Kainsmal von YourBucky ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es ist vollbracht!!! *ggg* Der Anfang dieser Horror-Kurzgeschichte gammelte seit etwa einem Jahr auf meinem PC rum, vielleicht sogar noch ein wenig länger... und vor kurzem hatte ich irgendwie Lust dazu, das ganze weiterzuschreiben und jetzt... ist es fertig. ^_^ Beim Schreiben kam es mir irgendwie schlimmer vor als beim Lesen, trotzdem würd ich mich freuen, wenn ich euch wenigstens ein klein bißchen ängstigen könnte. Jedenfalls macht die Untermalung mit Psycho-Musik (zu empfehlen z.B. Silent Hill 1 und 2 OST) das Ganze viel atmosphärischer... Soooo, und, ob du's willst oder nicht... das hier widme ich Son Goku Daimao, meinem FF-Autor, weil mich die wundervoll kranke Stimmung seiner unbeschreiblich genialen Stories (UNBEDINGT lesen!!!) so schön inspiriert und motiviert hat! *knuddl* Viel *irre grins* Spaß beim Lesen... zu Risiken und Nebenwirkungen befragen sie den Arzt ihres Vertrauens! ^_~ Kainsmal Süß. Wenn Frauen kleine Kinder sahen, riefen sie zuerst einmal süß. Niedlich. Irgendetwas Quietschiges und Schrilles und Euphorisches. Vielleicht machte das ihr Mutterinstinkt, der ihnen einhämmerte, dass sie da ein absolut hilfloses und unschuldiges Etwas vor sich hatten. Etwas, das man knuddeln und beschützen und eben bemuttern musste um jeden Preis. Etwas Süßes. Zu Layne hatten sie niemals süß gesagt. Sie hatten nicht gequietscht und nicht gekichert und nicht einmal mit diesen peinlichen Gesten vor seinem Gesicht herumgefuchtelt. "Das ist aber ein kluger Junge!" hatten sie gemeint. Oder: "Er ist ja schon richtig gewachsen!" Das sagten Großmütter, wenn sie ihr Baby nach langen Jahren des einsamen Dahinvegetierens in ihren dunklen leeren Wohnungen mit vergilbten Blumentapeten als Erstklässler wiedersahen. Aber ohne den Druck von Blumentapeten und ohne großmütterliche Weisheit und Besonnenheit reagierten junge Frauen normalerweise nicht so. Bei Layne schon. Sie wuschelten ihm nicht durch sein halblanges, dunkelbraunes Haar, wenn sie den kalten Ausdruck in den Kinderaugen sahen, die hinter das Glas einer für das zarte Gesichtchen viel zu großen Brille gesperrt waren. Erschrocken weiteten sich für einen Moment ihre Augen, so dass man das feuchtglibberige Weiß um ihre Pupillen sehen konnte, nur ganz kurz, aber Layne hatte einen Blick für diesen Sekundenfetzen des Schreckens entwickelt. Er kannte ihn ebenso wie das darauffolgende falsche Lächeln, die widerwärtig vorgeheuchelte Freundlichkeit in der Stimme. Es war jedes Mal das Gleiche. Es erschreckte sie, dass Layne etwas im Blick hatte, das nicht in die Augen eines Kindes gehörte. Sie fühlten sich durchschaut, wenn er sie ansah. Das und sein ernster Gesichtsausdruck machte ihnen Angst. Teufelskind wurde er manchmal genannt, hinter seinem Rücken, wenn sie glaubten, er würde sie nicht hören. Sie wussten ja nicht, dass Layne wirklich sehr gute Ohren hatte. Trotzdem kamen sie, und sie kamen gerne. Layne kannte den Grund. Der Grund hatte zwei dunkelbraune Zöpfe und leuchtend braune Augen. Der Grund war seine Zwillingsschwester. Lyna war so ein typisches Niedlichkind. Fröhlich, offen, naiv. Aber das war nicht alles. Lyna war dumm. Das war nicht nur die Meinung eines Bruders, es war eine Tatsache. Bei der Geburt hatte Layne zuviel und Lyna zuwenig Gehirn abbekommen. Vielleicht war es auch etwas anderes, aber er war zu schlau und sie zu dumm. Das mochten die Erwachsenen. So sollte ein Kind sein. Sie waren gerührt von Lynas animalischer, von niederen Instinkten gelenkter Intelligenz. So war ein Kind richtig. Eine Puppe zum Spielen und Drücken und Liebhaben, die mit derselben tiefen, selbstlosen Dankbarkeit einer jungen Katze die mütterlichen Gefühle mit Anhänglichkeit und ehrlicher Zuneigung erwiderte. So war Layne natürlich nicht. Er dachte und er dachte richtig. Das machte den Menschen Angst. Und er wusste Dinge, die er nicht wissen sollte. Die niemand wissen sollte. Jetzt nicht und niemals. Heute war wieder so ein Tag, an dem die Freundinnen seiner Mutter zusammen mit Lyna in den Park zum Entenfüttern gegangen waren. Er war allein zuhause geblieben. Hatte mit angehaltenem Atem gelauscht, auf das Geräusch der Türe, wie sie in das vom Winter vereisten Schloss gefallen war. Die Schritte sich entfernt hatten. Dann sprang er von seinem Bett und schlich aus dem Zimmer. Er teilte sich einen Raum mit seiner Schwester. Die Wände neben ihrem Bett waren mit Pferdepostern und Bildern von Küken und tapsigen Katzenbabys zugeklebt. Stofftierchen hockten überall auf dem Bett und auf dem Boden. Seine Zimmerhälfte war vergleichsweise leer. Ein einsames Poster des Mondes in einem türkisblauen Nachthimmel schmückte seine ansonsten schneeweiße kalte Wand. Ein Teddy hockte auf dem dunkelblau bezogenen Schreibtischstuhl. Er hatte ihn zu seiner Geburt bekommen. Aber er lag schon lange nicht mehr neben ihm im Bett. Auf Zehenspitzen schob er sich an der spaltbreit geöffneten Türe vorbei, lief dann hastig über den Flur auf ein hinter einer hohen, dunklen Tür verborgenes Zimmer zu. Mit klopfendem Herzen holte er einen Schlüssel unter dem grauen Türvorleger hervor - ein Versteck, das seine Eltern doch tatsächlich für sicher hielten - und öffnete die schwarze Pforte. Für ihn war es, als trete er geradewegs durch das Himmelstor in sein Paradies. Für ihn war dies der schönste Raum des ganzen Hauses. Das Arbeitszimmer seines Vaters. Hier stapelten sich wissenschaftliche Zeitungen, Medizinbücher und Krankenakten. Layne konnte stundenlang in diesen Dokumenten wühlen. So wie andere, normale Kinder die Zeit über einem stupiden Comic vergessen konnten, ging es ihm mit all den wundersamen Aufschrieben in diesem Büro. Wie immer konnte er sich gar nicht entscheiden, wem er sich zuerst widmen sollte, entschied sich aber schließlich für einen verlockend neben dem Schreibtisch gestapelten Zeitschriftenberg. Beinahe ehrfürchtig ergriffen seine kleinen Finger das Hochglanzmagazin, blätterten eine Seite nach der anderen um. Schließlich blieben seine braunen Augen an einer dicken schwarzen Überschrift hängen. Das Kainsmal. Die seriös kleingehaltenen Buchstaben übten eine Anziehungskraft auf ihn aus, die er sich selber nicht erklären konnte. Er hockte sich auf den Teppich und begann zu lesen. "Forscher entdeckten, dass das Mal des biblischen Brudermörders nicht auf der Stirn lag, sondern in seinem Gehirn." Ein kalter Schauer lief Layne den Rücken herab. Wie mechanisch las er weiter. Las, dass bei Serienkillern, deren Gräueltaten in den schillerndsten Farben beschrieben wurden, ein Teil des Gehirnes fehlte oder zerstört worden war. Bei einem Unfall. Von einer Krankheit. Ohne das Moralzentrum konnten Menschen zu mordenden Bestien werden. Die nicht einmal verantwortlich waren für ihre Taten, weil sie gar nicht begriffen, dass sie falsch und grausam handelten. Menschen, die nicht intelligent genug waren, ihre Fehler zu begreifen. Layne sprang auf und warf die Zeitschrift auf den Boden. Er fuhr herum und starrte auf die kleine Gestalt, die in der Türe stand und ihn wortlos aus schwarzbraunen Augen anstarrte. "Hau ab, Lyna!" rief er, hob mit zittrigen Händen das Magazin auf und legte es zurück auf den Stapel. Dann rannte er aus dem Zimmer, schloss leise die Türe und stieß seine Schwester von dem Türvorleger, unter den er jetzt hastig den Schlüssel legte. "Du hast nichts gesehen, ja?" Fuhr er das Mädchen an. Lyna blinzelte nur. Ihre Augen waren starr, beinahe ausdruckslos und leer. "Ich war nicht hier!" Dann lief er auf sein Zimmer. Es war eine sternenlose Nacht. Layne lag in seinem Bett, die Decke bis zum Kinn hinaufgezogen. Lynas Bett war noch leer. Von draußen kreischte der Wind hinein, versuchte, sich einen Weg durch die Ritzen in den Fensterläden zu bahnen, ließ das Holz mit der abgeblätterten weißen Farbe in den Angeln hin- und herschlagen wie ein gefesseltes, panisches Tier. Er wandte sich ab und sah stattdessen zur halb geöffneten Tür hin. Dahinter lag triefende Dunkelheit. Sein Herz begann, schneller zu schlagen, dass er beinahe meinte, das Echo des heftigen Pochens im Raum wiederhallen zu hören. Oder waren das Schritte? Seine Hände krallten sich fest in den nachtblauen Stoff seiner Bettdecke. Er meinte, in den Schatten auf dem Flur etwas erkennen zu können, dass noch dunkler, noch schwärzer war. Ein schemenhafter Umriss und zwei rollende Augen, die ihn gierig und geifernd ansahen. Layne zog sich die Decke über den Kopf und hielt seinen Atem an. Seine Augen waren weit geöffnet, er bewegte sich nicht. Tock. Tock. Tock. Schritte auf dem Fußboden. Nicht auf dem Teppich des Flures. Auf dem Holzboden seines Zimmers. Tock. Tock. Tock. Layne spürte, dass ihm Schweiß auf der Stirn stand. Das wabernde Grau des von einer Kinderlampe erhellten Zimmers verschwamm mit dem erdrückenden Blau des Stoffes. Tock. Tock. Tock. Die Kälte einer kleinen knochigen Hand schob sich langsam unter die Decke. Kam näher und näher zu seinem Arm, aber Layne wagte nicht, sich zu bewegen. Das Weiß seiner weit aufgerissenen Augen leuchtete in der schweren Dunkelheit. Die Skeletthand schnellte vor und packte ihn am Arm. Die kurzen dünnen