Titellos. von LichterSchrei (Graue Gedanken erstrecken sich nach bunten Blüten.) ================================================================================ Titellos. --------- Die Winterwichtelgeschichte für Dich, Asaliah. Ich hoffe sie hat dir gefallen, sie hat sich nach und nach in meinem Kopf verselbstständigt, immer wieder ungeahnte Wendungen genommen und ist am Schluss doch noch so geworden wie sie eigentlich sein sollte. Lieben Gruß, LichterSchrei +++ Eine Großstadt. Zwei Millionen Einwohner. Ein Hochhaus. Dreizehn Parteien. Eine Wohnung. Ein Mieter. Licht fällt durch die nur zur Hälfte heruntergelassene Jalousie in ein grau gestrichenes Zimmer. Zwei staubige Bücherregale, ein Schreibtisch voll von mit sauberer Schrift beschriebenen Blättern, zwei Topfpflanzen, alles beleuchtet vom schummrigen Dämmerlicht des neuen Tages. Ganz in der Ecke, noch unverschont von den heran kriechenden Sonnenstrahlen, ein schmales Bett. Singledasein. Sechs Uhr zehn. Das ohrenbetäubende Klingeln eines Weckers stört die Stille. Müde Augen wollen töten, doch dies scheint dem Gerät nichts auszumachen. Resigniert wird die Hand nach dem Unding ausgestreckt um ihm durch Nutzung physischer Kräfte den gar aus zu machen. Der schrille Laut erstirbt augenblicklich. Sieg. Dennoch, wenn auch widerwillig, quält sich der Besitzer ebendieser Hand aus den verknoteten Laken. Ein neuer Tag, Zeit dem völlig gleichen Alltagstrott nachzugehen! -- Leander frühstückte. Marmeladenbrötchen und Kaffee. Viel Kaffee. Die erste Tasse von den üblichen drei leerte er in großen Schlücken. Wie jeden Morgen. Er brauchte das Koffein um wach zu werden. Ihn ödete es an. Jeder Tag wie der andere. Die Karte seiner Mutter hing ihm gegenüber an einer magnetischen Pinnwand am Küchenschrank: „Jeder Tag ist ein neues Blatt, bemale ihn mit deinen Farben.“ Geschwätz. Manchmal fragte er sich, was Leute für das Herauskramen solcher brechreizerregend-optimistischen Sprüche bekamen. Geld würde er zumindest nicht dafür zahlen. Aber bunt war sein Leben trotzdem. Bunt, lebendig und voller Wunder. Um Punk sieben Uhr verließ der junge Mann seine kleine Wohnung und machte sich auf den Weg zur Tram um zur Arbeit zu fahren. Er war in einen dunklen Wintermantel gehüllt und hatte einen moosgrünen Schaal um den Hals geschlungen. Seine dunkelblonden Haare wurden vom Wind leicht zerzaust. Verloren wanderte er durch die nur wenig belebten Straßen. Er grüßte die fette Tratsch-Nachbarin, die untreue Ehefrau von nebenan, den dauerbesoffenen Oldie-Punk aus dem ersten Stock und die immerzu freundliche Bäckersfrau, bei der er sonntags die Brötchen holte. Abwechslung musste sein. Wenigstens einmal in der Woche wollte er keine Aufbackbrötchen essen. An der Haltestelle angekommen stellte er sich auf seinen „Stammplatz“ an der Laterne. Es war alles wie jeden Morgen. Rechts von ihm, etwa fünf Schritte weiter, stand der Mann im schicken Anzug, neben diesem die Frau mit Hochsteckfrisur, die beiden unterhielten sich angeregt. Links von ihm die Horde Kinder, die zur Schule fuhr und immer an der Elly-Heuss-Knapp-Haltestelle ausstieg. Er fühlte sich beobachtet. Auch das war seit einigen Wochen zur Gewohnheit geworden. Die drei Tage, an denen er keine fremden Blicke auf sich gespürt hatte waren fast schon seltsam gewesen. Einige Minuten des Wartens später kam endlich die quitschgelbe Tram heran geglitten. Er stieg ein, suchte sich einen Platz nahe der Tür und atmete tief durch. Raus aus der Kälte, rein in