Ungezwungen von abgemeldet (Wichtelgeschichte für Asaliah) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- So, das hier ist die Wichtelgeschichte für Asaliah. Es war ein ziemliches Expiriment. Zum einen habe ich noch nie eine Geschichte geschreiben und veröffentlicht, die so sehr in unserer Welt spielt und zum anderen habe ich die Umschreibungen der Charaktere auf ein Minimum gehalten, da mir diese schon oft zur Last gelegt wurden... Außerdem habe ich die Struktur meiner anderen Texte nicht benutzt. Es ist auch mein erstes längeres Geschreibsel ohne Prolog. In der Hoffnung, dass es dadurch etwas direkter wird. Kritik wie immer erwünscht^^ Edit: jetzt hoffentlich auch mit korrekter Rechtschreibung. --------------------------------------------------------------------------- Eine Hand auf dem Rücken, die andere auf den Boden gestützt. Fast genoss der junge Mann das gleichmäßige Auf und Ab seines Körpers, während er sich immer wieder weg vom glatten Laminatboden schob. Genauso wie er den schweren Rhythmus seiner Atemzüge seinen Kopf ausfüllen ließ, spürte er auch den Schweiß, der von seiner Haut perlte. „50“, seufzte er schließlich und richtete sich auf. Warme braune Augen blickten direkt in die seinen. Sein Herz entschloss sich wild herum zu springen, bevor er erkannte, zu wem sie gehörten. Das hätte eigentlich nicht so schwer sein dürfen: Schließlich hatte er die gleichen. „Mama“, keuchte er erschrocken. „Hendrik“, erwiderte sie, seinen Tonfall parodierend, mit aufgerissenen Augen und betrachtete ihren Sohn. Seit mehreren Monaten hatten sie sich nur per Webcam gesehen. „Hi“, meinte der Sohn endlich. Nach einer recht üblichen Mutter-Sohn Begrüßung eskortierte die Frau Hendrik in ihre multifunktionelle Küche, die sowieso nie benutzt wurde – abgesehen von der Kaffeemaschine natürlich, die auch nun wieder fleißig ihre Arbeit verrichtete. „… und gleich werde ich dir Julian vorstellen. Du weißt ja, dass du auf ihn aufpassen sollst. Und…“ „Wie bitte?“, unterbrach Hendrik seine fröhlich plappernde Mutter und stellte seinen Kaffee ab. Eigentlich hatte er gedacht, sie hätte über ihre Arbeit gesprochen, aber irgendwie war diese Annahme wohl falsch gewesen. Sollte er etwa in den Semesterferien Babysitter spielen? Für wen überhaupt? „Mama, du weißt doch, dass ich überhaupt nicht mit Kindern umgehen kann!“, beschwerte er sich also. Ein irritierter Blick seiner Mutter war die Konsequenz. „Wer hat was von Kindern gesagt? Du sollst ein wenig auf Julian aufpassen, der jetzt in Hamburg studieren will. Der ist der Sohn von ’ner Kollegin von mir.“ Hendriks Augenbrauen verlegten sich um einige Zentimeter nach oben. Skeptisch fragte er sich, ob dieser Julian etwas Anderes als ein Muttersöhnchen, Warmduscher, Emo, was auch immer sein konnte. Obwohl er nichts sagte, lachte Fenja. „Wart’s ab!“, schlug sie vor. Das Gespräch – oder besser gesagt der Monolog der Frau – verlagerte sich wieder in andere Richtungen und Hendrik erfreute sich daran, wieder die vertrauten Geräusche zu hören, auch wenn er weiterhin nur einen Bruchteil der Informationen aufnahm und noch weniger bearbeitete. Das nächste, das es irgendwie in sein Bewusstsein schaffte, war das Klingeln an der Türe, das Besuch ankündigte. Fast peinlich schnell war er aufgesprungen und öffnete den Besuchern bereits im nächsten Moment. Zumindest dachte er erst, es würden Besucher sein, in Wirklichkeit war es jedoch nur eine recht dicke Frau, sicher einige Jahre älter als Fenja. Hendrik grüßte freundlich, verschwand dann jedoch rasch in sein Zimmer, um den „Weil läuft’s denn im Studium?