Die Söhne des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz") ================================================================================ Kapitel 8: Pippa und die sieben und eins Lektionen des Herrn Song ----------------------------------------------------------------- „Schloss“ Tutuk, am Abend zuvor Lu Ten sass neben dem Kamin der grünen Bibliothek (Sprach- und Geisteswissenschaften, antike Sagen und Mythen) in „seinem“ Lieblingssessel. Die einzigen Geräusche, die die beschauliche Stille durchbrachen, waren das leise Knacken brennender Scheite und das zufriedene Schnaufen von Mimmi, die sich nicht davon hatte abhalten lassen, ihren Wolfsschädel auf seinem Knie abzulegen. UND natürlich das verschwörerische Flüstern, das Fräulein Tutuk mit diesem Ran austauschte. „Ich werd´s ihm einfach sagen!“, wisperte sie. „Ich glaube nicht, dass er ...“ „Sssscht!“ Der royale Bücherwurm blendete die komplette Szene aus und widmete sich mit betonter Konzentration der Sammlung altphilologischer Aufsätze, in die er nach dem Abendessen seine Nase gesteckt hatte. Wenn sie etwas von ihm wollten, würden sie es schon ... „Herr Song?“ „Ja?“ Er hob leicht den Kopf und wölbte fragend den Rand der durchbrochenen linken Braue. Sein Blick blieb weiterhin an den überlieferten Texten haften. „Ich ... wir haben ein klitzekleines Problem.“ „Ja?“ „Ja.“ Pinerias unruhig ineinander verschlungenen Finger gerieten in sein Sichtfeld und ließen ihn seufzend aufblicken. „Ich höre.“, sagte er, obwohl er wusste, dies gleich bereuen zu müssen. „Bezüglich der Unterkünfte. Wir ... haben nicht genug freie Zimmer.“, platze sie heraus. Seine Hoheit kannte ihre verschrobenen Gedankengänge mittlerweile gut genug, um zu wissen, was nun auf ihn zu kam. „In diesem Riesenkasten?“, fragte er kühl. „Sind alle vollgestopft mit Krimskrams.“, kam die Antwort. „Aber für eine Nacht könnten Sie bestimmt...“ „Nein.“ „Es wäre doch nur für eine Nacht. Morgen kann ich ein Zimmer für Nemo vorbereiten lassen.“ Ah, Säusel-Memme-Ran war heute erst angekommen, und schon waren wir bei „Nemo“? „Unmöglich.“ Gelassen blätterte Lu Ten eine Seite um. „Und warum, bitte sehr?“ Weil er eher in einer Besenkammer schlafen würde, als in einem Raum mit diesem Tintenkleckser. „Ich schnarche.“, behauptete er unverfroren. „Das macht nichts.“, beeilte Nemo sich zu sagen (als hätte der was zu melden). „Ich habe einen sehr tiefen Schlaf.“ „Und ICH schnarche ...“ Lu Tens Augenbraue zuckte warnend. „LAUT!“ Sollte diese dreiste Lüge ans Licht der Öffentlichkeit gelangen, hätte Prinz Mustergültig seinen Ruf als ehrenhafter, tadelloser, pflichtbewusster Mann glatt in die Tonne klopfen können. Doch er schmückte das Märchen munter weiter aus. „Nahezu ohrenbetäubend.“, sagte er genüsslich und lehnte sich in dem überaus bequemen Sessel zurück. „Oh?“, blinzelte Pippa. „Sie sehen aber gar nicht so aus.“ „Ich wusste nicht, dass dazu eine spezielle Physiognomie vonnöten ist.“ Jetzt blitzten seine Augen schon wieder so ... ungnädig. „I ... ist es auch nicht. Glaube ich.“ Fragend sah sie in Nemos Richtung. Der zuckte mit den Schultern, eine Studie unwissender Bescheidenheit. „Ich habe nicht die geringste Erfahrung mit Schnarchern.“, gab er zu. „Na bitte. Er kann also unmöglich in meinem Zimmer schlafen.“ Nach diesem Beispiel verdrehter, aber unwiderlegbarer Logik wurde das Buch in Lu Tens Schoß energisch zugeschlagen. Mit einer fließenden Bewegung erhob er sich. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“ Das Scharren riesiger Hundepfoten, die ihm aus dem Zimmer folgten, minderte die Wirkung seines Abgangs nur leicht. Die Nacht verbrachte er, dank seiner Unehrlichkeit und verblüffend funktionstüchtiger Atemwege in völliger Stille. Nur ... zur Ruhe kam er nicht. Am nächsten Morgen stand Lu Ten im Türrahmen der hellen, freundlichen Küche und analysierte die vorliegende Situation zum dritten mal. Das konnte einfach nicht wahr sein. Irgendetwas übersah er doch ... Vielleicht hatte er auch schon wieder verschlafen und träumte noch. Da sass dieser ausgelutschte Leisetreter, der gestern unaufgefordert hereingeschneit war, und frühstückte. Mit GENUSS! Er hockte auf SEINEM gottverdammten Stuhl und verspeiste etwas, das verdächtig nach Eiertoast mit warmem Ingwer-Honig aussah. Unverkohlt! Goldgelb! Köstlich duftend! Als Fabrikantin des appetitlichen Happens kam, so unbegreiflich es auch schien, nur die zerstreute, wie immer leicht zerzauste Tochter des Hauses in Frage, denn außer diesen beiden war keine Menschenseele anwesend. Eine Unschicklichkeit, die auf der hohen Stirn Seiner Hoheit tiefe Runzeln entstehen ließ. Wie KAM dieser Mensch dazu, ein genießbares Frühstück zu verspeisen? Wo zum Teufel war die rußige, pampig fettige Matsch-Kruste um seinen Toast? Wo war der klumpige, kristallisierte Honig, in dem sich die Brotkrümel einer ganzen Woche tummelten? Nein, DAS war zu viel. Lu Ten erkannte eine Kriegserklärung, wenn er sie bekam. „Morgen!“, knurrte er. Der verzückte brandneue Zweit-Assistent riss seinen Blick nur widerwillig von Miss Tutuk los. „Guten Morgen wünsche ich.“, näselte er. „Oh! Guten Morgen!“ Pineria sprang auf. Sie wirkte eindeutig wuselig und eindeutig ertappt. „Möchten Sie ... vielleicht auch etwas Toast?“, fragte sie hastig. „Nein!“, antwortete der Sohn des Erhabenen mit verschränkten Armen und unheilvoll verengten Augen. „Ich hätte gerne die gleiche Pampe wie sonst!“ „Die gleiche ...? Oh je ... äh, ja. Wie es aussieht, war wohl die Pfanne kaputt. Ich ... habe heute eine andere benutzt. Sie scheint viel besser zu sein.“ Pineria versuchte sich an einem strahlenden Lächeln. Das Weib log tatsächlich, ohne rot zu werden. „Wirklich?" Lu Tens Blick zuckte zu dem gusseisernen Monstrum auf dem Herd. "Seltsam. Sie sieht haargenau so aus, wie die alte.“ Der übertrieben schmeichelnde Tonfall stand in starkem Kontrast zu dem glühenden Lavastrom seiner Augen. „Selbst dieser Kratzer hier.“, fügte er knirschend hinzu. „Das ... das ... also, ich ...“ Verzweifelt suchte Pippa nach einer Ausrede. „Sind Sie Morgens immer so unausgeglichen, Herr, äh, wie war der Name doch gleich?“, rettete Nemo sie. „SONG!“, blaffte Herr, äh, Tatzu. „Ja, Song. Verzeihung!“ „Ich bin so ausgeglichen, wie man nur sein kann, HERR Ran!“ „Daskannmansehenwiemanwill.