Die Söhne des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz") ================================================================================ Kapitel 12: Drache und Kobold ----------------------------- Dieser Flugdrache war eine lahme Mähre! Offensichtlich nicht gerade der Champ im Stall Seiner Durchlaucht. Jin hätte ihn ja mit einer Nadel gepiekt, wäre es nicht ihr Lieblingstier gewesen. Nur heute ... Himmel noch eins! Flog das Vieh etwa Umwege? Oder hatten sie Gegenwind? Zuko war bestimmt schon seit ... seit ... Ewigkeiten daheim. Und genauso bestimmt rannte er schon Trampelpfade in den Marmorboden und wurde von quälenden Selbstzweifeln zerfressen. Sie kannte ihn zu gut, um etwas anderes zu denken. Sie würde es nie verstehen! Wegen dummer Kleinigkeiten konnte er ihr einheizen, dass die Hölle dagegen wie das Kinderparadies eines zu groß geratenen Nudelrestaurants wirkte. Doch wenn es ans Eingemachte ging, um die wirklich wichtigen Dinge, suchte er den Fehler immer nur bei sich. Dieser Mann, der die absolute, selbstsichere Autorität ausstrahlte, war einer der größten Selbstzweifler, die sie kannte. Dabei hatte das niemand weniger nötig als er! Auf der anderen Seite machte es ihn jedoch zu demjenigen, der er war. Immer bereit, an sich zu arbeiten, immer voller Bestreben, das Beste zu tun. Doch in diesem Fall gab es nichts, um daran zu arbeiten. Nichts, was er tat, könnte ihn in ihren Augen verbessern. Perfekt war nun mal perfekt. Und für sie war er genau das. Seine Kanten passten haargenau in ihre Macken. Und umgekehrt! Dass sie ihm das aber auch immer wieder in seinem Schädel hämmern musste ... Also rannte Mylady nach der Landung im Feuerpalast mit gerafften Röcken an ihrem Begrüßung-Komitee vorbei und rief den Versammelten nur ein atemloses „Hallo!“ zu. Aya blinzelte. Ihr Vater war auch schon so seltsam gewesen. „Was ist denn heute in unsere Erzeuger gefahren?“, murmelte Kiram neben ihr. „Hm. Vielleicht die Jahreszeit?“, spekulierte Zirah, die Jüngste. „Ach ... und was ist am Spätsommer bedenklich?“ „Weiss ich doch nicht, Zuckerschnute.“ „Hör auf, mich so zu nennen!“ „Aber wieso denn? Es ist der Titel, den die völlig betörten Zimmermädchen Dir gegeben haben. Du solltest ihn mit Stolz tragen!“, grinste sie. „So? Na, dann könnte ich Dir ja den Spitznamen geben, den Du Dir letzte Woche beim Training verdient hast.“ „Der wäre?“ „Knubbelkinn!“ „Was? Das war nur eine ganz leichte Beule! Nach einem Tag war sie weg!“ Aya schloss die Augen und zählte langsam bis sieben. „Wenn ihr nicht augenblicklich aufhört, werd ich euch ins Kinderzimmer stecken lassen.“, sagte sie ruhig. „Ts! Und WER soll diesen Befehl ausführen?“, wollte Zirah wissen. „Hauptmann Nezu, natürlich.“ „Oh Mist! Manchmal vergesse ich, dass Du Deine Killer-Queen ja rund um die Uhr herumkommandieren darfst.“ „WEN?“ „Äh...“ Zirah überkam das unwiederrufliche, schweisstreibende Gefühl, ein Mienenfeld betreten zu haben. „Hauptmann Nezu“, antwortete sie schwach. „Ich... ich will auch einen Dauer-Gardisten. MEIN Kage lässt sich meistens nur blicken, wenn ich den Palast verlasse“, versuchte sie zu scherzen, um die Scharte wieder auszuwetzen. Aya sog scharf die Luft ein, als ihr wundester Punkt von einer Breitseite getroffen wurde. „So?“, flüsterte sie. „Ich kann Dir sagen, wie Du zu der Ehre kommst, permanent einen Leibwächter abgestellt zu bekommen.“ Es war selten, dass Ayas goldene Augen so blitzen, wie die ihrer männlichen Verwandtschaft. „Du musst Dich beim Feuerbändigen und Kämpfen einfach zu dämlich anstellen. So wie ich. Dann lässt Vater sich bestimmt erweichen!“ „Aya ...“ „Ich muss zur Konversationsstunde! Schönen Tag noch!“ Bedeppert sah Zirah ihrer älteren Schwester nach. „Also ... So hab ich das doch nicht gemeint.“ „Agni, Zirah! Du weisst doch, dass sie in dieser Beziehung empfindlich ist. Wie würdest Du Dir denn vorkommen, als Tochter des Feuerlords nicht bändigen zu können?“ „Es tut mir ja auch leid ...“ „Sag das nicht mir, sondern Aya.“ „Ja ... Kannst Du mitkommen? Ich bin im Entschuldigen nicht gut.“ „Na, dann solltest wohl DU die Konversationsstunden nehmen, hm?“ „Bitte, Kiram!“ „Himmel! Würdest Du Dich bitte daran erinnern, dass Du genauso alt bist, wie ich.“ „Stimmt nicht! Du hattest Dich vorgedrängelt und warst eine ganze halbe Stunde eher da.“ „Tja ... bestimmt hatte Dein Knubbelkinn Dich aufgehalten.“, grinste der Prinz. Es tat wirklich gut, nicht das ALLERletzte Kind zu sein. Allerdings musste er feststellen, dass ALLERletzte Kinder sehr gute Schmoll-Taktiken entwickeln konnten. Die grünen, flehenden Tümpel, zu denen Zirah ihre Augen nun werden liess, waren zu viel für ihn! „Oh verdammt! Schon gut! Komm ich eben mit. Aber irgendwann, Floh, gerätst Du in eine Situation, aus der Dich niemand rauspaucken kann!“ „Ach was. Du kannst doch alles, Zuckerschnute!