“ – Erkundigungen und den „Hast du `ne Freundin?“ – Fragen zu entkommen, die irgendwann das „Man, bist du groß geworden“ abgelöst hatten. Er zog das verschwitzte T – Shirt aus und schmiss sich auf sein Bett Er konnte nach seinem Sprint zur Tür seine Neugier nicht mehr verleugnen. In Hamburg jemanden zu haben, der aus derselben Stadt stammte, wäre sicher schon etwas Feines – zumindest wenn`s kein Emo war. Wenige Wochen später – Hendrik war fast wieder seiner PC Sucht erlegen – rief ihn seine Mutter aus einem Gruppenquest, das er UNBEDINGT hatte machen wollen. Dementsprechend gut gelaunt ging er in die Küche, wo er die Urheberin des Rufes vermutete. Leider irrte er sich in dem Punkt – er sah keines der dunklen Haare seiner Mutter, geschweige denn die Frau selbst. Dies steigerte seine Laune noch weiter. Er gab nun erst recht nicht auf, sondern lief festen Schrittes, Unbeteiligte hätten es vielleicht als Trampeln bezeichnet, zum Wohnzimmer. Er wollte sich bei seiner Muter gerade freundlichst erkundigen, was los sei, als er zwei weitere Gestalten im winzigen Wohnzimmer bemerkte. Obwohl es ein Wunder war, dass er von deren Anwesenheit nicht gleich beeindruckt zurückgeprallt war. Denn einer von ihnen schien bereits alleine das gesamte Wohnzimmer auszufüllen. Nein, es war nicht die überaus dicke Frau, die er bereits gesehen hatte, sondern ihr junger Begleiter, der grimmig schauend auf der Sesselkante saß. Hendrik dachte frohgemut, dass es eigentlich sein Platz war, aber was sollte es. Schließlich war er ja nicht nachtragend. "Wo bist du so lange geblieben?“, fragte Fenja ihren Sohn, der ein Knurren unterdrücken musste. Nun, vielleicht sollte er sich entschließen, doch nachtragend zu sein und den Rest der Ferien seine ausgesprochengute Laune mit jedem zu teilen - besonders mit seiner Mutter. Noch jedoch wusste sie nichts von seinem Entschluss und sprach unbekümmert weiter. "Das hier" Sie zeigte auf den jungen Mann, der sicherlich fast zwei Meter groß war. "ist Julian." Hendrik musste lachen. Der Junge schaute noch finsterer. Fenja bedachte sie beide mit einem strengen Blick, den selbst ihr Sohn eher selten gesehen hatte. Julian trat auf Hendrik zu, die Hand ausgestreckt. Absichtlich drückte der Student sie fester als nötig, zufrieden, dass er sich trotz der fehlenden Körpergröße hätte problemlos brechen können. Schnell setzte sich der Jüngere wieder hin, während Hendrik sich gegen die Wand lehnte und die Arme verschränkte. Die beiden Frauen übertrafen seiner Meinung nach die sprichwörtlichen Wasserfälle um Längen und ehe er es sich versah, war es beschlossen: Julian sollte das freie Zimmer in seiner WG bekommen. Schließlich spare er sich dann die Wohnungssuche und es wäre insgesamt einfach das Beste. Hendriks Einwand, dass das Zimmer nur ein Semester lang frei sein würde, überhörten sie geflissentlich. Er wusste nur eines: Wenn dieser Julian eine auch nur annährend ähnliche Stimme wie seine Mutter hatte, würde er sich einen Strick drehen. Nun, er