Die Söhne des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz") ================================================================================ Kapitel 13: Stolz und Vorurteil ------------------------------- Jin schlief ganz wundervoll. Eben so tief und gut, wie sie es nur neben ihrem Gatten tat. Als Zuko sich unruhig bewegte, kuschelte sie sich noch etwas enger an ihn und seufzte zufrieden. Doch dann schnellte er keuchend hoch und sie schreckte auf. „Zuko?“ Sie tastete nach den Zündhölzern und entzündete eine Kerze. Seine Lordschaft saß auf dem Bettrand und fuhr sich mit beiden Händen durch die dunkle Mähne. „Zuko?“ Besorgt rutschte sie zu ihm und strich sanft über seinen Rücken. Er war schweissnass! „Schatz ... was ist denn?“ „Nichts, Jin.“, murmelte er. „Ich hab nur schlecht geträumt.“ „Geträumt? Was geträumt?“ „Nur ... das Übliche.“ „Das Übliche?“ Jetzt krabbelte sie um ihn herum. „Was soll das heissen `das Übliche´? War es etwa ein Traum von Deinem Vater?“ „Ja.“ „Aber ... ich dachte, diese Träume hättest Du nicht mehr.“, hauchte sie entsetzt. „Hab ich auch nicht mehr.“ Er blickte sie an. „Keine Sorge, mein Herz. In ein, zwei Tagen werde ich wieder schlummern wie ein Baby.“ „In ein, zwei ...? Was meinst Du damit? Hast Du diese Träume etwa wieder öfter?“ „Nein. Nur wenn Du nicht da bist.“ Sie starrte ihn an. „Aber ... ich BIN doch da!“, flüsterte sie und strich sacht einige Haarsträhnen aus seinem Gesicht. „Ja. Darum wird es ja auch wieder aufhören.“ „Du ... willst Du damit sagen, wenn ich fort bin, kommen Deine Albträume wieder?“ Hatte Lee DAS damit gemeint, als er erwähnte, sein Vater habe „nicht so besonders“ geschlafen? Seine Durchlaucht presste die Lippen aufeinander. „Zuko!?“ „Nur bei längerer Abwesenheit.“ „Aber ... warum hast Du denn nie was gesagt?“ „Warum? Weil ich Dich nicht noch mehr einschränken wollte, Kobold.“ „Einschränken?“ „Du hättest Dich keine hundert Schritte mehr von mir entfernt, wenn Du es gewusst hättest.“ „Da hast Du verdammt Recht! Außerdem wußte ich nicht, dass es Dein Wunsch ist, mich auf dieser Distanz zu halten.“ „Jin ...“ „Ja. Schon gut. Aber Du hättest es sagen müssen! Ich hab ohnehin keine Lust, ohne Dich irgendwo hinzugehen. Dieses blöde Damenkränzchen war schliesslich auch Deine Idee gewesen ...“ „Dieses blöde Damenkränzchen, wie Du es nennst, hat mir die Unterstützung von General Senori eingetragen. Seine Frau fand Dich überaus erfrischend.“ „Ts. Dann hätten ein paar Zitronen die gleiche Wirkung gehabt. Aber ... wo wir grade darüber sprechen ...“ Sie begann, mit der Fingerspitze planlose, imaginäre Muster auf seinen Oberarm zu malen. “Hat ... hat meine spontane Reise nach Agnam Ba Dir Probleme bereitet?“ „Probleme?“, fragte er beiläufig. „Nein.“ Sie wusste sofort, dass er log. „Oh! Dann bin ich wohl falsch informiert worden. MIR wurde nämlich gesagt, dass einige Deiner Kabinettsmitglieder mein Verhalten als „Unangemessen und dem inneren Frieden nicht zuträglich“ bezeichnet haben. Angeblich hätte ich es der Feuernation gegenüber an Loyalität mangeln lassen. Und man könne wohl kaum von den Untertanen Gehorsam verlangen, wenn selbst ICH mich Deinen Wünschen widersetze.“ „Und? Das sind nur die üblichen Schwätzer!“ „Die üblichen ... Zuko!“ „Jin. Bedauerlicherweise gibt es eben auch Kabinettsmitglieder, die nicht hinter mir stehen. Einige verstaubte Köpfe streben wieder die alte Vormachtstellung der Feuernation an. Meine Friedenspolitik ist ihnen ein Dorn im Auge und daher ergreifen sie einfach jede Gelegenheit, mich zu attackieren.“ „Ja. Aber, dass ICH ihnen einen Grund dazu geliefert hab ...“ „Kobold! Die Menschen wissen, dass Deine Loyalität mir und der Feuernation gilt. Keiner, der bei klarem Verstand ist, würde das anzweifeln.