“ Jovial tätschelte sie ihm die Wange. Kiram sendete nur einen resignierten Blick gen Himmel. Im Inneren des Palastes streifte Jin achtlos ihren Reisemantel ab. „Weisst Du wo Zuko ist, Tante Ria?“ „Da er zu Deiner Begrüssung nicht da war, vermute ich doch sehr, dass er in einer Besprechung ist.“ „Hm. Vielleicht.“ „Vielleicht? Missy, Dein Tonfall gefällt mir nicht.“ „Nein.“, seufzte Jin. „Mir auch nicht. Wir haben uns gestritten.“ „Gestritten? Ist denn schon wieder Schaltjahr?“ „Tante Ria!“ „Herrje. Ist es SO schlimm?“ „Ich ... hab ziemlich dämliche Sachen gesagt und Zuko ...“ „Was?“ „Ich glaube, so verletzt war er selten.“, gab Jin kleinlaut zu. „Kindchen!“ Ria schnalzte mit der Zunge. Nichtsdestotrotz zog sie ihre Nichte an sich. „Dann geh mal besser zu ihm.“ „Ja. Wenn er mich sehen will ...“ „Also, man kann dem Mann ja viel vorwerfen ... oder ... nein, stimmt ja gar nicht. Jedenfalls ist er nicht konfliktscheu.“ „Ja, schon. Aber ich bin es.“ „Dann bring´s hinter Dich, Knubbelchen.“ „Ich versuch´s.“ Bang machte Jin sich in Richtung der Arbeitszimmer auf. Sie beschloss allerdings, zuerst Tian Fu zu behelligen. Die Tür öffnete sich und er verbeugte sich respektvoll. „Lady Jin! Wie schön, Euch wieder zu sehen.“ „Danke, Tian. Ich freue mich auch, wieder hier zu sein. Ist ... ist er da?“ Die rechte Hand des Feuerlords warf ihr einen forschenden Blick zu. „Nun ... ja.“ „Das klingt nach einem großen `Aber´.“ „Leider ist er mitten in einer Besprechung.“ „Oh.“, machte Jin. „Sonst hätte er Euch mit Sicherheit angemessen begrüsst.“ „Ja. Bestimmt.“, murmelte sie. Dabei war sie überhaupt nicht sicher, was Zuko momentan als angemessen empfand. „Dann ... geh ich mal wieder.“ „Ich werde ihn so bald als möglich über Eure Ankunft informieren.“ „Ja. Danke, Tian.“ `So bald als möglich´ war jedoch alles andere, als rechtzeitig. Die Besprechung, falls es eine solche gab, zog sich bis in die Abendstunden hin und Jins Mut sank von Minute zu Minute mehr. Sie setzte sich auf das überdimensionierte Ehebett, umklammerte Zukos Kissen, begab sich irgendwann in die Horizontale und war kurze Zeit später eingeschlafen. Mitten in der Nacht erwachte sie. Ordentlich zugedeckt, den Rücken gegen die warme Brust ihres Mannes geschmiegt, sein Arm um ihre Taille gelegt. Vor Erleichterung, dass er trotz ihres Streits an seinen Schlafgewohnheiten festhielt, musste sie ein bisschen schniefen. Bestimmt würden sie beide morgen Früh alles wieder ins Lot bringen. Als helles Sonnenlicht auf ihr Gesicht fiel, wurde Jin jäh aus einem durchaus angenehmen Traum gerissen. Benommen setzte sie sich auf und blickte nach links. Doch Zukos Laken waren selbstverständlich schon kalt. Sie hatte verschlafen! „Oh ... MIST!“ Verärgert über sich selbst sprang Jin aus dem Bett. „Dumme Pute!“, fluchte sie vor sich hin. „Warum verschläfst du nicht gleich die ganze nächste Woche? Dann kann er sich von allein abreagieren!“ In ihrer Hast beschloss sie, sich selbst anzukleiden. Auf das Entsetzten, dass sie bei ihrer Zofe hervorrufen würde, konnte sie beim besten Willen keine Rücksicht nehmen. Sie eilte, wieder einmal, zu den Arbeits- und Konferenzräumen und liess Tian kaum die Zeit für eine Verbeugung. „Tian, ich muss dringend meinen Gatten sprechen!“ „Ich bedaure zutiefst, doch im Moment gewährt er dem Außenminister des Erdkönigreichs eine Audienz.“ „Verstehe.“ Ratlos kaute sie auf ihrer Unterlippe. „Wenn sie vorbei ist wird Seine Lordschaft Zeit für Euch finden.“ „Hm ... hoffentlich.“ „Aber selbstverständlich! Er bat mich bereits, alle weiteren Termine zu streichen.“ „Oh! Gut! Dann ... warte ich.“ Doch nur zu warten, hielten die Neven ihrer Ladyschaft nicht aus. Um nicht kirre zu werden, floh sie in die Weberei, wo sie sich einbilden konnte, nützliche Aufgaben zu erledigen. Wie zum Beispiel Löcher ins Nichts zu starren ... „Mylady?“ Jin schrak auf. „Ja, Una?“ „Falls Ihr Zeit habt, wünscht Seine Lordschaft Euch zu sprechen.“ „Natürlich!“ Mit einem Tempo, das man durchaus als Rennen einstufen könnte, hastete die Feuerlady aus dem Raum. „Er ist in den Privatgemächern!“ rief Una ihrer Herrin hinterher. Nach einem recht zaghaften Klopfen betrat Jin die Höhle des Löwen (in unserem Fall ihre und Zukos Privatbibliothek). „Du wolltest mich sprechen?“ „Ja.“ Zuko stand am Fenster und blickte in die Gärten hinaus. „Es gibt einige Punkte, die ich gerne klären würde.“ „Gute Idee.“, murmelte Jin, der ihre unausgesprochene Entschuldigung auf der Seele brannte. „Seit wann bist Du nicht mehr glücklich, Jin?“ „Was?“ Perplex starrte sie auf seinen breiten Rücken. „Ich möchte es wissen. Seit wann ist das so?“ Endlich drehte er sich um, aber sein Blick wirkte stumpf. „Das ist überhaupt nicht so!“, stiess Jin betroffen hervor. "Ich bin nicht ..." „Ich kann leider nicht ändern, was ich bin. Und auch nicht den goldenen Käfig, in dem wir leben. Ich kann die Verantwortung ebenso wenig ablegen, wie meine Augenfarbe.“ „Zuko ...