“, nuschelte Mr. Uneingeladen lebensmüde. „Bitte?“ „Ach Du liebe Güte!“ Pippas Blicke flogen von einem zum anderen. Diese Situation überforderte ihre soziale Kompetenz bei weitem. Was war denn da los? Klar war, dass die Chemie zwischen den beiden Männern höchst explosiv zu sein schien. Also musste einer der reaktiven Stoffe entfernt werden. Am besten die hitzige Komponente ... „Ob ich Sie wohl draußen sprechen könnte?“, fragte sie den vor ihr stehenden Riesen freundlich. Lu Ten merkte kaum, wie etwas an seinem Ärmel zerrte, da er viel zu inbrünstig damit beschäftigt war, diesen Schmalspur-Casanova anzufunkeln. Nachdem sie ihn endlich in den Garten bugsiert hatte, stellte Fräulein Tutuk ihren Assistenten zur Rede. „Verraten Sie mir bitte, warum Sie sich so aufführen?“ „Aber gern! Wenn SIE mir verraten, seit wann Sie kochen können.“ „Ich ... also. Seit wann? Na ja ...“ Himmel! Sie konnte ja schlecht zugeben, gedacht zu haben, er könne ein persönliches Interesse an ihr entwickeln, welches es zu ersticken galt. Er würde sie für noch bekloppter halten, als er es ohnehin schon tat. „Sie sagten stets, es würde schmecken!“, ging sie mutig zum Gegenangriff über. „Geben Sie meiner beklagenswerten Erziehung die Schuld.“, knurrte er. „Falls Sie mich loswerden wollen, genügt es durchaus, mir das ins Gesicht zu sagen, statt zu versuchen, mich mit ihrem Fraß dem ewigen Feuer zu überantworten!“ „Nein ... ich habe nicht versucht, Sie loszuwerden!“ „Sondern?“ „Es war Teil der Studie“, improvisierte Pippa, die Wahrheit nach eigenem Ermessen etwas ausdehnend. „Ach ja; das ominöse Experiment! Wollten Sie wissen, ob ich mich Vergiftungserscheinungen gegenüber resistent zeige? Oder, ob ich eines Mordes fähig wäre? Darf ich annehmen, dass der ach so ehrenwerte Nemo nicht als Versuchskaninchen herhalten muss?“ „Er ist ungeeignet.“ DAS hingegen war so wahr, dass es ihre vorangegangene Flunkerei bestimmt wettmachte. Schließlich ging es in ihrem Versuch um Attraktivität. Und Nemo hatte ungefähr die Anziehungskraft einer Kaulquappe. Er war klein, irgendwie zappelig und weckte Mutterinstinkte. Das war auch der Grund, warum sie ihm, wider besseren Wissens, eine ordentliche Malzeit kredenzt hatte. Erstens: Nemo Ran war ein zurückhaltender, bescheidener junger Mann, der bestimmt niemals aufdringlich werden würde. Ihn auf Distanz zu halten war schon allein deshalb ein Kinderspiel, weil er ihre Vital-Funktionen nicht im mindesten beeinflusste. Zweitens hatte er die Nacht auf dem viel zu kleinen Sofa der blauen Bibliothek (Astrophysik, Sternen-Kartographie und Astrologie) verbringen müssen. Und drittens und überhaupt, musste er ganz dringend aufgepäppelt werden! Der Hüne vor ihr jedoch nicht. Obwohl ... war er nicht etwas schmaler, als noch vor einer Woche? „Tut mir leid!“, entfuhr es ihr. „Ich meine ...das mit den verkohlten Broten.“ „Tatsächlich?“ „Ja. In Zukunft werden Sie nur noch anständige Malzeiten bekommen.“ „Ach. Dann sind Sie mit ihren Studien am lebenden Objekt also jetzt fertig?“ „Ja.“, murmelte sie. Leider! „Leider?“ „Ääh ...“ Oh Mist! Schon wieder verplappert! „Warum leider?“, hakte er nach. „Nur so.“ Weil ich von Dir nie etwas anderes ernten werde, als finstere Blicke. Nun, genau genommen war der Blick den sie nun bekam eher forschend. Und verflixt irritierend. „Aha. Und wie sieht es mit den anderen Mätzchen aus? Muss ich weiterhin diese albernen, gackernden Wasserkrug-Nymphen ertragen?“ „Miu und Bell? Sie finden Sie albern?“ „Gelinde gesagt: Ja. Zutiefst!“ Er fand die beiden hübschesten Mädchen des Dorfes also albern? Na, DAS war ja mal hochinteressant. Vielleicht gab es aber auch schlicht und einfach niemanden, den Mr. Perfect leiden konnte. Der Gedanke war ... ziemlich traurig. „Gibt es eigentlich Menschen, die Sie mögen?“ „Wie bitte?“ Sein Tonfall verhieß nichts gutes. „Ich ... Nur die übliche Neugier. Verzeihung.““ „Ja!“, fauchte er. „Es gibt durchaus Menschen, die mich mögen.“ „Oh Gott, nein! So war das nicht gemeint! Ich wollte vielmehr wissen, ob es Leute gibt, die von Ihnen gemocht werden.“ Agni! War er wirklich so unausstehlich? Überheblich? Arrogant? Weltfremd? Hatte sein Vater recht? War er so abgeschirmt, dass nichts mehr an ihn herankam? Wusste er am Ende ja gar nicht, wie normale Menschen miteinander umgingen? „Ich habe meine Familie.“, sagte Lu Ten sehr leise. Zum ersten Mal hatte Pineria das Gefühl, hinter seine Maske zu blicken. Der makellose Panzer hatte mit einem Mal haarfeine Risse bekommen. „Sie bedeutet Ihnen viel, nicht wahr?“ Warum zum Teufel wollte sie das alles wissen? Warum bohrte und scharrte sie in ihm herum? Konnte sie eine verschlossene Tür nicht einfach akzeptieren? Und warum ließ er das alles zu? „Ja. Sind wir bald durch mit der Psychoanalyse?“ Pippa fragte sich flüchtig, weshalb sie sich überhaupt je die Mühe gemacht hatte, ihm ihren Kampftoast vorzusetzen. Sie verärgerte ihn doch ohnehin mit allem was sie tat. Der Kloss in ihrem Hals wurde ein bisschen größer. Lu Ten seinerseits war sich ziemlich sicher, dass er, wäre seine Mutter in diesem Augenblick hier, eine kräftige Kopfnuss kassiert hätte. Denn in den Augen Fräulein Tutuks lag wieder einmal dieser verletzte Blick. Soviel also zu seinem Einfühlungsvermögen. Es sah ganz so aus, als funktioniere es nur bei Leuten, die er in- und auswendig kannte. „Entschuldigung.“, bat er steif. „Nein ... schon gut. Ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte.“, murmelte sie. „Ich werde zukünftig versuchen, nicht mehr so neugierig zu sein und Sie nicht mehr für irgendwelche Studienzwecke einzuspannen.“ „Aber ich bin hier, um Ihnen zur Hand zu gehen.“ Nachdenklich biss sie sich auf die Lippe. „Hm, Sie kategorisieren und katalogisieren doch gerne. Dann tun Sie von nun an eben das.“ Ach ... Man hatte jetzt wohl einen geeigneteren Kandidaten für die Feldstudien. Anscheinend war „man“ nur noch scharf darauf Nemilein ohne Hemd sehen. Lu Tens Kiefermuskeln verhärteten sich. „Fein.“, schnappte er schmallippig. „Gut.“ Etwas unschlüssig stand sie da, schielte zu ihm hinauf und knetete ihre Finger. „Tja ... wie gesagt. Ich muss ...“ Wage gestikulierte sie in Richtung Küche. „Ja.