Esme's Story von maidlin ================================================================================ Kapitel 1: Esme's Story ----------------------- Nur noch ein bisschen, sagte ich mir selbst. Gleich bin ich ganz oben. Ich fasst den nächsten Ast und zog mich noch ein bisschen höher. Vorsichtig stellte ich meinen Fuß auf einen der Äste, die in meiner Nähe waren. Ich richtete mich auf und drehte meinen Kopf ein Stück in Richtung Westen. Mir verschlug es die Sprache. Die Sonne war bereits dabei unterzugehen und sie tauchte die Landschaft in ein warmes Orange. Der Weizen auf den Feldern, die um unser Haus herum angebaut wurden, nahm in diesem Farbspiel einen goldenen Schimmer an. Es würde nicht mehr lange dauern und die Nacht würde den Tag verschlingen. Ich liebte diesen Anblick. Von der Erde aus war er schon atemberaubend, aber von ihr oben war es einfach überwältigen. Ich diesem Moment wünschte ich mir erneut, dass ich fliegen könnte, wie ein Vogel. Wie gern würde ich diesem weiten Himmel entgegen fliegen, ohne zurückkehren zu müssen. Wie gern würde ich frei sein... „Esme. Anne. Platt! Komm sofort herunter!” Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Träumen und bevor ich irgendetwas anderes wahrnehmen konnte, rutschte mein Fuß von dem dünnen Ast. Ich weiß nicht mehr genau was passierte. Ich kann mich nur erinnern, dass ich fiel. Schnell fiel. Mit einem dumpfen Schlag landete und die Luft aus meinen Lungen gepresst wurde. „Esme!“ Ich höre die Stimme meiner Mutter, die ängstlich auf mich zugelaufen kam. Ich schnappte nach Luft, versuchte aber doch mich aufzurichten, damit sie sah, dass es mir gut ging. „Esme. Ist alles in Ordnung?“ „Ja ... Ah!“ Ich hatte versucht aufzustehen und dabei mein Bein angewinkelt. Eine sehr dumme Idee. Der Schmerz zog sich von meinem Bein durch den Rest meines Körpers und mir wurde schwindlig. „Was ist?“, fragte meine Mutter erneut. „Mein Bein.“, presste ich zwischen den Zähnen hervor und versuchte den Schmerz und den Schwindel gleichzeitig auszublenden. „Lass mal sehen.“ Sie streckte eine Hand nach meinem Bein aus und noch bevor sie es berührt hatte, zuckte ich zusammen. Ich wusste das es wehtun würde. Trotzdem legte sie eine Hand auf meinen Unterschenkel und eine erneute Welle Schmerz durchfuhr mich. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. Ich wusste was mich dann erwartet hätte. Aber es sollte auch so kommen. „Was musstest du auch auf den Baum klettern! Ich kann mich nicht erinnern dich so erzogen zu haben! Und so was will eine Dame sein! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?!“, schimpfte sie los. An dem Ton ihrer Stimme konnte ich hören, dass es besser war ihr nicht zu antworten. Das hätte alles noch schlimmer gemacht. Außerdem konnte ich ihr ja schlecht sagen, dass ich nur auf den Baum geklettert war, um dieses Naturschauspiel zu sehen. “Ich werde deinen Vater holen. Wir müssen dich zu einem Arzt bringen. Es könnte vielleicht gebrochen sein. Man hat aber auch nichts als ärger mit dir!“, schimpfte sie erneut, drehte sich um und verschwand hinter dem Haus. Das war gar nicht gut. Vater würde böse sein. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, überlegte ich im nachhinein. Aber die Erinnerung an diesen Moment, an dieses Gefühl, holte mich ein und ich konnte nicht anders und ein Lächeln zog sich über mein Gesicht. Auch wenn mein Bein gebrochen war, so war es das wenigstens Wert gewesen. Während ich auf meine Eltern wartete, versuchte ich mir noch mal jede Einzelheit einzuprägen, damit ich diese Erinnerung möglichst lang bewahren konnte. Dann hörte ich sie auch schon zurück kommen. Meine Mutter erzählte meinem Vater gerade, wie sich mich auf dem Baum gefunden hat und wie ich gefallen bin. „Junges Fräulein! Kannst du mir mal sagen, was das soll?“, fuhr mein Vater mich gleich an. „Tut mir Leid, Vater.