“ „Du selbst hast aber gesagt ...“ „Willst Du mir jetzt alle dummen Dinge, die ich jemals von mir gegeben habe, unter die Nase reiben?“ „Warum nicht?“, fragte sie etwas kläglich. „Würde ja nicht lange dauern.“ „Mittlerweile solltest Du es doch besser wissen, mein Herz.“ Sie bekam einen liebevollen Kuss. „Aber Du bist wohl der einzige Mensch, der selbst in meinen Fehlern noch verstecktes Potential wittert.“ „Ja. Sie sind durchaus ... ausbaufähig. Aber jetzt,“ Sie küsste seine Wange. „wirst Du wieder schlafen.“ Damit drückte sie ihn auf die Matratze, löschte die Kerze, schmiegte sich an ihn und flüsterte all diesen zärtlichen Kobold-Unsinn in sein Ohr, ohne den er nicht mehr sein konnte. Für den Rest der Nacht wachte Jin eifersüchtig über den Schlaf ihres Drachen. Eine Stunde vor Einsetzen der Dämmerung kletterte sie vorsichtig aus dem Bett und sabotierte den komplizierten Mechanismus des goldenen Glockenspiels, welches Seine Lordschaft sanft aus dem Schlaf zu klingeln pflegte (sofern er nicht bereits auf den Beinen war) und zog leise die Bettvorhänge zu. Auf diese Weise lahmgelegt, versagte Zukos innere Uhr komplett und gönnte ihm satte sieben Stunden Schlaf. Die Standpauke, die er seinem Weibe am Morgen zukommen liess, fiel entsprechend milde aus. „Ich hab Tian Bescheid gegeben.“, verteidigte Jin sich dann auch äußerst gelassen. „Du darfst Dich also beruhigen. Keiner musste Deinetwegen warten, rumsitzen oder sonst wie seine Zeit verplempern.“ „Aber so bleibt mir keine Zeit, vor der Sitzung die Statistiken über die Ernteerträge noch einmal durchzulesen.“, murrte Zuko halbherzig. „Die kannst Du doch sowieso auswendig.“ „Nicht ... wirklich.“ „Selbst wenn! Dich ausnahmsweise wieder ohne Augenringe zu sehen war es mir wert.“ „Augenringe? Ich hab doch keine Augenringe!“ „Doch, oh Unermüdlicher. Hattest Du. Aber keine Angst, Du warst trotzdem der schnuckeligste Herrscher weit und breit.“ „JIN ...!“ Etwa zwei Tage zuvor, in einer der vielen ländlichen Gegenden, über die Zuko II (Agni möge ihn schützen!) herrscht. Nachdem Jin abgereist war, kehrte die Routine in den Haushalt der Koros zurück. Sie hatte wohl oder übel Nihas Kampfgeist im Schlepptau, der sofort aktiv wurde, als sie Lee allein erwischte. Er war dabei, auf dem Dachboden der Scheune das feuchte Heu zu wenden. Seit wann war der Kerl eigentlich nur noch am arbeiten? Oder anders formuliert: seit wann war seine Arbeit so effektiv? Denn geackert hatte er bei genauerer Betrachtung eigentlich die ganze Zeit. Sein Umgang mit der Heugabel war jedenfalls erstaunlich virtuos. Nihas schlechtes Gewissen bekam Zuwachs. Umso wichtiger wurde es, endlich mit ihm zu sprechen. „Lee?“ „Hm?“ „Hast Du kurz Zeit?“ Er unterbrach seine Tätigkeit und drehte sich um. Ungläubigkeit lag auf seinem Gesicht. „Zeit? Hast DU denn welche?“ „Ich ... äh ... hab sie mir genommen.“ „So, so. Du nimmst Dir also Zeit? Dann muss es ja ziemlich wichtig sein.“ „Ist es auch.“ „Oh weh! Dann bekomm ich jetzt bestimmt Schelte, was?“ Die Heugabel wurde in die Ecke gestellt. „Nein. Ich will nur wissen, warum Du so viele Dinge verheimlicht hast.“ Lee fühlte sich mit einem Mal wie eine langschwänzige Katze in einem Raum voller Schaukelstühle. „Was für ... Dinge denn?“ „Na ja. Zum einen die Sache mit Deinen Anfällen.“ „Sind längst passé.“ „Aber nur die Symptome. Die Krankheit hast Du immer noch!“ „Herrgott, Niha! Die Symptome SIND die Krankheit.“ „Ach ja? Und was wäre gewesen, wenn Du durch einen blöden Zufall Deine Medizin nicht hättest nehmen können?“ „Ein blöder Zufall?“ „Ja! Du ... Du hättest ins Koma fallen können, und dann ... hätte niemand gewusst, dass Du Tropfen nehmen musst.