“ Er sah ihr nach, wie sie mit ihren unregelmäßigen Schritten zurück ins Haus ging. Heilige Asche! Hier stimmte etwas nicht. Er war unzufrieden. Launisch, unausgeglichen und ... na ja, eben unzufrieden. Was war los? Wo war sein Gleichmut geblieben? Diese Geduld, über die seine Eltern sich so oft wunderten. Wo zum Kuckuck war seine ... seine Lu Tenheit? Die innere Stimme, die ihn fast immer wissen ließ, was zu tun war. Ein paar lange Schritte brachten ihn zu einem ruhigen Sonnenplätzchen, wo er seinen bevorzugten „halben“ Lotussitz einnahm und die Augen schloss. Anscheinend war trotz des morgendlichen Tentos eine kleine Zwischenmeditation vonnöten. Einige tiefe Atemzüge später kümmerte sich Seine Hoheit einzig und allein um seine innere Sonne. Alles begann zu fließen, sich aufzulösen, eins zu werden. Sein Ego zerfaserte sich in der schieren Größe des Universums. ... ... ... `Kategorisieren!´ ... ... `Katalogisieren!´ ... also wirklich! ... ... Wofür hielt ihn dieses Mädchen eigentlich? Für einen Karteikasten? Oder einen Abakus? Einen Sozial-Phobiker? Dachte sie tatsächlich, er wäre ein gefühlsarmer Sonderling, ohne emotionale Bindungen? Wirkte er SO auf seine Umwelt? Nichts könnte weniger wahr sein. Für seine Familie würde er alles tun. ALLES. Lu Ten Aang Tatzu war jede Minute seines Lebens mit Liebe überschüttet worden und jede einzelne an die er sich erinnern konnte, hatte er diese Liebe vorbehaltlos erwidert. Fakt war jedoch, dass er, außer mit den Mitgliedern seiner Familie und deren Freunden, keine engen persönlichen Kontakte pflegte. Privatlehrer hatten ihm das gesamte, verfügbare Wissen dieser Welt zugänglich gemacht. So etwas wie Schulen kannte er nur vom Hörensagen. Aber das war noch lange kein ausreichender Grund zum Einzelgänger zu werden. Lee hatte schließlich auch keinerlei Probleme, Freunde zu finden. Doch, anders als bei seinem aufgeschlossener Bruder war dem Kronprinzen diese verdammte Zurückhaltung in die Wiege gelegt worden. Dieses allgegenwärtige Bewusstsein um seine Pflichten. Pflichten, denen er stets den Vorrang gegeben hatte. Dabei hatte ihn niemand dazu drängen müssen. Ganz im Gegenteil. Wie oft hatte Lady Jin ihm ein Buch aus der Hand genommen, um ihn nach draußen zu scheuchen. Wie oft hatte sein Vater ihn klammheimlich zu Streichen animiert? Und trotzdem; es hatte ihn geprägt, im Studierzimmer zu sitzen, seine Geschwister in den Gärten herumtollen zu hören, während seine Lehrer ihm sanft, aber unmissverständlich klargemacht hatten, er habe sich um wichtigeres zu kümmern, als Ballspiele oder Wasserschlachten. Damit hatte er auch nie ein Problem gehabt. Nicht wirklich. WOMIT er ein Problem hatte, war die Tatsache, dass es ihm das Feingefühl eines Rhinos beschert hatte. WOMIT er ein gravierendes Problem hatte, war das Gefühl, ein aufgeblasener Wichtigtuer geworden zu sein. WOMIT er ein wahrlich ausgewachsenes Problem hatte, war die Kränkung in den veilchenblauen Augen Pineria Tutuks. Lu Ten öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne. „Danke für diese Erkenntnis!“, seufzte er resigniert. Offensichtlich musste er das Wissen, nur ein kleines Staubkorn im Gefüge der kosmischen Ordnung zu sein, noch tiefer in sich verankern. Er erhob sich und wäre beinahe über Mimmi gestolpert. Sie schien sich für kleine Staubkörner sehr begeistern zu können, denn sie sass hechelnd da, blickte ergebenst zu ihm auf und klopfte erwartungsvoll mit dem Schwanz auf den Boden. „Also schön.“, murmelte Lu Ten. „Stöckchen werfen?“ Zustimmendes Bellen war zu hören. Aber darauf durfte man sich nicht zu viel einbilden, denn Mimmi hätte ALLE Pläne dieses speziellen Zweibeiners abgesegnet, ohne mit der Lefze zu zucken. Da im Augenblick keinerlei Pflichten auf ihn warteten, stürzte Seine Hoheit sich in eine hirnlose, ausgelassene Toberei mit dem eselkälbergroßen Schoßhündchen seiner Arbeitgeberin. Pippa versuchte schon seit einer Weile, die Quelle der seltsamen Geräusche auszumachen. Hinter dieser Hecke? Oder dieser? Nein ... aus Richtung Sonnenuhr. Mimmi knurrte grollend. Und irgendjemand atmete schwer. Hatte der Hund einen ahnungslosen Menschen als Beute deklariert? „Gute Güte!“ Sie lief, so schnell ihr steifes Knie es zuließ. Dann stoppte sie, so schnell ihre Reflexe es zuließen. Und starrte mit offenem Mund auf die Szene hinter der hohen Buchsbaumhecke. Da ... da war ihr Assistent. Ihr strenger, korrekter, zurückhaltender Assistent. Er war, unglaublich aber wahr, zerzaust und derangiert, zog und zerrte am Ende seines eigenen Ledergürtels, während Mimmi ihre Zähne in das andere Ende gegraben hatte und es leidenschaftlich beutelte. „Ist das alles, was Du zu bieten hast, Flohschleuder?“, schnaufte Lu Ten und beschloss kurzerhand, das Tauziehen für sich zu entscheiden. Mit einem kurzen, wohlkalkulierten Ruck. Leider war das der Moment, indem der Wolfshund die Witterung seines Frauchens aufgenommen hatte ... Ohne die berechnete Gegenkraft des kolossalen Hundegebisses lief Lu Tens Körperkraft Amok und wendete sich gegen ihn selbst. Sein fürstliches Gesäß kam in unerwarteten, harten Kontakt mit dem Erdboden. Prompt stürzte Mimmi sich mit den ganzen, ihr zur Verfügung stehenden zwei Zentnern auf ihn. Pineria hätte sich ja gezwickt, wenn sie nicht so starr vor Staunen gewesen wäre. Das da war tatsächlich Herr Song, der sich mit ihrem Hund auf dem Boden balgte. Und ... und ... er lachte. LACHTE! Ein tiefes, grollendes, ungezähmtes Lachen, welches einfach so aus ihm herausbrach. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh über die mangelnde Flexibilität ihres rechten Beines, denn es bewahrte sie davor einzuknicken. Das, und die Hecke, an die sie lehnte. Sein Gesicht ... Grund Gütiger! Sie hätte nie angenommen, das sich die Mine eines Menschen so verändern konnte. Da war kein Schimmer der üblichen Unnahbarkeit, keine Spur der sonstigen, nie nachlassenden Kontrolle. Nur ein übermütiges, unglaublich ansteckendes Strahlen. Der Mensch hatte tatsächlich Lachfältchen! Lachfältchen und ... „Gute Güte!“, hauchte sie. „Ein Grübchen?“ Mimmi drehte den Monsterkopf in ihre Richtung und bellte auffordernd. Ihr Spielgefährte rappelte sich halbwegs auf und lag, auf die Ellbogen gestützt, auf dem zerdrückten Rasen. In den goldenen Augen, die nun in ihre starrten, tanzten noch immer winzige Feuerkobolde, funkelte für den Bruchteil einer Sekunde noch immer dieses überschäumende Lachen. Doch dann verlosch das Schimmern langsam, und mit ihm auch das unerwartet köstliche Grübchen. „Ist etwas?