würde wohl warten müssen, bis er es erfuhr: Dem Zivildienstleistenden kam kein Wort über die Lippen, bis er und seine Mutter nach knapp einer Stunde wieder verschwanden. Wenige Wochen später war Hendrik auf dem Weg zum Hamburger Bahnhof. Zu Fuß selbstverständlich. Ein Auto konnte man sich einfach nicht leisten. Aber irgendwie wünschte sich der junge Mann, er besäße einen BMW oder so etwas, einfach um diesem unsympathischen Jungen zu zeigen, dass er schlicht besser war. Und für diesen Gedanken verachtete sich Hendrik. Am Gleis angekommen vertrieb er seine schlechte Laune und setzte einen möglichst freundlichen Gesichtsausdruck auf. Noch immer hatte er seinen Schutzbefohlenen nicht sprechen gehört. Ihre Mütter hatten alles organisiert. Und hätte Fenja ihm nicht gedroht, ihm die Wohnnebenkosten nicht mehr zu zahlen, wäre er jetzt wohl gar nicht aufgetaucht. Womit dem armen Julian wohl gedroht worden war? Vielleicht, aber nur vielleicht, würde er ja sogar sprechen und es ihm irgendwann verraten. Mit einem großen Rollkoffer, einer Reisetasche und einem Rucksack zwängte sich der Dunkelhaarige aus dem Zug und verhedderte sich mit seinen langen Gliedern fast in den ganzen Riemen. Hendrik grinste hämisch, ging auf ihn zu und nahm ihm die Reisetasche ab. "Hi!" Julian brummte zur Antwort irgendetwas. "Kein Auto?" Seine Stimme war angenehm tief und rau, fast so, als hätte er sie lange nicht mehr benutzt. `Kein Wunder bei dieser Mutter.` Plötzliches Mitgefühl fegte die Häme aus seinem Gesicht. Bei dieser Mutter wäre er wohl auch stumm geworden. "Nee, leider nicht“, antwortete er schließlich auf die Frage. Julian seufzte und machte Anstalten, Hendrik die Tasche wieder abzunehmen. Der Ältere schüttelte den Kopf. "Lass nur!" Wenigstens seine Stärke würde er so präsentieren können. Und als sie noch immer schweigend im sechsten Stock des alten Hauses mit chronisch defektem Fahrstuhl ankamen, meinte er tatsächlich einen Hauch von Respekt bei seinem Begleiter wahrzunehmen. Und als er Julian sein Zimmer zeigte, erschien ein winziges Lächeln in seinem Gesicht. Erleichtert stellte Hendrik also fest, dass sein neuer Mitbewohner kein Zombie oder wandelnder Eisklotz war. Natürlich konnte er sich auch irren und das Hochziehen der Lippen war nur so etwas wie ein spastischer Krampf. Julian war längst in seinem neuen Zimmer verschwunden, als Hendrik ohne zu klopfen ein anderes Zimmer betrat und sich auf das Bett fallen ließ. "Hi." Die junge Frau stand vor ihrem Spiegel und bedeckte ihre Lippen mit einem hellrosa Lipgloss. Parfumauftragend wandte sie sich zu dem jungen Mann auf ihrem Bett. "Und?", fragte sie. "Du siehst ausgezeichnet aus“, beteuerte Hendrik sofort und bückte sich, um dem Flakon auszuweichen, der hinter ihm sanft auf einem Kissen landete. Er lachte. "Schon gut, Bekka" ,sagte er." Mehr als vorher kann ich dir eh nicht sagen. Trotzdem war Julian fast eine halbe Stunde Gesprächsthema zwischen den beiden, was noch nicht viele Dinge oder Personen bisher geschafft hatten. Dann standen sie auf, um Rebekka und den Neuen einander vorzustellen. Julian - wie sollte es anders sein -knurrte nur. Nach den ersten, wie immer noch recht relaxten Wochen des neuen Semesters, hatte Hendrik noch immer keinen zusammenhängenden Satz von Julian gehört. Rebekka kannte