Licht und Schatten von Nochnoi ================================================================================ Kapitel 8: 8. Kapitel --------------------- Es herrschte absolute Stille im Haus. Eine unheimliche Stille. Bedrückend. Drohend. Unheilverkündend. Sam umklammerte instinktiv seine Waffe fester, auch wenn er gar nicht wusste, ob die Steinsalzpatronen überhaupt eine Wirkung auf das Tier haben würden. Alyssa zumindest hatte es in keinster Weise geschadet, sie sogar eher amüsiert. Dennoch bereitete Sam die Nähe seiner Waffe ein beruhigendes Gefühl. Im Notfall konnte er das Gewehr dem Vieh immer noch über den Kopf ziehen oder ihm das Salz in die Augen schießen. Vielleicht nicht tödlich, doch sicherlich durchaus schmerzhaft. Sehr viel wichtiger war sowieso die Flasche mit Weihwasser, die er sich in die breite Jackentasche gestopft hatte. Jederzeit bereit, hervorgezogen zu werden wie ein Colt aus einem alten Westernfilm. Das Buch, das er sich von Spencer geborgt hatte, hatte er vorsichtshalber auf einer Kommode im Flur zurückgelassen. Er legte es zwar ungern aus der Hand, da es möglicherweise die langersehnten Antworten enthielt, doch es war viel zu groß und zu sperrig, um es sich ebenfalls irgendwie in die Jackentasche zu stopfen. Außerdem wollte Sam nicht das Risiko eingehen, dass es beim Kampf unter Umständen beschädigt wurde. Womöglich war es die einzige Möglichkeit, all dem ein Ende zu bereiten. Leise bewegten sich die Brüder durch das Haus, vorbei an der teuer aussehenden Einrichtung, den unzähligen, fast schon unerträglich heiteren und idyllischen Familienfotos und den umgekippten Stühlen und Tischen, die die Partygäste bei ihrer übereilten Flucht einfach umgerissen hatten. Sam warf einen Blick zu seinem älteren Bruder, der nun vollkommen auf Jägermodus geschaltet hatte. Konzentrierter Blick, harte Miene und jeder Muskel im Körper angespannt. Wie ein Soldat im Kriegsgebiet bewegte er sich vorsichtig durch das Wohnzimmer und trat schließlich hinaus auf die Terrasse. Dort wurde noch deutlicher, wie sehr die Menschen von dem plötzlichen Auftauchen des ‚Bären‘ erschreckt worden waren. Gläser waren auf dem Boden zersprungen und hatten ihren Inhalt überall verteilt, der Grill war mitsamt dem gebratenen Fleisch ebenso wie der Buffettisch umgestürzt. Brot, Dips, Salate und vieles andere lagen wild durcheinander auf dem feuchten Rasen. Sam bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Dean einen kurzen, wehleidigen Blick auf das vergeudete Essen warf, ehe er seine Aufmerksamkeit auf das riesige Tier richtete. Dieses hatte gerade seine Schnauze in den hauseigenen Gartenteich gesteckt und trank gierig, wie es nur ein Geschöpf konnte, das seit über fünfzehn Jahren keinerlei Flüssigkeit mehr zu sich genommen hatte. Es registrierte nicht mal die Ankunft der Brüder, dermaßen war es von seinem Durst beherrscht. Die Winchesters wechselten einen kurzen Blick und nickten unisono. Bereit zum Angriff, gaben sie sich lautlos zu verstehen. Sam verschwendete daraufhin keine Sekunde. Sie mussten die Ablenkung nutzen, solange sie die Chance dazu hatten. Das Tier durfte kein zweites Mal entwischen. Er schraubte die Flasche mit Weihwasser auf und spritzte einen Großteil des Inhalts direkt auf das Wesen. Augenblicklich war ein zischendes Geräusch zu hören, gefolgt vom qualvollen Brüllen des Tieres, das erneut ihre Trommelfelle vibrieren ließ. Sam verzog angesichts des Lärms das Gesicht