die miefige Wärme, lang lebe die Heizung! Der Lärm der Schüler schallte zu ihm herüber, sie klatschten mal wieder irgendwelche Karten. Mit jedem Schlag erzitterte der Boden. Ihnen schien es Spaß zu machen, helles Lachen erfüllte den Wagon. Leander steckte sich die Ohrstöpsel seines MP3-Players in die Ohren und kaum eine Sekunde später schallte die Stimme von Marilyn Manson durch seine Gehirnwindungen. Ein wenig Zeit für morgendliche Aggressionsbewältigung durch Musik dürfte noch sein. Seine Finger wippten im Takt auf seinen Knien mit. „Nächster Halt: Rotenplatz. Der Zug hält nur bei Bedarf.“, die Stimme der Ansagefrau schlug sich durch die von Manson beherrschten Hirnwindungen durch, Reflexe wurden durch Nervenbahnen geschickt und Leander öffnete die Augen. Mit einer ruhigen Bewegung erhob er sich von dem blau gemusterten Sitz, drückte für die Haltestelle und wartete auf den Stillstand des Zuges. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. In Gedanken beschloss er die drei Tassen Kaffee auf vier zu erhöhen. Halleluja, Koffeinschock! Während er den Marktplatz überquerte spürte er wieder deutlich die Blicke seines Beobachters im Nacken. Es war ihm allerdings unbegreiflich, wie dieser es anstellte, dass er ohne mit der Bahn zu fahren trotzdem wieder pünktlich zu seinem Ausstieg aus eben dieser wieder aufkreuzte. Denn soweit ihn sein Gefühl nicht trog fuhr der Unbekannte nicht mit der Tram. Dort spürte er nie den Blick auf sich. Oder aber Manson hatte solche Macht auf sein Bewusstsein, dass er selbst diesen instinktiv gespürten Blick nicht mehr wahrnahm. Er bog in die von alten, grauen Häusern gesäumte Seitenstraße ab und hielt auf den einzigen Farbklecks inmitten dieser Tristesse zu. Das orangefarbene Schild vor dem grünen Haus wies dieses als den Blumenladen „Jiaogulan“ aus, was für das in China sagenumwobene Kraut der Unsterblichkeit steht. Leander lächelte zufrieden und trat ein. Das war seine bunte, lebendige Welt, die voller Wunder war. „Ah, Leander! Schön, dass Du da bist. Ich hab schon den üblichen Auftrag für Dich bekommen, die Tulpen für Herrn Perz.“ Eine rundliche Frau mittleren Alters strahlte ihn fröhlich an. Herr Perz. Leander wusste nicht, wie lange es dieses Ritual schon gab. Seit er denken konnte war er jeden morgen zu Herrn Perz gefahren um diesem die Tulpen zu bringen. Gelbe Tulpen. Leander begrüßte seine Chefin und begab sich dann durch eine kleine Tür hinter der Ladentheke in einen in hellem violett gestrichenen Personalraum. Er legte seine schwere Winterkleidung ab und nahm die grüne Arbeitsschürze vom dafür vorgesehenen Haken hinter der Tür. Ein letzter Blick in den Spiegel bestätigte ihm, dass die Knotung gerade war und man den „Jiaogulan“- Schriftzug gut sehen konnte. Perfekter Sitz der Kleidung, stete Freundlichkeit, naturverbundenes Auftreten, Pünktlichkeit. Das waren ihre Gebote. Und genau das brauchte es um einen Blumenladen gut zu verkaufen. Leander verband allerdings mehr damit als nur Fassade. Es war für ihn eine der wenigen Ordnungen im Chaos. Die Welt war groß genug, da wollte er in seiner kleinen Welt ein Stück seiner eigenen Wahrheit bewahren. Es war echt. Die Blumen brachten ihn zum Lächeln, ihr Geruch war die beste Droge, die man haben konnte und diese kleinen Pflanzen die sich mit ihren Wurzeln im Boden vergruben und dort um alles in der Welt bleiben wollten ließen die alltägliche Düsternis und die grauen, abweisenden Häuserfassaden bunter werden. Fünfzehn Tulpen. Gelb. Gelb