noch nicht einmal seine Stimme. Doch einmal, Hendrik saß gerade auf dem Sofa und tat sich den Talkshow-Marathon auf gewissen privaten Sendern an, wurde er tatsächlich, sensationellerweise, von dem Jüngeren angesprochen. Wie dem auch sei. Die tiefe, noch immer ungewohnte Stimme erkundigte sich höflich - nein, eigentlich eher knapp, wo man in Hamburg am besten Klamotten einkaufen konnte. Hendrik hatte sofort das Bild eines ziemlich hilflosen, stummen Julians zwischen zahllosen Klamottenständern mit grünen Bermudas und karottenfarbenen Hemden im Kopf. Julians Miene ließ darauf schließen, dass er ähnlich dachte. Kurzentschlossen setzte sich Hendrik aufrecht hin. „Weißt du was? Ich komme Samstag einfach mit.“ Er wusste nicht, ob er es sich wirklich antun wollte, stundenlang mit einem mehr oder weniger stummen Begleiter durch die Fußgängerzone zu laufen. Bestimmt würde er anfangen, Selbstgespräche zu führen oder irgendwann einfach Reißaus nehmen, wie er es bei Shopping–Ausflügen mit Rebekka immer tat, wenn auch aus anderen Gründen. Auf der anderen Seite jedoch hatte er versprochen, auf Julian aufzupassen und anscheinend war dies notwendiger als seine Statur vermuten ließ. „Und denk daran, kein Hemd anzuziehen!“, warnte er halb scherzhaft. Er hoffte, dass Julians Gesicht nur düsterer zu sein schien als sonst. Wenn Hilfsbereitschaft nämlich mit bösen Blicken vergolten werden würde, fände es Hendrik sehr deprimierend. Kaum sahen sie sich danach noch, da die Vorlesungen und Hendriks Nebenjob als Kellner ihnen kaum Zeit ließen, aber tatsächlich saß Julian am Samstagmorgen bereits am Küchentisch, in einem schwarzen Poloshirt und Jeans und wartete auf ihn, als Hendrik die Küche betrat. Ausnahmsweise kam die Schweigsamkeit des Erstsemesters beiden entgegen, da der Ältere ein echter Morgenmuffel war. Sie hatten bloß zwei Worte gewechselt („Morgen“ – „Morgen“), als sie bereits in der Einkaufsstraße angekommen waren. Von Übermut beseelt (und um Julian, der sich ja kaum wehrte, zu triezen) hielt Hendrik ihm ein schweinchenrosa Shirt vor die Brust. „Würd` zu dir passen“, bemerkte er. Der Jüngere protestierte. „Zieh du es doch an!“ Dann lachte er. Es klang genauso wie wenn er sprach: Tief, ruhig und unaufdringlich. Trotzdem lachte Hendrik mit. Den ganzen Tag über litten beide immer wieder unter Heiterkeitsausbrüche. Großartige Gespräche kamen zwar immer noch nicht zustande, aber dass hatte der Ältere inzwischen aufgegeben. Warum auch sprechen, wenn man so Spaß haben konnte? Um viele Euros ärmer, mit zahllosen Tüten gefüllt mit nützlichen und weniger nützlichen Dingen und den Bäuchen voller Fast Food kamen sie abends nach Hause. Lächelnd wünschte Julian seinem Begleiter eine gute Nacht und verschwand in seinem Zimmer. Hendrik tat es ihm gleich und wollte sich wie üblich sofort auf sein Bett begeben, nur saß da schon jemand. Rebekka saß aufrecht auf seinem Bett und las eines ihrer verqueren Bücher, in denen Thesen wie Wolken umherschwirrten. Die junge Frau jedoch hatte beide Beine fest auf dem Boden – in übertragener Hinsicht – und taxierte Hendrik aus hellen Augen. „Ich halte das für keine gute Idee“, meinte sie. Sofort sankt die Laune des Heimgekehrten. „Was denn?“ Rebekka schnalzte mit der Zunge, obwohl, oder gerade weil, sie wusste, dass ihr Mitbewohner es nicht leiden konnte. „Du weißt genau, was ich meine.