Finger schlossen sich um seine Haut, sein Fleisch. Layne schrie auf, warf die Decke von sich und drängte sich panisch um sich schlagend gegen die Wand. Er schrie und schrie, ohne seine Augen zu öffnen, mit der Gewissheit, dass die Hand ihn packen und erwürgen, ihm seine Gliedmaßen einzeln ausreißen und sich in seinem Blut suhlen würde, wenn er nur einen Blick auf das namenlose Grauen vor ihm werfen würde. Zwei Hände packten ihn mit unerbittlicher Härte. Layne schrie noch lauter und panischer und versuchte mit all seiner Kraft, sich aus dem Griff zu befreien, der ihn festhielt, gegen die raue kahle Wand drückte. Er bekam kaum noch Luft. Er konnte sich nicht wehren, es war vorbei! Jetzt war alles vorbei... "Layne... LAYNE!!!" Die Stimme seiner Mutter? "Mum, Muuuuum, Mum, hilf mir, hilf mir!!!" schrie er. "Layne, jetzt halt still, beruhige dich schon!" "Muuuu... Mum?" Layne riss die Augen auf. Erst jetzt begriff er, wer ihn gerade bei den Schultern gepackt hielt. Es war nicht mehr die dürre kleine Hand, es waren die Hände seiner Mutter!!! Langsam beruhigte sich sein Atem. "Was ist denn? Was schreist du denn so?" fragte die Frau. "Ich... da war eine Hand unter meiner Bettdecke!" rief Layne mit zittriger Stimme. "Sie hat mich am Arm gepackt! Sie wollte mich töten, dass weiß ich! Sie war so dünn und klein und knochig!" "Du hast bestimmt schlecht geträumt!" meinte die dunkelhaarige Frau nun viel sanfter und drückte den Jungen an sich. "Nein, nein bestimmt nicht!" protestierte Layne. Er war sich vollkommen sicher, dass er sich den Eindringling nicht eingebildet hatte. Er war doch wach gewesen! Andererseits... natürlich gab es keine Monster und Skeletthände. Er holte tief Luft. "Es ist schon OK, Mum!" meinte er eilig, bevor seine Mutter zu einer Antwort ansetzen konnte. "Ich schlafe jetzt weiter, ja?" Die Frau lächelte, strich ihm über seine verstrubbelten Haare und ging dann leise aus dem Zimmer. Erst jetzt fiel Laynes Blick auf die Gestalt des kleinen Mädchens, das schweigend und mit ausdruckslosem Blick in seine Richtung sah. Sie hatte eine ihrer zierlichen Hände unter die Bettdecke geschoben. "Hau ab, Lyna!" rief Layne und stieß seine Schwester vom Bettrand weg. Dann verkroch er sich unter seiner Decke. Schlafen konnte er nicht. Irgendwann hatte den Jungen wohl doch die Erschöpfung übermannt, seine Angst besiegt, und ihn in einen unruhigen Schlummerzustand versetzt. Jedenfalls erwachte er am nächsten Morgen. Sein Bett war nassgeschwitzt. Er wühlte sich unter der Decke hervor. Mit seinen kalten braunen Augen blickte er auf das Bett seiner Zwillingsschwester. Sie lag da, wie ein schlafender kleiner Engel. In ihr rosafarbenes Deckchen gehüllt, einen kleinen, schneeweißen Teddy mit zerzaustem Fell fest in den Armen. Ihr offenes Haar war lockig geworden vom Flechten. Layne verzog das Gesicht und stand eilig auf. Er öffnete die Tür, die als Protest ein leises Jammern von sich gab. Wie ein Katzenkind, dachte sich der Junge. Ein Katzenkind, wenn man es aus dem Fenster wirft. Am Ende des Ganges hörte er plötzlich das Verstummen von Schritten. Layne hatte sie nicht bemerkt, erst jetzt, als sie in unnatürlicher Eile anhielten, wurde ihm bewusst, dass sie überhaupt da gewesen waren. Der Teppich dämpfte die Geräusche. Das Kind drehte sich nur langsam um. Die Angst des gestrigen Abends kam nicht wieder in ihm hoch. Das lag vor allem daran, dass von wem auch immer der hinter ihm stand keinerlei Bedrohung ausging. Sondern Furcht. Am Ende des Ganges stand sein Vater. Obwohl er seine Eltern beide nicht besonders mochte, war ihm seine Mutter immer noch lieber als sein Vater. Sie war eine grundehrliche Frau. Nicht besonders schlau, das hatte sie mit seiner Schwester gemeinsam, aber mit einer unglaublichen praktischen Intelligenz gesegnet. Sie war jedoch oft allzu gutgläubig, vor allem bei sich selbst. Es war schwer zu beschreiben, aber diese Frau glaubte immer daran, dass ihre Taten gut waren, und wenn sie einmal falsch handelte, merkte sie das aus eigener Kraft gar nicht. Sie wollte aber für andere immer nur das Beste. So war sie nun mal. Sein Vater war anders. Ein Theoretiker wie er im Buche stand. Und irgendwie falsch. Er war ein bisschen so wie die babyfanatischen Freundinnen seiner Frau. Natürlich nicht vom Charakter her, aber vom Verhalten gegenüber Layne. Wie er sich immer umsah, bevor er einen Raum betrat. Wie er sich grundsätzlich im Flüsterton unterhielt, jeden Tag, bevor er zur Arbeit ging, noch einmal kontrollierte, ob auch all die Türen richtig verschlossen waren. Und der Blick in seinen Augen, wenn er den Jungen betrachtete. Er hatte Angst vor seinem eigenen Sohn. "Guten Morgen, Layne, wie hast du geschlafen?" Krampfhafte Ruhe. "Gut." Laynes Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Er legte seinen Kopf ein wenig schief und kniff die Augen leicht zusammen. "Du... du warst in meinem... Arbeitszimmer..." Der Tonfall des Mannes sollte vorwurfsvoll klingen, aber es gelang ihm nicht wirklich. "Aber die Türe ist doch verschlossen!" Layne lachte. "Und wieso sollte ich in dein Zimmer gehen, wenn du es nicht willst?" "Aber... deine Schwester..." "Sie ist ein Miststück. Nutzt euer Mitgefühl für ihre eigene scheinbare Dummheit schamlos aus, ist es nicht so?" Layne genoss das Entsetzen, dass vom Gesicht seines Vaters Besitz ergriffen hatte. Dann jedoch fing sich der Mann wieder, trat auf seinen Sohn zu und schlug den kleinen Jungen mit zornesrot angelaufenen Wangen ins Gesicht. "Halt den Mund, du Teu... Layne!!!" "Teufelskind!" rief Layne und rannte zurück auf sein Zimmer. Dann warf er seiner Schwester ein Kissen auf den Kopf, bis sie aufwachte. "Ich verstehe einfach nicht, was mit dem Kind los ist!" Layne lag mit angehaltenem Atem auf der obersten Stufe der Treppe und lauschte dem leisen Gespräch der Eltern. Schon wieder dieses Geflüster!!! Glaubte sein Vater etwa, der Junge würde ihn aufschlitzen, würde er ein wenig lauter reden? Bei dieser Vorstellung musste Layne lächeln. "Jaja, ich weiß schon!" erwiderte die Mutter, in beinahe normalen Tonfall. Hatte sie denn überhaupt keine Angst? "Aber lange ist es nicht mehr so." Ein Seufzen. "Es geht zu Ende mit ihr, jaja." "Dann wird sich alles ändern." "Ja, endlich." Der Rest des Gespräches verlor sich neben dem Geräusch der rohen Fleischklumpen, die in dem heißen Fett der Pfanne erschrocken aufschrieen. "Layne nicht mithören!" Der Junge fuhr herum - so gut das im Liegen eben möglich war - und blickte voller Entsetzen in die starren Augen seiner Schwester. Er konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht laut zu schreien. "Hau ab, Lyna!" zischte er. Das Mädchen blinzelte. Dann drehte sie sich wortlos um und tapste den Flur entlang. Layne rückte sich seine Brille zurecht. Er war verwirrt, und das kam selten vor bei ihm, wirklich sehr selten. Es geht zu Ende mit ihr... Meinten sie etwa Lyna? Aber wieso waren sie denn erleichtert darüber? Es sei denn, sie wussten... Laynes Herz begann, schneller zu schlagen. Er wusste plötzlich, was er zu tun hatte. Er musste im Arbeitszimmer seines Vaters nachsehen! Vorsichtig drehte der Junge den Schlüssel in dem golden glänzenden Schloss herum. Das hatte er noch nie getan! Diesen verbotenen Raum zu betreten, solange seine Eltern noch im Haus waren. Wenn sein Vater ihn nun entdecken würde... "Und wenn schon..." murmelte er. Sein Vater war doch ein Feigling! Layne würde es allemal schaffen, dem Mann Angst einzujagen, was sollte dieser Mensch ihm denn schon antun? Er schlich zu dem Regal hin, in dem sich dicke Ordner voll von Krankenakten dicht aneinander drängten. Seine großen Augen suchten nach dem richtigen Buchstaben im Alphabet und blieben endlich bei einem grauschwarzen Pappschuber hängen, auf dessem weißen Etikett ein großes rotes R prangte. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an das Fach heranzukommen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er den Ordner herauszog und mit seinen kleinen Fingern den Buchstaben L suchte. Mit dem beängstigend methodischen Blick eines Mannes, der bei seiner Arbeit schon jahrelang Akten durchsucht hatte, überflog er jedes einzelne Blatt mit fahriger Exaktheit. Er kannte dieses Büro mittlerweile wie seine eigene Westentasche und er wusste, worauf er bei diesen medizinischen Texten zu achten hatte. Rivergate, Lyna. Layne hielt den Atem an und zog die Akte vorsichtig aus dem Schuber hervor. Seine großen braunen Augen warfen nur für den Bruchteil einer Sekunde einen hasserfüllten, verachtenden Blick auf das Foto des Mädchens. Am liebsten hätte er ihr auf der Stelle die dümmlich dreinblickenden Hundeaugen ausgestochen! Aber... nein. Das war nicht seine Art. Und außerdem hatte er Wichtigeres zu tun. Der kleine Junge studierte mit offenem Mund das medizinische Gutachten seiner Zwillingsschwester. Die unzähligen Fachbegriffe schreckten ihn nicht ab, im Gegenteil. Er hatte schon viele der Akten gelesen und war von ihrem Inhalt so fasziniert gewesen, dass er sich selbstverständlich auch weitergebildet hatte. Ein kleines Lexikon trug er immer bei sich in der Tasche. Irgendwann hatte er das Büchlein wohl aus dem Schrank seiner Eltern entwendet