wie die Sonne, Symbol für Lebensfreude und Lebenskraft. Als Florist kannte Leander die Bedeutungen der Farben. Es tat jedes mal ein klein wenig weh die Blumen so abgeschnitten und nach Wasser dürstend zu sehen, aber die wenigsten Menschen wollten sich um Topfpflanzen kümmern, und noch weniger wollten Topfpflanzen verschenken. Es war wohl zu viel Mühe sich um diese zu kümmern. Und die Gärten verwilderten oder wurden von teuren Gärtnern gepflegt, die jedes scheinbare Unkraut dem sicheren Tode weihten. Der junge Mann band die Blumen mit einem Bastband sachte zusammen, schnürte noch ein paar dekorative Zweige in den Strauß und legte ihn dann beiseite. „Na, bist Du schon fertig? Das Fahrrad steht draußen, Du kannst auch gleich noch zwei andere Sträuße mitnehmen und um zwölf Uhr kommt ein junges Pärchen das sich ein Hochzeitsgesteck aussuchen möchte. Ich habe Dir die Adressen hingelegt, beeil Dich, Du weißt ja: Pünktlichkeit!“ Die Frau wandte sich wieder einem Kunden zu und eilte kurz darauf geschäftig im Laden herum. Leander wischte sich die leicht nassen Hände an der Schürze ab und ging mit drei Sträußen bepackt zum grünen Geschäftsfahrrad. Grün wie die Natur. Grün wie das Wachstum. Van-Gogh-Weg. Leander hielt vor einem großen Mehr-Parteien-Haus. Es war eines der Studentenwohnheime der Stadt. Schon allein der Name der Straße machte es vor allem bei den Kunststudenten beliebt, ein wenig konnte man dem Glück ja auf die Sprünge helfen. Er stieg vom Geschäftsfahrrad ab und nahm einen der drei Sträuße aus dem Korb. Der Tulpenstrauß, für Herrn Perz. Jeden Tag musste er dem jungen Mann, einem Kunststudenten, wie konnte es auch anders sein, die gelben Blumen bringen. Zielstrebig schritt er auf das große metallene Klingelschild zu, zweite Spalte, dritte Zeile. Er wusste es auswendig. Wieder versuchte er sich zu erinnern, wie lange der Mann schon regelmäßig die Tulpen orderte. Es war, wie auch die folgenden Blicke jeden morgen, zur Routine geworden. Das Summen ertönte, Leander drückte die schwere Tür auf und betrat das Gebäude. Kilian Perz, wie das Klingelschild seinen vollen Namen erfahren ließ, wohnte im dritten Stock. Leichtfüßig schritt er die Treppe hinauf, die Blumen vorsichtig in der rechten Hand, die linke leicht über das Geländer streifen lassend. Ihm grauste es davor die Wohnung zu betreten um die Blumen anzurichten. Ihm grauste es davor, dem Besitzer dieser Wohnung zu begegnen. Noch einmal musste der Florist klingeln. Es war immer das gleiche Spiel. Untere Klingel, Treppe, obere Klingel. Schwanensee ertönte und die weiß gestrichene Pressspantüre wurde geöffnet. Kilian Perz war durchschnittlich. Durchschnittlich groß, durchschnittliche Statur, durchschnittliches Aussehen, keine markanten Züge, selbst seine Kunst war durchschnittlich, soweit das zumindest Leander beurteilen konnte. Trotzdem hatte der junge Student etwas Angst einflößendes an sich. Nichts direkt greifbares, aber einen gewissen Hauch von bedrohlicher Aura, der einem den Eindruck vermittelte man wäre ein Reh das vor dem Jäger stünde. Es war eventuell auf die aufmerksamen und doch abwesenden Augen zurückzuführen, dass es manchen Menschen so vorkommen musste. Kilian nickte ihm zu, woraufhin der Blonde den stummen Gruß kurz erwiderte und nach einer einladenden Geste die Wohnung betrat. Nicht alle Kunden bestanden auf ein spezielles Anrichten der Blumen, doch „Jiaogulan“ bot diesen Service, und wenn ein Kunde danach verlangte, so hatte der Bote dem Wunsch