“, murmelte ich unter gesenktem Blick. „Zeig mal.“, er kniete ich vor mich hin und betrachte mein Bein. Inzwischen konnte selbst ich sehen, dass es angeschwollen war und eine merkwürdig ungesunde Farbe angenommen hatte. „Ist vielleicht wirklich gebrochen.“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu mir oder meiner Mutter. „Wir müssen sie zum Arzt bringen.“ „Aber der Arzt ist nicht da. Ich habe von den Nachbarn gehört, dass er bei Verwandten zu Besuch ist.“, sagte meine Mutter und betrachtete nun auch mein Bein, dass inzwischen wohl doppelt so dick war, wie das andere. „Es geht mir gut.“, sagte ich endlich. Das letzte was ich wollte, war einen Arzt zu sehen. Mit dieser Art vom Menschen hatte ich bisher nicht die besten Erfahrungen gemacht. Um meine Worte zu beweisen versuchte ich erneut aufzustehen. Ich verlagerte all mein Gewicht auf meine linke Körperhälfte und versuchte krampfhaft nach oben zu kommen. Ich gab mir alle mühe mir nicht die Schmerzen anmerken zu lassen. Aber am liebsten hätte ich laut geschrieen. Mein Vater legte einen Arm um meine Taille und half mir auf. Auf einem Bein stehend, war ich darum bemüht vor Schmerzen nicht loszuheulen und vor Schwindel nicht umzukippen. Schwer atmend stand ich da und hoffte, dass sie mein Auftritt überzeugt hatte. Natürlich hatte er das nicht. „Es bleibt uns nichts anderes übrig als nach Columbus zu fahren.“, sagte mein Vater sichtlich verärgert. Columbus war ein ganzes Stück weit weg und wir würden nicht vor Einbruch der Dunkelheit dort sein. Das Gefühl von Reue schlich sich beim mir ein. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, als ich den ersten Ast erklommen hatte. Mit dem Arm meines Vaters auf meine Taille, humpelte ich zur Bank vor unserem Haus und setzte mich darauf. Der Schwindel schien nachzulassen. Ich hatte durst, wagte aber nicht nach einem Glas Wasser zu fragen. Ich hatte meine Eltern schon genug verstimmt. Ich weiß, dass es nicht lange dauert bis die Pferde vor dem Wagen angespannt waren, aber doch kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Mein Bein schien immer schwerer zu werden und der pochende Schmerz der von ihm ausging, breitete sich langsam auch in meinem Kopf aus. Ich lehnte mich gegen die Hauswand und versuchte den Schmerz mit der Erinnerung an das eben gesehene auszublenden. Als ich von diesem Platz aus auf die Felder sah, waren der Anblick nur halb so beeindruckend. Sicher, es war immer noch schön, aber das Gefühl von Freiheit war verschwunden. „Fertig.“, sagte mein Vater knapp, bevor er mich wieder stützte und mir anschließend auf den Wagen half. Es würde eine sehr lange Nacht werden. Während der ganzen Fahrt über versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen, obwohl ich am liebsten jedes Mal aufgeschrieen hätte, wenn wir über einen großen Stein oder in ein Schlagloch fuhren. Ich wusste das der Weg nach Columbus weit ist und gerade in der Dunkelheit nicht leicht zu bewältigen, aber ich in dieser Nacht kam er mir endlos vor. Die Schweigsamkeit meiner Eltern machte die Sache auch nicht leichter. Endlich. Nach drei scheinbar nicht-enden-wollenden Stunden hatten wir das Krankhaus erreicht. Eine Schwester wies uns an auf dem Flur platz zu nehmen und dort zu warten. Es dauerte aber gar nicht so lang, wie ich befürchtet hatte. Schon nach einer halben Stunde kam eine weitere Schwester zu uns und führte meine Eltern und mich in ein Behandlungszimmer. Inzwischen hatte ich mich sogar irgendwie an den pochenden Schmerz gewöhnt, so dass ich möglichst versuchte allein das Zimmer zu erreichen. Ein paar Sekunden später kam auch schon der Arzt herein. Im ersten Moment verschlug es mir bei seinem Anblick wortwörtlich die Sprache. Ich hatte noch nie einen so schönen Mann gesehen. Er war groß und hatte glänzendes blondes Haar. Sein Gesicht war ebenmäßig und ... einfach vollkommen. Ich kann noch immer nicht beschreiben, was ich in diesem Moment dachte. Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf seine Augen. Bildete ich mir das nur ein oder hatten sie wirklich einen goldenen Schimmer? „Guten Abend, Doktor.“, hörte ich meinen Vater sagen und seine Stimme brachte mich in die Gegenwart zurück. „Guten Abend. Ich bin Dr. Cullen.“, stellte sich der Arzt vor und reicht erst meinem Vater, dann meiner Mutter und dann mir die Hand. Zittrig erhob ich die meine und legte sie in seine. Seine Haut war kalt und doch fühlte es sich nicht unangenehm an. Nein ganz und gar nicht unangenehm. Plötzlich waren die Schmerzen im Bein nur noch ein schwaches Ziepen, so gefesselt war ich von seinem Anblick. „Was ist denn passiert?“, fragte Dr. Cullen und mir fiel erst jetzt auf, wie angenehm seine Stimme klang. „Esme, dieses dumme Ding, ist auf einen Baum geklettert und dann gestürzt. Sie hat sich wohl das Bein gebrochen.“, sagte mein Vater scharf und ließ keinen Zweifel erkennen, wie sehr es ihn grollte jetzt hier sein zu müssen. „Was wolltest du eigentlich auf dem Baum? Du hast nichts als Unsinn im Kopf!“ Der klang seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. „I-I-Ich ... ähm … Ich wollte … ähm …”, stammelte ich und wagte es erst gar nicht ihn anzusehen. Ich konnte ihm unmöglich sagen, warum ich auf diesen Baum geklettert war. Das würde er nie verstehen. Wartend sah mich mein Vater an und ich konnte sehen wie sich seine Miene noch mehr verfinsterte, je länger er auf eine Antwort warten musste. Angst breitete sich in mir aus. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was mich erwarten würde, wenn ich ihm die Wahrheit sagen würde. „Ich möchte sie bitten einen Moment draußen zu warten.“, hörte ich jetzt Dr. Cullens samtene Stimme. „Bitte was?“, fragte mein Vater ihn ohne umschweife und schien dabei all seine Höfflichkeit zu vergessen. „Ich muss ein paar Untersuchungen machen. Ich möchte sicher gehen, dass sie nicht noch andere Verletzungen zugezogen hat. Daher möchte ich sie bitten, draußen Platz zu nehmen.“ Mein Vater sah ihn einen Moment prüfend an. „Ich versichere ihnen, es wird nicht lange dauern.“, sagte Dr. Cullen noch einmal nachdrücklich. „Wie sie wollen.“, gab mein Vater nach und er und meine Mutter verließen das Zimmer. Ungewollte stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. „Nun, wollen sie mir verraten wie es dazu kam, dass sie von einem Baum gefallen sind?“, fragte Dr. Cullen und wandte sich meinem Bein zu. Er winkelte es ein wenig an und ich musste mit den Tränen kämpfen, die sich dabei einen Weg nach draußen bahnen wollten. „Nun?“, fragte er noch einmal, nachdem ich nicht geantwortet hatte. „Ich ... ich wollte mir den Sonnenuntergang ansehen.“, sagte ich kleinlaut und versuchte noch immer, nicht weinen zu müssen. Verwundert sah er mich an. „Warum wollten sie sich den Sonnenuntergang von einem Baum aus ansehen? Es scheint doch sehr viel sicherer für sie zu sein, wenn sie mit beiden Beinen auf dem Boden stehen.“, sagte er und sah mir dabei in die Augen. Bei seinem letzten Satz, bildete ich mir ein so etwas wie Schalk darin erkennen zu können. „Ähm... „, begann ich erneut, „Ja schon, aber ich ... ich wollte das mal aus einer anderen ... Sicht sehen. Ich wollte es so sehen, wie es die Vögel sehen müssen, wenn sie über unsere Felder fliegen.“ Meine Stimme war am Ende nur noch ein Flüstern. Jetzt wo ich mich selbst so reden gehört hatte, kam es mir doch ziemlich dumm vor. Bestimmt würde er mich deswegen genauso schellten, wie mein Vater es tun wird, wenn ich ihm doch davon erzählen musste. Dr. Cullen hatte mir schweigende zugehört und war jetzt am Schrank und holte etwas heraus. Ein, wie mir schien, grausames Schweigen breitete sich Raum aus. „Haben sich die Schmerzen denn wenigstens gelohnt?