Verräter von Arcturus ================================================================================ Sie saßen beisammen, noch nicht sehr lange. Eigentlich hatten sie nie lange beisammen gesessen. Sie kannten sich schon ewig. Sie waren jung. Sie trennten Welten. Sie standen am Abgrund. Ein jeder dort, wo er nicht sein wollte, dem anderen gegenüber, wo er selbst nicht sein konnte, den eigenen Abgrund im Rücken. „Er wird dich umbringen.“, sagte der eine leise. Er war ein junger Mann, vielleicht zwanzig, klein, seine Familie neigte im Alter zur Dickleibigkeit, doch man sah es noch nicht. Der Blick seiner wässrigen blauen Augen ruhte überraschend klar auf seinem Gegenüber. Auch er ein Mann. Noch ein halbes Kind. Unter seinem schwarzen Haarschopf sah er aus, als wäre er noch nie dick gewesen und hätte in den letzten Monaten noch an Gewicht verloren. „Ich werde ihm keine Gelegenheit dazu geben.“, erwiderte er ruhig, drehte das Glas in seinen trockenen Händen. Das Licht waberte nur dämmrig im Raum und ließ sein blasses Gesicht in den Schatten liegen. Es war nichts kindliches an ihm. Der Mann mit den wässrigen Augen wusste, dass es ihm ernst war. „Du könntest gut leben, das weißt du. Du hast die Herkunft, du hast die Talente.“ „Allein mir fehlt der Geist.“ Keiner von ihnen lachte über den Witz. „Er hält viel auf dich.“ „Ich halte nicht viel auf ihn. Du?“ Er ließ sich in aller Ruhe mustern. In diesem Moment hatten sie alle Zeit der Welt, es war später Nachmittag. Schließlich stellte er sein Glas auf den Tisch, ohne getrunken zu haben. „Aber du bist mutiger als ich.“, stellte der ältere der beiden Männer fest. In diesen Momenten, so wurde ihm klar, sah der Junge seinem Bruder ähnlich. Er hatte die gleichen feingeschnittenen Gesichtszüge, das gleiche dunkle Haar und die gleichen hellen grauen Augen. Damit endeten die Gemeinsamkeiten. „Ich bin feige.“ Er lachte und es war ein ganz anderes Lachen als das seines Bruders. Aber neuerdings genauso humorlos. „Ich ziehe mich aus der Affäre wie ein geprügelter Hund.“ Die Art, wie er das letzte Wort aussprach, ließ keinen Zweifel daran, dass er es wusste, alles. Und niemand würde je erfahren, dass er es tat. Diese Gedanken waren ihnen vorbehalten gewesen, seit sein älterer Bruder sie einander vorgestellt hatte, vor acht Jahren. Er war mit dem älteren Bruder in einer Klasse gewesen. Sie waren keine Schüler mehr. Sie waren noch keine Erwachsenen. Sie fühlten sich unendlich alt. „Ich bin der, der feige ist.“, murmelte er, strich sich dabei über den kurzen, ungepflegten, blonden Bart. „Das macht dich zum Menschen.“ „Aber nicht zu einem guten. Das weißt du.“ „Aber es ist nicht mehr mein Problem.“ „Du ziehst dich wirklich aus der Affäre.“ Er nahm sein Glas in die Hand. Leerte es in einem Schluck und schmeckte die goldene Flüssigkeit kaum. Es roch muffig nach Alkohol, dem Schweiß vieler Menschen und unterschwellig nach dem Erbrochenen der letzten Nacht. Man hatte Holyhead Harpies gegen Wimbourne Wasps live im Radio übertragen. Zauberer kannten keinen Fernseher. Die Nacht war lang gewesen und feucht, aber nicht fröhlich, die Wimbourne Wasps hatten gesiegt. Die abgestandene Atmosphäre lag noch immer in der Luft und ließ sie ersticken. Es war Sommer. Sie waren am Ende, nicht am Ende ihres Weges, noch nicht. Sie waren tote Männer. Der mit den wässrigen Augen leerte sein Glas nicht. Sie verließen den Pub schweigend und vergaßen, dass sie sich getroffen hatten, vergaßen, dass es den jeweils anderen gab, auf der anderen Seite, mit dem Rücken zum Abgrund, und starben vor sich hin. Sie hatten nie lange beisammen gesessen. Die Welt einte sie. Sie starben langsam. Sie waren längst tot. 1979. 1998. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)