und hoffte bloß, dass ihm nicht der Schädel platzte, während Dean sein Gewehr nach oben riss und zwei Schüsse kurz hintereinander abgab. Auch Sam drückte auf den Abzug und schoss mehrmals. Die darauffolgenden Schmerzensschreie des Ungeheuers waren fast unerträglich. Die erste Kugel von Dean hatte es direkt in der Flanke erwischt, rotes Blut sickerte aus der Wunde hervor. Der zweite Schuss war nur knapp am gigantischen Kopf des Tieres vorbeigerauscht, da es sich noch im letzten Moment geduckt hatte. Ob aus Berechnung oder ob es einfach aufgrund der Schmerzen zusammengezuckt war, vermochte Sam nicht zu sagen. Das Steinsalz wiederum schien keine augenscheinlichen Schäden zu hinterlassen, brannte aber offenbar furchtbar in der offenen Wunde. Das Wesen wand und krümmte sich, während es unentwegt brüllte und winselte. Dean visierte erneut sein Ziel an und wollte ihm den Rest geben, während Sam wieder nach dem Weihwasser griff. Ein ordentlicher Schwall mitten ins Gesicht würde sicher seine Wirkung zeigen. Doch diesmal kam es nicht dazu. Ein zweites Mal wollte sich das Monster nicht überrumpeln lassen. Mit einer Geschwindigkeit, die man seinem massigen Körper niemals im Leben zugetraut hätte, sprintete es los. Direkt auf Sam zu. Dieser schnappte entsetzt nach Luft und war im ersten Moment wie gelähmt. Erst als er Deans warnendes Brüllen und die darauffolgenden Gewehrschüsse hörte, vermochte er sich zusammenzureißen. Er schüttete dem Tier den Rest des Weihwassers entgegen und sprang hastig zur Seite. Das Wesen brüllte auf, hielt jedoch in seiner Bewegung nicht inne. Stattdessen wirbelte er einmal um die eigene Achse und benutzte dabei seinen harten Schwanz wie eine Waffe. Und traf damit Dean direkt in die Brust. Er keuchte auf, als alle Luft aus seinen Lungen entwich und er nach hinten gerissen wurde. Sein Kopf donnerte lautstark gegen eine massive Steinwand. Bereits im nächsten Moment sackte er bewusstlos zu Boden, während seine Waffe langsam aus seinen Händen glitt. „Dean!“, rief Sam erschrocken. Er wollte losstürmen und seinem Bruder zu Hilfe eilen, doch er kam nicht mehr dazu. Dermaßen schnell, dass kein menschliches Auge es jemals rechtzeitig gemerkt hätte, hatte das Geschöpf ihn als nächstes Opfer erwählt. Sam spürte bloß, wie er den Boden unter den Füßen verlor und mit seinem Hinterkopf gegen ein Hindernis stieß, ehe ihn völlige Dunkelheit umfing. * * * * * * Das erste, was Sam bemerkte, als er langsam wieder zu Bewusstsein kam, waren die höllischen Kopfschmerzen. Er war zwar schon öfters von Dämonen, Geistern und anderen übernatürlichen Geschöpfen unsanft durch die Gegend geschubst worden – zuletzt von Alyssa höchstpersönlich –, aber noch nie hatte er das Gefühl gehabt, dass sein Schädel entzwei gebrochen wäre. Mehrere Minuten blieb er reglos liegen, aus Angst, er könnte sofort wieder ohnmächtig werden, wenn er sich nur einen Millimeter bewegte. Auch wusste er im ersten Moment überhaupt nicht, was passiert war. Er erinnerte sich noch daran, wie er bei Spencer gewesen war und dieser ihnen die Geschichte über die Beschwörung der Zwillinge und des riesigen Ungetüms erzählt hatte. Und dann war das Tier irgendwie entkommen … Und dann … Sam riss entsetzt die Augen auf, als ihm die gesamte Situation wieder bewusst wurde. In einem Schwung richtete er seinen Oberkörper auf, was ihn sein geschundener Leib mit schwerem Schwindel und Übelkeit dankte. Für einen Augenblick schien alles zu tanzen und sich die ganze Umgebung seltsam zu verzerren. „Dean?