“, fragte er mich nun wieder und kümmerte sich erneut, um mein Bein. Er legte eine Schiene an. Verblüfft sah ich ihn an. Das war nicht das, was ich erwartet hatte. Nicht die Frage überraschte mich so sehr, sondern der Tonfall mit der er sie gestellt hatte. Es hatte kein Vorwurf darin gelegen, keine Anklagen oder Ärger. Es war nur eine einfach Frage gewesen. „Wie meinen sie das?“, fragte ich sicherheitshalber noch einmal. „Ob sich die Mühe raufzuklettern gelohnt hat?“, wiederholte er die Frage noch einmal und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Bevor ich auch nur überlegen konnte, war die Antwort schon draußen. „JA!“, sagte ich kurz und ich konnte selbst die Beigeisterung hören, die darin mitschwang. Einen Moment sah er mir in die Augen und jetzt war ich mir sicher: Sie waren golden. Für einen Augenblick war ich darin gefangen und wünschte mir nie wieder davon loszukommen. Doch dann wandte er den Blick ab und verarztete weiter mein Bein. „Sind sie denn gar nicht böse“, frage ich misstrauisch. Jetzt war er es, der mich verwundert anschaute. „Warum sollte ich denn böse sein?“ „Ich habe etwas dummes getan. Etwas, dass sich nicht für eine Dame gehört. Warum weißen sie mich nicht zurecht, so wie es mein Vater noch tun wird?“ Ein kleines Lachen kam ihm über die Lippen. „Warum sollte ich das tun? Wie sie schon sagten, ihr Vater wird das noch tun. Außerdem kann ich sehr gut verstehen, was sie damit meinen. Wie sah er denn aus?“ „Wer?“ „Der Himmel. Wie sah er aus, als die Sonne unterging.“ „Oh, es war einfach herrlich! Am Horizont war ein orangener Streifen zu sehen und der Weizen sah ganz golden aus. So etwas hab ich noch nie gesehen. Es waren kaum Wolken am Himmel und es war so... so ... ich kann es gar nicht beschreiben! Es war einfach ... wunderbar. Das Schönste was ich je gesehen hatte.“, schloss ich noch immer überwältigt von dem Bild, welches ich gesehen hatte. „Dann scheint sich das gebrochene Bein doch gelohnt zu haben. Ich habe es jetzt geschient. Die Schwellung müsste in ein paar Tagen nachlassen. Ich werde ihnen einen Bericht mitgeben, damit der Arzt auf dem Land weiß, wie ich sie behandelt habe. Bitte sagen sie mir noch einmal ihren Namen.“ „Esme Anne Platt.“, sagte ich und betrachtet ihn immer noch prüfend. Ich konnte einfach nicht glauben, dass dieser Mann – noch dazu ein Arzt – mich nicht wegen meiner Dummheit zurechtwies. „Wie alt sind sie?“ „16.“ Ich sah wie er meinen Namen und mein Alter auf eine Karteikarte schrieb und jetzt ein weiteres Blatt hervorholte. Ein paar Sekunden vergingen und ich schaute ihn noch immer misstrauisch an. „Und sie sind wirklich nicht böse?“, fragte ich ihn erneut. „Nein. Sonnenuntergänge sind etwas wunderbares. Aber ich muss ihnen sagen, dass sie mit ihren 16 Jahren noch sehr viele Sonnenuntergänge sehen werden und deswegen vielleicht darauf verzichten sollten, deswegen extra auf einen Baum zu klettern.“ „Oh. ... Ja.“ Ich merkte wie ich rot wurde. Irgendwie hatten diese Worte einen größeren Effekt auf mich, als wenn er mich zurechtgewiesen hätte. „Sie können jetzt gehen. Soll ich ihnen helfen?“, fragte mich und bot mir seinen Arm an. „Danke.“ Ich nahm seinen Arm dankend an und humpelte zur Tür, sehr sorgsam darauf bedacht mein Gewicht auf meine andere Seite zu verlagern. Gerade als er seine Hand auf den Türgriff gelegt hatte, fiel mir noch etwas anderes ein. „Dr. Cullen!“, rief ich beinahe laut. Fragend sah er mich an. „Bitte, kann das unter uns bleiben? Ich meine die Geschichte mit dem Sonnenuntergang. Mein Vater muss das ja nicht unbedingt wissen. Bitte.“, flehte ich ihn fast an. Prüfend schaute er mich an. „Sicher, ganz wie sie wollen.“ „Esme, wie geht es dir.