“ Mit einem Schlag war er wieder ihr pflichtbewusster Assistent. Ernst und gefasst wie eh und je, selbst wenn er zerrauft am Boden lag. „W ... was?“, stammelte Pippa. „Brauchen Sie mich?“ Mögen die Götter ihr beistehen, aber das tat sie! „Was? ... Äh, nein!“ Sie versuchte verzweifelt, endlich ausreichend Sauerstoff in ihre Lungen zu bekommen. „Ich wollte nur sagen ... also, Eri lässt fragen, ob Sie noch frühstücken möchten.“ „Ja. Danke.“ Inzwischen war er aufgestanden und behob mit einigen, wenigen Handgriffen die Unordnung seiner Erscheinung. Die herumspringende Mimmi brachte er mit einem knappen „Sitz!“ augenblicklich zur Ruhe. Ein keiner, eifersüchtiger Stich durchfuhr Pippa. Ihr Hund schien diesen Mann ja zwischenzeitlich zu vergöttern. „Ist wirklich nichts?“ Diese hellen Augen sahen eindeutig zu viel. „Nein!“, sagte Pippa mit etwas trotzigem Unterton. „Was sollte sein?“ „Ich habe keine Ahnung.“ Für den Rest des Tages durfte Lu Ten sich erstaunlich sinnvollen Aufgaben widmen. Er stürzte sich förmlich in die Arbeit und bereits am Mittag hatte er es geschafft, das urzeitliche Tohuwabohu in ein vorsortiertes Chaos zu verwandeln, das seinem Organisationstalent und Ordnungssinn nicht mehr viel entgegenzusetzen hatte. Er war völlig in seinem Element. Erstellte Register, Listen, Register der Listen und Listen der Register. Das ganze wurde schließlich einer ausgeklügelten Kartei einverleibt, die eine Suche nach Themen, Datum und Alphabet zuließ. Selten hatte Seine Hoheit mehr Spass gehabt. Auch der kommende Abend verlief recht unerwartet. Pinerias Eltern waren beim Essen ausgesprochen redselig. So redselig, dass sie die wortkarge Zurückhaltung zwischen ihrer Tochter und deren persönlichem Assistenten nicht bemerkten. Sie schwatzten über Götter und Welten, Wissenschaft und Spekulation. Beide Gäste wurden mühelos ins Gespräch einbezogen. Nur Pippa stocherte lustlos in ihrem Essen und lauschte mit halben Ohr, wie ihr Vater Lu Ten eben um seine Meinung zum Thema „Messverfahren der anorganischen Chemie“ bat. NATÜRLICH waren seine verdammten Antworten klug, durchdacht und fundiert. Na klar. Sicher. Mr. Perfect wusste selbstverständlich auf allen Gebieten bescheid. Mr Perfect war sogar in der Lage, einen Fehler in einer recht unklaren Rechnung ihres Vaters zu finden. Mr. Perfect konnte auch wertvolle Ratschläge zur derzeitigen Arbeit ihrer Mutter abgeben. Er war ja „Ach, so vielseitig“! Mr Perfect schmeckte sogar die feine Kurkuma-Note aus Eris köstlichem Essen heraus. Mr Perfect war heute ja wirklich enorm zugänglich, enorm geistreich und beinahe enorm charmant. Ihre Eltern zeigten sich hingerissen. Seine Allgemeinbildung sei nahezu schwindelerregend. Ob er auch ein Spezialgebiet habe? Politikwissenschaften und Geschichte? Wirklich? UND Soziologie? Faszinierend! Ob das keine trockenen Themen wären? Aber NEIN, weit gefehlt! Mr. Perfect war in der Lage diese totlangweiligen Sachgebiete überaus farbenreich und anschaulich zu umreißen. Mr. Perfect hing ihr allmählich mächtig zum Hals raus! Sie wollte ihn nicht mehr hier haben. Sie wollte sich nicht mehr so vollkommen unvollkommen fühlen, wenn er in der Nähe war. Sie wollte sich nicht mehr fragen müssen, ob er ihr vielleicht wohlgesonnen wäre, wenn sie „Mission-Abschreckung“ nicht gestartet hätte. Sie wollte sich nicht mehr dem subtilen Unmut dieses funkelnden Blicks aussetzten. Sie wollte sich nicht mehr kindisch, linkisch oder albern vorkommen. Sie wollte endlich wieder ihre blöden Liebesschnulzen lesen können, ohne dabei ständig SEIN Gesicht vor sich zu sehen. Und sie wollte nicht jedes mal, wenn sie ihm über den Weg lief diesen Stich im Innern spüren. Doch sie lief ihm über den Weg. Ziemlich direkt nach dem Essen. Er sass in der grünen Bibliothek vor dem Kamin und spielte Pai-Cho mit ihrem Vater. „Pippa, Kind! Setz Dich ein wenig zu uns. Wir haben ganz köstlichen Tee.“ „Ich ... wollte eigentlich nur ein Buch holen.“ „Ah, Schnickschnack. Du musst Dir ansehen, wie dieser Junge Pai-Cho spielt. Wahrhaft seltsame Strategie. Waswas?“ „Eine Strategie, die Ihnen eine Niederlage bescheren wird, fürchte ich.“, bemerkte Lu Ten und machte einen Zug. „Niederlage? Ich?“ Beo lachte gackernd. „Das wäre aber das erste ...“ Stirnrunzelnd starrte er auf das Spielbrett. „Verdammt!“ Erneut studierte er die Lage aller Steine. „Haben Sie geschummelt?“, fragte er neugierig, ohne die geringste Spur eines Vorwurfs. „Nein.“, erwiderte sein Gegner ruhig. „Aber in drei Zügen werde ich die Partie beenden.“ „HA!“ Mit zusammengekniffenen Augen suchte Professor Tutuk, nach einem Ausweg. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, ein vorangegangenes Gesprächsthema wieder aufzugreifen. „Hm ... dieser Tentu, von dem Sie sprachen ...“ „Tento.“ „Ah. Ja. Tento. Ist also ein überliefertes Sonnenritual? Von wann,“, er verschob einen seiner Steine, „ist die erste schriftliche Überlieferung?“ „Aus dem Jahr 47.“, antwortete Lu Ten. „Hochinteressant! Und Sie glauben wirklich, sie stammt aus der Feder des ersten Feuerlords? Tatzu?“ „Ich glaube es nicht, ich weiß es!“ „So? Woher wissen Sie das denn so genau?“ „Ich habe die entsprechenden Aufzeichnungen studiert.“ Der ausnahmsweise scharfe Blick der grauen Augen des Professors traf ihn. „Die Originale? Die werden im Palast aufbewahrt, sagt man.“ „Ja, das werden sie.“ Lu Ten und nahm einen von Beos Steinen vom Feld. „Pai.“, murmelte er beiläufig. „Was? Da soll mich doch ... Sie beschummeln doch!?“ „Nein. Ich nutze lediglich Ihre Ungeduld zu meinem Vorteil.“ „Ungeduld? Schnickschnack!“ Hastig versuchte Professor Tutuk seine letzten Steine durch einen kühnen Zug zu retten. „Mhm.“ Eine letzte Bewegung auf dem Brett beendete das Spiel. „Cho Tsum!“, sagte Seine Hoheit ruhig und verkündete somit seinen Sieg. „Ts!“, machte Beo. „Ts! Na so was! Revanche?“ „Wenn Sie möchten.“ „Natürlich! Kann doch keine Niederlage auf mir sitzen lassen!“ Ein leichtes Lächeln dämmerte auf dem Gesicht von Mr. Perfect. Pippa schluckte. Höchste Zeit, sich das Buch zu schnappen und zu verschwinden. `Schau einfach nicht hin, Pineria. Um irgendwelche Lachfältchen oder -furchen brauchst Du Dich nicht zu kümmern. Ignorieren, ignorieren, ignorieren!