“, fragte er leidlich, während er sich an den Kopf fasste und sich selbst dazu zwang, nicht wieder umzukippen. „Dean, alles okay?“ Sein Blick wanderte nach rechts. Dort, wo sein Bruder unangenehm gegen die Mauer geprallt und zu Boden gesackt war. Doch Dean war nicht da. Sams Herz zog sich krampfhaft zusammen. Einen Moment lang versuchte er sich selbst davon zu überzeugen, dass Dean gleich nach dem Angriff wieder zu Bewusstsein gekommen und sofort dazu übergegangen war, die Verfolgung des flüchtigen Tieres aufzunehmen. Dass es ihm bestens ging und bloß sein Jägerinstinkt mit ihm durchgegangen war, sodass er seinen Bruder zurückgelassen hatte. Aber Sam war absolut klar, dass es niemals auf diese Weise geschehen war. Mochte Dean noch so sehr in seinem Element sein, seinen kleinen Bruder hätte er nie im Stich gelassen. Besonders dann nicht, wenn er wusste, dass ein bösartiges Dämonenkind sein Unwesen trieb. Mühevoll rappelte Sam sich auf und ließ seinen Blick schweifen. Schnell entdeckte er verdächtige Spuren im feuchten Gras, die darauf hindeuteten, dass ein Gegenstand oder ein Körper fortgeschleift worden war. Sam schluckte. Hatte das Vieh Dean möglicherweise entführt? Aber wieso? Bevor er sich jedoch auf die Jagd machte, ging er nochmal ins Haus zurück und überprüfte, ob Dean sich nicht vielleicht dort aufhielt. Unter Umständen war er bloß auf der Suche nach einem Verbandskasten oder einem kühlen Bier. Sam rief mehrmals seinen Namen, doch es kam keine Antwort. Stattdessen polterten plötzlich von einem Moment auf den anderen an den Fenstern alle Jalousinen nach unten und tauchten das Haus in Dunkelheit. „Das ist vollkommen zwecklos“, vernahm Sam Alyssas kalte Stimme keine Sekunde später. Er wirbelte herum und entdeckte die vertraute Gestalt im Wohnzimmer, wie sie gerade noch zusätzlich die schweren Vorhänge zuzog, um kein bisschen Licht hereinzulassen. „Wo ist Dean?“, zischte Sam. Er wusste, dass das Gewehr mit Steinsalz in seiner Hand keinerlei Effekt auf Alyssa hatte, dennoch richtete er dessen Mündung auf das kleine Mädchen, das ihm gehässig entgegen grinste. „Wo er ist?“, fragte sie übertrieben theatralisch nach. „Hm, keine Ahnung. Vielleicht in der Hölle?“ Sam knirschte mit den Zähnen und war kurz davor, den Abzug zu drücken, als plötzlich ein merkwürdiges Licht in den Raum fiel. Amy trat zusammen mit ihrem leuchtenden Ball ins Wohnzimmer und blieb so weit entfernt von ihrer Schwester entfernt stehen, dass der Lichtkegel sie nicht erreichen konnte. „Sei nicht so gemein zu ihm“, meinte sie vorwurfsvoll an Alyssa gerichtet. „Er macht sich Sorgen um seinen Bruder. Was würdest du denn machen, wenn ich plötzlich verschwinden würde?“ Alyssa verzog das Gesicht. Sie hätte wahrscheinlich niemals im Leben ausgerechnet vor einem Menschen auch nur ansatzweise zugegeben, dass sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um ihre Schwester zu finden, aber so war es nun einmal. Alyssa war vielleicht ein Miststück alleroberster Güte, das sich in keinster Weise um das Wohl anderer scherte, doch für Amy hätte sie einfach alles getan. Sam konnte es deutlich in ihren Augen sehen. Ihr Blick ähnelte dem von Dean, wenn er den großen Bruder markierte und keinen Zweifel daran ließ, dass er für Sam sogar sein Leben geben würde. „Du bist gar nicht so hart, wie du tust, nicht wahr?