Wenn die Sonnenblumen blühen von Torao (Chap 6 on) ================================================================================ Kapitel I --------- Geistesabwesend fiel sein Blick aus dem Fenster: Es war einer dieser schwülwarmen Sommernachmittage, der nach den starken Regenfällen der vergangenen Wochen das Land überzog. Der Himmel war strahlend blau und Vögel zwitscherten ihre Lieder. Der Wind strich sanft über die Felder und verfing sich in den Vorhängen des geöffneten Fensters im ersten Stock. Verträumt beobachtet der Sohn des Hauses aus dem Inneren des großen Anwesens die Natur und den weitläufigen Garten. Die Wasseroberfläche des Swimmingpools hinter dem Haus glitzerte ihm verführerisch entgegen, während er dem Plätschern des Brunnens am Gartenteich lauschte. „Makkusu! Ich habe dich gefragt, wie lang der Jangtse ist.“ Es war die Stimme seines Lehrers, die den Jungen zurück in die Realität rief. Hastig blickte er auf das vor ihm auf dem Tisch offenliegende Geographiebuch, ehe er eilig antwortete: „8.848 Meter.“ Ein Seufzer des auf der anderen Seite des Tisches Stehenden folgte: „Ich wollte nicht wissen, wie hoch der Mount Everest ist. Wie willst du einmal in die Fußstapfen deines Vaters treten, wenn du nicht einmal bemerkst, dass die Antwort nicht stimmen kann?“ Erst jetzt bemerkte der am Tisch Sitzende, dass er in der Zeile verrutscht war. „Entschuldigung“, murmelte er mit gesenktem Kopf. „Was soll’s?!“, erwiderte der Ältere. „Machen wir weiter.“ Doch während er weiter wichtige geographische Daten und Fakten über China aufzählte, rückte seine Stimme für den blonden Jungen wieder in den Hintergrund und sein Blick wandert erneut vom Schulbuch zum Fenster hinaus. In die Fußstapfen seines Vaters treten? Konnte ihn vielleicht erst einmal jemand fragen, ob er das überhaupt wollte? Und was brachten ihm all diese stumpfen Zahlen und Ziffern? Es war doch vollkommen unwichtig, wie lang der Jangtse war. Musste man den Fluss nicht gesehen haben, um sich ein Bild von ihm machen zu können? Reichte es etwa aus, sich nur auf leblose Daten zu stützen, ohne ihn mit eigenen Augen erlebt zu haben? Sicher nicht. Dieses Mal war es ein Klopfen an der Tür, das ihn aus seinen Gedanken riss. Er blickte in besagte Richtung, als ein blaugrauhaariger Junge den Raum betrat. „Entschuldige, Hitoshi, aber das Essen ist jeden Moment fertig“, rechtfertigte er die Störung ruhig. Der Angesprochene nickte: „Schon gut, Kai. Wir sind ohnehin fertig.“ Der Junge am Tisch seufzte erleichtert, schlug das Schulbuch zu und stand auf, während Hitoshi seine Lesebrille einsteckte und seinen Schüler ansah: „Ich hoffe nur, du bist morgen wieder mehr bei der Sache, Makkusu.“ „Max! Ich heiße Max!“, schoss es dem Jungen mit den Sommersprossen durch den Kopf. Er hasste es, mit der japanischen Form seines Vornamens angesprochen zu werden. Er wollte so genannt werden, wie ihn seine Mutter immer genannt hatte. Wie oft hatte er es Hitoshi Kinomiya schon gesagt? Doch es hatte nichts geholfen: Sein Lehrer war stur geblieben und nannte ihn weiterhin so. Inzwischen hatte Max es aufgegeben, sodass er nun nur mit einem knappen „Ja“ antwortete. Hitoshi ging an ihm vorbei und verließ den Raum. Max hingegen warf noch mal einen Blick aus dem Fenster, bis Kai nach ihm rief: „Kommst du?