´ „Wem möchtest Du imponieren, Kind?“ „Ich ... WAS? Niemandem! Absolut niemandem!“, versicherte sie hastig. Das große Buch fest an sich gedrückt. „I ... improvisieren, sagte ich. Kann das Buch, das ich wollte nicht finden. Also muss ich improvisieren.“ „Ah. So.“, meinte ihr Vater zerstreut, da die zweite Partie bereits eröffnet war. „Welches Buch suchen Sie denn genau?“ Gute Güte! Musste ER sich einmischen? „Bitte?“ „Welches Buch?“, wiederholte ihr Assistent geduldig. „Äh ... äh. Die ... äh, Kultur der Feuerweisen.“ „Ach. Interessant. Steht, soviel ich weiß, da drüben im Regal.“ „Oh. Äh. Wo?“ „Da wo es hingehört. Unter N, wie Nuruk. Der Autor.“, fügte er hinzu, als sie ihn verständnislos anblinzelte. „Ja. Danke.“, hauchte Pippa. Sie hinkte in die angegebene Richtung. Vielleicht konnte er dann ihren hochroten Kopf nicht sehen. Nach einem wirklich sehr knappen „Nacht“ floh sie aus dem Zimmer. Endlich draußen, lehnte sie sich gegen die Tür, schloss die Augen und wartete, dass das Zittern aufhören würde. Agni! Sie war so eine dumme Pute! Warum konnte sie in seiner Gegenwart ihren Verstand nicht beisammen halten? Warum führte sie sich auf, als sei ihr ein dicker Felsbrocken auf den Schädel gestürzt? Warum benahm sie sich wie eine tollpatschige Halbwüchsige? Warum konnte sie in der Nähe dieses Mannes nicht einfach normal bleiben? Weil sie nicht normal war. Punkt. Sie war schrullig. Seltsam. Nicht kompatibel. Und zum ersten Mal in ihrem Leben als Erwachsene trieb ihr diese Tatsache die Tränen in die Augen. Zum ersten Mal, seit langer, langer Zeit hätte Pineria Tutuk alles dafür gegeben, normal zu sein. Sie nahm einen tiefen, wackligen Atemzug und stieß sich von der Tür ab. Es ist schwer, zu sagen, wie es zu folgenden Ereignissen kommen konnte. Auf jeden Fall spielte das Gefühl der Unzulänglichkeit, das Pippa plagte eine wesentliche Rolle. Und die Tatsache, dass sie zur Abwechslung mal einfach nur gemocht werden wollte mit Sicherheit auch. Jedenfalls lief sie zwei Zimmer weiter, dem privaten Archiv ihrer Eltern, Nemo Ran in die Arme. „Miss Pineria!“ „Oh. Nemo. Wie kommen Sie hier her? Haben Sie sich verlaufen?“ Kläglich sah er ihr in die Augen. „Es ist alles ... so unübersichtlich.“, murmelte er entschuldigend. „Wie wahr!“ Sie lächelte ihn beruhigend an. „Wenn ich zerstreut bin, lande selbst ich in den falschen Zimmern.“ „Sie sind zu gütig!“ Himmel. Er sah sie an, als denke er das wirklich. Er sah sie nicht an, als fasele sie wirres, unverständliches Zeug. Er gab ihr auch nicht das Gefühl, seine Geduld auf sträfliche Art und Weise überzustrapazieren. Nein, im Gegenteil. Nemo Ran betrachtete sie mit einer ungewohnten, tiefen Ehrerbietung. Er schien sie in keiner Weise seltsam, oder nervenaufreibend zu finden. Er war der bisher einzige Mann, der Pippa ansah, als würde er sie gerne ... „Würden Sie mich küssen?“, platze Pippa heraus. Nemo starrte sie an. Bei den Göttern ... das war ja nun wirklich einfacher, als er gedacht hätte. „K ... küssen? Jetzt?“ „Ja. Für eine Studie.“ „Wie? Äh ... Studie?“ „Eine Studie. Über den Fortpflanzungstrieb. Menschliches Balzverhalten. Ich würde gerne wissen, warum man sich überhaupt küsst.“ „Äh ... nun.“ Na bitte! Nicht einmal Nemo konnte sich dazu überwinden. Ihre persönliche Ausstattung war eben einfach zu miserabel. „Wenn sie nicht wollen, müssen Sie es nicht tun.“, murmelte sie, leicht gekränkt. „Nein! Ich will ja.“ „Oh!“, blinzelte Fräulein Tutuk. „Gut.“ „Ja ... also ...“ „Bevorzugen Sie eine bestimmte Haltung?“ „Was?“ „Ich meine ... möchten Sie es im Stehen machen? Oder im Sitz... Gmpf!“ Ganze Zehn Sekunden lang, versuchte Pineria dahinter zu kommen, was DARAN so toll sein sollte. Um sich voll und ganz auf die Sache konzentrieren zu können, hatte sie ihr schweres Buch inzwischen auf einer kleinen Kommode abgelegt. Sie hatte sogar die Augen geschlossen, weil es so in den Romanen stand. Da dies aber nur dazu führte, dass sie sich der feucht-labbrigen Konsistenz der Männerlippen umso bewusster wurde, öffnete sie sie schnell wieder. Es brachte jedoch keine besondere Verbesserung. Sie runzelte die Stirn. Na ja, wenigstens war sein Mund jetzt nicht mehr so klamm und kalt, wie zu Beginn. Trotzdem ... es war, als würde man sich eine Nacktschnecke an die Lippen halten. Eine Nacktschnecke, die versuchte ZWISCHEN ihre Lippen zu gelangen??? Also, das war jetzt eher ... unappetitlich. Sie unternahm einen dezenten Versuch, Nemo von seinem Tun abzubringen, indem sie ihm sanft auf den Rücken tippte. Vergeblich. Die Schnecke wurde sogar erstaunlich agil und verdoppelte ihre Anstrengungen. Pippa die ihrigen ebenfalls. Sie drückte die Hände gegen seine Schultern. Doch irgendetwas schien sein Wahrnehmungsvermögen zu trüben, denn jetzt umklammerte er sie hingebungsvoll. Das Drahtgestell ihrer Brille drohte zu verbiegen, der Druck seines Mundes wurde unangenehm fest. Also ... das ... NEIN! Was wollte er denn jetzt mit seiner Zunge??? Igitt! Sie begann nun ernsthaft ihre Gegenwehr einzuleiten und stemmte sich gegen ihn. „Verzeihung!", schnarrte eine brüske Stimme durch den Raum. "Mir war nicht bewusst, dass ich störe.“ Pippa wurde so abrupt losgelassen, dass sie gegen die Kommode taumelte. Oh Nein! Nicht das! Bitte nicht das!!! Warum musste ausgerechnet ER in diesem Moment auftauchen? Was tat er überhaupt hier? Resigniert zwang sie sich, die Augen zu öffnen. Herrn Songs Mine war selbstredend nicht die geringste Regung abzulesen. Lediglich seine, durch die Narbe leicht angehobene Braue schien distanzierte Missbilligung auszudrücken, die ebenso kühl war, wie sein Blick. Pippa sah sich diesem Blick ausgesetzt, unfähig den eigenen abzuwenden. Dabei wollte sie nur noch verschwinden und weinen. Nemo räusperte sich. Ach ja ... der war ja auch noch da. „Stören? Keineswegs. Ich habe ... Pineria lediglich eine gute Nacht gewünscht.“ „Ja. Ich bin sicher, die wird sie haben.“, meinte Lu Ten nur und beobachtete das seltsam betreten wirkende Waldkäuzchen eingehend. „Ihr Vater bat mich, diese Notizen von ihm hier einzulagern.“, sagte er schließlich. „Tatsächlich?“, wisperte Pippa. „Nun ... ich werde mich jedenfalls zurückziehen. Gute Nacht allerseits.“ „Gute Nacht Nemo.“ „Nacht.“ Nemo verließ den Raum recht zügig. Fast so, als wüsste er, was gut für ihn war. „Nach welchen Gesichtspunkten sind die Schriften geordnet?