“ „Ich glaube im Koma wäre die Epilepsie mein kleinstes Problem.“ „Ach!“, fauchte sie. „Du weisst genau was ich meine. Es gibt hunderte von Situationen, in denen Du vielleicht nicht in der Lage gewesen wärest, sie einzunehmen. Die verdammten Fläschchen hätten auch kaputt gehen können.“ „Ja. Es könnte mir auch ein Ziegelstein auf den Kopf fallen. Wäre auch nicht gerade gesundheitsfördernd. Ich hab Epilepsie. Und? Keine große Sache. Soll ich mich den Leuten immer so vorstellen: `Hi, ich bin Lee, fallsüchtig. Sollte ich mich vor Lachen schütteln, liegt es nicht unbedingt daran, dass ich ihre Witze gut finde.´? „LEE!“ „Was?“ „Du ... Du nimmst das Ganze nicht ernst.“ „Nein. Tu ich nicht. Wenn ich es ernst nehmen würde, hätte ich mich zwischen Büchern vergraben, deswegen einen krummen Rücken und ein Dutzend Quacksalber ein gutes Stück reicher gemacht.“ Sie sah ihn an. Da stand er, in seiner üblichen `was kostet die Welt?´ Haltung. Aufrecht, breitbeinig, mit verschränkten Armen wirkte er gesünder als eine Schüssel Haferkleie mit Lebertran. „Vielleicht hast Du Recht.“, murmelte sie. „Ich hätt´s trotzdem gerne gewusst!“ „Jetzt weisst Du´s ja.“, sagte er aufgeräumt und wollte sich wieder an die Arbeit machen. Doch, wenn Niha sich Zeit nahm, hatte sie meist mehr als nur EINEN Grund ... „Gut. Das war der eine Punkt. Ich bin noch nicht fertig!“ Lee stöhnte und verdrehte die Augen. „Na toll! Soll ich gleich nen ganzen Fragebogen ausfüllen?“ „Warum hast Du nicht gesagt, dass Dein Vater Dich hierher geschickt hat?“ „Warum hätte ich das tun sollen?“ Niha warf die Hände in die Luft. „Na ... vielleicht, weil ich Dich dann nicht für einen Lumpen gehalten hätte?“, rief sie. „Hättest Du so oder so.“ „Was?“ „Niha. Selbst wenn ich in Deinen Augen kein zur Strafarbeit verurteilter Kleinkrimineller gewesen wäre ... Du hättest mir die wildesten Dinge angedichtet. Schliesslich schicken Väter ihre Kinder nicht grundlos fort, um sich mal eben Blasen an die Hände zu schuften. Zumindest nicht meiner!“, setzte er hinzu. „Ja. Aber ich hätte Dich nicht für einen Verbrecher gehalten!“ „Was dachtest Du eigentlich, wessen ich mich schuldig gemacht hab?“, fragte Lee, plötzlich neugierig. „Äh ...“ „Komm schon. Ich bin auch nicht beleidigt!“ „Ich ... ich hätte darauf getippt, dass Du Frauen übers Ohr gehauen hast. Kleine Betrügereien. Heiratsschwindel und so.“ Lee starrte sie an. Dann brüllte er vor Lachen. So sehr, dass er sich an der Wand abstützen musste. „Heiratsschwindel?“, japste er. „Na ja ...“ „Heirat ...“ Er wischte sich die Augenwinkel, während seine Schultern schon wieder bebten. „Das ist ein Wort, dass ich in Gegenwart einer Frau nur unter Zwang in den Mund nehme.“ „Ist ja schon gut.“, knirschte Niha. Sie wusste gar nicht, weshalb dieses Thema sie so aufbrachte. „Übers Ohr hauen ... also echt. Ich hab mit Weibern schon alles mögliche angestellt, aber übers Oh ...“ „JA! GUT! Ich hab´s verstanden! Erspare mir die Details!“, schrie sein Boss. „Ich wollte doch gar nicht ...“ „Kannst ja für jede Eroberung eine Kerbe in den Balken da schnitzen. Sollte es mich eines Tages interessieren, werde ich sie zählen, falls ich die Zeit dazu finde. Und wenn DER Balken nicht reicht, dann ritz doch die ganze verfluchte Scheune ein, bis sie zusammen fällt!“ Mit geballten Fäusten marschierte sie zur Leiter, stieg nach unten und rannte aus der Scheune. Erst in der Küche dämmerte ihr langsam die Erkenntnis, dass sie ziemlich dumm war. „Niha ...?