“ Sam gestattete sich ein überhebliches Grinsen, wie es sonst eher Dean vorbehalten gewesen wäre. „Im Grunde bist du bloß ein kleines, ängstliches Mädchen, das man aus seinem Zuhause gerissen hat und nun nicht mehr weiß, wie es zurückkommt. Alles, was du tun kannst, ist, dich an irgendwelche Strohhalme zu klammern und sei es auch nur, um deine Schwester zu beruhigen.“ Kaum hatte er es jedoch ausgesprochen, bereute er es bereits, überhaupt seine Klappe aufgerissen zu haben. Alyssa zu provozieren war nicht unbedingt gesundheitsfördernd, wie sie ja bereits feststellen durften. Doch anstatt eines Tobsuchtsanfalls bekam Sam bloß ein unheimliches Lächeln geschenkt. Ein extrem unheimliches Lächeln. „Wenn ich ehrlich bin, hast du gar nicht so Unrecht“, gestand Alyssa sogar ein. „Ich wurde in der Tat meinem Zuhause entrissen und weiß nicht genau, wie ich jemals wieder zurückkehren kann. Aber immer noch besser, als niemals ein Zuhause besessen zu haben, nicht wahr? Bloß von einem Motel zum anderen zu wandern und dabei zuzusehen, wie man selbst und die gesamte Familie nach und nach von innen aufgefressen wird. Nur für seine dumme, kindische Rache zu leben und innerlich tot und leer zu sein.“ Sie legte ihren Kopf schief. „Sag mal, Sam, bist du eigentlich jemals glücklich gewesen? So richtig, uneingeschränkt und rundum glücklich?“ Sam knirschte mit den Zähnen. Diese kleine Dämonin war verdammt gut, das musste man ihr wirklich lassen. Es war eine ausgesprochen effektive Taktik, die Gedanken und Gefühle seines Gegners zu lesen und ihn auf diese Art zu zermürben. Aber Sam zwang sich, nicht weiter darauf einzugehen. Er überhörte die Frage einfach, so gut es ging. Unter anderem auch deshalb, weil er nicht genauer darüber nachdenken wollte. Er wusste, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde. „Also nochmal: Wo ist Dean?“, verlangte er zu erfahren. „Und ich sag’s dir auch nochmal: Keine Ahnung!“, wiederholte sie mit Nachdruck, als hätte sie es mit einem Zurückgebliebenen zu tun. „Cytho hat ihn wahrscheinlich mitgenommen. Zum Spielen, wenn du verstehst, was ich meine.“ Sam wollte vehement den Kopf schütteln – eher um zu symbolisieren, dass er das Ganze einfach nicht fassen konnte, als um zu unterstreichen, dass er sie wirklich nicht verstand –, doch angesichts der heftigen Schmerzen, die ihn immer noch quälten und dem Gefühl nach auch niemals wieder im Leben verschwinden würden, ließ er davon ab. Stattdessen biss er sich auf die Unterlippe und fragte widerwillig: „Ist er tot?“ Alyssa zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich habe leider kein Telegramm bekommen, das mich darüber aufklärt. Aber wenn du willst, kann ich diese Frage gerne in meinen Blog im Internet stellen. Möglicherweise meldet sich ja jemand.“ Sam runzelte die Stirn. Für Sarkasmus hatte er im Moment absolut keinen Nerv. „Cytho?“, hakte er stattdessen nach. „Dieses … dieses Ding heißt tatsächlich so?“ „Eigentlich heißt er Cythelkhargurmanos“, erklärte ihn Alyssa amüsiert. „Du kannst ihn gerne so nennen, wenn du Spaß dran hast.“ Sam knurrte übellaunig und wollte zu einer passenden Antwort ansetzen, als er schließlich bemerkte, dass Amy unbemerkt zu ihm getreten war. Mit ihren großen Puppenaugen schaute zu ihm hoch und schenkte ihm ein Lächeln, das alles andere als dämonisch wirkte. „Soll ich dir helfen, deinen Bruder zu suchen?“, bot sie großzügig an. „Du willst mir wirklich helfen?“ Sie lachte belustigt auf. „Na ja, zuallererst will ich natürlich Cytho finden. Aber Dean ist bestimmt nicht weit entfernt, nicht wahr?