist mein Schlüssel. Ein Unikat. Passend zu einem Schloss, umgeben von Stangen. 20 Stangen, angebracht im Abstand von exakt fünf Zentimetern. Fünf Zentimeter Freiheit zwischen fünf Zentimeter dickem Stahl. Stahl, im Viereck angeordnet, plus nochmal jeweils 20 Stangen die Boden und Decke bilden. Der... Mein Käfig im Labor, als ich noch Kind war. Mein `Aufbewahrungsort´, sofern ich ihn nicht für irgendwelche Experimente verlassen durfte. Und diesen Schlüssel... habe ich zum letzten Mal in deinen Händen gesehen. „Seph?“, fragte Zack leise, aber der General antwortete nicht. In seinem Kopf setzte gerade eine Kettenreaktion der unterschiedlichsten Erkenntnisse ein. Vorfälle, an die er seit Jahren nicht mehr gedacht, an deren Rätselhaftigkeit er einst gescheitert war, erklärten sich wie von selbst. Meine Vergangenheit... dieser Schlüssel... Cutter... und du... Es passt alles zusammen. „Cutter...“ Seine Stimme klang wachsam und höchst nachdenklich, „hast du irgendjemandem von den 2nd Lines erzählt? Und sei es nur eine Bemerkung gewesen? Ein Versprecher? Irgendetwas?“ Völlig unabhängig, wer bisher vom Geheimnis des Teenagers wusste – jetzt war es in Hände gelangt, deren befehlender Geist Gefahr versprach. Aber Cutter verneinte. Und Sephiroth traf eine schwerwiegende Entscheidung. „Ich versetze dich bis auf weiteres nach Junon.“ Denn hier, fügte er in Gedanken hinzu, bist du in Gefahr. Du glaubst mir nicht?, dachte Cutter entsetzt. Aber ich habe wirklich nicht... Bitte, bitte glaub mir! Dann sickerte die eigentliche Botschaft zu ihr durch. Junon?! „Was soll ich denn in Junon, Sir?“ „Unter anderem über die Vorzüge nachdenken, dem Feind, der sich dein größtes Geheimnis aneignen will, nicht in die Hände zu fallen.“ „Oh“, machte Cutter automatisch. Aber mein größtes Geheimnis ist doch, dass ich dich liebe. Was soll denn der Feind mit dieser Information? Dann runzelte sie die Stirn. Der... „Feind?“, wiederholte sie. „Ich würde jemanden, der ungebeten in dein Quartier eindringt und dich bedroht, nicht unbedingt als `Freund´ bezeichnen. Außerdem schätze ich, dass du die angekündigte zweite Begegnung vermeiden möchtest.“ Cutter hatte ein wenig Mühe, Sephiroths raschen Gedankengängen zu folgen, nickte aber dann heftig. Und fragte leise: „Wenn es wirklich um die 2nd Lines geht... bin ich schon wieder in Schwierigkeiten, oder?“ Das bist du ständig, dachte Sephiroth leicht amüsiert. Nur die Stärke variiert. „Deine Versetzung nach Junon sollte die Situation entschärfen, bis mir weitere Informationen vorliegen und wir handeln können.“ Vielleicht würde eine der zahlreichen Überwachungskameras brauchbares Material liefern. Aber Sephiroth rechnete nicht wirklich damit. „Bleib trotzdem wachsam. Wenn dir irgendetwas seltsam vorkommt, ruf mich an! Junon hat einen Blue Wanderer angefordert, es dürfte also keine Fragen geben. Hier sind die entsprechenden Papiere, du fliegst innerhalb der nächsten Stunde. Das wäre alles. Wegtreten.“ Jetzt schon??, dachte Cutter entsetzt. Der Abschied kam zu plötzlich, und Sephiroth hatte nicht einmal gesagt, wie lange sie dort bleiben sollte... Sichtlich unglücklich nahm sie die Papiere an sich und verließ das Büro. Sephiroth sah ihr nach. Sie war zu ortsgebunden! Ein guter Blue Wanderer war in der Lage, überall zu arbeiten. Die Versetzung würde ihren Horizont diesbezüglich erweitern. Nicht für einen Sekundenbruchteil kam ihm in den Sinn, er könnte der Grund für Cutters Trauer sein. Zacks Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Ausgerechnet die 2nd Lines... so ein Mist. Was kann ich tun?