“ Perplex gaffte Lee noch immer das Scheunentor an. Dann dämmerte ihm langsam die Erkenntnis, dass er ziemlich dumm war. Die ganze Zeit über hatte er nichts gemerkt! Hier also? Mitten in der Pampa? Er hatte sich allen ernstes HIER sein Mädel rausgepickt? Wo auch immer Prinz Lee die Liebe erwartet hätte, HIER ganz bestimmt nicht. Zwischen monströsen Strohballen. Verschwitzt, dreckig, mit zerrissener Hose. Hier hatte es ihn erwischt? Er musste sich erst mal setzten. Das war´s also. Kein Herumschäkern mehr. Keine kleinen Schäferinnen auf lauschigen Heuböden und keine wutentbrannten Väter mehr. Kein schlechtes Gewissen. Er hatte sie gefunden. Die Eine, von der er immer gewusst hatte, dass sie eines Tages auftauchen würde. Die Eine, die der Unstetigkeit in seinem Leben ein Ende bereiten würde. Die Eine, die einen sesshaften, zutiefst zufriedenen Mann aus ihm machen würde. Die Eine, die ihm das Fell über die Ohren ziehen konnte und nebenbei noch einen ganzen Bauernhof schmiss. Babys ... Sie würden Babys haben. Wundervolle, kleine Schreihälse, denen er die Welt zeigen konnte. So sass Lee Iroh wasweißichnichtnochalles Tatzu in Agnam Ba auf einem Ballen Heu und grinste das verklärteste Grinsen seines Lebens. Oh Mann ... würde er Babys haben! Die nichts ahnende werdende Mutter sass derweil in ihrer Küche. Weiche Knie hatten sie auf den Stuhl gezwungen. Sie war so blöd! So unglaublich bescheuert! Derart unfassbar Hirnrissig! Verknallt. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie hatte sich verknallt. Ausgerechnet sie. Ausgerechnet in ihn! Es hatte ja damals nicht mal mit Riu geklappt. Und der war weitaus passender gewesen. Genauso unscheinbar, durchschnittlich und langweilig wie sie selbst. Ruhiger, netter Riu. Wie war noch gleich seine Augenfarbe gewesen? Jedenfalls nicht grün mit goldenem Rand und tanzenden Fünkchen. „Blöde Kuh!“, stöhnte sie und vergrub den Kopf in den auf dem Tisch verschränkten Armen. „Hör sofort auf damit!“ Ha! Genau! Sie würde sich einfach wieder entknallen! War bestimmt kein Problem. Wenn sie den Rest ihres Lebens dieses verfluchte Grübchen nicht mehr sah, dieses ansteckende Lachen nicht mehr hören musste und ihm so überhaupt ganz generell nicht mehr über den Weg lief und sich mehrere Meilen von seiner Aura fern hielt, wäre sie in mindestens fünfzig Jahren entknallt. Außerdem ... eine Liaison stand überhaupt nicht zur Debatte. Lee würde sich vermutlich kringeln vor lachen, bei dem Gedanken, mit ihr etwas anzufangen. Sie durfte es ihn also auf keinen Fall wissen lassen. Niemals! Vielleicht würde es ja ein bisschen helfen, wenn sie versuchte, die Erinnerung an Riu aufzubessern. Sie ging zum großen Küchenschrank, reckte sich und holte eine rostige Blechdose herunter. Eine Blechdose voller Staub und Erinnerungen. Da war eine verschrumpelte Kastanie, ein zerknülltest Taschentuch, der gesprungene Tonkrug eines Weinfestes, das sie besucht hatten ... und eine Erkenntnis. Eine fatale Erkenntnis. Diese Dinge bedeuteten ihr nichts mehr! Jetzt, hier, mit ihrem Hilfsarbeiter, hatte es sie tausendmal schlimmer erwischt, als damals. Deshalb würde es auch tausendmal mehr wehtun. Zehn Minuten später brachte Maja einen kleinen, aber gewichtigen Stein ins Rollen, als sie in den Stall stürmte. „Agni! Ich FASS es nicht!" „Waf?" Lee, eben noch damit beschäftigt eine lose gewordene Latte an den Schweinekoben zu nageln, ließ den Hammer sinken. „Oh. Lee. Ich hab Dich gar nicht bemerkt. Es ist ... wegen Niha. Sie hockt in der Küche und flennt mal wieder wegen Riu.“ Aufgebracht blies sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Riu? Wer ift Riu?“, murmelte Lee an diversen Nägeln vorbei. „Ist? Du meinst, wer WAR Riu ... Er war Nihas Verlobter.“ Die Nägel prasselten auf den Boden während der Hammer beinahe das schmerzhafte Trauma mehrerer herzoglicher Zehen verursacht hätte. „Verlobt? Niha war verlobt?