“, sagte die ungeduldig. Hendrik brauste auf. „Du hört dich ja an wie meine Mutter.“ Das war eine glatte Lüge, denn seine Mutter sagte so etwas nie. Er hatte es nur bei anderen Müttern gesehen. Rebekkas Blick zeigte ihm auch, dass er kindisch wurde und irgendwie musste er ihr Recht geben. Sie fuhr fort: „Du könntest natürlich Glück haben. Aber genauso wahrscheinlich ist es, dass er dir eine `reinschlagen wird. Stille Typen sind gefährlich.“ Er trat nahe genug an das Bett, dass sie das Spiel seiner Muskeln selbst durch sein T-Shirt hindurch sehen musste. „Noch etwas?“, fragte er kalt. Er wusste gar nicht, wieso. Es ging ihm eigentlich nicht darum, ob er tatsächlich etwas von Julian wollte. Er wollte einfach dessen Ehre verteidigen. Das Mädchen seufzte. „Ach, mach einfach, was du willst.“ Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. In den nächsten Wochen rückten die WG-Mitglieder näher zusammen. Ab und zu aßen sie zusammen und ein oder zwei Mal unterhielt sich Hendrik sogar mit Julian. Zumindest, wenn man alles als Unterhaltung bezeichnete, was ein Dialog aus mehr als zwei zusammenhängenden Sätzen war. Sogar die Lieblingsmusik seines Schützlings fand Hendrik heraus und stellte erfreut fest, dass er sich nicht bei dieser würde die Ohren zuhalten müssen. Ganz im Gegenteil beschlossen sie, an diesem Wochenende gemeinsam auf ein kleines Punk-Konzert in einer Kneipe zu gehen. Das Konzert war gut – viel Bier, viel Lärm, viele Menschen in geradezu ekstatischer Stimmung. Leider gehörten zu diesen auch alte Bekannte Hendriks, die er schon fast vergessen hatte. Oder besser gesagt, die er unbedingt hatte vergessen wollen. Das Konzert war zu Ende. Julian und Hendrik waren zwar verschwitzt und nüchtern, doch guter Laune. Auf dem Weg hinaus scherzten und lachten sie (wobei Julian eigentlich nur lachte), als sie eine undeutliche Stimme hörten. „Ey, He – endrik, wersenn dein Freund?“ Trotz der schwerverständlichen Aussprache klang sie hämisch und der hagere junge Mann, der an der Wand lehnte sah aus, als suche er nach Ärger.- „Schnauze Chris!“, rief Hendrik nur und hoffte, dass es wirkte. Gab es nicht mal zur Hoffnung irgend so einen Spruch? Dummerweise war es dieses mal wieder Murphy’s Law, die zutraf. Chris spuckte aus und trat näher an die beiden Studenten heran. Hendrik spannte die Muskeln. Als Kellner wusste er, wie man mit Besoffenen umging. Der Betrunkene, um den es jetzt ging, plärrte weiter. „Sch-sch-scheiß Schwuchtel.“ Seine Worte wurden plötzlich furchtbar klar, stechend. „Lass deinen persönlichen Schwanzlutscher beim nächsten Mal zu Hause. Dann zeig ich dir, wie’s richtig geht.“ Der junge Mann mit den fast blonden Haaren wollte einfach weitergehen, da er wusste: Christian, der Betrunkene, hatte eine menge Komplexe zu verarbeiten. Jeder wusste das. Abgesehen von Julian natürlich. Mit einem Schritt war dieser bei dem Pöbler und ehe Hendrik auch nur einen Finger hätte rühren können, platzierte er seine untrainierte, aber große Faust in dem Gesicht des für ihn Fremden. Erschrocken zerrte Hendrik ihn weg. Es bereitete ihm zwar kaum Mühe, aber irgendetwas in ihm ballte sich zusammen. Wie gerne hätte er Christian jetzt richtig verprügelt! Die Bushaltestelle lag