“ Der Blonde drehte sich wieder um, nickte und ging ebenfalls aus dem Raum, bevor der Andere die Tür hinter ihm schloss und ihm folgte. Während sie zu dritt nun den langen Flur zur Treppe entlang gingen, blickte Max abermals durch die Fenster nach draußen, wo sich vor dem Haus ein langer Zufahrtsweg bis zum Tor, welches den einzigen Durchlass in der Mauer darstellte, die das ganze Grundstück umfasste, durch den Vorgarten erstreckte. Dahinter schlängelte sich ein Weg den Hügel, auf dem das Haus stand, hinab und führte zum nächsten Dorf, welches man in einigen Kilometern Entfernung winzig am Horizont sehen konnte. Wie es dahinter aussah, wusste der Blonde nicht. Da Max’ Schritt immer langsamer wurde, je mehr er überlegte, wie es dort sein könnte, und zu träumen begann, überholte Kai ihn bald und ging wenig später vor ihm neben Hitoshi. Max beobachtete die beiden, als er im Augenwinkel sah, wie sein Lehrer mit einer Hand durch das Haar des Jüngeren fuhr, Letzterer diese jedoch stumm mit einer gekonnten Handbewegung zurückschlug. Hitoshi sah Kai daraufhin an und grinste schelmisch. Max lächelte: Es war schon interessant anzusehen, wie sein sonst so disziplinierter Lehrer Kai neckte und dieser lautlos Widerstand leistete, weil er es hasste, wenn ihn jemand vor den Augen anderer so behandelte. Dabei war Hitoshi wohl der Einzige, der das bei dem stillen und kalt wirkenden Jungen überhaupt tun durfte, wie Max vermutete. Erneut sah er kurz aus dem Fenster, als die anderen Zwei bereits die Treppe hinabgingen, bevor er ihnen folgte. Im Erdgeschoss stieg ihnen bald der angenehme Duft des Mittagessens in die Nase, und nur wenig später saßen sie und Max’ Vater am großen Esstisch im Speisezimmer, wo ihnen das Essen von Shinju, der etwas korpulenten Hausmutter, die ihre weißen Haare stets zu einem Dutt gebunden trug, serviert wurde. Während dem Essen ging es wie jeden Tag zunächst still zu, bis Herr Mizuhara, ein erfolgreicher Geschäftsmann, der nur selten zu Hause war und dennoch selbst hier Anzug trug, sich an Hitoshi wandte: „Und wie macht er sich?“ „Und wie macht er sich?“, hallten die Worte in Max’ Kopf wieder. Das klang, als würde er sich danach erkundigen, wie sich denn der Welpe machte, den er in Hitoshis Obhut gegeben hatte. Nur dass es keinen Welpen gab. Alles was sein Vater wissen wollte, war der Leistungsstand, den Max’ im Unterricht erbrachte. „Oh, sehr gut. Besonders in japanischer Geschichte und Naturwissenschaften hat er in letzter Zeit viel gelernt“, unterbrach die Antwort seines Lehrers den Gedankengang des Blonden. Jeden Tag stellte sein Vater, sofern er anwesend war, dieselbe lästige Frage. Und jedes Mal gab Hitoshi eine ähnlich zufriedenstellende Antwort. Und wie jeden Tag dachte Max darüber dasselbe: „Wenn er schon nach so unwichtigen Dingen fragt, könnte er sie zumindest an mich richten.“ Doch dass sein Vater das nicht tun würde, war ihm schmerzlich bewusst. Max wusste jedoch nicht, ob es daran lag, dass sein Vater befürchtete, er würde sich über den langweiligen Unterrichtsstoff beklagen, oder einfach daran, dass sein Vater ihn generell kaum beachtete. Zeitweise kam er sich ihm gegenüber wie Luft vor. Max sah zu Kai, der ihm gegenüber saß und seelenruhig weiteraß. Sein Vater hatte den Blaugrauhaarigen vor drei Jahren von einer Geschäftsreise in Russland mitgebracht. Seitdem lebte er hier im Haus. Max erinnerte sich noch gut an jenen Moment, als er Kai das erste Mal gegenüber gestanden hatte – wie ihn eine Welle von Kälte übermannt hatte. Und die Worte, mit denen sein Vater ihn damals vorgestellt hatte: „Makkusu, das ist Kai. Er wird dir von heute an Gesellschaft leisten, damit du nicht so alleine bist.