“ „Ja. Und dann hat dieser Idiot sie wegen einer anderen sitzen lassen. Aber mittlerweile ist dieses Thema ja Gott sei Dank gestorben. Nur ... dass sie nach alldem immer noch um ihn trauert ... Agni! Ich werd jetzt erst mal Wäsche waschen.“ Als sie ins Freie stapfte, sank Lee zum wiederholten Mal auf einen Heuballen. Verlobter? Niha hatte einen toten Ex-Verlobten? Da hatte ihm gerade noch gefehlt. Er hatte einen Konkurrenten. Einen toten Konkurrenten. Verdammt! Verdammt, verdammt, verdammt! Wie sollte er denn gegen die Erinnerung an einen Toten ankommen? Einen Toten, den sie auf ein Podest gestellt und verklärt hatte. Einen Toten, der, ganz im Gegensatz zu ihm selbst, keine Fehler mehr begehen konnte? „Scheisse!“, entfuhr es ihm. „Riu, also. Ja? Ganz toll!“ Doch ins Boxhorn würde ihn das nicht jagen. Schliesslich hatte er ausreichend Vorzüge. Niha musste nur noch davon überzeugt werden. Bevor irgendjemand von irgendetwas überzeugt werden konnte, kam - oh Wunder - etwas dazwischen. In diesem Fall ein kleines Mädchen. Gerade als er dabei war, seine Taktik zurechtzurücken, drang leises Weinen an Lees Ohr. Zerfa?! Der Erwachsenenkram musste erstmal warten. Er fand sie hinter der Scheune. Sie hatte sich hinter einen alten Handkarren verkrochen, die Knie angezogen, und heulte in ihre Schürze. „Zerfa?“ Erschrocken schniefte sie auf, Drückte sich jedoch noch fester gegen die Holzwand. „Was ist denn?“, fragte Lee leise. Statt eine Antwort zu geben, presste das Kind sein Gesicht gegen die Knie und schluchzte zum Steinerweichen. „Hey ... ist ja schon gut. Komm her!“ Auffordernd streckte er ihr eine Hand entgegen. „Na komm schon.“ Sie schüttelte den Kopf. „Knöpfchen ...!“ Zögernd kroch sie näher, blickte ihm aber nicht in die Augen. Sobald sie in Reichweite seiner Fürsorge war, wurde sie fest in den Arm genommen. Natürlich weinte sie dort noch lauter. Lee wiegte sie nur sachte hin und her und wartete geduldig, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. „Sag mir, was los ist.“, forderte er sanft. Zerfa presste ihr Gesicht an seine Schulter. „Das ... das Kälbchen.“, stammelte sie heiser. „Welches Kälbchen?“ „Von Bauer Leng.“ „Aha.“ Da sie sich angehört hatte, als wolle sie wieder anfangen zu weinen, streichelte Lee beruhigend über ihr Haar. „Was ist mit dem Kälbchen?“ „Ich ...“ „Schh... Alles Okay. Sag´s mir einfach.“ „Ich hab´s angesehen.“ Jetzt wurde sie wieder von Schluchzern geschüttelt. „Ja?“, fragte Lee. „Und jetzt ... stirbt es. Wegen mir!“ Also doch! Er hatte es ja gewusst. „Das ist Unsinn, Zerfa!“ „Nein! Es stimmt!“ „Tut es nicht! Nichts und Niemand stirbt, nur weil er angesehen wird.“ „Doch! Frau Leng hat es mir hinterher gerufen!“ Lee spürte, wie sein Kiefer sich verhärtete. „Warte hier.“ Er stapfte um die Ecke des Stalls, zum Waschzuber. „Maja?“ „Ja?“ „Falls Niha nach Zerfa sucht: Sie ist bei mir. Wir machen einen kleinen Ausflug.“ „Ausflug?“ „Ja. Kälber ansehen. Die von Bauer Leng.“ „Ist gut.“ „Wo wohnen die denn?“ „Äh ... Da lang.“ Sie deutete nach Südosten. „Vielleicht ne Dreiviertel Meile.“ „Gut. Danke!“ Zerfa hockte dort, wo er sie zurückgelassen hatte und bot einen der traurigsten Anblicke, die Lee sich denken konnte. Er hob sie hoch und marschierte los. „Wohin geh wir?“, schniefte das Kind. „Zu den Lengs.“ „Was?“ Jetzt klang sie ängstlich. „Warum denn? Ich werd mich ganz bestimmt nicht mehr da hinschleichen. Ich versprech´s!“ „Schleichen werden wir auch nicht. Wir gehen die Kälbchen ansehen.“ „Nein!!“ „Oh doch!“ „Nein! Ich will nicht!“ „Klar willst Du!“ „Nein!“, schrie sie fast hysterisch. „Ich will nicht! Bitte Lee!“ „Zerfa!“ Er zwang sie, ihn anzusehen. „Seh´ ich aus, als ginge es mir schlecht? Oder Niha? Oder Maja und Jem? Du siehst uns dauernd an. Und keinem passiert was!