“ Ihr Einwand blieb unbeachtet. Allem Anschein nach hatte er wohl überlegt, was, und vor allem wie er es sagen wollte. Mit unerschütterlicher Ruhe. „Allerdings gibt es etwas, das ich ändern kann. Und das bin ich selbst. Ich werde Dir in Zukunft mehr Freiraum lassen.“ „Ich habe genug Freiraum!“ „Ich werde mich bemühen, weniger despotisch zu sein. Ob mir das auf Anhieb gelingt, weiss ich nicht, doch ich werde alles daran setzten, Dich wieder glücklich zu machen.“ „Gut! Fein! Bestens! Dann hör sofort mit diesem Unsinn auf!“ „Unsinn? Das ist kein Unsinn. Du meintest, Du seist kein eigenständiger Mensch mehr, Jin. Jeder hat das Recht auf Selbstbestimmung, doch ich scheine Dir das Gefühl gegeben zu haben, nurmehr mein Eigentum zu sein. Das tut mir sehr leid.“ „Zuko! Denkst Du denn wirklich, ich wäre unzufrieden?“ Sie forschte in seinen Augen und fand dort die kummervolle Antwort. „Ich war einfach nur wütend. Und allein. Und das mit dem gehören ...“ Jetzt starrte sie auf ihre ineinander verknoteten Finger. „Ich gehör Dir doch, Drache.“, flüsterte sie. „Genauso, wie Du mir. Das ist nunmal so. Doch zum Glück weiss ich, dass es keine Verantwortung gibt, mit der Du vorsichtiger umgehst. Darum pass ich auf Dich auf, und Du auf mich. Punkt. Ende der Diskussion!“ „Jin ...“ „Nein! Ich will nichts mehr davon hören! Dich ändern?“ Sie warf die Hände in die Luft. „Meinetwegen lass Dir die Haare schneiden, oder lern Teppiche zu knüpfen. Wenn Dir das Spass macht, stehe ich wie ein Fels hinter Dir. Aber WAGE es nicht, Dich zu ändern, nur weil Du plötzlich denkst, ich würde das wollen!“ „Jin ...“ „Ich liebe Dich, Zuko! Und zwar genauso wie Du bist! Und diese Worte sind nur eine äußerst dürftige Annäherung an das, was ich empfinde. Ich werde auch den Menschen lieben, der Du morgen bist, oder in vielen, vielen Jahren. Nur ... Dich ändern zu wollen ... wegen MIR? Kommt nicht in die Tüte! Nichts was Du tust könnte mich zufriedener machen, als ich es schon bin. Na ja ... mit dem Küssen ist das natürlich etwas anderes. Dann bin ich NOCH euphorischer, aber das ist ja nicht das Thema.“ Doch der Gebieter der Flammen schien sich nicht ablenken zu lassen, wirkte immer noch skeptisch. „Verdammt, ich BIN doch selbstbestimmt!“, rief sein Weib. „Ich WILL hier leben! Und mehr als alles andere WILL ich Deine Frau sein! Und ab und an will ich eben auch mit Dir streiten, mich mit aller Macht gegen Dich stemmen. Vielleicht, um Deine Stärke zu spüren, oder ... oder weil ich so auf die Versöhnungen steh. Ich weiss es nicht. WAS ich weiss, ist, dass es mich irgendwie noch näher zu Dir bringt. Und genau da ist es, wo ich sein möchte, Zuko. Bei Dir. Und es ist egal, ob das in einer Hütte, einem Teehaus, oder einem zu groß geratenen Palast ist.“ „Aber ...“ „Herrgott, Zuko! Ich will nicht, dass Du Dich änderst! Ich weiss, ich sollte das nicht sagen, doch ich mag es sogar, wenn Du stur bist. Oder herrisch. Wirklich rumkommandieren tust Du mich doch nur, wenn ich Dummheiten mache oder plane.“ Zuko hob die Hand. Es sah ganz so aus, als hätte er sich an dieser Sache wirklich festgebissen. „Jin.“, sagte er leise. „In Agnam Ba sagtest Du etwas in der Art, dass von der alten Jin We nicht mehr viel übrig sei. Das bedeutet, Du hast das Gefühl, Dich selbst verloren zu haben. Das sind nicht die Worte eines glücklichen Menschen.“ Seine Stimme klang verdächtig rau. „Die Vorstellung, Du könntest unglücklich sein ...“ „Unglücklich? Hörst Du mir überhaupt zu? Unglücklich ... Das ist das Lächerlichste, dass ich Dich je habe sagen hören! Ich war einfach nur so ... unausgeglichen. Völlig durch den Wind. Und was den Freiraum betrifft, kann ich nur noch einmal betonen: Ich habe genug Freiräume. Du lässt mir bei weitem mehr davon, als die meisten anderen Ehemänner ihren Frauen zugestehen. Die Weberei zum Beispiel... ich darf schalten und walten, wie ich es für richtig halte. Du lässt mich doch eigentlich fast immer tun, was ich möchte. Für die Zwänge, denen ich als Feuerlady unterliege kannst Du herzlich wenig, denn Du selbst bist den gleichen unterworfen. Ich war einfach zu allein, um das zu sehen. Mehr als alles andere, wollte ich, dass Du zurückkommst. Das ist letztendlich der einzige Grund, aus dem ich nach Agnam Ba gegangen bin. Ich wollte mich damit nicht gegen Dich stellen. Nie im Leben! Und wenn es jetzt tatsächlich Leute gibt, die meine Loyalität Dir gegenüber in Zweifel ziehen, tut mir das schrecklich leid. Das hatte ich nicht bedacht, denn für mich stand das niemals zur Debatte. Ich stehe zu Dir. Immer. Das musst Du doch wissen!