Folge zu leisten. Wie immer leicht abgedunkelt und doch hell und auf seltsame Weise staubig empfing das Wohnzimmer den Blumenjungen. Die Jalousien waren zur Hälfte heruntergelassen, und Leander war sich nicht sicher, ob sie jemals ganz herunter oder hinauf gezogen wurden. Es wirkte als wären überall sirrende Staubpartikel in der Luft, die in einem Vakuum der Zeit umherdümpelten. Schales Sonnenlicht brach sich in mehreren Glasvasen und versuchte die Zeiger einer alten, stehen gebliebenen Uhr zu berühren, was den Eindruck einer Anderswelt noch verstärkte. Nicht real. Das war das einzige, was Leander in dieser Wohnung jedes mal erneut durch den Kopf schoss. Es wirkte, als würde hier niemand leben. Zumindest kein „richtiger“ Mensch. Es erinnerte alles zu sehr an eine Illusion, wie in einem Film. Das alles ohne schlechte Schauspieler und reißerische Szenen, in denen Kämpfe in längst vergessenen oder nie gekannten Welten ausgefochten wurden, war schlicht sonderbar. Das einfallende Licht war schwach, aber reichte aus um ihn erkennen zu lassen, dass die Glasvasen immer noch dastanden. Dutzende Glasvasen. Die auf dem Fensterbrett hatte er selbst erst am vorigen Tag drapiert. Überall mehr oder minder (noch) gelbe Tulpen. Gelb, die Farbe der Lebensfreude. Er hatte das Gefühl, dass die Blumen hier schneller starben, von Lebensfreude war hier keine Spur. Der Boden war voller welker Blütenblätter. Ein seltsamer Künstler. Das Sterben einer Mohnblume, die doch so viel vergänglicher war, ging ihm wohl zu schnell. Kilian deutete stumm auf eine frische Glasvase. Sie stand dicht an zwei andere gereiht auf dem Schreibtisch. Leander drückte sich an zwei Leinwänden vorbei und begann die Blumen in die schon mit Wasser gefüllte Vase zu stellen. Kilian hatte noch nie auch nur ein Wort mit ihm gewechselt. Es irritierte ihn. Sonst redeten die Menschen unnötig viel, und bei diesem störte es ihn, dass er nichts sprach. Das Konzept wurde durch solche Kleinigkeiten durcheinander gebracht und sein durch lange, bittere Jahre festgefahrenes Weltbild wankte. Und eben das störte ihn gewaltig. Er atmete tief ein. Diese dauernden, unfreiwilligen Besuche in der Wohnung zermürbten ihn. Es verunsicherte ihn, dass es Menschen gab die nicht nur äußerlich aus der Reihe tanzten, sondern so ganz anders lebten, all das wirklich praktizierten und nach außen vielleicht sogar ein ganz anderes Bild ausstrahlten. Sonst waren die meisten nach außen hin komplett anti und wenn man sie dann näher kennen lernte merkte man, dass sie doch nur der Moderevolutionär waren. Er schwang sich wieder auf das grüne Fahrrad und radelte los. Nur ein paar hundert Meter waren es und er bog in eine andere Straße ab. Obwohl es so eine kurze Strecke war wuchs der Abstand innerlich um das zehnfache. Er setzte wieder sein professionelles Lächeln auf und klingelte an der einladenden Tür. Eine junge Frau öffnete, sah ihn verwundert an. Blumenlieferung für Frau Grosch. Die eben noch erstaunt dreinblickende lächelte jetzt wissend. Ein lautes „Oma!