“ „Geh ihr nach und sorg dafür, dass sie weder den Flug verpasst, noch ihre Papiere vergisst!“ Der 1st nickte und verließ das Büro. Sephiroth führte ein kurzes Gespräch mit dem Sicherheitsdienst, dessen Antwort ihm nur wenig später in Form eines Überwachungsvideos vorlag. Die Cutters Flur kontrollierende Kamera war kurzzeitig ausgefallen, der Grund dafür nur zu offensichtlich. Das kurz nach Eintritt der Störung automatisch losgeschickte Reparaturteam hatte allerdings keinerlei Defekt feststellen können und, wie ein weiteres Telefonat klärte, auch auf dem Flur nichts Verdächtiges bemerkt. Es war, als sei niemals etwas geschehen. Sephiroth drehte und wendete den Schlüssel. Recherche... Planung... Durchführung... Rückzug... Ein perfekter erster Auftritt nach all den Jahren. Reicht aber nicht aus, um mich zu beeindrucken. Du hast also tatsächlich überlebt. Interessant. Und jetzt bist du zurück. Auf welcher Seite stehst du? Nicht auf meiner. Bleiben noch zwei weitere Möglichkeiten... Mein Gefühl sagt mir, dass ich mit deiner Wahl nicht einverstanden sein werde. Rail. Einige Straßen vom ShinRa HQ entfernt wandte sich ein harmlos aussehender Fußgänger um, warf einen Blick zurück auf den mächtigen Gebäudekomplex. Um die Lippen der Person spielte ein Lächeln. Bald. Der Fußgänger setzte sich in Bewegung, und verschwand schon nach wenigen Schritten hinter einer Kurve. Nur ShinRa könnte so etwas bauen!, dachte Cutter begeistert, während der Black Hawk Helikopter das riesige Wahrzeichen Junons, die gigantische, zum Meer hin zeigende Kanone mit dem Spitznamen „Sister Ray“, überflog, und wenig später zur Landung ansetzte. Viel Zeit zum Staunen blieb dem Teenager aber nicht, denn laut Sephiroths Befehl hatte sie sich sofort nach der Landung zu melden, um weitere Anweisungen zu erhalten, und sie plante nicht, jetzt schon Ärger zu machen. Wenig später packte sie ihre Tasche im neuen Quartier aus, und begann, ihren unbekannten Aufenthaltsort genauer zu inspizieren. Zu ihrer Freude gab es etliche Lines, für die ihr eine Übersetzung fehlte, ideal um gegen Langeweile vorzugehen. Vielleicht würde es doch nicht so schlimm werden. Abgesehen davon war zumindest eine der beiden so vertrauten Stimmen nicht weiter weg als ein paar Tastenberührungen auf dem Handy. Sephiroth fiel ihr wieder ein, und für einen Augenblick überkam sie bodenlose Trauer. Hat er mir wirklich nicht geglaubt? Aber ich möchte, dass er mir glaubt... Sie seufzte leise. Wäre ich nur nicht so ein verdammtes Schussel! Aber andererseits... vielleicht hätte er mich auch so hierher geschickt. Und ich kenne mein Problem. Und arbeite daran. Momentan jedenfalls bin ich nicht mehr in Midgar und somit nicht in Gefahr. Was soll hier schon großartiges passieren? Sie begann, entspannt vor sich hin zu summen. Zwei Tage später saß Sephiroth in seinem Büro und widmete sich den Berichten bezüglich der aktuellen Rebellenaktivitäten, tief konzentriert und fest entschlossen, das Treiben des ihm gegenüber befindlichen Zacks zu ignorieren. Der 1st hasste es, Missionsreporte zu schreiben. Für gewöhnlich tat er es nur in einigermaßen akzeptabler Form, wenn ihm die Sache am Herzen lag, er irgendwelchen Unsinn damit verknüpfen konnte – oder dazu gezwungen wurde. Wie jetzt. Sephiroth hatte ihn kurzerhand im Büro eingeschlossen. Zacks Rache erfolgte (nachdem er etwa die Hälfte aller ausstehenden Reporte hinter sich gebracht hatte) in der für ihn typischen Art und Weise. „Huuuiiiii!!!“ Es klang zu begeistert. Und obwohl Sephiroth wusste, dass er es bereuen würde... „Zackary Fair, einmal mehr entspricht dein Verhalten nicht dem eines ShinRa 1st Class SOLDIERs!