“, verlangte Seine Hoheit zu wissen. „Rechts die Sammlung meines Vaters, links die von Mutter.“, murmelte sie tonlos. „Keine weitere Aufteilung?“ „Nein. Doch. Weiter vorn liegt der neuere Kram.“ „Kram? Verstehe.“ „Ich ... ich glaube nicht, dass ... dass Sie das tun. Das hier ... was Sie gesehen haben ...“ „Geht mich nichts an.“ „Ja. Aber ... ich. Ich hab ihn darum gebeten.“ „FRÄULEIN Tutuk.“, abrupt drehte er sich um. Ach Du Schande. Jetzt hatte sie den Salat. Sie befand sich mit einem Mal im Fokus kalt glühenden Goldes. „Was Sie tun und lassen, ist allein Ihre Sache. Sie können auch küssen WEN, was und wann Sie wollen!“ Dass eine derart tiefe Stimme so hart klingen konnte ... „Aber ... es war nur ein Experiment.“ „Ihr Privatleben ist ... WIE bitte?“ „Forschungsarbeit für meine Studie, sozusagen.“, flüsterte sie mit verschränkten Fingern. „Das ist lächerlich!“, entfuhr es ihm, zorniger als gewollt. „Was für eine Art Versuch sollte das bitte schön darstellen? Das kauft Ihnen doch keiner ab! Und es ist auch irrelevant, da es mich nichts angeht.“ Mittlerweile hatte Herr Penibel ein Plätzchen gefunden, das ihm zusagte. Er legte das Notizbuch des Professors ab und hielt inne. „Was für eine Studie?“, knirschte er, wider besseren Wissens. „Menschliches Balzverhalten. Die Grundlagen gegenseitiger Anziehungskraft. Meine ganzen letzten Forschungen haben sich um ... um das Thema menschlicher Fortpflanzungstaktiken gedreht. Darum habe ich Sie auch immer wieder zu den Mädchen geschickt und all das. Verstehen Sie? Da ... da Sie nach allen gesammelten und ausgewerteten Daten als ein ... ein über die Maßen attraktiver Mann eingestuft werden konnten, wollte ich Ihre Wirkung auf Frauen erkunden.“ Lu Ten war sprachlos. Und er wusste nicht einmal, welcher ihrer haarstäubenden Bemerkungen er diesen Umstand zu verdanken hatte. Da er sie nur verständnislos anstarrte, referierte Pippa in ihrer Ausweglosigkeit einfach weiter. „Jedenfalls scheint das Küssen ein wichtiger Bestandteil der Sexualität zu sein, darum wollte ich etwas mehr darüber erfahren, Allerdings ist es mir nach wie vor ein Rätsel. Ich konnte dem Vorgang nicht das Geringste abgewinnen.“ Unnötig, zu erwähnen, dass sie plapperte, wenn sie nervös war... „Sie wollten etwas über das Küssen erfahren?“, fragte Lu Ten verdattert. „Ja.“ „Und nun sind Sie mit dem Ergebnis unzufrieden?“ „Das kann man so nicht sagen. Ich fand es eher ... unhygienisch. Wie lauwarmes Sushi. Aber vielleicht sind meine Triebe einfach nicht weit genug entwickelt. Jedenfalls werde ich diesen speziellen Versuch nicht wiederholen. Es ... sagt mir nicht sonderlich zu.“ „Sie fanden es unhygienisch?“, echote er. „Ja.“ „Und jetzt schließen Sie einfach daraus, dass Ihnen das Küssen nicht zusagt?“ „Äh ... ja. Warum auch nicht?“ „Weil es ganz erhebliche Unterschiede gibt.“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kaum merklich, wurde irgendwie ... selbstgefällig. „Wenn Sie keinen Gefallen daran fanden, scheint Nemo nicht in der Lage gewesen zu sei, Ihnen das Erlebnis in seiner vollen Bandbreite zu vermitteln.“ Mittlerweile sah er sie auf eine Art an, die doch ziemlich beunruhigend war. Als wäre das nicht genug, kam er langsam aber sicher näher ... „Unterschiede? W ... wirklich? Interessant.“, Pippa versuchte krampfhaft, neutral zu klingen. „Ah. Die Neugier. Eine starke Triebfeder, nicht wahr? Werden Sie jetzt durch die Gegend rennen, und um Küsse betteln?“ „Ich ... nein! das heutige Ergebnis reicht mir völlig. Ich sollte jetzt wirklich geh...“ „Das ist aber kein besonders gründliches Vorgehen, für eine Wissenschaftlerin. Um etwas so komplexes zu erfassen, muss man sehr bedacht vorgehen.“ Seine Stimme war mit jedem Wort rauer geworden. Wie ein hypnotisiertes Murmelkaninchen starrte sie auf seinen Mund. Es war, trotz der recht schmalen Lippen, ein ausgesprochen formschönes Exemplar. So ... symmetrisch. Energisch. Fest. Er sah so gar nicht nach lauwarmem Sushi aus. Und er murmelte diese Dinge, die sie ganz kribbelig machten. „Sie sollten sich vielleicht jemanden suchen, der ihnen die unglaubliche Vielfalt dieser Beschäftigung detailliert darlegen kann.“ Er war jetzt so nah, dass sie seine Körperwärme spüren konnte .... Was hatte er gerade gesagt? „Was?“, quiekte Pippa, „N ... nicht nötig! I ...ich scheine das ganze nicht wirklich ... zu mögen.“ Warum ihr Herz dann so raste, blieb ihr allerdings schleierhaft. Ihm jedoch nicht. Sein Blick glitt zu ihrer Halsschlagader. „Wirklich? Aber Ihr Pulsschlag ist bereits erhöht.“ Blitzmerker! „W ... weil Ihr Verhalten ... unangemessen ... ist.“ „Ich nehme an Nemos war angemessener?“ Als er auf diese Spitze hin ein irritiertes Eulenblinzeln erntete, umfasste er mit einer Hand ihr Kinn und hob es sanft an. „Sie sollten mit ihrem Urteil über das Küssen nicht zu vorschnell sein.“ Sein Kopf neigte sich langsam und warmer, schmeichelnder Atem strich über ihre Lippen. „Vielleicht sollte ich es anhand praktischer Beispiele erläutern? Als Ihr Assistent habe ich immerhin gewisse Pflichten.“ Das klang so verlockend logisch! „Ich denke, wir beginnen mit dem neckenden Kuss.“ Sein Flüstern war nur Zentimeter von ihrem Mund entfernt. „Er besteht aus nichts, als der Verheißung. Spielt mit einem Versprechen, das er niemals erfüllen wird.“ Für einen winzigen Augenblick streiften warme Lippen kaum merklich die ihren. Schon jetzt war Pineria aufgelöster, als sie es sich hätte träumen lassen. Um den Kontakt mit der Realität nicht zu verlieren, hatte sie ihre Hände flach an die Wand hinter sich gelegt. „Dann ... der Schüchterne? Er nähert sich niemals frontal. Setzt nichts voraus.“ Kurz, ganz sacht wurden ihre Mundwinkel gekost. „Hmm.“, entfuhr es Pippa wider Willen. „Ah ... Sie kommen auf den Geschmack.“ Nein. eben nicht, verflixt noch mal. Er ließ sie herzlich wenig schmecken. Aber, er war ja, Agni sei Dank, noch nicht fertig. „Der Zurückhaltende. Dieser Kuss verleugnet sein Begehren und knistert dabei vor Ungeduld.“ Nun übten seine Lippen wohlberechneten, verlockenden Druck aus und ihre eigenen begannen derart zu prickeln, dass sie meinte er müsse es auch spüren. „Da gäbe es noch den Ehrerbietigen. Er ist selbstlos, zart, trachtet im Stillen nach mehr.