“ „Ähm … bestimmt“, meinte Sam. Immer noch fühlte er sich in ihrer Nähe unbehaglich und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Sie war zwar ein übernatürliches Wesen, aber abgesehen von ihrer Abstammung schien sie nichts das Geringste mit einem Dämon gemein zu haben. Ein Umstand, der über alle Maßen verwirrend war. „Wunderbar!“, sagte Alyssa, offenbar ehrlich erfreut. „Und während ihr durch die Gegend streift, werde ich den Fluch auflösen.“ Und mit diesen Worten hielt sie Spencers Buch in die Höhe. Sam zuckte bei diesem Anblick zusammen. Er wollte augenblicklich auf sie zustürmen und ihr das Buch entreißen, doch sie hob warnend ihre Hand und gab ihm damit zu verstehen, dass sie ihre Kräfte einsetzen würde, würde er ihr zu nahe kommen. „Mir war ja durchaus bewusst, dass wir das Blut desjenigen, der den Fluch ausgesprochen hat – also Spencers Blut – brauchen, um den Fluch von Licht und Schatten zu lösen“, meinte sie spöttisch. „Aber der Mistkerl hat sich ja all die Jahre in seinem Haus verschanzt. Und nun rate, was mir dieses nette Büchlein verraten hat?“ Sie grinste breit. „Um die Barriere zu zerstören oder zumindest zu schwächen, reicht ein einfaches Blutopfer. Ist das nicht toll?“ Sams Körper verspannte sich bei diesen Worten. Das klang ganz und gar nicht gut. Er hätte dieses Buch niemals mitnehmen sollen. „Also werde ich mir jetzt ein nettes, kleines Opfer suchen“, erklärte Alyssa feierlich. „Und euch beiden wünsche ich viel Spaß!“ Dann jedoch verdüsterte sich ihre Miene – soweit man das zumindest in der Dunkelheit zu erkennen vermochte –, als sie kalt hinzufügte: „Und sollte Amy oder Cytho irgendetwas zustoßen, werde ich dich und deinen lästigen Bruder in die tiefsten Tiefen der Hölle verbannen, wo niemand eure Schreie hört. Wo man euch bei lebendigem Leib die Haut abschält und jeden einzelnen Knochen in eurem Körper bricht. Ihr werdet leiden, ihr werdet weinen und ihr werdet euch wünschen, damals auf mich gehört zu haben. Ist das klar?“ Sam nickte knapp. „Vielen Dank für diese sehr anschauliche Drohung.“ Und wahrscheinlich war sie nicht mal übertrieben. Alyssa hatte in den vergangenen Tagen vermehrt Fähigkeiten gezeigt, die Sam noch nie in diesem Ausmaß gesehen hatte. Vermutlich war sie wirklich dazu in der Lage, sie bis in alle Ewigkeiten zu quälen. „Und vergiss bloß nicht, deinen schießwütigen Bruder davon in Kenntnis zu setzen“, zischte Alyssa. „Sollte er Cytho töten und Amy ins nächste Kinderheim stecken, werde ich wirklich wirklich wütend!“ Mit einem teuflischen Lächeln fügte sie hinzu: „Falls Dean überhaupt noch lebt, versteht sich.“ Und bereits im nächsten Moment war sie verschwunden. Von der Dunkelheit verschluckt. Sam seufzte auf und fuhr sich durchs Haar, hielt jedoch inne, als er etwas Feuchtes an seinem Hinterkopf spürte. Ein Blick auf seine roten Finger verriet ihm, dass er aus einer Platzwunde blutete. Offenbar sogar ziemlich stark, wie er bemerkte, als er weiter bis in den Nacken tastete, der ebenfalls bereits blutverschmiert war. „Du bist wohl hingefallen, was?“, erkundigte sich Amy besorgt. Sam lächelte knapp. „So kann man es irgendwie ausdrücken.“ „Soll ich es heile machen?“, hakte sie nach. Sam, der gerade die Stelle angestarrt hatte, wo Alyssa samt Spencers Buch verschwunden war, blickte verwirrt hinunter auf das kleine Mädchen. „Bitte was?