“ Sie sah seinem versteinerten Profil an, dass seine Selbstzweifel noch immer nicht verflogen waren. "Das weiß ich ja, Jin. Aber ich musste etwas wegen den Beiden unternehmen." "Ja. Aber Du ... hättest es mir wenigstens schreiben können." "Was eine überstürzte Abreise Deinerseits zur Folge gehabt hätte und die ganze Damen-Konferenz wäre für die Katz gewesen." "Ich ... woher willst Du das wissen?" "Weil ich Dich kenne, Jin. Ich wusste auch, dass Du über meine Maßnahmen wütend sein würdest, doch ich dachte ich wäre hier, um Dir das ganze persönlich zu beichten. Und als Du Dich dann vor aller Augen über meine Entscheidung hinweggesetzt hast ... Ich wurde ziemlich ... zornig, als die Nachricht kam." "Ich weiß." "Nicht zuletzt, weil Du damit ein Risiko eingegangen bist.", fuhr er fort. "Ich HASSE es, wenn Du ohne meinen Schutz durch die Gegend spazierst!" "Ich weiß ja. Ich ... hab nur nicht daran gedacht, als ich abreiste. Na ja ... wenigstens nicht bewusst." Ihr Murmeln klang ein klitzekleines Bisschen kleinlaut. "Ja.", seufzte er. "Darum war mein Vorwurf auch unangebracht. Du warst aufgebracht. Nicht illoyal. Es tut mir sehr leid, mein He ..." Noch bevor Zuko der Reumütige seinen Satz vollenden konnte, schnürte Jin die Loyale ihm beinahe die Luft ab, so energisch warf sie die Arme um ihn. „Zuko ... Ich bin nicht vollständig, wenn Du nicht da bist. Das wusste ich schon vorher. Aber wie unvollständig ich ohne Dich tatsächlich bin ... das hat mich erschreckt. Doch damit kann ich leben. Solange Du da bist!“ „Glaubst Du, ich bräuchte Dich weniger, Kobold?“, raunte er schließlich. „Ich brauche Dich. Deine Liebe. Aber am allermeisten brauche ich die Gewissheit Deines Glückes.“ „Aber ich BIN doch glücklich! Lachhaft glücklich!" Sie legte sanft die Hände um sein Gesicht. "Ja, es stimmt. Ich wollte wissen, was von der alten Jin We noch übrig ist. Und weisst Du was? Sie ist noch da. Jedes konfuse, planlose Molekül von ihr! Und jedes einzelne davon liebt Dich! Ich will Dich nicht pflegeleichter, oder zahmer. Ich will meinen Drachen! Inclusive aller Macken und Kanten!“ „Na ja ...“ Endlich fiel diese selbstquälerische Starre von ihm ab. „Davon kann ich eine Menge bieten.“ Kläglich sah er ihr in die Augen. „Du bist ein Dummkopf!“ „Hab ich nie bestritten.“ „Genau deshalb bist Du ja einer!“ „Das ist Majestätsbeleidigung!“ „Dann widme ich mich jetzt eben der Majestätsbefriedigung.“ Mit diesen Worten beendete Jin die Debatte und presste ihn so fest sie konnte an sich. Nach einiger Zeit legte er die Stirn an ihre und stupste ihre Nase mit seiner. „Also ... Wie war das? Ein Kuss könnte Dich glücklicher machen?“, wollte er wissen. „Mhm. Wenn er gut ist ...“ „Waren sie das jemals nicht?“ Arroganter Kerl! Doch wo er Recht hatte ... „Nein.“, gab sie seufzend zu. „Erstaunlicherweise war in über sechsundzwanzig Jahren Ehe noch kein einziger Blindgänger dabei. Sie gingen alle ab, wie eine Festtags-Raket ...“ Da Zuko ja von der Pflicht, seiner Herrschsucht Zurückhaltung aufzuerlegen, befreit worden war, wurde Jin ungefragt unterbrochen. Von herrschaftlich herrischen Herrenlippen, die nach Beendigung eines herrlichen Kusses einen her(r)vorragenden Vorschlag unterbreiteten. „Schliess die Tür ab, Kobold!“ „Hab ich schon!“ „Mein weitblickendes Weib!“ „Mein dummer Tyrann! ... Kommode?“, keuchte sie. „Warum nicht?“, schnaufte die Flamme des Volkes, mit der Rechten bereits die seidenen Röcke Ihrer Ladyschaft raffend. Als sie eine Stunde später ihre Gemächer verliessen, war eines klar: das Herrscherpaar hatten zu seinem normalen, verrückt-entrückten Selbst zurückgefunden. Jin bemerkte die verstohlenen Blicke, die sie streiften, als Erste und spähte nach unten. „Lieber Himmel!“, zischte sie. „Du hast ja meine Röcke vollkommen zerknittert!“ „Und? Du bist die Feuerlady. Wenn Deine Röcke zerknittert sind, gehört dies eben zum guten Ton!“ „Zuko! Zerknitterte Röcke gelten nicht als schick, sondern als Indiz. Bei der Frau, die mir DIR verheiratet ist, sowieso.“ „Habe ich Dir schon gesagt, wie anbetungswürdig Du bist, wenn Du Dich entrüstest?“ „Nein.“ Sie schielte nach oben. „Wirklich?“ Seine Lippen zuckten nur. „Eigentlich ...“, sinnierte sie. „Da Du für heute keine Termine mehr hast, könntest Du ja eine Liste mit all meinen Vorzügen erstellen.“ „Eine Liste?“ „Ja. Schliesslich liebst Du es, Listen zu erstellen.“ „Wer sagt das?“ „Also bitte! Das weiss doch jeder!“ „So, so ... Jeder?“ „Mhm. Ebenso, wie alle Welt weiss, dass ich Dich irrsinnig glücklich mache. Schliesslich habe ich die Bestätigung dafür erst vorgestern bekommen.“ „Von wem?“ „Von Lees Chefin.“ „Diese Wald und Wiesen Amazone, die es gewagt hat, mich hinauszuwerfen?“ „Ja. Sehr nettes Mädchen! Und die Kinder ... am liebsten hätte ich sie mitgenommen!“ Eine Weile spazierten sie schweigend nebeneinander her. „Warum haben wir eigentlich nicht mehr?“ „Was? Kinder?“ „Ja.“ „Wegen der wundersamen Wirkung des Ombru-Saftes, mein Herz.“ „Das weiss ich doch! Aber ... warum dachtest Du, es sei nötig, ihn zu trinken?“ „Vielleicht weil er ein Verhütungsmittel ohne jegliche Nebenwirkungen darstellt?“ „Also ICH hätte gerne noch ein paar Windelpupser großgezogen. Warum wolltest Du keine mehr?“ „Das haben wir doch nun wirklich oft genug durchgekaut.“ „Nein, das hast DU durchgekaut.