und es hatte ihm gute Dienste geleistet. Allerdings brauchte er nicht viel Fachwissen, um den vorliegenden Text zu verstehen. Eine Schädigung des Gehirns. Layne hatte es schon immer geahnt, die Ausmaße des Schadens waren aber selbst ihm nicht klar gewesen. Lyna war dumm, sicher... einige Teile des Gehirns arbeiteten nicht so, wie das bei normalen Menschen der Fall war. Und deshalb würde das Mädchen auch nicht mehr lange leben. Eine genaue Prognose stand nicht in der kurzen Akte, älter als acht oder neun würde sie aber wohl nicht werden können. Dazu war der Schaden zu gravierend und die Technik zu unausgereift und... Ihr fehlte ein Teil des Gehirns. Laynes Herz schlug heftig. Was war dieses Gefühl kalten Grauens, das mit einem Mal durch seinen Körper kroch? Ja, ein Gehirnschaden, aber ansonsten war sie doch so ein reizendes Mädchen! Genau wie der junge Metzgerlehrling, der seinen Kunden das kleingehackte Fleisch seiner eigenen Eltern verkauft hatte. Oder der freundliche ältere Lehrer, ach, was hatten die Kinder ihn gemocht! Er war lange an der Schule gewesen und so war es niemandem wirklich seltsam erschienen, dass in seinen Klassen über die Jahre hinweg immer wieder kleine Jungen verschwunden waren. Erst viel später hat man sie gefunden, verstümmelt und größtenteils schon verrottet im Keller angebunden. Und jeden Abend war er zu ihnen hinuntergegangen und hatte den Leichen aus einem Märchenbuch vorgelesen. Layne keuchte und ließ den Pappschuber fallen. Mit einem Mal wurde ihm übel. Er realisierte noch gar nicht, dass sich ein Teil der Akten auf dem Teppichboden ausgebreitet hatte. Seine Augen waren starr auf das Titelblatt der medizinischen Zeitschrift gerichtet, auf denen mit pechschwarzen Buchstaben in unscheinbarer Schrift ein Wort prangte: Kainsmal. "Ist da wer?" Waren da Schritte auf der Treppe? Layne schüttelte den Kopf und riss sich so aus seiner panischen Erstarrung. Sein Vater, das war sein Vater! Er durfte ihn auf gar keinen Fall hier entdecken! Der kleine Junge stieß einen leisen Fluch aus, sammelte hastig die Akten auf und stopfte sie unachtsam in den Schuber hinein. Dann stellte er das hässliche graue Ding mit zitternden Fingern zurück in den Schrank. Die Schritte waren leiser geworden, und Layne wusste genau, was das bedeutete. Sein Vater hatte den Gang erreicht, den alle Geräusche fressenden Teppichboden. Jetzt konnte er nicht mehr davonlaufen! Was sollte er nur tun? Ein seltsames Scharren kam aus Richtung der Türe. Der Vorleger wurde angehoben. Verflucht, der Schlüssel! Layne hatte ja noch den Büroschlüssel bei sich! Hastig lief der Junge durch das Zimmer und schlüpfte in einen der Schränke. "Layne, bist du hier?" Der Braunhaarige hielt den Atem an. Er durfte jetzt bloß keinen Ton von sich geben, sonst würde sein Versteck sofort auffliegen! "Layne, komm raus! Versteck dich nicht! Ich weiß, dass du hier bist, du kleines Teufelskind!" Schritte im Raum. Layne schloss die Augen und zog seine Beine fest an seinen Körper. Wenn sein Vater ihn jetzt entdeckte, würde er ausrasten, das war ihm klar. Er würde den Schlüssel an einem anderen Ort verstecken, am Ende sogar ganz bei sich tragen, und dem kleinen Jungen so sein Paradies rauben. Er... Was, wenn er herausfinden würde, dass Layne über Lyna bescheid wusste? Das Herz des Braunhaarigen schlug so laut, dass es in seinen Ohren einen dumpfen, abstoßenden Wiederhall erzeugte. Er wusste, er saß in der Falle. Aber vielleicht würde sein Vater ihn nicht finden, vielleicht konnte er unbemerkt aus seinem Versteck schleichen, den verbotenen Raum verlassen und dann den Schlüssel irgendwo hinlegen. Sein Vater war vergesslich und das wusste dieser selbst am besten. Wenn er doch nur endlich gehen würde! Und dann fiel es plötzlich auf ihn. Ein großer, weicher, kalter Körper mit vier langen Gliedmaßen. Layne spürte, wie ihm langes Haar ins Gesicht fiel, zwei Beine auf seinem Rücken und Arme, die sich wie die unbewegten Extremitäten einer Leiche auf seine eigenen legten. Das war zuviel für ihn. Der Junge stieß einen panischen Schrei aus, sprang auf und stürzte in blinder Panik aus dem Schrank heraus. Sein Plan, sein wütender Vater, der drohende Ärger, all das war mit einem Schlag in Vergessenheit geraten. Der Kleine warf sich auf den Boden und schlug schreiend um sich, doch das widerwärtige Gefühl auf seiner Haut wollte nicht verschwinden. "Layne!" "Dad, Dad, da ist etwas im Schrank! Etwas Schreckliches und Totes und es wollte mich packen!" Meistens hasste Layne seine helle Kinderstimme, aber in diesem Augenblick fiel ihm das gar nicht auf. Er zitterte am ganzen Körper und starrte seinen Vater aus panisch geweiteten Augen an. Diesem blieb für einige Sekunden der Mund offen stehen. Dann brach er in ein schallendes, gehässig klingendes Gelächter aus. "Ha, du Genie!" stieß er voller Genugtuung hervor. "Du bist ja doch nur ein kleiner, feiger, dummer Junge, was? Nun schau dir an, wovor du dich gefürchtet hast!" Er griff ohne zu zögern in den Schrank hinein und zog ein leblos herabhängendes Etwas heraus. Eine überdimensional große Puppe mit einem hellrosa geblümten Kleidchen. Sie war zweifellos hässlich, wirkte aber auch auf eine nicht zu beschreibende Art grausam, abstoßend und böse. Ihr rotes Haar hing zottig und ausgefranst hinab, irgendjemand hatte ihr die Augen ausgerissen und so war ihr weißes Gesicht kahl, bis auf einen breiten, grinsenden Mund mit einer schwarzen Zahnlücke. Sie trug nur noch einen Schuh und besaß keine Hände. Ihre Arme endeten in unförmigen, klobigen Stümpfen. "Das ist doch Kitty!" Laynes Vater klopfte dem Stoffgebilde liebevoll den Staub von der Kleidung. "Lynas erste Puppe. Sie ist wohl kaputtgegangen... darum habe ich sie hier in den Schrank gesteckt. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet du sie wiederfinden würdest... du... was machst du überhaupt hier, du kleine Plage? Habe ich nicht verboten, diesen Raum zu betreten?" "Ich hab mich versteckt!" rief Layne trotzig. Die Blamage mit der Puppe hatte er noch nicht vollkommen weggesteckt. Doch auch jetzt musste er sich eingestehen, dass dieses alte Ding ihm auf eine absurde Art und Weise Angst einjagte. "Soso, und deshalb stiehlst du den Schlüssel und... wovor versteckst du dich überhaupt? Hör endlich auf zu lügen, ich weiß, du machst nur Ärger! Gefällt es dir, Bilder von kranken Menschen anzusehen? Du kleines... Monster..." Wieder trat der seltsame Ausdruck von Furcht in seine Augen. "Und wenn schon!" Layne musterte den Mann mit kalter, ausdrucksloser Miene. "Außerdem habe ich mich vor Lyna versteckt, wenn du's unbedingt wissen willst!" "Lyna? Was redest du da für einen Unsinn?" "Lyna ist böse!" "Das ist sie nicht!" Nun schrie der Mann. "Du bist böse!" Er packte den Jungen am Arm, legte ihn übers Knie und schlug mit zitternden Händen auf ihn ein. "Damit du's ein für allemal spürst, du kleiner Satan!" "Satan und Gott gibt es ja gar nicht!" Layne biss die Zähne zusammen und versuchte, sich zu beherrschen. Nur ein winziger, leiser Schluchzer verirrte sich über seine Lippen. Sein Vater schien davon aber ohnehin keine Notiz zu nehmen. "Ich wünschte, ich müsste dich nicht mit deiner armen kleinen Schwester allein lassen, aber... bedauerlicherweise müssen wir nächstes Wochenende wegfahren..." "Nein!" plötzlich trat Panik in Laynes Stimme. "Nein, nein, das dürft ihr nicht! Ich will nicht allein mit ihr sein! Ihr dürft nicht wegfahren, nein, nein, nein!" "Jetzt halt den Mund, du Teufelskind!" stieß der Mann wütend hervor und musterte seinen Sohn mit verabscheuenden Blicken. "Denkst du, ich würde dir... dieses hilflose, unschuldige Ding überlassen? Natürlich wird eine von Marthas Freundinnen auf euch aufpassen... gnade dir Gott, wenn du ihr etwas antust, hast du mich verstanden?" "Und sie ist auch immer da und geht gar nicht weg, ja?" Layne blinzelte ängstlich hinter seinen großen Brillengläsern. "Was fragst du denn da? Natürlich lasse ich das nicht zu, wer weiß, was du sonst... ach, vergiss es! Und jetzt mach, dass du hier herauskommst!" Layne rappelte sich auf und verließ das Zimmer, ohne seinen Vater noch einmal anzublicken. Die Tage bis zum Wochenende waren viel zu schnell verstrichen. Inzwischen hatten immer öfter dunkle Wolken den Himmel verdeckt und Regen über die kleine Stadt gebracht. Auch an diesem kalten Freitag fielen einzelne Tropfen auf die schlammbedeckte Erde und den Teppich aus halb zerflossenem Schnee. Das Ehepaar Rivergate stand vor dem Eingang ihres hübschen weißen Häuschens und packte gerade noch die letzten Notwendigkeiten in ihr großes rotes Familienauto. Ein kleines Mädchen hüpfte wie ein junger Hund um die Beiden herum. Ihr langes braunes Haar war zu zwei Zöpfchen geflochten, von denen jeder mit einer großen weißen Schleife verziert war. Sie gab undefinierbare Laute zwischen Lachen und jammern von sich und blickte ihre Eltern immer wieder mit großen, flehenden Augen an. "Ist ja gut, mein kleiner Schatz!" Die Mutter beugte sich zu der Kleinen hinab und drückte sie fest an sich. "Mami und Papi fahren weg, aber sie kommen ja bald wieder. Außerdem passt Tante Monica auf dich auf, meine süße Prinzessin!" Sie nickte lächelnd einer