“ Nun umfasste er mit beiden Händen ihr Gesicht und küsste sie mit einer Sanftheit und Süße, die eine unerklärliche Sehnsucht weckten. Als er den Kopf wieder hob, folgte sie der Bewegung, um das Ende des Kusses so lange wie möglich hinauszuzögern. Mit einer Stimme, die sich nicht mehr ganz wie die seine anhörte, fuhr er fort sie zu martern. „Jetzt vielleicht den Verspielten?“ Er klang leicht atemlos. Pippa entfuhr ein kleines Ächzen. Sein entspannter, ganz leicht geöffneter Mund strich ohne erkennbares Muster hierhin, dorthin, liebkoste sie scheinbar ziellos, bis sie glaubte, ihre Ungeduld hinausschreien zu müssen. Um ihm einen dezenten Hinweis zu geben, grub sie die Hände in den Stoff seines Kimonos und zerrte ihn näher. „Der Zärtliche.“, raunte er, während er ihr vorsichtig die Brille von der Nasenspitze nahm und beiseite legte. Da sie ohnehin alles verschwommen wahrnahm, war das auch egal. Jedenfalls wurden ihre Knie tatsächlich NOCH weicher. So weich, dass sie wankte. Heiße, feste, leicht raue Lippen umwarben sie, brachten ihre dazu, sich kaum merklich zu öffnen. „Der Forschende ...“ Gute Güte! Er brachte seine Zungenspitze mit ins Spiel und erkundete fragend Beschaffenheit, Kontur und Geschmack des zu erobernden Terrains. Doch anders als bei, wie war sein Name doch gleich, war dies überwältigend, berauschend. Befriedigt merkte Lu Ten, wie Miss Tutuk die Arme um seinen Hals schlang. Ihre Finger verirrten sich im Haaransatz seines Nackens. „Fehlt noch der Leidenschaftliche.“, wisperte er gegen ihren Mund. „Fändest Du es sehr unhygienisch, Deine Lippen für mich zu öffnen, Pineria?“ Pippa konnte nicht mehr anders; sie umklammerte mit beiden Händen seinen Kopf, presst sich an ihn und holte sich diesen Kuss. Sie war schon immer gelehrig gewesen und schließlich war das ja wohl das Ziel seiner schwindelerregenden Pädagogik, oder nicht? Ihr Gehirn, das von den kurzen, aber intensiven Lektionen schon mehr als benebelt war, schaltete komplett auf Wahrnehmung. Es gab keine Gedanken mehr, keine Ideen, keine Fragen, keine Antworten. Zum ersten Mal gab es für die gebildete, belesene Pineria Tutuk nur fühlen, riechen, schmecken, schmelzen, vergehen, hingeben. Mit allen Sinnen. Mit vollem Eifer. Sie genoss es. Genoss die feste Hitze, gegen die sie gepresst wurde. Inhalierte den Duft seiner Haut, seines Haars, seines hetzenden Atems. Schwelgte in den warmen Aromen des gestrengen und jetzt so ungestümen Mundes. Das herausfordernde Spiel seiner Zunge, zuerst neckend, dann drängend, imitierte sie begierig. Sie versuchte sich noch enger an ihn zu schmiegen, klammerte sich fest und gab kleine, schmachtende Laute von sich. Ihr Assistent hatte seine Sinne noch beisammen. Aber nur grade mal so. Agni! So ungenießbar ihre morgendlichen Malzeiten auch gewesen waren, so unglaublich delikat war die Köchin selbst. Er, der er die raffiniertesten Arrangements gekostet, die teuersten Spezialitäten versucht und sich an den herrlichsten Verlockungen ergötzt hatte, hatte doch nie etwas derart köstliches genossen wie Pineria Tutuk. Sie war wie eine erlesene Komposition der kostbarsten Gewürze aus aller Welt. Noch nie hatte Lu Ten Tatzu, Kronprinz der Feuernation etwas vollkommeneres geschmeckt, als dieses kleine, wissbegierige Persönchen. Klein, wissbegierig und eifrig. So eifrig, dass er beim besten Willen nicht imstande war, den Kuss zu beenden. Er hätte es tun sollen! Stattdessen umfasste er ihren Nacken und vertiefte diesen verdammten Kuss noch, bis seine Vernunft, seine unbestechliche, unerschütterliche Vernunft kaum noch etwas zu melden hatte. Doch es gelang ihm trotzdem, sie Sache zu beenden. Zumindest das mir dem Küssen ... Heftig atmend standen sie da, die Lippen quälend nah beieinander. „Ich hoffe ... Sie werden Ihre Meinung zu diesem Thema nun überarbeiten.“, flüsterte er rau. Was? Welches Thema? Momentan war sie mehr als bereit, jede Meinung zu vertreten, die ihm so vorschwebte. Zu ihrem Leidwesen löste Lu Ten sich vollends und trat einen Schritt zurück. „Gute Nacht, Fräulein Tutuk.“, sagte er leise. „Ja.“, hauchte Pippa vage. „Gute Nacht.“ Einige Zeit nachdem er das Zimmer verlasen hatte, merkte sie, dass ihre Brille nicht dort war, wo sie hingehörte. Aber irgendwie war ja nichts mehr da, wo es hingehörte. Feuerpalast, am nächsten Morgen Lady Jin erreichte den Feuerpalast wesentlich früher als erwartet. Ihre Ungeduld, endlich nach Hause zu kommen, hatte dazu geführt, dass sie ihre arme Dienerschaft zu nachtschlafender Zeit aus den Federn gescheucht und ungewohnt despotisch durch die Gegend gejagt hatte. Allerdings hatte sie keine sonderliche Begabung für die Tyrannei. So war es wohl eher der unerschütterlichen Routine der gut geschulten Mannschaft Seiner Lordschaft zu verdanken, dass sie den Schauplatz der Konferenz ohne gravierende Zwischenfälle hatten verlassen können. Noch bevor das Flugtier festen Boden unter den Tatzen hatte, hampelte Mylady auf ihrem Sitz umher und wäre beinahe zu früh auf den harten Marmorboden der Realität gehüpft. Nur ihr persönlicher Leibwächter und seine jahrelange Erfahrung mit ihrer Schusseligkeit bewahrten ihren Knöchel vor einem überaus schmerzhaften Zwischenfall. In ihrer üblichen Unbekümmertheit klopfte sie ihm auf die Schulter und strahlte ihn dankbar an. Dann hatte sie allerdings wichtigeres zu tun, wendete sich der kleinen, wartenden Menschenmange zu und stockte prompt. Moment ... die Menge war zu klein. Also ... jedes EINZELNE Mitglied der Menge war zu klein! Wo zum Urschlamm war Lord Langbein? Sie verschwendete keine Zeit mit Begrüßungsfloskeln, sondern drückte ihre drei anwesenden Kinder kurz aber fest an sich und kam sofort zur Sache. „Wo ist denn euer ...“ „Jin, Mädel! Prächtig siehst Du aus.“, lenkte Iroh Tatzu geistesgegenwärtig ein. „Iroh!“ Auch der General wurde nun stürmisch geherzt. „Wie schön Euch zu sehen. Zuko ist bestimmt überglücklich, Euch wieder hier zu haben.“ „Hm ... so in etwa.“ „Ja, aber wo ist er de ...“ „Knubbelchen! Wie wäre es, wenn Du erst mal die ANWESENDEN begrüßt?“, fragte eine ältere Dame streng. „Entschuldige, Tante Ria.“ Liebevoll umarmte Jin ihre Ersatzmutter. Das war nun aber wirklich das letzte Eingeständnis, zu dem sie bereit war. „Sagt mir jetzt mal jemand, wo mein werter Gatte steckt?