“ Sie hatte wieder zu weinen begonnen. „So etwas wie den bösen Blick gibt es nicht! Niemand stirbt, nur weil ihn ein anderer ansieht.“ Beruhigend drückte er sie an sich. „Doch.“, flüsterte sie zwischen schmerzhaft abgehackten Atemzügen. „Meine Mama.“ Abrupt blieb Lee stehen. Da lag also der Hase im Pfeffer! Er hockte sich auf einen Baumstamm am Wegrand. „Knöpfchen. Das ist doch nicht wahr!“, sagte er leise und drückte ihren Kopf an seine Schulter. „Deine Mama war krank. Und zwar lange, bevor sie Dich bekommen hat. Hat Dir das denn niemand gesagt?“ „Doch. Niha. Aber das sagt sie nur, damit ich nicht so traurig bin.“ „Nein. Sie sagt es, weil es stimmt. Dass Deine Mutter gestorben ist, ist sehr, sehr schlimm. Aber niemand - wirklich niemand - kann etwas dafür. Manchmal sterben Menschen eben.“ Er wiegte die Kleine sacht. „Du bist wahrscheinlich das liebste, bravste Mädchen der ganzen Welt. Wenn jemand behauptet, Du seist an etwas schlimmem Schuld, ist er entweder unglaublich dumm oder er lügt ganz fürchterlich. Frau Leng ist vermutlich nur abergläubisch. Und wir zwei werden jetzt zu ihr gehen, um ihr das zu zeigen. „Aber ich will die Kälbchen nicht sehen!“, wimmerte Zerfa. Offensichtlich halfen hier nur noch Taten ... „Schau mal ... Der da drüben ist genauso eine freche Rübe wie Jem.“ Zerfa schielte - nur ganz kurz - in Richtung des herumtollenden, kleinen Stiers. Er war gerade dabei, sich mit der strahlend weißen Wäsche der Bäuerin anzulegen. Als ein Laken im Dreck landete, entwich dem Kind ein Kichern. „Tsts. Der wird noch die ganze Wäscheleine niederreißen.“, grübelte Lee. „Ja. Freche Rübe!“, flüsterte Zerfa und brachte damit ihren Begleiter zum lächeln. Genau das war der Anblick, der Frau Leng erwartete, als sie ihre Wäsche retten wollte. Großer, umwerfender Kerl, der an ihrem Zaun lehnte und lächelte. „Äh ... Guten Tag.“, begann sie unsicher. „Hallo!“ Seine Hoheit bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. Vielleicht konnte die Frau ja nichts für ihre Ignoranz. „Wir bewundern gerade Ihre ganz entzückenden Kälber.“ Als er sein Grübchen aufblitzen liess, bewunderte Frau Leng ebenfalls etwas ganz „Entzückendes“. „Wir?“, fragte sie irritiert. „Ja.“ Er bückte sich, und hob ein kleines Mädchen auf die Arme. „Zerfa und ich.“ Abgelenkt von einem Meter achtundneunzig laufender Augenweide, hatte Kia Leng das Kind gar nicht bemerkt. Jetzt tat sie es! „Ist ... ist das die kleine Koro?“. fragte sie ängstlich. „Ja.“ Zeitgleich mit strahlend weißen Zähnen blitzte eine leise Warnung durch den Charme des jungen Mannes. DAS war also Niha Koros neuer Hilfsarbeiter. Kein Wunder redeten alle über ihn. „Zerfa, Sag Hallo zu Frau Leng.“ „Hallo.“ , flüsterte Zerfa, die Augen fest auf den Boden geheftet. „Äh ... H ... hallo!“, stammelte Kia und betete innerlich, dass der böse Blick des Mädchens sie nicht treffen möge. Das goldgrüne Funkeln eines anderen Augenpaars wurde plötzlich irgendwie ... gefährlich. „Dieser freche Racker da drüben macht bestimmt viel Ärger.“, bemerkte Lee mit Blick auf den kleinen Stier. Seine Stimme war deutlich abgekühlt. „Ärger? Ach nein ... nur ein bissl wild ist er.“ „Ach? So kann man sich täuschen. Ich habe gehört, die mit braunen UND schwarzen Flecken wären bösartig und tollwütig.“ „Tollwütig? Aber wie kommen Sie denn darauf?“ „Hm. Sie haben Recht. War wohl etwas dumm von mir. Man sollte aufgrund solcher Äußerlichkeiten keine voreiligen Schlüsse ziehen, nicht wahr?“ Er gab Zerfa, die sich noch immer fest an ihn klammerte, einen beruhigenden Kuss auf die Schläfe und starrte sein Gegenüber herausfordernd an. Frau Leng begriff. Betroffen biss sie sich auf die Lippen. „Ja ... das ist wohl etwas ... dumm.