“ „Jin ... Man möchte annehmen, die Strapazen einer Zwillingsgeburt und die anschliessende sechswöchige Bettruhe hätten Dir als Antwort auf diese Frage genügt.“ „Es waren ja auch zwei auf einmal. Bestimmt hätte das nächste wieder den Anstand besessen, alleine aufzutauchen.“ „Ich hatte eben keine Lust, das Risiko erneut einzugehen. Nenn mich ruhig einen Spiesser, aber ich mag meine Frau gesund und unversehrt.“ „Vielleicht sollten wir Lee die Erlaubnis geben, sich ungeniert fortzupflanzen. Dann könnten wir uns um die kleinen Unfälle kümmern.“ „Jin! Willst Du mich wirklich in einen Nervenzusammenbruch treiben?“ „Du hattest heute ja noch keinen.“ „Erstaunlicherweise nicht.“ „Siehst Du. Wenn ich mich nicht um alles selbst kümmere ...“ „Ja. das hab ich wirklich vermisst, Kobold.“ „Ich weiss!“ „Und weisst Du, was ich noch vermisst habe?“ „Was?“ „Ständig über Deine, zugegebenermaßen reizenden, Pantoffeln zu stolpern!“, meinte er lakonisch und hob das perlenbesetzte Corpus Delicti vom Boden. „Oh! Den hab ich schon gesucht!“, strahlte sie. „Zweifellos.“ Lu Ten suchte ebenfalls. Nur hatte er leider nicht das Glück, über das Corpus Delicti zu stolpern. Es war die zweite Nacht, die er sich im staubigen Arbeitszimmer Beo Tutuks um die Ohren schlug. In diesem Raum liess er seine bisherigen Vorsichtsmassnahmen walten. Kerze auf dem Fussboden, Staubentfernung, Staub-Wiederanbringung, etc., etc., etc. ... Außerhalb des Zimmers hatte er das Herumschleichen gegen eine genial simple Scharade ersetzt. Mit einem sorgfältig präparierten Buch, in dessen Hohlkörper er alle notwendigen Utensilien unterbrachte, streifte er ganz selbstverständlich durch die Gänge. Falls ihm jemand begegnen sollte, wäre er einfach nur ein wissensdurstiger Assistent mit Schlafstörungen, auf der Suche nach nächtlicher Lektüre. Eine gute Tarnung war eben durch nichts zu ersetzten! Während er für das Wohl der Feuernation also einen Großteil seines benötigten Schlafes opferte, beschäftigte er sich sein Kopf bereits mit Problem Nummer zwei: der Tochter des Hauses. Seit der tiefgreifenden, folgenschweren Erkenntnis seines emotionalen Zustandes, vollführte er einen Eiertanz sondergleichen. Sein heutiges Verhalten Fräulein Tutuk gegenüber als inkonsequent zu bezeichnen, war noch die mildeste Umschreibung. Mal hatte er mehr als deutliche Signale gesetzt, mal war er an Zurückhaltung nicht zu überbieten gewesen. Als Mann, der zumeist den goldenen Mittelweg bevorzugte, ging ihm dieses auf und ab gewaltig gegen den Strich. Aber Tatsache war, dass Pineria mit den Spielregeln des Geschlechterkampfes herzlich überfordert schien. Flirten, ohnehin nicht eben Lu Tens Stärke, stiftete bei ihr nur Verwirrung. Anspielungen wurden gar nicht erst als solche erkannt. Am besten kam sie mit ihm klar, wenn er seine nüchtern sachliche Art beibehielt. Nur würde er auf diese Weise nicht einmal einen Blumentopf gewinnen. Doch allein die Vorstellung, rührselige Floskeln von sich zu geben, liessen dem Thronerben des Landes die Haare zu Berge stehen. Vielleicht sollte er einen Hofpoeten um einige passende Worte bitten? Ach was. Blödsinn! Selbst war der Mann. Und ein Tatzu sowieso. Er musste den Reitstrauss eben von der anderen Seite aufzäumen. Pineria Tutuk wäre für romantischen Gewäsch bestimmt ohnehin nicht zugänglich (Man könnte auch glauben, dass eher die Scheu, romantisches Gewäsch von sich geben zu müssen, Vater dieses Gedanken war. (Anm. der Autorin)). An diese Frau kam man am besten anders heran. Nur wie? Was war der angreifbarste Punkt des Käuzchens? Neugier? Wissensdurst. Ihre hochheilige Wissenschaft! Hatte sie nicht gesagt, sie erforsche das menschliche Fortpflanzungsgebaren? Vielleicht war es Zeit, dem Fräulein mehr Anschauungsmaterial zu liefern. Oder anders gesagt: Er würde ihre Instinkte für sich arbeiten lassen. Unter dem Deckmantel empirischer Forschungen würde er ihre Leidenschaft, die sie ja schon einwandfrei unter Beweis gestellt hatte, weiter für sich arbeiten lassen. Der entscheidende Vorteil dieser Vorgehensweise war, dass er auch in anderer Hinsicht Nägel mit Köpfen machte. Vom Bett zum Traufeuer war es nur noch ein kleiner Schritt. Und den würde er sie, wenn nötig, auch hinter sich her zerren. Vielleicht. Na ja ... Himmel, seit wann war er denn so dramatisch veranlagt? Hoffentlich nur eine kurzzeitige Charakterschwäche, verursacht durch seinen neuerdings instabilen Gemütszustand. Wie gesagt, beschäftigte sich Seine Hoheit mit diesen Dingen, während er seine systematische Suche nach dem rätselhaften Geheimnis Beo Tutuks fortsetzte. Alles andere als einfach, so ohne den blassesten Schimmer, WONACH man eigentlich sucht. Gegen halb drei beendete er seine fruchtlose Arbeit. Ein Gewitter war aufgezogen und erfahrungsgemäss erhöhte dies die Wahrscheinlichkeit, dass unruhige Geister durchs Haus streifen würden. Wie recht Lu Ten damit hatte, zeigte sich zwei Flure weiter. Flackerndes Licht näherte sich der Ecke, um die er gerade biegen