“, fragte mein Mutter und nahm mich in den Arm. Anscheinend hatte sie sich wieder beruhigt. „Es geht ihr gut. Das Bein ist gebrochen. In ein paar Wochen müsste sie wieder völlig gesund sein. Es war gut das sie heute Abend noch hierher gekommen sind.“ „Hat sie ihnen denn erzählt, was sie auf dem Baum gemacht hat?“, unterbrauch mein Vater ihn. „Es war ein ... eine Verwechslung.“, warf ich schnell ein, „Ich dachte, ich hätte eines der jungen Kätzchen auf dem Baum gesehen und wollte es herunterholen. Als ich oben war, hab ich aber erkannt, dass ich mich verkuckt hatte und gerade als ich wieder runterklettern wollte, hat mich Mutter so erschreckt, dass ich den Halt verloren habe.“ Ich wusste nicht, ob er mir das glauben würde, aber so lange wir hier im Krankenhaus waren, würde er sicher nicht weiter danach fragen. Das hoffte ich zumindest. „Stimmt das? Hat sie ihnen das auch erzählt?“, wandte sich mein Vater zu Dr. Cullen. Ich schaute zur Wand gegenüber und betete inständig, dass Dr. Cullen mir helfen würde. Er schien doch ganz nett zu sein. „Ja, natürlich hat sie mir das auch erzählt. Bitte geben sie diesen Bericht ihrem Arzt. Er wird wissen, wie er ihre Tochter weiter behandeln soll. Ich denke nicht, dass ein weiterer Besuch hier notwendig ist.“ „Vielen Dank. Und bitte entschuldigen sie die Unannehmlichkeit.“, antwortet mein Vater nun schon wieder höfflicher und ich hoffte, dass er zu Hause nicht weiter danach fragen würde. „Keine Ursache. Bitte entschuldigen sie mich jetzt.“, sagte Dr. Cullen und verabschiedete sich von uns. Beim herausgehen warf ich noch einen letzten Blick zurück und konnte sehen, wie sich Dr. Cullen mit einer der Schwestern unterhielt. Er blickte auf und ich formte mit meinen Lippen eine lautloses „Danke“ und lächelte ein wenig beschämt. Ein kleines Lächeln huschte erneut über sein Gesicht. Als sich die Krankenhaustüren hinter mir schlossen, wusste ich dass ich diesen Abend nie vergessen würde. Dass ich dieses Erlebnis nicht vergessen würde. Das ich diesen Mann nicht vergessen würde. Vier Wochen später habe ich dann erfahren, dass Dr. Cullen in eine andere Stadt gezogen ist. Gern hätte ich ihm gesagt, wie sehr er mir an diesem Abend geholfen hat, denn mein Vater hat dieses Thema nicht wieder erwähnt. ...10 Jahre später... Jetzt stand ich also dort. Ich hatte nichts mehr. Kein Heim zu dem ich zurückkehren konnte. Keine Familie die auf mich wartete. Kein Kind mehr, dass ich lieben konnte. Warum sollte ich also länger in dieser Welt verweilen? Wo es doch nichts mehr gab, was mich an sie band. Wie hatte das alles angefangen? Ich wollte Lehrerin werden. Das war mein Wunsch. Es hätte mir nichts ausgemacht, allein in den Westen zu ziehen und zu unterrichten. Warum hatte ich auf meinen Vater gehört? Als ich da stand, verlebte ich in Gedanken noch einmal die letzten Jahre meines bisherigen Lebens. Ich spürte, wie sich die Verzweiflung immer weiter in mein Herz hinein fraß. Ich war die letzte meiner Freundinnen, die mit 21 noch nicht verheiratet war. Mich störte das nicht. Ich war mir sicher, dass ich mein Leben auch ohne einen Mann an meiner Seite bewältigen konnte und doch habe ich mich überreden lassen ihn zu heiraten. Ich heiratete Charles Evenson. Wenn er nicht der Sohn eines Freundes der Familie gewesen wäre, wenn er nicht solch gute Berufsaussichten gehabt hätte, wenn nicht ... wenn mein Vater mich nicht dazu gedrängt hätte ihn zu heiraten ... vielleicht hätte ich dann nicht dort gestanden. Nicht dort ... am Rand einer Felsklippe. Ich willigte schließlich doch in die Ehe ein und mit 22 wurde ich seine Frau. Ich hatte geglaubt, dass ich ihn doch Lieben lernen kann. Dass ich eines Tages die Gefühle für ihn haben könnte, wie sie meine Freundinnen für ihre Männer hatten. Ich wollte versuchen aus dieser Verbindung das Bestmöglich zu machen. Als ich ihn heiratete, konnte ich nicht ahnen, dass er zwei Gesichter hatte. In der Öffentlichkeit war er immer der