“, gab sie leise zu. Sie mochte leichtgläubig und beeinflussbar sein, aber böswillig ... das war sie nicht! Und sie war klug genug, zu sehen, dass dieser Charmeur ihr eben einen Spiegel vorgehalten hatte. Was sie darin gesehen hatte, machte ihr ein schlechtes Gewissen. „Ich ... möchtest Du vielleicht ein Stück Honigkuchen?“, fragte sie Zerfa und wagte einen Blick in das halb versteckte Gesichtchen. Eigentlich war das Mädchen geradezu herzerweichend niedlich. „Oha! Honigkuchen klingt ja lecker! Was meinst Du, Knöpfchen?“ Schüchternes Nicken. „Und ein Glas frischer, kalter Milch?“ „Ja ... vielleicht.“, hauchte es kaum hörbar. Es schnitt Kia ins Herz, als sie im Blick dieser verschiedenfarbigen, wunderschönen Augen statt Bosheit nur Angst und Traurigkeit fand. „Ich hätte Dich vorher nicht so wegscheuchen sollen.“, hörte sie sich entschuldigend sagen. Sollte Leng heute Abend ruhig schimpfen. Ihr doch egal! Dafür bekam sie jetzt ein sensationell strahlendes Grübchenlächeln von diesem unglaublichen Prachtburschen! Und Zerfa? Bekam Honigkuchen und Milch. Natürlich verdrückte sie aber nur die Hälfte dessen, was ihr Begleiter verschlang. Niha hätte ja genug damit zu tun gehabt, ihr Gefühlswirrwarr genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch der heutige Tag lies ihr dazu einfach keine Zeit. Maja war von vorne bis hinten einfach nur bockig, Jem schien aus seinen Fünf-Minuten-Zuständen gar nicht mehr herauszukommen und jetzt ... jetzt zweifelte sie an ihrem Verstand. Eben marschierte eine Delegation an ihrem Küchenfenster vorbei, die es SO nicht geben konnte. Da waren Lee, Zerfa und ... ein Kalb. Ein Kalb? Was zum Teufel hatte dieser Mensch denn nun wieder angerichtet? Noch während sie sich die Hände an einem der fadenscheinigen Geschirrtücher trocknete, hastete Niha über den Hof. Im Stall waren Lee und Zerfa damit beschäftigt, die Box neben Else, der Milchkuh des Hofs, mit Stroh auszukleiden. „Was tut ihr da?“ „Niha! Schau mal! Wir haben ein Kalb mitgebracht.“ Zerfa hüpfte strahlend und aufgeregt auf ihre ältere Schwester zu. „Ist es nicht toll? Ich hab´s Rübe genannt, weil es so frech ist.“ „Ein Kalb? Woher ist es denn? Wir ...“ „Von Bauer Leng.“ Lee schien zu dieser ganzen Sache nichts beitragen zu wollen. Er führte lediglich den kleinen Stier in seine neue, kuschlige Box und lächelte still in sich hinein. „Zerfa.“, setzte Niha an. Natürlich blieb es wieder mal an ihr hängen, dem Kind zu sagen, dass das hier nicht ging. „Wir können uns kein Kalb leisten.“ „Aber ... Lee hat es ganz günstig bekommen. Nicht wahr Lee?“ „Ja. Ein richtiges Schnäppchen!“ „Lee hat aber nicht zu entscheiden wie viel Vieh wir halten!“ „Niha.“ Da Rübe endlich zu seiner Zufriedenheit verstaut war, schloss Lee das niedrige Gatter. „Das Kalb ist ein Geschenk. Ich werd auch für das Futter sorgen, also kein Grund ...“ „Zerfa?“ „Ja?“ „Geh bitte in die Küche und hilf Maja. Ich muss mich mit Lee unterhalten.“ „Ich darf es nicht behalten, oder?“, flüsterte die Kleine. „Darüber sprechen wir später, ja?“ Zerfa nickte mit gesenktem Kopf und ging. „So. Was passt Dir jetzt schon wieder nicht?“ Lees Braue hatte sich herausfordernd gelüftet. „Das fragst Du auch noch?“ „Wenn ich mich selbst richtig verstanden habe ... ja!“ „Du KANNST Zerfa nicht so etwas teures schenken. Bonbons, Schokolade ... alles schön und gut. Aber ein Kalb?“ „Es war nicht teuer.“ „Ja.“, schnaubte Niha. „Vielleicht nicht, wenn man in Deinen Dimensionen rechnet. Für uns schon!“ „Ich hatte einen guten Grund, es zu tun!“ „Ach? Und der wäre?“ „Weißt Du, dass Zerfa dieses Geschwätz mit dem bösen Blick glaubt?“, fragte er leise. Niha starrte ihn an. Was sollte sie darauf sagen? Es war ihr wundester Punkt. Ihr größtes Versagen. „Ja.