wollte. Mit einem erschreckten Aufschrei hätte Pippa beinahe ihre Öllampe fallen lassen. Das ferne Grollen des nahenden Unwetters hatte sie aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen. Und wie immer, wenn ein Gewitter drohte, hatte sie beschlossen, die nächste Stunde lieber im kuschlig dunklen Keller zu verbringen. Da gab es keine Fenster und Donnerschläge waren dort auch nicht zu hören. Sie wusste, diese Reaktion war unlogisch, da der Herrensitz durch zahlreiche Blitzableiter gesichert wurde. Trotzdem ... ihrem wildpochenden Herzen half das wenig. Vor ihrem inneren Auge sah sie die schauderhaften Verheerungen, die die Elektrizität anrichten konnte, erinnerte sich daran, wie es war, einem solchen Wetter ungeschützt ausgesetzt zu sein. Das schrille Schreien des Reitstraußes, bevor sie die Kontrolle verloren hatte und das Tier durchgegangen war. Wie sie im schlammigen Straßengraben gelegen hatte, vor Kälte, Angst und Schmerzen zitternd. Es mochte zwar kindisch sein, sich vor einem Gewitter zu fürchten, aber Pineria Tutuk hatte allen Grund der Welt dazu. Und sie hatte auch allen Grund zu erschrecken, als ihr dabei zum ersten Mal eine massive Gestalt in die Quere kam. „ARGH!“ „Fräulein Tutuk.“ „Gute Güte!“ „Ganz ruhig. Ich bin es nur.“ Selbst in dieser Situation klang der korrekte Herr Song überaus höflich und besonnen. „Was? Ja ... Ja, gut.“ Obwohl der Ausschnitt ihres Morgenmantels durchaus sittsam war, zupfte Pippa nervös daran herum. „K ... konnten Sie auch nicht schlafen?“ „Nein. Ein Problem hat mich wachgehalten.“ Pineria klammerte sich an diese Konversation, wie an einen Rettungsanker. Reden lenkte sie ab. „Ein Problem? Mit Ihrer Unterbringung?“ „Nein. Mit dem Zimmer ist alles in Ordnung.“ „Was für ein Problem denn dann?“ Lu Ten lenkte seinen Blick auf die Wand hinter seiner Arbeitgeberin. Ein weitaus unverfänglicherer Fleck, als die lockenden Sommersprossen oberhalb ihres Schlüsselbeins. „Ein ... wissenschaftliches. Ich konnte mich nicht mehr an den exaktem Schmelzpunkt von Beryllium erinnern.“ „Und?“ „Was und?“ „Was ist der Schmelzpunkt von Beryllium?“ „1278 °C.“ „Wie interessant.“ Ihre Augen huschten zum Fenster, durch das ein greller Blitz zu sehen gewesen war. „U ... und der Siedepunkt?“ Schnell kramte Lu Ten in den tiefen Regionen seines Langzeitgedächtnisses. „2476,85 °C. Ist etwas?“ „N ... nein! Alles bestens.“ Sie schenkte ihm ein verkrampftes Lächeln. Paradoxerweise fielen ihr in eben diesem Augenblick wieder die Lektionen von Bel und Miu ein. Doch das mit dem Wimperflattern liess sie trotzdem lieber bleiben, denn als sie es an diesem Nachmittag zum wiederholten Mal versucht hatte, hatte Lu Ten sie gefragt, ob sie etwas im Auge hätte. So viel also dazu. Entweder war der Herr immun gegen die gängigen Taktiken, oder sie war einfach zu ungeschickt. Wahrscheinlich letzteres ... „Fräulein Tutuk?" Sein Tonfall machte Pineria bewusst, dass er sie bereits zum wiederholten Mal angesprochen hatte. „W... was?" „Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“ „Ja!“ Doch kaum hatte sie es ausgesprochen, zuckte sie zusammen. Die Spanne zwischen dem letzen Blitz und dem folgenden Donner war sehr kurz gewesen. Das Gewitter schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, seine Wut direkt über dem Herrenhaus abzubauen. „Pineria?“, fragte Lu Ten besorgt. „Sie ... Sie müssen sich keine Sorgen machen. Das Haus hat sieben Blitzableiter.“, versicherte sie hastig. „Das ist sehr beruhigend.“ „Ja. AAH!“ Ein ohrenbetäubendes Krachen liess den Boden leicht beben. „Sie zittern ja.“ „Was?“ „Sie zittern.“ Er musterte sie genau. „Wie Espenlaub.“ „Ach? B ... bestimmt die Kälte.“ „Das glaube ich nicht. Keine Gänsehaut zu sehen.“ Ach tatsächlich? Diese vermaledeite Beobachtungsgabe! „Ich ... dazu neige ich nicht.“ „Sie fürchten sich.“ Sie schluckte. „Nein!“ „Fräulein Tutuk, das mag jetzt überraschend kommen, aber Sie sind eine unsagbar unbegabte Lügnerin.“ „Ich ... Oh Gott!“, keuchte sie und hielt sich die Ohren zu. „Hat der eingeschlagen? Er hat eingeschlagen!“ Lu Tens Augen verengten sich. „Sie haben Angst vor dem Gewitter.“, stellte er leise fest. „Panische.“ Sie antwortete nicht. Brauchte sie auch nicht. Ihre aufgerissenen Augen verrieten ihm, was er wissen musste. „Sie brauchen keine Angst zu haben!“ „Ich weiss.“ „Sieben Blitzableiter sind mehr als ausreichend.“ „Ich weiss!“ „Sie sind hier so sicher, wie in einem Faradayschen Käfig.“ „ICH WEISS!“, schrie sie. Entsetzt über die eigene Lautstärke begann sie zu stammeln. „Tut mir leid. Ich ... ich wollte Sie nicht anschreien.“ „Das ist mir durchaus klar. Ihr Zustand scheint mir eher ...“ „Ich HABE keinen Zustand!“ Ein weiterer greller Blitz machte den schmalen Gang fast taghell „Ich ... muss in den Keller!“ „Den Keller?“ Verwunderte Blicke hin oder her, das Gewitter war jetzt direkt über dem Haus, also hastete Pippa kopflos an ihrem Assistenten vorbei. „Fräulein Tutuk?