“ schallte durch das Haus. Als sich nichts tat bat wurde Leander gebeten zu warten und konnte, während die Frau sich ins Innere des Hauses bewegte deren Körper unter die Lupe nehmen. Schlank, groß, gut gebaut, schöne Gesichtszüge. Er hatte gerade überlegt, wie er mit ihr ins Gespräch kommen würde, da stand sie auch schon wieder vor ihm. „Willst Du reinkommen? Meine Großmutter hat Dich gerade vom Fenster aus gesehen und will unbedingt, dass Du ein Stück von ihrem Kuchen probierst…“ Sie lächelte verlegen. Etwas ungläubig sah Leander sie an. Das war wohl kein Zufall mehr. Leuchtende Augen blitzten ihn an, verkeilten sich mit seinen und schlugen Funken. Er wollte gerade zustimmen, als er sich wieder seiner letzten Lieferung und des Termins für das Hochzeitsgesteck bewusst wurde. Doch er hatte sich nicht in dem intensiven Blick getäuscht, denn die junge Frau, die sich nun als Maya Grosch vorstellte, wollte ihn wieder sehen. Nach einigem Geschäker machten sie Ort und Zeit für ein Date aus. Sie war anscheinend eine ungeduldige Person, schlug gleich den nächsten Tag vor, worauf er einging. Beschwingt lieferte der Florist auch noch den letzten Blumenstrauß aus. Er ging an eine scheinbar einsame Ehefrau, deren Mann ihn ihr mit einem entschuldigenden Gruß zukommen ließ, da er ausgerechnet an ihrem Geburtstag auf Geschäftsreise musste. Noch dem – eindeutig weiblichen – „Schatz, wo bleibst du?“ zu urteilen war dieser das gar nicht mal so unrecht. Es gab Momente, da wurde Leander wieder so richtig bewusst, was er an seinem Beruf so sehr liebte. Man konnte nicht nur in diesem Wunderland arbeiten, dem Blumenladen „Jiaogulan“, sondern auch die Menschen wie kleine Laborratten beobachten. Und die zogen bei Zeiten wirklich kuriose Shows ab. Beschwingt stieg Leander vom Rad und schloss es am Fahrradständer an. Er betrat mit einem ehrlichen Lächeln den Laden und freute sich in Gedanken auf den folgenden Tag. Er mochte die junge Frau, Maya. Zwar kannten sie sich noch nicht, aber so etwas musste man eben ändern, und Funken hatten ja schon eindeutig gesprüht. Erfreut stellte die Geschäftsführerin die gute Laune ihres Mitarbeiters fest und ließ sich nur zu gerne davon anstecken. Mit einem fröhlichen Summen auf den Lippen begrüßte sie das Brautpaar und leitete sie an Leander weiter. Jetzt war für ihn Showtime, denn Brautgestecke waren seine Spezialität. Fröhlich und freundlich entwarf er mit den beiden Kunden den Brautstrauß, den Wagenschmuck und begeisterte die beiden in seiner guten Laune sogar noch für ungeplante Tischdekorationen. Gegen sechzehn Uhr fuhr eine Butterblumen-gelbe Tram vom Rotenplatz zur heimischen Haltestelle eines jungen Mannes mit blonden Haaren und dunklem Wintermantel. Gegen sechzehn Uhr des nächsten Tages fuhr eben dieser Mann mit der gelben Tram vom Rotenplatz in die neue Innenstadt. Zwanzig Minuten lang schallte Marilyn Manson durch die Gehirnwindungen. Pustete alles raus. Er kam sich so verdammt lächerlich vor. Er saß im Café. Wollte eigentlich am liebsten aufspringen und kehrt machen. Wann war sein letztes Date gewesen? Zu lange her. Zu oder einfach nur lange? Was machte er überhaupt dort. Er hatte sich diese Frage schon die letzten dreißig Minuten gestellt. Nervosität. Oder war es wirklich die Erkenntnis von Desinteresse? Am vorigen Tag hatte die Frau noch so attraktiv auf ihn gewirkt, das war sicher nur der aufkeimende Zweifel, ob sie auch wirklich in diesem Sinne an ihm interessiert war. Aber in welchem denn sonst? Lange Beine bewegten sich auf ihn zu. Lange Beine, schmale Hüften, große Brüste, hübsches Gesicht. Maya. Sie setzte sich, lächelte ihn an. Kein Kribbeln. Keine verhakenden Blicke. Aber was hatte er erwartet. Liebe auf den ersten Blick gab es nicht. War das eine Erklärung? Er ließ sich in das Gespräch fallen, sie war eine humorvolle Gesprächspartnerin, ein Jahr jünger als er, studierte Sozialwissenschaften. Und Menschen. „Ein Beispiel. Sieh mal, der Mann da, er fällt gar nicht auf, niemandem. Und was, wenn ich Dir jetzt sage, dass er Dich schon seit Du hier drin sitzt beobachtet?