zweiten Frau zu, die in Wartestellung neben dem Auto positioniert war. Ihre wasserstoffblondierte Dauerwelle wirkte eben so gekünstelt wie der viel zu grelle pinke Lippenstift, die wie Fliegenbeine verklebten Tuschewimpern und das rosafarbene Kostüm. Die gealterte Barbiepuppe grinste zurück und legte dabei zwei Reihen glänzend weißer Zähne frei. "Mama, Papa, dableiben!" schluchzte Lyna und stampfte auf den Boden auf. "Ach mein armer Liebling!" erneut wurde das Mädchen geherzt und gedrückt, wobei sich nun auch ihr Vater zum versammelten Trostkommando gesellt hatte. "Ist ja gut! Wir sind bald wieder da!" Layne stand in der geöffneten Türe und musterte die rührende Szenerie mit feindseligen Blicken. Als seine Eltern nun endlich in ihren Wagen stiegen, eilte die liebe Tante Monica sofort herbei, um den kleinen weinenden Engel in ihre Arme zu nehmen. "Auf Wiedersehn, Layne!" rief die Mutter dem Jungen zu winkte. "Mach bloß keinen Ärger!" fügte der Vater hinzu. Dann wandten sich die beiden liebenden Eltern wieder ihrem kleinen Schatz namens Lyna zu. Ihre zum Abschied fuchtelnden Arme fuhren langsam aber sicher die lange, schnurgerade Straße entlang, um irgendwann eins zu werden mit dem milchig weißblauen Wolkenstreifen am Horizont. Layne blickte ihnen mit unbewegter Miene nach. "So, ihr Lieben, jetzt gehen wir brav ins Haus und ihr bekommt von der Tante was zu Essen!" Monica verzog ihr von viel zu vielen Stunden Solarium faltig und unnatürlich braun gewordenes Gesicht zu dem typischen peinlichen Lächeln, dass Erwachsene sonst nur beim Anblick von Babys zustande brachten. Sie nahm Lyna bei der Hand, ging mit ihr über die Einfahrt am weißen Gartenzaun vorbei und betrat das Haus. "Layne, kommst du?" rief sie dann. Ihr Tonfall hatte sich verändert. Er klang nun nicht mehr nach Entzücken, nach winzigen, hilflosen Strahlebabys oder putzigen kleinen Tierkindern. Man sah der Möchtegern-Barbie ihr Unwohlsein deutlich an, und aus irgendeinem Grund brachte dieses beinahe ängstliche Gefühl der Abscheu Layne zum lächeln. "So, meine Kleinen, jetzt setzt euch brav auf das Sofa und schaut ein paar Zeichentrickfilmchen in der Wunderkiste an!" flötete sie, drängte die Kinder kurzerhand auf das von einem bunten Blümchenüberzug verunstaltete Möbelstück und schaltete den Fernseher an. Pfeifend stellte sich irgendein mehr oder weniger sinnvolles Kinderprogramm ein und verschwand dann mitsamt dem Telefon in der Küche. "So ein Blödsinn!" Layne stand auf und stapfte auf das Fernsehgerät zu. "Ich schalte jetzt um!" "Layne nicht wegmachen!" protestierte Lyna augenblicklich. "Lyna will seheeeeeen!" "Halt den Mund, Lyna!" Der Junge suchte sich durch einige Sender und blieb schließlich an einer Dokumentation über Viren und andere Krankheitserreger hängen. Zufrieden setzte er sich wieder auf das Sofa und beobachtete mit großen Augen die winzigen Killer, die sich unter dem Mikroskop durch ein rundes Glasschälchen wanden. Lyna begann lautstark zu plärren und schlug auf eines der Sofakissen ein. Ein dauerwellenbesetzter Kopf schob sich aus der Küchentüre. "Layne, lass deine Schwester in Ruhe!" "Ich mache ja überhaupt nichts!" "Warum schreit sie dann? Oh... ich sehe schon!" Sie stöckelte zurück in das Wohnzimmer und schaltete das Kinderprogramm wieder ein. "Du lässt das bleiben, ja? Ich habe keine Lust auf solche Spielchen! Wenn du nicht brav bist, sperre ich dich in deinem Zimmer ein und du bekommst nichts zu Essen. Und außerdem erzähle ich deinen Eltern, dass du ein ganz böser Junge warst!" "Ich hab doch schon gesagt, ich mache gar nichts. Ich will das nicht sehen!" "Du wirst das jetzt ankucken, haben wir uns verstanden?" Die Stimme der Frau klang mit einem Mal überhaupt nicht mehr süßlich, sondern glich eher dem wütenden Zischen einer giftigen Schlange. Auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe, bräunliche Falten. "In Ordnung, Tante Monica. Du musst dich nicht aufregen!" Layne lächelte kalt. Für einen Augenblick konnte man in den Augen der Wasserstoffblondine die weiße, glibberige Masse um die Iris herum erkennen. Sie schüttelte in offensichtlicher Entgeisterung den Kopf. Man sah ihr an, wie unwohl sie sich in Gegenwart des kleinen braunhaarigen Jungens fühlte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verschwand sie in der Küche und kam schon kurze Zeit später mit zwei Fertigpizzas wieder zurück. "So, ihr Süßen, die liebe Tante Monica muss jetzt leider noch mal weg, bleibt nicht zu lange auf, ich komme bald wieder und wenn ihr dann nicht im Bett seid, dann muss ich ganz, ganz, ganz böse werden!" Bei diesen Worten wuschelte sie der kleinen Lyna durch die Haare und gab ein schrilles, ekelhaftes Kichern von sich. Layne riss die Augen auf. "Tante Monica, du darfst aber nicht weggehen!" rief er. "Du musst auf uns aufpassen! Das haben Mama und Papa so gesagt!" "Ich geh doch gar nicht weg, ich muss nur ganz, ganz schnell was besorgen. Ihr zwei kleinen Schätze legt euch jetzt am besten hin, dann merkt ihr ja gar nicht, dass ich kurz aus dem Haus bin. Und in ein, zwei winzigen Stündchen bin ich wieder da, einverstanden?" "Nein!!!" "Layne, du kannst dein Schwesterchen doch bestimmt ins Bett bringen, oder? Das hast du doch sicher schon öfters gemacht!" "Ja, aber ich will das nicht! Du darfst nicht weggehen!!!" "Nun kuck nicht so ängstlich! Wenn ich die Türe ganz, ganz fest abschließe, dann kann niemand rein und niemand raus, und so kann euch auch niemand etwas tun." "Lyna, du möchtest das doch auch nicht, oder?" Der Kleine schrie beinahe. "Du darfst auch noch deine Lieblingssendung sehen, Lyna. Das möchtest du doch bestimmt!" Das Mädchen nickte begeistert. Ihre Augen leuchteten, während Layne den Tränen nahe war. So sehr er die Freundin seiner Mutter auch hasste... sie konnte ihn doch nicht einfach allein lassen! Er durfte nicht mit seiner Schwester allein sein! "Gut, dann gehe ich jetzt! Schlaf gut, Lyna! Und du, Layne, wehe du tust deinem Schwesterchen irgendetwas an, hörst du mich? Dann bekommst du morgen den Ärger deines Lebens, und glaub mir, ich mache keine Witze!!!" "Tante Monica..." "Schau mich nicht so an!" Die Frau war aufgestanden und lief nun hastig zur Türe. Draußen war das Hupen eines Autos zu hören. Der Regen prasselte geräuschvoll auf das Vordach der Türe. Monica angelte nach ihrem blütenweißen Regenschirm und öffnete die Türe. "Gut Nacht, meine Schätzchen!!!" flötete sie, eilte nach draußen und hatte im nächsten Moment auch schon die Türe hinter sich zugeschlagen. Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Einmal. Zweimal. Dreimal. Der einzige Ersatzschlüssel, weil den anderen die lieben Eltern auf ihren Ausflug mitgenommen hatten. Niemand würde dieses Haus betreten oder verlassen können. Sie waren eingesperrt. Das monotone Prasseln des Regens wurde von einem fröhlichen Liedchen aus dem Fernseher übertönt. Lynas große braune Augen begannen zu glänzen. Sie sprang auf und klatschte begeistert in ihre kleinen dünnen Händchen. "Und jetzt alle!" rief eine übermütige Frauenstimme in die Melodie hinein. "Wir klatschen in die Hände, hüpfen in die Höhe und drehen uns im Kreis, Kreis, Kreis! Der rechte Fuß nach vorne, der linke Fuß zur Seite und dann herum im Kreis, Kreis, Kreis!" Layne stand unendlich langsam auf, ohne ein Geräusch von sich zu geben. Er hielt den Atem an, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Noch war das kleine Mädchen von den bunten Bildern auf dem Bildschirm vollkommen gefesselt. Fröhlich kichernd folgte sie jeder Anweisung der singenden Ansagerin. "Und jetzt den linken Arm nach oben, den Rechten in die Höhe...." Layne schlich auf Zehenspitzen zur Treppe hin. Das Licht im Treppenhaus war nicht eingeschaltet, die oberen Stockwerke lagen in völliger Dunkelheit da. "Und dann drehn wir uns im Kreis, Kreis, Kreis! Wir klatschen in die Hände..." Er stieg, wie im Zeitlupentempo, eine Stufe nach der anderen empor. Seine Finger waren um das dunkle Treppengeländer gekrallt. "Und wenn wir dann noch können, wenn wir dann noch können, fangen wir noch mal von vorne an!" Die Musik verstummte. Auch Lyna erstarrte in der Bewegung, jauchzte noch ein paar Mal und trottete dann zum Blümchensofa zurück. Im Fernsehen begann nun ein viel zu bunter Zeichentrickfilm. Ein pinker Teddy tanzte singend mit einem ebenso hässlichen, allerdings in ein giftiges Grün getauchtem Exemplar über eine leuchtende Blumenwiese. Plötzlich trat auf Lynas niedliches Gesichtchen ein Ausdruck von Verwirrung. Sie sah sich mit fahrigen, abgehackten Bewegungen im Wohnzimmer um. "Layne? Layne?" Ihr dünnes Stimmchen klang ein wenig ängstlich. Layne hielt den Atem an. Er bewegte sich so langsam, dass er beinahe das Gefühl hatte, erstarrt zu sein. Durch seine Gedanken pochte nur ein einziger Wunsch. Lass sie nicht aufschauen, oh bitte, Lyna, schau jetzt nicht zur Treppe. Layne setzte seinen kleinen Fuß auf der dunklen Treppenstufe auf. Das Holz war beinahe schwarz und wirkte so wie ein Loch, ein Nichts, das jeden in die Tiefe reißen wollte, der sich der trügerischen Sicherheit hingab und auf deren tückischen Schein hereinfiel. Die Augen des Jungen fixierten die Wand des Ganges, der in unmittelbarer