“ Nur noch drei blöde Treppen. Blöde, endlos lange Treppen ... „Fräulein Tutuk?“ Was? Er war immer noch da? „Sich zu verkriechen ist keine Lösung!“ „Sie ... Sie ... Das ist mir vollkommen wurscht! Als der nächste Donnerschlag das Gebäude erschütterte, riss Pippa die Hände vom Treppengeländer und hielt sich die Ohren zu. Eine fatale Reaktion, denn sie verlor das Gleichgewicht. Bevor sie fiel, wurde sie gepackt ... und Lu Ten war Agni sei Dank stärker, als die Schwerkraft. „Schluss mit dem Unsinn!“, stellte er klar und hob sie kurzerhand hoch. „Ich muss ... in den Keller!“, keuchte sie, krallte sich aber gleichzeitig in seinem Kimono fest. „Nein. Sie müssen sich jetzt erst mal beruhigen.“, sagte er und trug sie wieder nach oben. „Im Keller kann ich mich beruhigen!“ Eine weitere Entladung veranlasste Pippa wimmernd ihr Gesicht zu vergraben. Der nächstmögliche, sich bietende Ort war die breite, feste Brust Herrn Songs. Er öffnete die erstbeste Tür. Sie führte in eine Bibliothek. Natürlich! Diese hier war klein, ein wenig muffig, beherbergte aber ein gemütliches Sofa. Lu Ten setzte sich mitsamt seiner Last. „Ganz ruhig. Alles bestens.“ Das Waldkäuzchen zitterte munter weiter. „Ihnen geschieht nichts.“ Sie versuchte sich heldenhaft an einem Nicken und bewegte damit den Stoff seiner Jacke. Der Duft, der ihm daraufhin entströmte war wundervoll und tröstlich. Schenkte ihr auf unwirkliche Art und Weise Geborgenheit und Mut. „Habe ich schon erzählt, dass ich auch Elektrizität erzeugen und bändigen kann?“ Seine tiefe Stimme verstärkte das wohlige Gefühl. „N ... nein.“ „Sollte ein Blitz es wagen, sich meiner Arbeitgeberin zu nähern, werde ich ihn einfach in seine Schranken weisen.“ Pippa starrte auf die Stelle, an der die Säume seines burgunderroten Kimonos auseinander klafften. Schliesslich hatte sie sie direkt vor Augen. Da konnte ja kein Mensch von ihr verlangen, sich den Nacken zu verrenken, um wegzusehen. Seine Haut hatte einen leichten Bronzeton. Sie wirkte so warm. So lebendig. So... verlockend. Aber ... sie sollte jetzt etwas sagen, oder? „Wirklich?“, brachte sie heraus. „Aber sicher. Wo ist eigentlich Ihre Brille? Haben Sie sie verloren?“ Es würde bestimmt auffallen, wenn sich ihre Fingerspitzen zufällig unter das Leinen verirren würden. Oder? „Nein. Vergessen. Ich ... war wohl zu panisch.“ „Verstehe.“ Seine Hand begann wie von selbst, sacht über ihren Lockenkopf zu streichen. Pippa schloss die Augen. Getröstet zu werden war schön. Doch warum hatte sie dann diesen Drang, zu weinen? Warum verstärkte es diese unheilvolle Sehnsucht? „Woher kommt diese Angst?“ „Was?“ „Die Angst vor Gewittern. Woher kommt sie?“ „Ich ... von ... meinem Unfall.“ „Der Reitunfall?“ „Ja.“ Ein besonders lauter Donner zog nun, sexiest man alive (diesen Ausdruck, hatten Miu und Bell verwendet. Pippa hatte ihn für ungemein passend befunden) hin oder her, doch wieder Fräulein Tutuks Aufmerksamkeit auf sich und sie fuhr zusammen. „Schhh. Alles in Ordnung. Versuchen Sie einfach nicht daran zu denken.“ „Ich KANN nicht!“ „Sie müssen sich ablenken.“ Von einem Gewitter, das inzwischen die Lautstärke eines Kanonenbombardements erreicht hatte? Machte er Witze? „Ablenken? Wie soll ich mich denn bitte schön ...“ Seine Hand lag plötzlich warm und prickelnd in ihrem Nacken. „ab ...“ Pippa starrte auf seinen Mund, der eindeutig näher kam. „lenken?“, hauchte sie. „Vielleicht so?“, raunte er, ebenfalls auf sein Ziel fixiert. Befriedigt registrierte Lu Ten ihren hetzenden Atem, den jagenden Puls. Natürlich könnten dies auch nach wie vor Symptome der Angst sein. Doch dann schritt Pineria Tutuk zur Tat und bewies, dass ihr augenblicklicher Zustand wenig mit dem Unwettern draussen zu tun hatte, sondern eher mit einem inneren Orkan. Sie umfasste mit beiden Händen seinen Kopf, zog ihn nach unten. Überrumpelt von dieser Kooperationsbereitschaft, prallten ihre Münder aufeinander. Statt sich langsam aufzubauen entlud sich die Spannung ebenso heftig und unvermittelt, wie die Elektrizität der Atmosphäre. Pippa hätte die vorangegangenen Lektionen gar nicht gebraucht, um zu erkennen, dass dies ein Kuss der leidenschaftlichen Sorte war. Der überaus leidenschaftlichen! Ablenkungsmanöver oder wissenschaftliche Studie? Es war ihr verflixt egal, aus welchem Grund sie ihn bekam. Tatsache war, dass Lu Ten nicht so wirkte, als müsse er sich zu irgendetwas überwinden. Es war eher so, als fordere ein naturgegebenes Recht ein. Heiße Lippen pressten sich drängend auf ihre, schmolzen Bedenken und Scheu hinweg, erstürmten innerhalb von Sekunden die äusseren Barrieren und schafften somit die Basis der eigentlichen Invasion. Als seine Zunge begann, ihre zu umwerben, entwich Pippa ein leises Stöhnen. So rau. So fest. Und er schmeckte so unbeschreiblich wundervoll. Sie vergrub die Hände tiefer in seinem Haar und beantwortete genüsslich das sinnliche Reiben. In ihren Büchern stand nichts