“ Zack hatte seinen Sessel in ein Karussell verwandelt und drehte sich in beachtlichem Tempo und laut jauchzend um die eigene Achse. Jetzt aber stoppte er die wilde Fahrt, sprang auf die Füße und erkundigte sich mit allem verfügbaren Entsetzen: „Heißt das etwa, du hast mich nicht mehr lieb??“ Sephiroth realisierte das noch lange nicht verklungene Schwindelgefühl im Blick des sich mit beiden Händen am Schreibtisch festhaltenden Karussellfahrers... und konnte nicht widerstehen. Zack versuchte reflexartig, den ihm entgegengeworfenen Gegenstand zu fangen, verlor augenblicklich das Gleichgewicht und... ging polternd zu Boden. Der General konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen, bevor er die Vorstellung mit einem gefühllosen: „Nicht einmal dazu bist du in der Lage!“ quittierte und sich wieder dem PC zuwandte. „Cutter würdest du nie so behandeln“, murrte es von unten. Dann erschienen Arme und Kopf des 1st am Rand der Schreibtischoberfläche. „Unser Lieblingsteenager...“ „Sie ist weder das Eine, noch das Andere!“ „... hat mich übrigens heute morgen angerufen. Es geht ihr gut, aber sie vermisst mich. Und“, er kniff grinsend ein Auge zu, „dich auch! Was sagst du dazu?“ Sie vermisst mich? , dachte Sephiroth. Warum? Sie befindet sich in keiner Situation, die mein Einschreiten erfordert. Sie braucht mich nicht. Dann fügte er hinzu: Noch. Bei Cutter weiß man nie. Laut kommentierte er: „Dass ihr diese Aussage nicht den geringsten Vorteil bringen wird.“ „Darum geht’s doch gar nicht, Seph“, antwortete Zack sanft, aber einmal mehr erschüttert über die rationale Denkweise seines Generals. „Sie hat das gesagt, weil sie uns mag.“ Sein Gegenüber aber hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit bereits wieder dem nächsten Antrag zugewandt. Zacks diesbezügliche Entrüstung entlud sich in einem aus tiefsten Herzen kommenden Satz. „Junge, du bist echt frustrierend!“ „Du hast seit 25 Sekunden Feierabend, Zackary.“ „Du auch! Hey, geniale Idee! Ein paar von den Jungs und ich wollen noch was trinken gehen. Ich nehme dich einfach mit!“ Ungeachtet der Tatsache, dass Sephiroth aufgestanden war und auf ihn zukam, fuhr er fort: „Wir könnten richtig einen draufmachen und morgen früh mit einem mordsmäßigen Kater wach werden!“ Es war unerheblich, dass ihn der General am Kragen packte. „Und dann“, Zacks Begeisterung ließ sich nicht einmal davon bremsen, mühelos in Richtung Tür gezogen zu werden, „machen wir Katerfrühstück, bejammern unsere Kopfschmerzen und sprechen die legendären Worte: `Nie wieder Alkohol!´ Na, was sagst du dazu?“ Nur ein leises – klick -. Zack saß allein vor der jetzt geschlossenen Bürotür des Generals. „Ist das ein `Nein´? Seph?“ Eine Antwort blieb natürlich aus. Zack kam mit einer schwungvollen Bewegung wieder auf die Beine. Diese Runde ging glasklar an Sephiroth, aber... aufgeben kam nicht in Frage! Die nächste Gelegenheit, ihn an seine Menschlichkeit zu erinnern, würde bestimmt nicht lange auf sich warten lassen, und zur Not würde Zack sie einfach herbeiführen. Wie schon so oft. Hinter der Tür verharrte Sephiroth einen Moment lang bewegungslos und gestattete sich einen unauffälligen Augenblick der Schwäche, indem er sich seinem Groll hingab. Warum konnte dieser verdammte Zackary sich nicht einfach von ihm fern halten wie alle anderen auch? Weshalb versuchte er immer wieder, die endlose Distanz zu überbrücken? Konnte er nicht einfach die Aussichtlosigkeit dieses Unterfangens akzeptieren und aufgeben? Selbst wenn Sephiroth den Wunsch nach einer Änderung des