direkt vor der Tür, dort hielten auch die Taxen. Doch das Glück war ihnen hold: Der letzte Bus zu ihrem Viertel hatte Verspätung und hielt gerade vor ihren Nasen, so dass sie auf kein Taxi warten mussten. Hendrik schob Julian hinein und auf einen Sitz. Er setzte sich hinzu und spürte, wie sich seine Fingernägel durch den Jeansstoff bohrten. Verdammter Körper! Immer wieder verriet er ihn und zerstörte sowohl Träume als auch Erfolge. Plötzlich spürte er Julians Kopf mit dem noch immer feuchten, warmen Haar auf seiner Schulter landen. Wie eine Statue saß Hendrik da und befürchtete, eine Drohung zu hören, wie man seine Stimme rasch auf Sopran würde bringen können. Doch es war kein wütendes Zischen, sondern das übliche Nuscheln, das an seine Ohren drang. „Und, ist es wahr?“ Ein kurzes, hysterisches Kichern antwortete. „Was, dass du mein persönlicher Schwanzlutscher bist? Das müsstest du doch genauso gut wissen wie ich.“ Julian richtete sich auf. Obwohl er noch immer starr geradeaus schaute, wusste Hendrik, dass er den Kopf schüttelte. „Nein“, meinte der Jüngere leise, als hätte er die Antwort seines Freundes wirklich ernst genommen. „Dass du schwul bist.“ Hendrik zögerte. Aber was konnte er anderes antworten als die Wahrheit? „Ja.“ Erneut nickte Julian. Langsam, bedächtig, wie sonst auch – bevor er ausgerastet war. Rebekka hatte wohl Recht gehabt: Die Stillen waren gefährlich. Endlich schaute der Athlet wieder zu dem Anderen. Und er entdeckte ein kleines Lächeln und Grübchen auf den Wangen des Größeren. Sein Blick sagte deutlich „Ist in Ordnung.“ Und ausnahmsweise bekräftigte seine Zunge das Statement. „Wieso hast du ihn dann geschlagen?“, wollte Hendrik wissen. Julian dachte nach. Dann grinste er. „Ich mag keine Idioten“, erklärte er einfach. Der Ältere genoss den Rest der Fahrt samt der Nähe des Anderen. Nun, da anscheinend jede Chance verschwunden war, musste er es ja zugeben. Julian war ihm mehr als nur sympathisch. Das Verhältnis zwischen den beiden verbesserte sich weiter. Es wurde offener. Sie sprachen viel und vor allem bestritt Hendrik die Gespräche nicht mehr alleine. So wie ihre Freundschaft wuchs, so spürte er die wohlbekannte Melancholie, wenn er Julian ansah. Als Homosexueller war es schwer, davon verschont zu bleiben. Schließlich geschah etwas Ungewöhnliches. Das Wintersemester war bereits im Endspurt, als Fenja anrief. Das jedoch war nicht ungewöhnlich. Genauso wenig wie Hendriks genervte Stimmlage, als er abhob. Das wirklich Ungewöhnliche war, dass er nach einer halben Stunde, als Julian nach Hause kam, noch immer auf dem Sofa saß und den Kopf in beide Hände gestützt hielt. Bald spürte er die Wärme eines Armes, der sich um seine breiten Schultern legte. Er war sich sicher, dass Julian so lange in dieser Haltung verharren würde, bis er sprach. Und es dauerte eine ganze Weile, bis er dazu in der Lage war. „Weißt du“, begann er. Irgendwie war dies sein Lieblingsanfang. Es war vermutlich ein Wunsch. Er glaubte gerne, dass es jemanden gab, der tatsächlich alles über ihn wusste und es auch verstand. „Ich habe einen Vater“, fuhr er logisch vor. „Er lag im Koma. Seit zehn Jahren hat er sich nicht gerührt und jetzt ist er wach. Meine Mutter meinte, seine Gehirnfunktionen seinen fast wiederhergestellt.