Nähe vor ihm lag. Er hatte es fast geschafft, er konnte schon das kleine, verschnörkelte Blümchenmuster auf der blassgrünen Tapete erkennen. Jetzt musste er seine Taktik ändern, jetzt musste er rennen, so schnell er nur konnte und die Badezimmertüre hinter sich abschließen. Dann war er in Sicherheit. "Layne, Layne, da bist du ja! Layne komm zurück!" Für einen Moment legte sich das Gefühl eiskalter Lähmung auf den Körper des Jungen. Die riesigen, starren Augen seiner Schwester ruhten auf ihm, er konnte sie fühlen, als ob sich Lynas Blick wie eine lange Nadel in seinen Körper gebohrt hätte. "Layne, komm her!" "Hau ab, Lyna!" schrie der Junge. Dann begann er zu rennen. Er stürzte die letzten Stufen nach oben, bog zur Seite ab und rannte über den Geräusche fressenden Teppich auf das Badezimmer zu. Dann stürzte er in den Raum hinein und schlug mit einem lauten Knall die Türe hinter sich zu. Das Schlüsselloch starrte ihm wie ein einziges, höhnisches Auge entgegen. Wo zum Teufel war der Schlüssel? Laynes Blick streifte die Waschbecken. Auf der gläsernen Ablage vor dem großen ovalen Spiegel standen vier Zahnputzbecher mit den dazugehörigen Zahnbürsten. Zwei Große, in Grün und Gelb, und zwei Kleine, in Blau und einem leuchtenden Rosa. Ansonsten konnte Layne nur die halb ausgelaufene Zahnpastatube, etliche Cremes und ein bisschen Schmuck erkennen, aber keine Spur von einem Schlüssel. Auf der Waschmaschine lag der frisch gewaschene, rosafarbene Plüschbezug des Toilettendeckels, der sich ihm nun nackt und blank entgegenstreckte. Layne hob das weiche Stück Stoff an, blickte darunter. Nichts. Auf dem Badewannenrand? Der Junge stürzte zu dem überaus hässlichen Ding aus hellbraunem Stein hin und suchte verzweifelt nach einem kleinen, metallischen Gegenstand. Ohne Erfolg. Das einzig Auffällige war eine umgekippte Shampooflasche, deren Inhalt eine lange, schleimige Bahn auf dem fahlen Braun hinterlassen hatte. Die Türklinge wurde hinuntergedrückt. Layne schrie auf und stürzte zur Türe hin. Er warf sich förmlich dagegen und drückte mit aller Kraft, die er irgendwie aufbringen konnte das kalte Metall nach oben. "Layne aufmachen!!!" Lynas Stimme klang schrill. Sie schlug ein paar Mal gegen die Türe, dann begann sie, nicht weniger kräftig an der Türklinke zu ziehen. "Aufmachen, aufmachen, jetzt SOFORT!" "NEIN!!!" Laynes Fingerknöchel traten weiß hervor. In seinen Handgelenken begann sich langsam ein ziehender Schmerz auszubreiten, aber er biss sich auf die Lippe und versuchte, das quälende Gefühl zu ignorieren. Er durfte nicht nachlassen, ansonsten... Der Junge kam gar nicht mehr dazu, sich all die schrecklichen Horrorvorstellungen in seinem Kopf näher auszugestalten, denn plötzlich ging ein so heftiger Ruck durch die Türklinke, dass Layne ihm nicht mehr standhalten konnte. Er taumelte mit einem leisen Schmerzenslaut zurück, die Türe schwang ein Stück weit nach innen auf und zog Lyna hinter sich her. Das Mädchen lag auf dem Boden und hatte sich wohl schlicht und einfach mit ihrem ganzen Gewicht an die Türklinke gehängt. Ihre Augen glänzten feucht, und auch jetzt kullerten noch ein paar Tränen über ihre geröteten Wangen. Aus ihrem Stupsnäschen lief eine Rotzfahne herab auf ihre trotzig nach vorne geschobenen Lippen. "Layne böse, Layne darf Lyna nicht allein lassen!" Sie rappelte sich mühsam auf und stieß die Türe hinter sich zu. Und im selben Moment begriff Layne, was für einen gravierenden Fehler er begangen hatte. Er war nicht weggelaufen, als er die Chance dazu gehabt hatte, als seine Zwillingsschwester hilflos und heulend am Boden gelegen war, umgerissen von ihrem eigenen Schwung. Er hätte ganz einfach an ihr vorbeilaufen können, fliehen, in den Keller vielleicht, auf sein eigenes Zimmer... in irgendeinen Schrank, wo er sich verstecken konnte. Vielleicht hätte er eine Scheibe eingeworfen und wäre davongerannt, nur weg, weg von diesem grässlichen, einsamen Gefängnis. Vielleicht wäre er in die Küche gerannt. Zu den Messern und der großen Geflügelschere, mit denen er sich hätte wehren können. Es war zu spät. Er hatte es nicht getan, er hatte gezögert und nun war es vorbei. Lyna kam mit kleinen, wie mechanisch wirkenden Schritten auf ihn zu. Sie hatte eine groteske Art, sich zu bewegen, vielleicht, weil mit ihrer Motorik einiges nicht so ganz stimmte und sie sonst schlicht und einfach umgekippt wäre. Doch trotz all dieser Störungen war Lyna vor allem eines, obwohl man es ihr nicht zutraute: Beängstigend kräftig. Das kleine Mädchen schniefte heftig und packte Layne bei den Handgelenken. Ihre dünnen, knochigen Finger legten sich wie Schraubstöcke um seine Haut und drückten erbarmungslos zu. Dann stieß sie ihren Bruder nach hinten, auf die Waschmaschine zu. Deren Klappe stand offen und tat sich wie ein großes, kreisrundes Maul auf, gierig, seine Beute bei lebendigem Leibe zu verschlingen. Und Layne wurde in diesem Augenblick eine Tatsache, die er beinahe schon wieder vergessen hatte, auf grausame Art und Weise bewusst: Lyna war ein Sonnenschein, süß, lieb, niedlich und dumm. Sie regte sich eigentlich so gut wie nie wirklich auf, in ihrem ganzen jungen Leben war das bislang vielleicht vier, höchstens fünf Mal passiert, obwohl es bei normalen Kindern fast schon an der Tagesordnung stand. Aber wenn Lyna ausrastete, wurde das für alle Beteiligten verdammt ungemütlich. Das letzte Mal war diese Katastrophe kurz nach ihrem gemeinsamen Geburtstag passiert. Lyna hatte sich schon seit einer halben Ewigkeit einen Stoffhund gewünscht, einen der bellen konnte, der an einer Leine mit einem lief und der auch einige mehr oder weniger dämliche Kunststücke vorführen und lernen konnte, wenn man ihm immer brav seine Streichel- und Fütterknöpfe drückte. Lyna liebte dieses weiße, kitschige Fellbündel abgöttisch und nannte es Puppy. Die ganze Woche hatte das Mädchen für nichts mehr anderes Augen gehabt, hatte kaum noch Zeit zum Essen gefunden, so begeistert war sie gewesen, bis... ja, bis das Schicksal es so gewollt hatte, dass der arme Plastikhund unter die Räder von Mutters Auto kam. Es war selbstverständlich keinesfalls Absicht gewesen, sondern schlichtweg ein tragischer Unfall, nur hatte Lyna das leider nicht begreifen können. Sie war ausgerastet, vollkommen von Sinnen gewesen und die Eltern hatten eine Menge Anstrengung aufbringen müssen, ihren kleinen Engel wieder zu beruhigen. Geendet hatte das Ganze mit einem feierlichen Begräbnis von Puppys Überresten im Garten und einem gebrochenen Arm für Mutter. An Lynas verzerrten Gesichtszügen konnte Layne unschwer erkennen, dass die Kleine jetzt wieder am durchdrehen war. Ihre Eltern hatten sie im Stich gelassen, was ja schon schlimm genug war, und jetzt auch noch das. Ihr Bruder ließ sie mutterseelenallein im dunklen Wohnzimmer sitzen und sorgte so zu allem Überfluss auch noch dafür, dass sie ihre Lieblingssendung verpasste. Für Lyna ergaben all diese unglücklich aufeinander treffenden Faktoren eine Katastrophe, und Layne sah in ihren starren Augen, dass das Mädchen jetzt nur ein einziges Ziel hatte: ihren Bruder dafür zu bestrafen. Lyna drängte den Jungen weiter auf die Waschmaschine zu. Er spürte das kalte Metall in seinem Rücken und ihm wurde noch im selben Augenblick klar, was die Kleine vorhatte. Er schrie auf und zappelte, aber Lynas Griff hielt seinen Bewegungen unbarmherzig stand. Ihr Gesicht hatte sich zu einer unbewegten, verzerrten Maske verhärtet. Sie ignorierte Laynes Ausbruchversuche schlichtweg und versuchte, den Jungen in die Wäschetrommel der Waschmaschine hineinzudrücken. Layne sah das enge, metallisch blitzende Behältnis hinter sich. Er keuchte. Wahrscheinlich, schoss es ihm durch den Kopf, ist ihr nicht einmal klar, was sie gerade tut. Lyna wollte nie jemanden verletzten. Sie meinte nie etwas böse und sie begriff auch nicht, dass sie ihren Bruder mit ihrer Wutreaktion töten konnte. Lynas kleines Händchen drückte Laynes Kopf in das stählerne Dunkel der Maschine hinein. Panik befiel den Jungen. Dieses Ding war zwar eng, aber locker groß genug, als das sein Körper darin Platz finden würde - ein wenig verrenkt vielleicht, aber dennoch... sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wusste, er würde sterben. Einen entsetzlichen, grausamen Tod. Vielleicht ertrinken, vielleicht ersticken, vielleicht würde auch sein gesamter Kreislauf von der Hitze kollabieren... das kam auf seine Schwester an und darauf, was sie mit den Knöpfen der Waschmaschine für lustige Dinge anstellen würde. Dass er seine letzte Chance zur Flucht beinahe auch noch verspielt hatte, begriff er erst, als es schon fast zu spät war. Lyna hatte ihn zwar mit dem Kopf in die Waschtrommel gedrängt, aber dazu... hatte sie eine seiner Hände loslassen müssen! Er konnte sich wehren, wenn er sich nur beeilte. Mit der Kraft der Verzweiflung schlug Layne dem Mädchen gegen den Ellenbogen, dass sich ihr Griff leicht lockerte. Nun konnte er wenigstens ein bisschen aus der Waschmaschine hinausblicken. Er erkannte Lynas puppenhaftes Gesicht, ihre großen Hundeaugen... und er wusste mit einem Mal, wie er sich aus seiner verzweifelten Lage befreien konnte. Er stieß seiner Schwester kurzerhand