aktuellen Zustandes verspürt hätte... Ich bin nicht wie andere. Meine Existenz ist... einzigartig. Gewisse Extras erinnern mich ständig daran! Und mit einer Mischung aus Trauer und Gleichgültigkeit fügte er hinzu: Vermutlich habe ich nicht einmal eine eigene Line. Zurecht. All die Besonderheiten zu ignorieren... jemanden... etwas wie ich es bin gleichzusetzen mit allen anderen ist lächerlich! Ich... weiß ja nicht einmal selbst, was ich bin... Seitdem er denken konnte, begleitete ihn diese Frage. Sie ließ sich verdrängen und überdecken, aber sie verschwand nicht. Es gab Personen, die einen strahlenden Helden in ihm sahen. Oder ein Versuchskaninchen. Ein Monster. Einen Freund. Oder den mentalen Fokus. Aber all das waren die Antworten anderer. Seine eigene... war nicht darunter. Aber ich werde nicht aufhören, danach zu suchen! Selbst, wenn ich sie niemals finde... Ich habe es mir versprochen... Der Feierabend setzte ein und entfachte einmal mehr jene Leichtigkeit, die Menschen zum Lächeln brachte. Ausbilder drückten vielleicht ein Auge zu. Bürozicken begannen, sich kollegial zu verhalten. Kadetten entspannten sich vorsichtig. Pläne ganz anderer Art rückten in den Vordergrund, Pläne, die nichts mit Taktik und Töten zu tun hatten. Freizeit. Die sich schlagartig ändernde Atmosphäre im HQ erinnerte Sephiroth daran, dass es auch andere Welten gab. Und unwillkürlich fragte er sich einmal mehr, wie es sich anfühlen mochte, so zu sein wie die in diese Welten aufbrechenden Personen. Normal. Nur für einen Moment... Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken, und Sephiroth wusste, wer ihn zu sprechen wünschte, noch bevor er abgehoben hatte. Er behielt auch dieses Mal Recht. „Komm ins Labor!“ Nur diese drei Worte, ein scharfes Klicken und dann Stille. Die Stimme erinnerte ihn daran, wie sinnlos die gerade noch geführten Gedankengänge waren hinsichtlich der auf ihn wartenden Schlachtfelder, und, dass der Kern dieser Fragen vielleicht alles war, was er jemals in seinem Leben haben würde: Die Ahnung auf etwas anderes. Mit einem Augenausdruck, der den härtesten Stein wie Butter in der heißen Sonne hätte wirken lassen, verließ Sephiroth das Büro. In Junon schloss Cutter ihr eigenes (!) kleines Büro ab und verstaute den Schlüssel sicher in der Tasche. Das Leben hier war gar nicht so schlecht, und die ihr anvertrauten Aufgaben ließen sich mit Hilfe der Lines schnell und problemlos lösen. Die Leute verhielten sich einigermaßen freundlich, und als Gegenleistung bemühte sich der Teenager um möglichst wenig Schusseligkeit. Ansatzweise hatte sie sich ihr Dasein als ShinRa Blue Wanderer immer so vorgestellt. Hätte sie all das in Midgar haben und mit Sephiroth und Zack teilen können – es wäre perfekt gewesen. Aber das wird schon, dachte Cutter. Ich kämpfe mich durch! Irgendwann darf ich bestimmt wieder nachhause! Und dann hielt sie für einen kurzen Moment inne. Nachhause... Der Ort, nach dem sie sich so gesehnt hatte... war eigentlich kein... Ort. Es waren zwei Menschen, die sich hauptsächlich dort aufhielten, ohne die sie sich ihr Leben kaum noch vorstellen konnte. Und zu denen sie hoffentlich bald zurückehren durfte. Sie setzte ihren Weg in die Kantine fort, gedanklich schon beim Abendessen - und somit gänzlich unvorbereitet bezüglich des harten, sie urplötzlich um die Taille haltenden Griffes. Etwas Nasses, Weiches drückte sich auf Mund und Nase, unbekannter Geruch zerschlug binnen zwei Sekunden jeden Gedanken und ließ ihr Bewusstsein abtauchen in tiefste, unnatürliche Finsternis. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)