“, gab sie schliesslich zu. „Ich ... hundertmal hab ich ihr schon gesagt, es sei nur Aberglaube. Aber sie glaubt es. Sie ... sie hält sich selbst für ...“ Ihre Stimme brach. Wie oft schon hatte sie Zerfa im Arm gehalten, während diese sich in den Schlaf weinte? „Und das ist genau der Punkt. Du kannst es ihr sagen. Immer und immer wieder. Doch wenn zehnmal so viele Leute ihr ständig das Gegenteil einreden, wird ein Teil von ihr es glauben. Darum das Kalb. Vor drei Stunden sass sie hinter dem Stall und hat sich die Augen ausgeweint, weil sie dieses Kälbchen angesehen hat. Sie hatte Angst, es würde deswegen sterben, Niha, und alles Reden hat nichts genützt. Ich hab das Kalb gekauft, damit sie sich darum kümmern kann. Wenn es wächst und gedeiht, dann sieht sie was für ein Haufen Unsinn die Leute erzählen. Nur so wird sie es begreifen!“ „Es ... Wir können das nicht annehmen!“ „Wirklich? Dann lässt Du lieber zu, dass Deine Schwester zu einem Menschen heranwächst, der es nicht wagt, anderen in die Augen zu blicken?“ „Nein!“, rief Niha. „Natürlich nicht! Aber ...“ „Was, aber?“ „Du ... gehörst nicht zur Familie. Und sie hat sich schon viel zu sehr an Dich gewöhnt!“ „Was?“ Niha schluckte. Vielleicht sollte sie die Sache jetzt und hier beenden. Es wäre für alle beteiligten das Beste! Sonst würde nicht nur ihr das Herz brechen, wenn er ging. „Schön. Sie darf das Kalb behalten.“ Sie holte zitternd Luft. „Aber dann ...“ Lee sah sie sehr seltsam an. Seine Augen wurden schmal vor Misstrauen, sein Mund hart vor lauter Vorahnung. „Ich halte es für das Beste, wenn Du gehst.“, flüsterte Niha. Ihre Hände krampften sich um ihr Geschirrtuch. Es tat einfach zu weh, dies auszusprechen. „Das Beste?“, knirschte Lee. „Für wen? Für Dich?“ „Für meine Familie! Ich ... ich will, dass Du morgen Deine Sachen packst und gehst.“ Gehen? Sie verlangte allen Ernstes von ihm, dass er ging? Warum, zum Teufel? Eifersucht trat auf den Plan. Ebenso heftig, wie unverhofft. „Verrat mir eins Niha,“, knurrte Lee erbost. „Ist es Deinem sauberen Ex-Verlobten zu verdanken, dass Du vom männlichen Teil der Bevölkerung immer nur das schlechteste annimmst?“ Vor den Kopf gestoßen starrte sie ihn an. „Lass Riu aus dem Spiel!“, stiess sie aus. In diesem Augenblick registrierte Lee ihre außergewöhnliche Blässe. Verdammt. Liebte sie den Kerl etwa noch immer? „Warum hast Du mir nichts von der Verlobung gesagt?“ Seine Stimme klang rau. Niha verschränkte schützend die Arme vor der Brust. Sie WOLLTE über dieses Thema nicht sprechen. Und schon gar nicht mit ihm! Es erinnerte sie zu sehr daran, was Männer von Niha Koro hielten. Niha, die Patente. Niha, die immer zur Stelle war. Niha, der Kamerad. Niha, die man wegen eines hübschen Blondchens sitzen liess. „Warum? Weil es Dich nichts angeht!“ „Ach ...“ Das goldene Funkeln übernahm wieder einmal die Vorherrschaft in seinen Augen. „Ich darf mir also die ganzen Schmähungen und die Verachtung reinziehen, die Du für mein Geschlecht parat hast, aber der Grund ... DER geht mich ja nichts an, wie?“ „Bei Dir, mein Lieber, BRAUCH ich keinen extra Grund!“, schrie sie. „Stolzierst hier herum als gehöre alles Dir und heute Morgen prahlst Du sogar damit, wie viele Weiber Du schon flachgelegt hast. Ja! Ein ganz toller Hengst bist Du! Alles, was bei drei nicht auf den Bäumen hockt, wird eben mal abgegriffen!“ Für den Bruchteil eines Sekunde versuchte Lee ernsthaft, sein Temperament im Zaum zu halten. Vergeblich. „Drei!“, zischte er mit geblähten Nasenflügeln. Nihas Augen weiteten sich ungläubig, doch bevor sie sich auch nur rühren konnte wurde sie gepackt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)