“ Maya blickte ihn erwartungsvoll an. Leander drehte sich um. Erstarrte. Da war er, der Kämpfer aus der Anderswelt. Sie hatten sich höflich voneinander verabschiedet, die Nummern ausgetauscht und festgestellt, dass sie sich sehr gut verstanden. Aber nicht mehr. Leander war zudem zu verwirrt gewesen um noch ein richtiges Gespräch zu führen. Ihn hatten Mayas Ausführungen über die Menschen sehr zugesagt, sie hatte genau das formuliert, was ihm seit geraumer Zeit im Kopf herumspukte und es genau jetzt auch tat. Dieser Mann, Kilian Perz, wer war das? Der einzige Schluss, zu dem er an diesem Nachmittag gekommen war, war dass er nun endlich wusste, wer ihn beobachtet hatte. Und wieder störte es ihn nicht. Es verwunderte ihn nur und er war ein wenig erleichtert. Es war kein Perverser, keiner von all jenen Menschen die er einschätzte und verurteilte. Es war die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Kilian. Leander saß auf dem Rand des Brunnens und dachte nach. Es störte ihn nicht, dass Kilian ihn beobachtete. Er kannte den Mann kaum und war trotzdem zu einem Schluss über seine Persönlichkeit gekommen. Der Tulpenliebhaber war kurz nachdem er seine Augen auf ihn gerichtet hatte gegangen. Er hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Er hatte so viel getan um sich abzuheben, um nicht so zu sein, wie seine Mutter, die brechreizerregend-optimistische Spruchkarten kaufte, um nicht so zu sein wie seine heuchlerischen Nachbarn, nicht mal so wie seine fröhlich-runde Chefin, die er doch irgendwie mochte. Und da kam jemand, der anders lebte ohne es auf jegliche Art zu zeigen. Und es brachte ihn durcheinander, faszinierte ihn ungemein. Leander erhob sich mühsam, als wäre eine schwere Last von ihm gefallen, die Last der Entscheidung nach dem Grübeln. Noch leicht unsicher führten ihn seine Schritte über den Asphalt. Türen glitten auseinander und führten ihn in den neumodischen Verkaufsraum eines Blumenladens. Dem einzigen in diesem Stadtteil. Er nahm einen der vorgefertigten Tulpensträuße. Gelb. Ging zur Kasse und zahlte. Die Verkäuferin lächelte ihn mit rosa Lipgloss-Lippen und Zahnpastazähnen an. „Goldgelb, eine gute Wahl, die Farbe steht für Erleuchtung. Einen schönen Tag noch!“ Erleuchtung! Leanders Schritte beschleunigten sich. Er flog nahezu über den Boden. Das war es. Das war der letzte Punkt, der den Ausschlag gab. Er bog ab, links, rechts, rechts. Van-Gogh-Weg. Mehr-Parteien-Haus. Zweite Spalte, dritte Zeile. Das Summen ertönte. Seine Beine rannten Treppen hinauf. Untere Klingel, Treppe, obere Klingel. Schwanensee und die Tür öffnete sich. Kilian war nicht durchschnittlich. Leanders Beine wackelten. Er hielt sich am Rahmen. Kilian. Kunst die sich weigerte innerstes zu zeigen und tausend Identitäten annahm. Kilian und Kilians Bilder. Augen die weit in der Ferne, in der Anderswelt waren. Marilyn Manson dröhnte aus der Wohnung. Leander glaubte durch die betäubende Musik hindurch das Surren der Staubpartikel zu hören. „Komm rein.“ [Eine weiche Stimme, wie weit entfernt. Sie war ihm sofort vertraut. Er hoffte sie immer wieder hören zu dürfen. Jetzt konnte Kilian doch die Tulpen wegwerfen, sie würden es gemeinsam tun. Jetzt war er doch da. Jetzt brauchten sie keine gelben Tulpen mehr. Gelbe Tulpen, gelb wie die Erleuchtung.] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)