“ „Ich kann es heile machen“, bot sie freundlich an. „Du musst nur was runterkommen. Du bist zu groß.“ Sam musterte sie skeptisch. Einerseits war es schwer, diesem süßen Kind mit seinen großen Augen etwas abzuschlagen, aber andererseits war ihm nur allzu deutlich gewahr, dass es sich bei ihr um keinen Menschen handelte, sondern um ein Wesen, dem man normalerweise nicht unbedingt sein Vertrauen schenken sollte. „Ich an deiner Stelle würde es tun“, meinte Amy, keine Spur beleidigt, dass Sam bei ihrem Angebot zögerte. „In deinem Kopf herrscht ein ziemliches Durcheinander. Spätestens in ein paar Minuten bist du wieder ohnmächtig, garantiert.“ Sam hätte liebend gern ihre Worte als Lüge abgestempelt, aber er konnte es einfach nicht. Ihm war immer noch schwindelig und speiübel, sein Kopf schmerzte wie die Hölle und die Umgebung begann bereits wieder zu verschwimmen. Er würde wohl wirklich nicht mehr allzu lange durchhalten. Zumindest konnte er in dieser Verfassung keinesfalls nach Dean und einem gigantischen Monsterhund suchen. Ohne es richtig zu realisieren, ging er schließlich in die Hocke. Amy gab ein glucksendes Geräusch von sich, ehe sie sanft ihre kleine Hand auf Sams Schläfe legte. Zunächst geschah nicht das Geringste, aber schon einen Augenblick später bemerkte Sam die Veränderung. Sein Blick wurde wieder schärfer und die Schmerzen nahmen kontinuierlich ab, bis sie letztlich nur noch eine schreckliche Erinnerung waren. Erleichtert stöhnte er auf, ehe er Amy zulächelte und leise sagte: „Danke.“ „Kein Problem“, meinte diese vergnügt. „Und, gehen wir jetzt die beiden Ausreißer suchen?“ Sam wollte zunächst nicken, entsann sich dann aber wieder an Alyssas Worte. Sie hatte von einem Blutopfer gesprochen. Von einer Möglichkeit, Spencers Schutzkreis zu brechen und ihn für alles büßen zu lassen. Was sollte er tun? Alyssa hinterher und sie – zumindest im bestmöglichen Fall – von einer furchtbaren Tat abhalten, dafür aber Dean im Stich lassen? Zugegeben, er war ein ausgebildeter Jäger und verstand es bestens, sich zu verteidigen, aber wenn er ebenso angeschlagen war wie Sam noch vor wenigen Augenblicken, standen seine Chancen nicht besonders gut. Außerdem gefiel Sam der Gedanke ganz und gar nicht, seinen Bruder mit einer riesigen Bestie allein zu lassen. Doch wenn er sich auf die Suche nach Dean begab, würde Alyssa in der Zwischenzeit unter Umständen Menschen töten. „Keine Sorge“, sagte Amy zuversichtlich. „Es ist noch Tag.“ „Was?“, fragte Sam irritiert nach. Amy schob eine Jalousine nach oben und deutete demonstrativ nach draußen. „Es sind zwar Wolken da und es ist ziemlich grau, aber es ist immer noch Tag. Irgendwie ist ein ganz komisches Licht. Weder hell noch dunkel.“ Verträumt schaute sie in den Garten. „Alyssa wird nichts unternehmen, bis nicht die Nacht da ist. Das wäre ansonsten viel zu gefährlich.“ Sam wusste darauf nichts zu erwidern. Wahrscheinlich hatte sie Recht. Die Bewölkung hielt sich sehr in Grenzen und hätte sich jederzeit wieder auflösen können. Und Alyssa durfte es auf keinen Fall riskieren, auch nur von einem einzigen Sonnenstrahl getroffen werden. Sam kannte sich zwar mit dem Fluch von Licht und Schatten kein bisschen aus, aber die Angst der Zwillinge machte mehr als deutlich, was geschehen würde, wenn eine von beiden unvorsichtig war. Somit nickte er zustimmend. Er musste das Risiko eingehen, wenn er seinen Bruder einigermaßen unbeschadet finden wollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)