“ „Das ist doch super“, meinte Julian, doch Hendrik schüttelte den Kopf. „Das Problem ist, dass es meine Schuld war. Er… erwischte mich mit einer… nun, mit einer Zeitschrift, die wohl kein Vater in den Händen seines zwölfjährigen Sohnes sehen will. Er wollte mich `zur Raison bringen`. Ich schubste ihn. Er fiel unglücklich.“ Seine Stimme wurde leiser, doch Julian war so nahe, dass er zumindest akustisch alles verstehen musste. Hendrik spürte, wie die Hand seines Mitbewohners über seinen Rücken strich. Er rutschte weg. „Ich will dein Mitleid nicht!“, erklärte er fest. Fast sah es so aus, als wäre der Erstsemester verletzt. „Das ist kein Mitleid!“, stellte er zornig klar, aber in Dunkeln lassend, wie es nun genau gemeint war. „Ich werde mit dir zu deinem Vater fahren. Und wenn er dich nicht akzeptiert, werde ich dich von ihm fernhalten, bis er alles vergessen hat. Du musst keine Angst haben.“ Hendrik wusste nicht, ob Julian den letzten Satz hinzugefügt hatte wegen der furchtbaren Drohung, die in seinen Worten lag oder einfach aus Sorge. Obwohl seine Hand schwitzig war, ließ Hendriks Begleiter sie nicht los. Und das war nötig. Bei jeder Station, die ihn näher zu seinem Vater brachte, wünschte er sich mehr und mehr, auszusteigen und wegzulaufen. Immer mehr musste er sich zwingen, sich nicht einfach von Julian loszureißen. Er fürchtete nicht, dass sich Bernd, so hieß sein Vater, an den Sturz erinnern würde. Das wäre für sie beide kein Thema. Eher der Auslöser des Unglücks fraß ihn. Wenn Bernd beginnen würde, diesen wichtigen Teil in seinem Sohn zu hassen, was sollte er dann tun? Nahe dem Heimatort der beiden jungen Männer lag ein hübsches, kleines Krankenhaus. Es hatte weitläufige Parkanlagen, war in einem schönen Altbau untergebracht und die Vögel zwitscherten in der bereits warmen Frühlingsluft. Aber die Flure rochen genauso nach Verbänden, Urin und Chemikalien wie in jedem anderen Krankenhaus. Am Tor, noch in der hellen Welt, begrüßte sie Fenja mit einem warmherzigen Lächeln, obwohl sie deutliche Zeichen von Stress zeigte. Sie erklärte ihnen den Weg zu dem Krankenzimmer des ehemaligen Komapatienten und sagte, sie wolle noch etwas draußen stehen bleiben. Es war ihre Art, dem Sohn Freiraum zu lassen. „Ich kann es nicht!“ Bereits zum vierten Mal war Hendrik stehen geblieben. Er beteuerte immer wieder, dass es doch eigentlich egal war, und immer wieder sagte er: „Ich kann das nicht“. Diesmal ergriff Julian wieder seine Hand und stellte sich vor ihn. „Doch“, flüsterte er. „Wir beide kriegen das hin.“ Er gab seinem Beschützer einen Kuss auf die Lippen. Zärtlich, sanft – eindeutig nicht nur Mitleid. Hendrik wich erschrocken zurück. „Wieso hast du nichts gesagt?“, fragte er. Julian zuckte mit den Schultern und grinste. „Es schien mir nicht wichtig zu sein.“ Sein triumphierender, glücklicher Blick jedoch sagte etwas anderes. Hendrik verstand es. Hätten sie von Anfang an darüber gesprochen, wäre es eine Zwangsehe geworden. Zwei junge homosexuelle Männer in einer WG – die Erwartungen aller Seiten waren offensichtlich. Um nicht weiter darüber nachzudenken, denn eigentlich wollte er es gar nicht wissen, erwiderte er den Kuss und zog Julian weiter. Das schaffen wir! Immer wieder sagte er sich das, wie ein Mantra. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)