Heilt die Zeit alle Wunden?
Nachdenklich sah er hoch in den strahlend blauen Himmel. Die Wolken waren weiß wie Watte und nur eine leichte Sommerbrise wehte über den Hügel, auf dem er es sich bequehm gemacht hatte. Unzufrieden wischte er sich das schulterlange Haar, dass er heute zu einem Zopf gebunden hatte, aus der Stirn und schnaubte.
Es war mal wieder so dermaßen typisch. Das perfekte Wetter zum "Verlieben". Jaja, die Liebe...
Etwas, dass Jacob Black aufgegeben hatte. Seiner Meinung nach war die Liebe nur etwas für Leute, die alleine nicht klar kamen und es nötig hatten, Stunde um Stunde aufeinander zu hocken. Seine "Brüder" zeigten es ihm Tag für Tag - Sam und Emily und Jared, der auf ein Menschenmädchen namens Kim geprägt worden war.
Prägung...
Jacob Black seufzte und ließ sich in das leicht feuchte Gras sinken. Das war doch alles nur ein großer Unfug. Gut, es war einigen von ihnen
vielleicht passiert, doch er war sich sicher, dass es für ihn nie etwas Vergleichbares geben würde. Er hatte gedacht, Liebe empfunden zu haben, hatte versucht, sich selbst zu prägen. Und schon wieder wanderten seine Gedanken zu IHR.
Bella...
Isabella Marie Swan, einst seine beste Freundin. Zu der Zeit, als sie beide noch Menschen gewesen waren, war alles so einfach gewesen. Er war ihre persönliche Sonne gewesen und sie das, was seine sonst so langweiligen Tage in La Push lebenswert gemacht hatten. Er war für sie da gewesen, als es ihr so schlecht wie noch nie in ihrem Leben gegangen war und sie waren glücklich gewesen. Glücklich bis zu dem Abend, an dem Jacob Blacks Leben eine entscheidende Wende genommen hatte und glücklich bis zu dem Tag, an dem ihm die verdammten Cullens Bella weggenommen hatten. Er verfluchte es nicht, ein Werwolf zu sein.
Seine Verwandlungen traten zwar oft genug zu ungünstigen Zeiten auf, jedoch gab es auch eine entscheidende Anzahl an Vorteilen. Die Stärke, die Schnelligkeit... Aber das Wichtigste war, dass er eine Familie dazugewonnen hatte. Das Rudel um Sam Uley, dem ersten der neuen Wölfe von La Push. Sie waren diejenigen, die immer für ihn da waren, diejenigen, die alles von ihm wussten. Jede Peinlichkeit, alles, was ihn verletzte oder wütend machte und er wusste alles von ihnen. Sie waren es außerdem gewesen, die ihn wieder aufgefangen hatten, nachdem sie ihn so verletzt hatte.
Bella...
Jacob Black schüttelte den Kopf. Dabei war er doch so stolz auf sich gewesen. Er hatte es doch geschafft gehabt, sie für einige, entspannende Stunden aus seinem Gedächtnis zu verbannen und jetzt dachte er schon wieder an sie.
Isabella Marie Swan, die dieses Monster ihm vorgezogen hatte.
Isabella Marie Swan, die ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebte und die ihn geküsst hatte. Auch, wenn er zugeben musste, dass er hier ein wenig getrickst hatte...
Isabella Marie Swan, die jetzt Isabella Marie Cullen hieß und schon bald auch eine ewige Verdammte sein würde.
Jacob Blacks Hände fingen an zu zittern. Er zwang sich, tief durchzuatmen. Sie war nicht mehr seine Bella. Sie war jetzt Edward Cullens Bella. Einfach nicht daran denken. Lieber dachte er wieder an das Rudel. Es stimmte, er war geflohen. Er war wie ein geprügelter Hund aus seiner eigenen Heimat weggelaufen, um nichts fühlen zu müssen. Um den Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen...
Gequält stöhnte er auf und drehte sich auf die Seite. Er krallte sich im nassen Gras fest, bis er wieder einigermaßen ruhig war. Nicht daran denken. Er war aus La Push weggelaufen, als das, was er im Stillen ein wenig für alles verantwortlich machte. Als der große, braune Wolf mit dem langen, zotteligen Fell, wie Bella es immer genannt hatte.
Bella...
Er war gerannt und gerannt, hatten Wälder und Wüstenabschnitte durchquehrt, bis er schließlich und endlich wieder zur Vernunft gekommen war. Er war Jacob Black und daran würde sich auch nichts ändern, wenn er davor weglief. Also hatte er das getan, was ihm als Mensch unendlich peinlich gewesen wäre. Er hatte sich auf den Waldboden fallen und den Tränen freien Lauf gelassen. Es war ihm nicht klar gewesen, dass er auch als Wolf durchaus dieser menschlichen Tätigkeit nachgehen konnte. Weinen war schließlich auch nicht eine seiner Lieblingsbeschäftigungen gewesen.
Und ja, wieder waren sie da gewesen. Sie hatten ihn gesehen, den großen, mächtigen Wolf, der gebrochen unter einem Baum lag, Meilen von Zuhause weg und sich doch so menschlich benahm. Quil und Embry waren aus dem Schatten getreten und hatten sich - wie sie es immer taten - jeweils an seiner linken und rechten Seite hingelegt und ihre Köpfe nachdenklich auf die Vorderpfoten gelegt. Er hatte sie per Gedankengänge angeschrien, er wolle allein sein, Sam habe ihnen verboten, ihm zu folgen.
Es war ihnen egal gewesen. Sie hatten ihn einfach nur aus ihren immer noch menschlich wirkenden Augen angesehen, der mitleidige Ausdruck darin hatte ihn nur noch wütender gemacht. Die beiden trugen selbst nach Tagen noch die Narben dessen auf ihren Körpern, was er ihnen angetan hatte. sie waren nicht wütend auf ihn gewesen. Hatten ihm keine Vorwürfe gemacht. Ihn nur gebeten, nachzudenken. Das tat er und kam schließlich wieder zurück mit ihnen ins Quileute-Reservat.
Jacob Black seufzte.
Wie selbstverständlich waren sie, wie immer, in der perfekten Dreieckskonstellation aus dem Wald getreten und hatten sich dem Anführer sowie dem Rest des Rudels gestellt. Sam war nachsichtig mit ihm gewesen und hatte keine weiteren Fragen gestellt. Ein einfaches "Willkommen Zuhause" hatte Jacob Black das Gefühl gegeben, auch genau dort gelandet zu sein. Wie eines dieser Kinder, dass aus Trauer von Zuhause weggelaufen und von seiner besorgten Mutter mit offenen Armen wieder empfangen worden war. Mehr war auch nicht nötig gewesen. Sie alle wussten, wie er sich fühlte, wie nah er daran war, alles in Frage zu stellen. Sein ganzes - wie er es nannte - sinnloses Leben.
Langsam versank die glühende Abendsonne hinter dem Horizont. Das war Jacob Blacks Lieblingszeit. Ein Tag endete, ein weiterer Tag, den er mit Nachdenken verbracht und an dem er sich wieder einmal gefragt hatte, wie es werden sollte.
Ohne sie...
Bella...
Er setzte sich auf. Billy würde schon mit dem Abendessen auf ihn warten und danach würde er mit Quil und Embry zum angesetzten Rudeltreffen aufbrechen.
Ein kleines Lächeln hellte Jacob Blacks Miene auf.
Es gab Neuigkeiten.