von diesem Amoklauf der Sinne. Nichts davon, dass man am liebsten ganz in den anderen hineingekrochen wäre, ihn wenn möglich verschlingen oder inhalieren wollte. Nichts von dieser Gier, die jeden zusammenhängenden Gedanken unmöglich machte. Nichts ... nur läppisches Gewäsch, verglichen mit der harten, goldäugigen Realität. Er forderte. Sie gab. Miss Tutuk begehrte, Seine Hoheit gewährte. Berauscht von ihrem Geschmack hatte Lu Ten seine Zurückhaltung endgültig in die Ecke gepfeffert. Und trotz dieses Ungestüms war er auf keinerlei Widerstand gestossen. Sein Käuzchen sass in der Falle. Jetzt nur nichts überstürzen ..! Er hörte ihr lustvolles Wimmern, ballte um Selbstbeherrschung ringend die Fäuste. Und verlor. Ein Grollen stieg in seine Kehle. Seine Hände entwickelten ein unplanmäßiges, schamloses Eigenleben und fuhren liebkosend ihre Seiten entlang. Die Linke fuhr zur Hüfte, um sie noch fester an sich zu pressen, die Rechte glitt langsam nach oben, verharrte neben ihrer kleinen festen Brust. Nur die Innenkante seines Daumens gestattete sich, sie in einer zarten Liebkosung zu berühren, ihr Gewicht zu stützen. Einer Atemnot nah, warf Pippa keuchend den Kopf gegen die Rückenlehne. Worauf Lu Ten eine weitere Schlacht verlor. Die zarten Sommersprossen an ihrem Schlüsselbein waren einfach zu verlockend. Aromatisch wie Zimt, bittersüss wie brauner Zucker, schmolzen sie auf seiner Zungenspitze. „Lu Ten!“ Der Name, der seit Tagen Echos in ihrem Inneren warf. „Ich bin hier, Fratz.“ Er raunte es gegen ihre Kehle. „Lu Ten.“, flüsterte sie, als müsse sie sich von seiner Echtheit überzeugen. Dann war sein Mund wieder da, um ihren in Besitz zu nehmen. Doch diesmal genügte ihr das nicht. Ihre Hände lösten sich aus seinem Schopf und suchten unbeholfen aber zielstrebig den Ausschnitt seines Kimonos, um an diese warme, lockende Haut zu kommen. „Pineria?“ Mit einem Quietschen fuhr Pippa zurück. Im Türrahmen stand in Morgenmantel und Nachthaube Nele Tutuk. Lu Ten hob unangenehm berührt die Brauen, räusperte sich und brachte sich in angemessenen Abstand zur Tochter des Hauses, zeigte ansonsten jedoch keinerlei Anzeichen der Verlegenheit. Ganz im Gegensatz zu seiner ... Komplizin. „M ... Mutter?“ Leise Verwunderung lag im Blick von Frau Doktor, als sie zwischen ihrer Tochter und deren Assistenten hin und her sah. „Ich wollte nach nur Dir sehen. Du ... hast doch immer solche Angst bei Gewittern.“ „Äh ... das ist ... äh.“ „Wir waren gerade dabei, etwas dagegen zu unternehmen.“ Unser Kronprinz war wieder ganz Herr der Lage. „Ich hielt es für angebracht, ihre Tochter etwas abzulenken.“ „Ach ... so nennt man das jetzt?“ Pippa spürte wie ungefähr fünfzig Prozent ihres gesamten Blutes sich in ihren Wangen versammelte. „Nein.“, sagte Lu Ten. „Der korrekte Terminus ist wohl küssen.“ „Ein bisschen unorthodox, oder?“, fragte Pinerias Mutter milde. „Ein ... bisschen.“ „Hat es denn geklappt, Schätzchen?“ „Was?“, stiess Pippa aus. „Äh ...“ Überdeutlich war sie sich des interessierten Blicks Herrn Songs bewusst. „Z ... ziemlich.“ „Wirklich? Wie wundervoll. Wir haben schon alles mögliche versucht, aber sie besteht immer darauf, sich im Keller zu verkriechen.“ „Mama!“ „Was denn? Stimmt es etwa nicht?“ „Ich ... ich werde jetzt schlafen gehen.“ Als sie aufstand, erhob Lu Ten sich ebenfalls. „Aber ... das Gewitter?“, fragte Nele verwundert. „Scheint sich zu verziehen.“ vermerkte Lu Ten ruhig. „Ja.“ Pippas Stimme stockte. „Gute Nacht!“ So schnell sie konnte, floh sie aus ihrem persönlichen Schlamassel. Ihre Mutter sah ihr hinterher und wendete sich dann Lu Ten zu. „Nun.“, meinte sie munter. „Geklappt hat es jedenfalls. Das mit dem ablenken.“ „Also, ich ...“ „Oh, es gibt keinerlei Veranlassung, die Situation zu rechtfertigen. Wir haben Pineria dazu erzogen, sich den Fesseln bürgerlicher Lebensart zu entziehen, Konventionen zu hinterfragen und sie nicht einfach so zu akzeptieren. Sie ist ein Freigeist.“ „Wissen Sie, Nele, ich glaube ihre Tochter ist weit weniger freigeistig, als Sie und ihr Mann denken. Sie scheint mir eher ... verträumt. Und verletzlich.“ „Ja. Das ist sie zweifellos. Aber muss das denn ein Widerspruch sein?“ „In mancher Beziehung schon.“ „Sie meinen in Beziehung Beziehung?“ „Äh ... ja.“ „Vermutlich haben Sie Recht.“, räumte Nele ein. „Aber wenn das Kind sich weiterhin nur vergräbt, ist damit auch nichts gewonnen. Und ausserdem ... Sie haben ganz richtig Verletzlichkeit bei meiner Tochter diagnostiziert. Das würde jemand, dem sie egal ist, niemals bemerken. Sie sehen also; ich vertraue Ihnen. Das dürfte dann auch der Grund sein, weshalb ich gegen Ihr ... Ablenkungsmanöver nichts einzuwenden habe. So, nun muss ich aber schleunigst wieder ins Bett. Gute Nacht!“ „Gute Nacht!“, sagte der Verführer ihrer Tochter artig. Also ... in spe. Verführer in spe. Zumindest wenn ihm nichts dazwischen käme. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)