smarte Gentleman, mit guten Manieren und jeder Frau zuvorkommen. Zu Hause ... da war er … er war ein Monster. Ist es schlimm so etwas über seinen eigenen Ehemann zu denken? Über den Mann den man Liebe und Treue vor Gott geschworen hat? Wird Gott einem diese Sünde vergeben, wenn, man im Leben genug dafür bezahl hat? Bald. Bald würde ich es wissen, dachte ich. Ich verbiete mir auch jetzt noch jegliche Erinnerung an die Zeit mit ihm. Manchmal wünschte mich mir nur, dass es einfach aufhören würde. Dass es zu Ende sein würde. Je eher um so besser. Doch es war nicht zu Ende. Als ich meinen Eltern von seinen ... seinen Taten erzählte, rieten sie mir nur einen gute Ehefrau zu sein und ruhig zu bleiben. Wie konnten sie das damals nur tun? Ich war erleichtert, ja beinahe befreit als er 1918 in den Krieg nach Europa geschickt wurde. Im stillen hatte ich gehofft, dass der nicht zurück kommen wird. War auch das eine Sünde? Aber er kam zurück. Nach seiner Rückkehr Ende 1919 war es schlimmer als vorher. Hatte er vorher noch erbarmen gekannt, so war ihm dies nun völlig fremd. Und dann... bemerkte ich, dass ich schwanger war. Für mich gab es ab diesem Zeitpunkt nur eine Frage: Konnte ich ein Kind, ein unschuldiges Kind, in diesem Haus aufwachsen lassen? Ich musste nicht lange überlegen, um die Antwort zu kennen. Anfang des nächsten Jahres bin ich davon gelaufen. Ich ging zu einer Cousine zweiten Grades und lebte einige Monate bei ihr. Ich weiß noch immer nicht wie, aber meine Eltern haben irgendwann erfahren wo ich mich aufhielt. Ich bin weiter geflohen. Hoch in den Norden. Ich wollte auf keinen Fall zurückkehren. Es gab zu dieser Zeit so viele Kriegswitwen, dass es ein leichtes war sich unter ihnen zu verstecken. Und endlich. Endlich konnte ich unterrichten. Es war nur in einer kleinen Schule außerhalb Ashlands, aber mit einem Baby unter dem Herzen, war ich schon lange nicht mehr so glücklich, wie in diesen paar Monaten. ... Mein kleines Baby starb wenige Tage nach der Geburt an einer Lungenentzündung. Von da an hatte ich wirklich nichts mehr im Leben. Es gab für mich keinen Grund mehr zu bleiben. ... Also sprang ich. Es war merkwürdig, aber in dem Moment in dem ich sprang sah ich das Gesicht, des Arztes vor mir, der mein gebrochenes Bein behandelt hatte als ich 16 war. In diesem Moment war ich glücklich. Glücklich, dass ich mit solch einer Erinnerung sterben durfte. Denn nie hatte ich dieses Gesicht und diese goldfarbenen Augen vergessen. Und dann war da nur noch Dunkelheit. Das nächst woran ich mich erinnern kann, ist ein unbeschreiblicher Schmerz der durch meinen Körper fuhr. Noch nie hatte ich etwas so vergleichbares erlebt. Ich wünschte mir nur noch Tod zu sein. Ich versuchte meine Augen zu öffnen. Wollte sehen, wie die Hölle aussah. Denn dass musste sie gewesen sein, wenn man selbst im Tod noch solche Schmerzen empfand. In all dieser Qual gelang es mir irgendwann doch und als ich das Gesicht sah, jenes Gesicht, welches ich nie vergessen hatte, war ich unendlich erleichtert. Auch als er mir erzählt, was mit mir geschieht, was er getan hatte, verschwand das Gefühl der Erleichterung nicht. So lange wie er bei mir war, fürchtete ich das Leben, welches mich erwarten würde, nicht. So lange, wie ich mit dem Mann zusammen sein konnte, nach dem ich mich die letzten 10 Jahre meines Lebens gesehnt hatte, nahm ich jeden weiteren Schmerz bereitwillig an. Wusste ich doch, dass er bei mir sein würde. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Auszüge aus meiner kranken Welt oder auch: Die Ecke für Erklärungen: Ich hoffe es hat euch gefallen und ihr hinterlasst mir ein paar Kommis. Alles weiter hab ich schon in der Kurzbeschreibung gesagt. Ich hoffe das mit den Zeitformen ist nicht allzu schlimm geworden...T.T glg maidlin Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)