mit dem Finger in eines ihrer starren Augen. Das Mädchen kreischte auf und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Dies war Laynes Augenblick. Er schubste Lyna zurück, rappelte sich auf und rannte so schnell er konnte aus dem Bad. Die Türe schlug er hinter sich zu, dann rannte er weiter, durch den geräuschlosen Gang, die schwarze Treppe hinunter, ins Wohnzimmer. Auf dem Fernseher flimmerten bunte Bilder, eine alte Puppe mit feuerroten Haaren sang zusammen mit einer Barbie in einem Prinzessinnenkleid ein zuckersüßes Liedchen. Die starren, blassgrünen Augen der Puppe schienen Layne zu fixieren, genau in dem Augenblick, als er die Treppe verließ und einen Fuß auf den schneeweißen Teppich des Wohnzimmers setzte. Der Junge hielt den Atem an. Er hörte, wie die Türe des Badezimmers im oberen Stockwerk ins Schloss fiel, dann drangen keinerlei Geräusche mehr in das von flackerndem Licht erfüllte Zimmer herab. Einmal mehr verfluchte er den alles in sich aufsaugenden Boden und sah sich mit weit aufgerissenen Augen in dem Raum um. Er hatte keine Zeit. Er musste sich beeilen und eigentlich wusste er mit grausamer Gewissheit, dass es nur einen einzigen Fluchtweg gab. Er wünschte, es wäre nicht so gewesen. Denn dieser Weg führte nach unten. Layne hasste den Keller ihres Hauses. Die Treppe in dieses dunkle Loch bestand aus Holz und zwischen den Stufen waren Löcher. Schon seit er ein ganz kleines Kind gewesen war, hatte er stets das Gefühl gehabt, jeden Augenblick würde eine Hand aus dem undurchdringlichen Dunkel hinter diesem hölzernen Gestell hervorschnellen, ihn packen und in ein finsteres Nichts reißen, wo keiner seine Schreie hören konnte und man seine abgenagte, zerrissene Leiche erst Tage später finden würde. Eigentlich war es aber auch nie nötig, in den Keller zu gehen, denn dort unten gab es nur alte, überflüssige Dinge. Schreckliche Dinge. Zum Beispiel eine alte Kettensäge, die schon seit Jahren kaputt war, aber deren rostige Klinge scheinbar umso gieriger nach Blut zu lechzen schien. Oder der Rasenmäher, dessen scharfe Schneideblätter nach einem Unfall wie lange, blanke Reißzähne hervorragten. Was sich noch alles in dem Chaos befand, wollte Layne gar nicht wissen. Eigentlich ging niemand in den Keller, und deswegen hatte auch nie jemand die Lampe repariert, die schon seit Ewigkeiten schwarz und tot von der spinnwebenbehangenen Betondecke baumelte. Wie in einem schlechten Horrorfilm, dachte Layne, während er mit heftig klopfendem Herzen die hölzernen Stufen herabstieg. Seine Hände zitterten, als er langsam die Türe hinter sich schloss. Von draußen fiel staubiges Mondlicht durch die vollkommen verdreckten Kellerfenster und ließ nicht mehr als einen Haufen bizarrer, scharfkantiger Schemen erkennen. Der kleine Junge setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Er spürte, wie zwei bösartige Augen ihn aus dem Dunkel anzustarren scheinen. Er keuchte und wandte seinen Kopf. In der Ecke stand nur der alte Ofen. Wie viele der älteren Hause hatte auch dieses einen Ofen mit einem pechschwarzen, schmiedeeisernen Gitter im Keller, aber aus irgendeinem Grund hatten Laynes Eltern diesen noch nie benutzt. Auch wenn er nicht genau wusste, warum, er hasste dieses verrußte Ding trotzdem, und es machte ihm Angst. Jedes Mal, wenn er den Ofen anblickte, drängte sich ihm die Frage auf, was hier wohl früher einmal verbrannt worden war. Er wusste nicht warum, aber er konnte den Gedanken einfach nicht unterdrücken. Doch dieses Mal war da noch ein anderes Gefühl... Irgendetwas stimmte nicht. Obwohl Laynes Herz bis zum Zerspringen schlug, trat er langsam, vorsichtig, beinahe lauernd auf den Ofen zu, als hätte er ein wildes Tier, eine Bestie, ein Monster vor sich, dass ihn jeden Augenblick verschlingen und zerreißen könnte. Beinahe erwartete, dass hinter dem schwarzen Gitter des Ungetüms plötzlich ein helles Feuer auflodern würde, ein heißer Hauch der Hölle, etwas unvorstellbar Böses. Wenn Layne das Wort böse in irgendeinem Zusammenhang ohne jegliches Zögern gebrauchen würden, dann wäre es bei diesem... Ding, das auf eine seltsame Art und Weise abstoßender war als alles andere, was der Junge sich nur irgendwie vorstellen konnte. Natürlich entzündete sich kein mysteriöses Feuer, der Ofen tat auch nicht seine verbeulte Klappe auf, um ihn aufzufressen oder schlimmere Dinge zu machen. Er war und blieb nichts weiter als ein hässlicher, alter Ofen, der schon seit Jahren unbenutzt im Keller vor sich hingammelte. Aber warum roch er dann nach frischer Farbe? Oder war das... ein Rostschutzmittel? Layne blinzelte irritiert. Obwohl es beinahe mehr von ihm verlangte, als er noch an Mut zustande bringen konnte, streckte er eine Hand nach dem Verschluss des eisernen Monsters aus, drehte den Haken zurück und öffnete die Türe. Sie bewegte sich vollkommen lautlos. Aber wie konnte das sein? Dieses Ding war uralt, es war seit mindestens einem halben Jahrzehnt nicht mehr benutzt worden, verdammt, warum quietschte es dann nicht? Auch das Innere des Ofens war nicht etwa so verrußt, wie er erwatet hatte, sondern vollkommen sauber. Erst bei solch naher Betrachtung fiel dem Jungen auf, wie groß dieser Hohlraum eigentlich war. So groß, das gut und gern ein Kind darin Platz hatte. Layne erschauderte bei dem Gedanken und schloss die Türe wieder. Dann legte er den Haken - der bei näherer Betrachtung viel neuer aussah als das übrige Metall - wieder um und lief mit eiligen Schritten in die andere Ecke des Raumes. Dort setzte er sich auf den Boden, zog die Beine fest an den Körper und drängte sich dann an die Wand. Er saß zwar jetzt ziemlich genau neben dem verbogenen, abstehenden Gebiss des Rasenmähers, aber das war immer noch besser als in der Nähe des grässlichen Ungetüm an der gegenüberliegenden Wand, das ihn jetzt feindselig anzustarren schien. Layne hatte Angst. Er hasste diesen Raum, er wollte hier raus! Doch gleichzeitig setzte sich ein Gedanke in seinem Gehirn fest, der ihn zunehmend quälte und ihm keine Ruhe mehr ließ. Warum sollten seine Eltern diesen Ofen instand halten, ja sogar reparieren, wenn sie ihn nie im Leben gebrauchten? Seufzend ließ Layne seinen Kopf auf die Knie sinken. Er kam und kam zu keiner Lösung dieses seltsamen Rätsels, so lange er auch darüber nachgrübelte. Vielleicht verwendeten sie ihn ja doch, und er wusste nur nichts davon. Vielleicht. Er saß scheinbar ewig so da, ganz in seine Gedanken versunken. Doch irgendwann öffnete sich die Türe. Layne konnte es von dem Platz, an dem er saß, nicht sehen, doch ein lauter Schlag des Holzes, als es gegen die Betonwand knallte und das augenblicklich hereinfallende, flackernde Fernsehlicht verrieten den Eindringling. Von selbigem konnte Layne jedoch nur den Schatten sehen. Einen kleinen, dürren Schatten, der irgendetwas in der Hand hielt. Der Junge hielt den Atem an und drückte sich noch fester gegen die Wand in seinem Rücken. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde so laut schlagen, dass es sein Versteck auf der Stelle entlarven musste. Jedes einzelne Härchen an seinem Körper schien sich aufzurichten. Seine Augen starrten weit aufgerissen in die Dunkelheit. Vielleicht, dachte er aus einer verzweifelten Hoffnung heraus, würde sie ja wieder gehen. Vielleicht hatte sie ja Angst und wollte nicht allein in die Finsternis hinabsteigen, an den lauernden Schatten vorbei. Er hörte ein leises Knarren, dann sah er einen kleinen Schemen am Fuße der hölzernen Treppe auftauchen. Lyna fürchtete sich nicht vor dem Keller. Ihre großen dunklen Augen suchten die Dunkelheit ab. Layne spürte, wie er zu zittern begann. Seine Schwester blickte genau in seine Richtung. Aus ihrem starren Blick lies sich nichts ablesen, doch noch im selben grausamen Moment begriff er, dass sie ihn längst gesehen hatte. Lyna schlurft auf ihn zu und blieb dann reglos vor ihm stehen. Ihre Augen waren verheult, ihre Unterlippe immer noch leicht nach vorne geschoben. In der einen Hand hielt sie einen weißen, flauschigen Bärenkörper. In der anderen den dazugehörigen Kopf. "Layne, hab mit Cindy gespielt und Cindy ist krank." Ihr Stimmchen klang traurig, ehrlich und aufrichtig traurig. "Cindy wird nicht gesund, ich hab ihr das gesagt, sie soll, aber Cindy wird nicht wieder gesund." "Natürlich wird Cindy nicht wieder gesund!" keuchte Layne. In seinem Blick lag eine Mischung aus Abscheu und Entsetzen. "Cindy ist kaputt, weil du ihr den Kopf abgerissen hast!" Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie seine kleine Schwester ihre Wut abreagiert hatte. Ein Gefühl von kaltem Grauen schnürte ihm die Kehle zu. "Nein, gar nicht! Cindy krank! Mach Cindy wieder GESUND!!!" Layne wurde abwechselnd heiß und kalt. Mit einem Schlag realisierte er, Lyna hatte sich nicht beruhigt. Vielleicht war das Mädchen jetzt noch wütender als zuvor, er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er mit ihr zusammen in einem dunklen Keller voller grässlicher, spitzer Mordinstrumente gefangen war. "Verdammt noch mal, lass mich IN RUHE!!!" Layne sprang auf, stieß seine Schwester beiseite und rannte ohne eine Sekunde zu zögern über die Holztreppe in das flackernde Wohnzimmer. Keine Hände aus dem Nichts, keine lauernden Monsteraugen konnten in diesem Augenblick schlimmer sein als dieses kleine, süße, beleidigte, dumme Mädchen im Keller. Sein Zwilling, der ihn ohne mit der Wimper zu zucken töten würde, ohne zu begreifen, was daran falsch war. Vielleicht würde sie ihn dann bei Puppy im Garten vergraben und begeistert den Eltern erzählen, dass der süße kleine Hund jetzt nicht mehr allein war... er wollte es nicht herausfinden. Heftig atmend rannte der Junge in die Küche. Dieses Mal hörte er die Schritte hinter sich, schnelle, mechanische Schritte, die ihm zielsicher folgten. Layne stieß die Küchentüre auf. Er hielt sich nicht damit auf, das Licht anzumachen, der Mond erleuchtete den Raum beinahe taghell. Die chrombeschlagenen Möbel warfen verschwommene Schatten. Layne griff mit zittrigen Fingern nach dem eiskalten Griff der größten Schublade und öffnete sie so heftig, dass das Besteck darin laut klirrte. Noch im selben Augenblick hätte er sich dafür eine runterhauen können. Die Schritte im Wohnzimmer stoppten für einen kurzen Moment, dann bewegten sie sich noch schneller als zuvor. Und sie kamen näher. Der kleine Junge betrachtete das Besteck in der Schublade. Gabeln, Löffel, Messer, aber die waren allesamt nicht spitz genug. Verdammt, er musste weitersuchen! Kurzerhand riss er das nächste Schubfach ebenfalls auf. Für den Bruchteil einer Sekunde trat ein irrsinniges, manisches Flackern in seine Augen. Eine Auswahl von Messern in allen nur erdenklichen Größen und Formen bot sich ihm. Er wollte gerade eine Hand nach ihnen ausstrecken, da öffnete sich die Türe. Ihre Haut sah totenbleich aus im fahlen Licht des Mondes, beinahe wirkte sie ein wenig transparent, bläulich schimmernd. Wie die Haut einer Leiche. Lynas Augen waren verquollen vom weinen und wirkten wie zwei schwarze Löcher, starr und ohne jegliche Gefühlsregung, keine Wut, keine Trauer. Einzig und allein ihre Lippen bebten noch, der bleiche Mund, verzogen zu einem Ausdruck kindlichen Trotzes. Ihre kleinen, knochigen Hände ließen die Überreste ihres Teddybären fallen. Dann kam sie näher. Layne zitterte am ganzen Körper. Er hatte kaum die Kraft, nach einem Messer zu greifen, seine Finger bewegten sich wie mechanisch. Er fühlte, wie sich seine Hand um einen harten Griff schloss, erst dann folgten seine Augen. Der Junge hatte einer der langen, spitzen Messer ausgesucht, mit denen man auch Tiere ausweiden konnte. An seiner blitzenden Klinge befanden sich einige Einkerbungen, Widerhaken, die im Fleisch des Opfers hängen blieben und sich dann erbarmungslos festkrallten. Das Schneidewerkzeug war groß, vielleicht konnte man es für Wild verwenden. Layne erhob das Messer und hielt es mit beiden Händen fest umklammert seiner Schwester entgegen. "Hau... hau bloß ab, ja?" Die Brust des Jungen hob und senkte sich schnell, in seinen großen Augen stand nackte Panik. Das braunhaarige Mädchen legte den Kopf schief und blinzelte ihn an. "Was macht Layne?" fragte sie. "Hau aber oder ich kill dich, Lyna, OK?" Laynes Stimmer überschlug sich. "Du wirst mir nichts mehr tun, hast du das verstanden?" "Layne ist dumm!" Lyna schob ihren Mund noch weiter nach vorne, jetzt trat auch in ihren Blick der Ausdruck eines beleidigten Kindes. "Das Spiel ist dumm, kill dich selber, Menno!" Sie stapfte auf ihn zu. "Dann spielen wir was anderes!" Plötzlich ging alles so schnell, dass Layne nicht mehr reagieren konnte. Lyna packte seine Hände und versuchte, dass Schlachtmesser in seine eigene Richtung umzudrehen. Layne schrie auf. Lynas knochige Finger hielten unbarmherzig seine Handgelenke umschlossen, rissen die Arme des Jungen zurück und stießen dann nach vorne. Vielleicht war der Mut der Verzweiflung, eine blitzartige Vorahnung, die Layne in diesem Augenblick den Kopf zur Seite reißen lies. Neben seinem Gesicht splitterte Holz, als die Klinge des Messers sich mit einem hässlichen Quietschen in die Türe des Küchenschrankes hinter ihm bohrte. Lyna kicherte. Scheinbar schien ihr das Spiel doch Spaß zu machen. Layne versuchte verzweifelt, seine Waffe wieder aus dem Holz herauszuziehen, dennoch kostete es ihn mehr Mühen, als er gedacht hatte. Und das war seine Rettung. Der Schwung, als sich das Schlachtmesser endlich aus dem Möbelstück befreien konnte, riss ihn mitsamt seiner Zwillingsschwester nach vorne, so dass beide Kinder nun auf dem Schachbrettmuster des eisig kalten Küchenbodens lagen. Layne hatte das Mädchen förmlich unter sich begraben und somit die Oberhand gewonnen. Lyna kicherte immer noch, ein übermütiges, atemloses Glucksen. Langsam, mit zitternden Armen hob Layne seine Waffe und holte weit aus. Seine Augen starrten auf das bleiche Gesicht seiner Schwester. Für einen Augenblick hörte diese auf zu lachen und glotzte mit ihrem leeren Blick ins Nichts. Dann ertönte ein geller, alles durchdringender Schrei. In der Türe stand eine Frau, die Hände vor den Mund geschlagen. Ihr Gesicht war verzerrt und so bleich wie ihre Zähne und die blondierte Dauerwelle. Ihre Augen waren so weit aufgerissen, dass man die feinen roten Äderchen in der glibberigen weißen Masse darin erkennen konnte. Ihr Atem ging keuchend. "Oh... gütiger Gott!" Tante Monicas Stimme zitterte. "Layne... was... was tust du da?!?" "Er ist ein Monster! Ein kleines, abgrundtief böses Monster!!!" Layne hörte gedämpfte Stimmen zu sich dringen. In den letzten Stunden hatten sich die Ereignisse überstürzt. Die vollkommen panische Monica hatte sofort bei den Eltern der Zwillinge angerufen, hatte geweint und immer wieder beteuert, sie habe sie nur für einige Sekunden allein gelassen. Layne war sich sicher, er würde sie niemals wiedersehen. Seine Mutter war natürlich ausgerastet, hatte immer wieder ihr Engelchen in den Arm genommen und versucht, das vollkommen verwirrte Mädchen zu beruhigen. Verwirrt, ja, aber nicht durch den Kampf auf Leben und Tod, den sie sich mit ihrem Bruder geliefert hatte - sondern durch das Verhalten ihrer Eltern und ihrer verantwortungslosen Aufpasserin. Lyna hatte von all dem, was vor sich gegangen war, scheinbar nicht das Geringste begriffen. Laynes Vater hatte beinahe einen Herzinfarkt bekommen, so sehr hatte er sich aufgeregt. Er hatte gebrüllt, sein Kopf war knallrot angelaufen und auf seiner Stirn hatte eine Ader gepocht, als wolle sie jeden Augenblick zerplatzen. Laynes wusste nicht mehr, was der Amok laufende Mann ihm alles an den Kopf geworfen hatte, er hatte ihn auch geschlagen, und das tat selbst sein Vater nicht allzu oft. Der kleine Junge hatte ja versucht, seinen Eltern die ganze Situation zu erklären, aber sie hatten ihm gar nicht zugehört. Ihre geliebte Lyna, ein dummes Ding, das aus ihrer Unwissenheit heraus einen Menschen grausam umbringen oder ihrem Teddybären den Kopf abreißen konnte? Ach, Layne wusste ja selber, wie absurd das klang! Jedenfalls hatten seine Eltern ihn dann gepackt, in den Keller geschleift und dort eingesperrt. Der Kleine hatte stundenlang geschrieen, um Hilfe gerufen, schluchzend gegen die Türe geschlagen, aber niemand war gekommen, um ihn zu befreien. Er war ganz allein in diesem grässlichen, dunklen Gefängnis, bei den rostigen Zähnen der Kettensäge, den metallenen Klauen des Rasenmähers... bei dem widerlichen, schwarzen Ofen, den er am liebsten nie, nie wieder gesehen hätte... Layne wollte nicht an diesem Ort bleiben, der ihm so viel Angst machte, aber seine Eltern schien das nicht im Geringsten zu kümmern. "Ach, Thomas, ich weiß nicht, ob wir ihr das wirklich zumuten können... ich habe Angst!" "Ja... Angst... vor einem Kind! Dieses Teufelsbalg hat uns schon viel zu lange terrorisiert... das muss ein Ende haben! Und... du weißt, was die Ärzte gesagt haben..." "Ich weiß... ich weiß... aber... meinst du wirklich, dass wir... so spontan..." "Martha, vertrau mir. Wir haben lange genug darauf gewartet..." "Ich... mache uns erst mal Tee, Schatz!" "Gut..." Stille legte sich über das staubige Halbdunkel des Kellers. Layne zog seine Beinchen fester an seinen Körper und vergrub sein Gesicht in den Händen. Über die Wangen des kleinen Jungen kullerten Tränen. Er verstand nicht, was seine Eltern da redeten. Er wollte eigentlich nur wieder hier herauskommen. Sie konnten ihn doch nicht ewig einsperren! Seine großen Augen streiften den Berg von verstoßenen, toten Geräten. Es ließen sich kaum einzelne Schemen erkennen, die Umrisse der Auftürmung wirkten wie die Skyline einer apokalyptischen, verwüsteten Stadt. Layne erschauderte und wollte sich gerade wieder abwenden, als sein Blick plötzlich auf einen Haufen fiel, der noch nicht sehr lange an seinem Platz liegen konnte. Es war ein Stapel von medizinischen Zeitschriften. Das Cover des obersten Magazins erkannte Layne sofort wieder. Wie mechanisch griffen seine Finger nach dem Heft, blätterten durch die Hochglanzseiten und stoppten schließlich bei einem Artikel, dessen Überschrift in fetten, schwarzen Buchstaben gedruckt war. Das Kainsmal. Der kleine Junge stieß einen wütenden Schrei aus, warf das Magazin auf den Boden und trat immer und immer wieder darauf ein. Dieses... Ding war an allem Schuld! Hätte er diesen Artikel doch bloß nie gelesen... dann wüsste er nichts von all dem... nichts