“ Damit er nicht so alleine sei – von wegen. Max war von Anfang an bewusst gewesen, dass Kai so etwas wie sein Aufpasser sein sollte – er sollte ihn von nun an, nach jenem schrecklichen Vorfall, rund um die Uhr bewachen. Und er hatte seinen Vater dafür verflucht: Wenn er sich doch angeblich Sorgen um ihn machte, warum sorgte sich er sich dann nicht selber mehr um ihn? Warum passte er als sein Vater nicht auf ihn auf? Wieso mussten das anderen, wildfremde Leute tun? Inzwischen war Kai natürlich kein Wildfremder mehr. Max hatte versucht, ihn als einen großen Bruder anzusehen, den er als eigentliches Einzelkind nie gehabt, sich aber immer gewünscht hatte – mit geringem Erfolg. Auch wenn Kai bisher nicht viel von sich preisgegeben hatte und allgemein das Schweigen dem Sprechen vorzog, war er ein ganz angenehmer Zeitgenosse - zumindest was den größten Teil der Zeit anbelangte. Kai bemerkte Max’ Blick und sah auf: Sein Gegenüber lächelte, wie er es immer tat, doch der Blick des jungen Russen blieb emotionslos und wanderte wieder auf den Teller vor ihm. Auch Max widmete sich wieder seinem Essen, als im selben Augenblick ein Läuten an der Tür zu hören war. Wenige Minuten später betrat der schlaksige Butler Jun das Zimmer. Höflich verbeugte er sich: „Verzeihen Sie die Störung, die Herrschaften. Aber am Tor ist ein junger Mann, der zu Ihnen möchte, mein Herr.“ „Was will er denn?“, fragte Herr Mizuhara trocken, während er sich weiter mit seinem Essen beschäftigte. Der Butler richtete sich wieder auf: „Er sei wegen der freien Stelle gekommen, so sagte er.“ „Dann sei so gut und bring ihn in mein Arbeitszimmer!“, antwortete der Hausherr. Jun nickte: „Sehr wohl.“ Während der Angestellte zurück in die Empfangshalle und nach draußen eilte, tupfte Herr Mizuhara mit der Serviette, welche er von seinem Schoss genommen hatte, seinen Mund ab und erhob sich: „Ihr entschuldigt mich...“ Somit war auch er kurz darauf aus dem Raum, auf dem Weg in sein Büro, einige Zimmer weiter. „Hast ja wieder wunderbar gelogen, Hitoshi“, kam es trocken von Kai. Die anderen Beiden mussten nicht lange überlegen, was er meinte, denn der Junge wusste, wie unaufmerksam Max im Unterricht meistens war. „Ich habe nicht gelogen.“ Der Ältere schmunzelte. „Makkusu ist in den genannten Fächern wirklich im Moment besser als in den anderen.“ Ein skeptisches Kopfschütteln war alles, was noch von Kai folgte. Max schwieg gänzlich, sah jedoch auf, als er Jun durch die Eingangshalle gehen sah. Ihm folgte ein junger Mann, etwas größer als er selbst, vielleicht so groß wie Kai, mit einem großen Reisebeutel, der lässig über seiner Schulter hing. Für den Moment entrückten nicht nur das Essen, sondern auch Kai und Hitoshi seiner Wahrnehmung. Da war nur noch der Junge mit den langen schwarzen Haaren, die als Zopf über seinen Rücken fielen und die goldgelben Augen, die ihn im Vorbeigehen kurz selbstsicher ansahen, bevor der Ankömmling aus seinem Blickfeld verschwand. „Max, du kleckerst.“ Erschrocken sah der Angesprochene wieder zu Kai, als dieser auf die Tischdecke deutete, auf der nun der Reis lag, den Max noch eben hatte in seinen Mund schieben wollen. „Oh.“ Hastig beseitigte Max sein Missgeschick, blickte nochmals in die verlassene Eingangshalle und aß dann zu Ende. _________________________________________________________________ Die Feuerprobe für diese FF, das erste Kapitel, endet hier. Ich hoffe es hat gefallen und euch interessiert, was der so eben angekommene Fremde im Hause Mizuhara will, was außerdem noch in Max vorgeht und wie es dazu kam, dass Kai ins Haus zog. ^^ Ly x3 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)