von Lynas Krankheit... falls sie überhaupt irgendetwas mit diesem mysteriösen Mal zu tun hatte. Nur durch sein seltsames Verhalten waren die Katastrophen des vergangenen Abends doch überhaupt erst geschehen! Er hatte sich verrückt gemacht... und Lyna so gereizt. Sie allein gelassen. Wahrscheinlich, dachte er bitter, gab es dieses seltsame Moralzentrum gar nicht, der Brudermord war nur eine dumme, erfundene Geschichte und diese sogenannten Wissenschaftler hatten wieder einmal irgendeine wilde These für die sensationellste Entdeckung des Jahres verkauft. Wegen dieser... Behauptung hatte er alles ruiniert. "Hier ist dein Tee, Liebling. Ein Löffel Zucker, wie immer?" "Genau... danke..." Einige Sekunden Schweigen. "Hast du es dir überlegt?" "Hmm... ich habe noch mal nach Lyna gesehen... ich glaube, du hast Recht." "Ja... es... es wird immer schlimmer. Layne, er..." "Shhhh, vielleicht kann man uns hören!" Wieder herrschte Stille, einzig und allein ein kaum hörbares Tuscheln war zu vernehmen. Dennoch war Laynes Neugier geweckt. Er ließ von der Zeitschrift am Boden ab und schlich die Holztreppe hinauf. Die lauernden Monster waren in diesem Augenblick Nebensache, er musste einfach wissen, was seine Eltern zu bereden hatten! Schließlich ging es gier ganz offensichtlich ging es hier auch um ihn. Der Junge drückte sein Ohr so fest er konnte an das Holz der Türe und hielt gebannt den Atem an. "Martha!" "Aber Thomas, du weißt genau..." "Ja... aber... ich kann es immer noch kaum glauben... es ist so... es ist schwer, sich damit abzufinden. Auch nach all den Jahren noch." "Ich weiß... oh, wenn irgendetwas schief gehen würde... ich könnte es nicht ertragen! Ich liebe sie doch so sehr!" Laynes Mutter begann zu schluchzen. "Ist ja gut, Schatz. Bald ist alles vorbei. Ich rufe jetzt Doktor Lambert an." "Um die Uhrzeit? Bist du dir da sicher?" "Ja, ich weiß, er hat heute Dienst. Wir können es nicht mehr herausschieben!" Er sprach leiser weiter, der Tonfall eines Mannes, der Angst davor hatte, belauscht zu werden. "Er... er weiß es jetzt!" Mit einem Mal lief Layne ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er spürte, wie sein Körper zu zittern begann, als sich langsam, ganz langsam eine schreckliche Ahnung in seine Gedanken schob. "Aber... die Methode ist doch so neu, ist das auch wirklich... wirklich sicher? Es ist ihre letzte Chance! Und ihr Körper ist doch so schwach!" "Er wird auch immer schwächer, je länger wir warten. Alles wird gut gehen, ganz sicher." "Aber.. hier bei uns zuhause... ist das überhaupt... ich meine, die Hygiene! Das Gehirn ist so ein empfindliches Organ!" "Wir können es doch in keiner Klinik machen! Keiner darf etwas bemerken, hörst du das? Morgen früh ist alles vorbei, die Asche schwimmt im Fluss davon und Lyna wird ein glückliches, gesundes Mädchen sein, hörst du mich? Und jetzt telefoniere ich. Glaube mir, alles wird gut, mein Liebling." Schritte entfernten sich. Dann herrschte Stille. Laynes Augen blickten ins Leere. Mit einem Mal wurde ihm schwindelig, er taumelte rückwärts, vergeblich suchten seine Hände nach irgendeinem Halt. Sie griffen ins Leere. Der kleine Junge fiel, prallte schmerzhaft auf dem Rücken auf und rutschte die Treppenstufen hinab auf den eiskalten Boden. Für einen Augenblick bekam er keine Luft mehr, lag zappelnd und keuchend da, bis sich seine Lungen, begleitet von einem schmerzhaften Stechen, ganz langsam wieder füllten. Layne starrte an die graue, kahle Decke über ihm. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Die sinnlos verstreuten Puzzleteile all jener seltsamen Ereignisse der vergangenen Tage fügten sich mit einem Mal zu einem grausigen Gesamtbild zusammen. Es passte bis ins Detail. Die verhaltenen, heimlichen Gespräche seiner Eltern... Lynas Benehmen... ihre Krankenakte... plötzlich wusste Layne auch, warum seine Eltern den Ofen repariert hatten, das pechschwarze Monster, das alle Spuren in den gierigen Flammen verschlingen und den Plan perfekt machen würde. Ganz plötzlich begriff Layne, dass er noch in dieser Nacht sterben würde. Ein Gewicht schien tonnenschwer auf seiner Brust zu lasten, der Junge fand kam noch die Kraft zum atmen. Erneut füllten sich seine riesigen braunen Augen mit Tränen. Tränen der Wut, der Angst, der Verzweiflung... hatten ihn seine Eltern also wirklich immer gehasst? Er musste hier raus! Er musste abhauen, irgendwie!!! Layne sah sich wie gehetzt in dem Raum um. Die Fenster waren winzig, vergittert und viel zu weit oben in der Mauer angebracht. Die Türe war aus massivem Holz, außerdem saßen seine Eltern im Wohnzimmer. Aber... wie sollte er denn sonst entkommen? Bestenfalls konnte er sich verstecken, aber für wie lange? Layne begann zu schluchzen, als er erkannte, dass es zu spät war. Er war verloren. Seine Eltern würden glücklich werden, zusammen mit einer bezaubernden, lebensfrohen Tochter, ihrem einzigen, über alles geliebten Kind. Vielleicht würden sie behaupten, er wäre davongelaufen... mit Sicherheit würde man ihn nie finden, man würde ihn vergessen... und seine Familie würde glücklich sein. Nein!!! Das durfte nicht geschehen! Mit zitternden Armen und vollkommen starren Augen rappelte Layne sich auf. Sein Körper bewegte sich wie von selbst, während ein einziger, irrsinniger Gedanke durch das Chaos in seinem Kopf raste. Er wusste, was er zu tun hatte. Das zerfledderte medizinische Heft zu seinen Füßen schien mit einem Mal Tonnen zu wiegen, es kostete ihn schier unmenschliche Anstrengungen, es aufzuheben und in seinen heftig zitternden Händen zu halten. Nein, so ging das nicht! Layne schloss die Augen und zählte im Geiste langsam bis zehn, immer und immer wieder, bis sein rasender Herzschlag und sein Atem sich wieder beruhigt hatten. Er brauchte jetzt wirklich einen klaren Kopf und vor allem ruhige Hände, ansonsten... nein, daran wollte er nicht denken! Erst jetzt bemerkte der kleine Junge, dass seine Brille bei dem Sturz heruntergefallen war. Er hob sie hastig auf, setzte sie sich auf sein Näschen und fixierte eine Illustration zwischen den endlosen Buchstabenreihen des wissenschaftlichen Artikels. Es zeigte die genaue Abbildung eines menschlichen Gehirnes. Das Moralzentrum lag ganz vorne, so konnte es bei Unfällen leicht beschädigt werden, ohne dass sonstige Schäden dabei zurückblieben. Layne sah sich das Bild ganz genau an, verglich es mit dem nebenstehenden Foto eines fahlgrauen, verschlungenen... Dings. Dem konservierten Gehirn eines Serienkillers. Mit einem großen roten Kreis war genau die Stelle markiert, die bei diesem bedauernswerten Menschen fehlte und ihn zu einer mordenden, kinderfressenden Bestie hatte werden lassen. Layne legte die Zeitschrift zur Seite und durchsuchte vorsichtig den Haufen rostigen Abfalls, der sich in dem düsteren Raum auftürmte. Er wusste, er hatte nicht viel Zeit, so blieben seine Augen bei dem erstbesten Gegenstand hängen, den er für seinen Plan verwenden konnte. Einem rostigen Schraubenzieher, dessen Metall mit den roten Flecken wie pockige Haut wirkte. Layne schlug damit ein paar Mal auf den Boden und stellte erleichtert fest, dass das Werkzeug noch stabil war. Dann krabbelte er zu dem Rasenmäher hin und rieb den Vorderteil des Schraubenziehers einige Male an einer der abstehenden Klingen. Ein durch und durch widerliches, schrilles Kratzen ertönte, aber Layne biss sich auf die Lippe und machte weiter, bis das Metall eine kleine Spitze bekommen hatte. Er holte tief Luft und eilte dann zu der Zeitschrift zurück. Der kleine Junge prägte sich die Illustration, die Markierung des Moralzentrums genau ein, dann legte er das Magazin wieder auf den Stapel zurück und ließ sich auf den harten, staubigen Betonboden fallen. Er schloss seine Augen und zielte genau. Obwohl Layne immer noch Tränen über das Gesicht liefen, verzogen sich seine bleichen Lippen zu einem Lächeln. Dann stach er zu. "Aber Dr. Lambert, wie konnte das nur passieren?" Martha Rivergate schluchzte und klammerte sich an den Arm ihres Mannes. "Ich weiß es nicht..." seufzte der Arzt, ein älterer Herr mit einem freundlichen Großvatergesicht, blitzenden Augen und einem grauen Bart. Er sah ein bisschen so aus, wie sich Kinder den Weihnachtsmann vorstellten, nur die rote Mütze, der Mantel und natürlich der Sack voller Geschenke fehlten. "Vielleicht war es ein Unfall. Der Junge hatte ja bestimmt Angst, und dort unten lagen so viele gefährliche Gegenstände herum, da kann es schon mal passieren, dass..." "Ja, und das es... es... Absicht war... schließen sie doch aus, oder?" Thomas schüttelte fassungslos den Kopf. "Ich denke schon. Und selbst wenn... ich kann sie beruhigen." Dr. Lambert lächelte. "Es sind keinerlei wichtige Teile des Gehirnes verletzt worden, das versichere ich ihnen. Wir können die Operation natürlich trotzdem durchführen!" Alle Anwesenden stießen ein erleichtertes Seufzen aus. Marthas Augen begannen zu Strahlen, als sie zu ihrem Mann aufblickte. In dessen Blick konnte man den festen Glauben daran ablesen, dass nun endlich alles gut werden würde. "Glauben sie mir, nun wird es keinerlei Probleme mehr geben. Bringen sie das Mädchen zu mir." Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)