“ Der Boden schien für alle Anwesenden plötzlich von höchstem Interesse zu sein. Aya schielte fragend nach rechts und links ... allerdings wollte sich niemand erbarmen. Es blieb wieder mal an ihr hängen. Sie holte tief Luft und stellte sich, wie stets, ihren Pflichten. „Er musste leider unerwartet fort.“ „Fort?“ Die Feuerlady blinzelte. Noch weigerte sie sich hartnäckig, beunruhigt zu sein. „Wohin fort? Zur Kabinettsbesprechung?“ „Nun ... nein.“, Millimeterweise tastete ihre älteste Tochter sich vor. „Etwas weiter weg.“ Zur moralischen Unterstützung fasste sie schnell nach Jins Händen. „Er musste ... zu einem spontanen Gipfeltreffen ins Erdkönigreich.“ „Was?“ Das Strahlen erlosch langsam, aber sicher. „Ins Erdkönigreich? Aber ... er ...“ „Mama ...“, sagte Aya bekümmert. „Er war selbst furchtbar aufgebracht deswegen.“ „Ich ... ich glaube, ich muss auspacken gehen.“, flüsterte Zukos einsamere Hälfte mit abgewandtem Kopf. Ihre unangebrachte, mit Sicherheit übertriebene Reaktion auf diese Nachricht brauchte schließlich niemand zu sehen. Endlich allein in ihren Gemächern, machte Jin sich nicht länger die Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie plumpste in Zukos Lieblingssessel und starrte in die kalte Asche des Kamins. Kamin kalt, Zimmer kalt, Sessel kalt. Und das verdammte Bett bestimmt ebenfalls. Ohne den dummen Drachen war sein ganzer dummer Horst kalt, riesig und leer. Ganz egal, wie viele Menschen ihn bewohnten. Sie hatte sich so auf ihn gefreut. Und jetzt sass sie hier und fing zu allem Überfluss auch noch an, zu heulen. Erbärmlich! Zornig wischte sie mit den Handballen die Tränen fort und versuchte ihre Beherrschung wiederzuerlangen. Doch leider schien dies einer jener Tage zu sein, an denen graue Wolken Myladys sonniges Gemüt verdunkelten. Als es leise klopfte, überlegte sie ernsthaft, nicht zu antworten. Aber das wäre überaus unhöflich ... `Reiß Dich endlich zusammen, Missy!“ „Ja?“ Die großen Flügeltüren öffneten sich und Aya betrat den Raum. „Mama?“ „Was gibt´s denn?“, fragte Jin, um einen unbekümmerten Tonfall bemüht. „Ich hab hier einen Brief für Dich.“ „Von Deinem Vater?“ „Ja.“ „Danke, Maus. Ich les ihn gleich.“ „Sei doch nicht traurig! So lange wird diese Versammlung schon nicht dauern.“ „Ja. Hast recht.“ Die Prinzessin ließ sich auf einer der breiten Armlehnen nieder und legte den Kopf auf den Scheitel ihrer Mutter. „Hilft es Dir, wenn ich Dir sage, dass er ebenso untröstlich war wie Du?“ Lediglich ein leises Schnüffeln verriet Mylady. „Ich bezweifle doch ernsthaft, dass er geheult hat.“, krächzte sie. „Nein. Aber er zeigte das feuerfürstliche Pendant dazu.“ „Einen Tobsuchtsanfall?“ „Ja.“, kam die Antwort. „Siebenundzwanzig Minuten lang.“ „Wirklich?“ Jin straffte sich ein wenig. „Nun ... das ist ja wohl auch das mindeste.“, murmelte sie. „Nicht mal eine halbe Stunde ...“ „Mama!“ Trotz ihres Kopfschüttelns entfuhr Aya ein Lachen. „Ja, ich weiß ... armselig, nicht wahr?“ „Seit wann ist es armselig, jemanden über Alles zu lieben?“, fragte die junge Frau in einem Tonfall, bei dem ihre Mutter zu jeder anderen Gelegenheit überrascht aufgehorcht hätte. „Es ist armselig, sich in meinem Alter noch wie ein verschossener Backfisch aufzuführen.“ „Ich glaube, das hält jung. Außerdem ... welches Alter? Und Du BIST ja schließlich noch verschossen!“ „Ja“, gab Jin kläglich zu und drückte ihre Tochter eine Weile an sich. „Wie kommt es nur, dass ihr Mädchen euch noch knuddeln lasst, während ich von Deinen Brüdern nur „Mutter!“ oder „Muss das sein?“ oder „Hast Du Dir schon wieder Babyportraits angesehen?“ höre?“ „Nun,“ Aya schmiegte sich bereitwillig an sie. „Ich vermute, Frauen sind emotional einfach leichter auszubeuten.“ „Momentan wäre mir nichts lieber, als mich ordentlich ausbeuten zu lassen.“ „Mutter!!!“ „Ich sagte ja: Armselig!“, seufzte Jin. „Wo wir gerade von Deinen Brüdern sprachen, wo treiben sich eigentlich Lu Ten und Lee herum? Wenigstens einer von ihnen hätte die Güte haben können, kurz aufzutauchen.“ Aya nahm einen tiefen, bewusst ruhigen Atemzug. „Also, da ist noch etwas, das ich Dir ausrichten soll ...“ „Er hat WAS???“ Wenigstens hatte die Nachricht bewirkt, dass Ihre Hoheit nicht mehr wie ein Häufchen Elend im Sessel kauerte, sondern aufgebracht auf und ab stapfte. „Soweit ich weiss sind sie mehr oder weniger freiwillig gegangen.“, versuchte Aya ihr Glück. „HA! Wie ich Deinen Vater kenne, wohl eher weniger! Er hat sie weggeschickt? OHNE Eskorte?“ „Mama. Die beiden können sehr gut selbst auf sich aufpassen.“ „Ach? Immer?“ „Ich denke ja.“ „Und wenn schon!“ Mylady begann, sich in Rage zu rennen. „Kannst Du mir verraten,“, zischte sie. „warum die goldene Regel unseres obersten Despoten „Wichtige Dinge erst miteinander zu besprechen“ nur für mich gilt, und nicht für IHN?“ „Er ... ist der Feuerlord?“ „Ach? Und was bin ICH? Sein Brutkasten?“ „Bitte?! Ich habe nie ...“ „Ich bin eure Mutter, auch wenn das scheinbar niemanden interessiert. Wir hatten absolute Gleichberechtigung vereinbart, wenn es um euch Kinder geht.“ Aya blieb still. Wenn Lady Jin so richtig wütend wurde, machte sie selbst dem hitzköpfigsten Feuerbändiger Konkurrenz und neigte zu extremen, zuweilen etwas einseitigen Sichtweisen. „Wie kann er sich so einfach über mich hinwegsetzten?“ „Du warst doch nicht da. Und der Bürgermeister ...“ „Und WARUM stellt sich immer jeder auf SEINE Seite?“ „Ich stehe auf keiner Seite.“, meinte die Prinzessin ruhig. „sondern dazwischen.“ „Ja. Tut mir leid.“, sagte ihre Mutter steif. „Ich werd jetzt in der Weberei nach dem Rechten sehen. Bestimmt hat er die Hälfte der Belegschaft entlassen.“ Aufgebracht marschierte sie aus dem Raum. Die Wut über die Eigenmächtigkeit ihres Gatten hielt Jin leider nicht davon ab, weiterhin fürchterliche Sehnsucht nach ihm zu haben. Neunzehn Tage. Sie war noch nie so lange ohne ihn gewesen. Und sie HASSTE es, nachts in diesem Monsterbett zu liegen, ohne das dazugehörige Monster. Irgendwann krabbelte sie auf Zukos Seite, drückte sein Kissen an sich und versuchte, dem leblosen Ding wenigstens einen Hauch seines tröstlichen Sandelholzduftes zu entlocken. Doch auch das brachte sie dem ersehnten Schlaf nicht näher. Ihr war kalt. Sie wollte ihren verdammten Ehemann und außerdem hatte sie das bohrende Gefühl, etwas vergessen zu haben. Sein Brief! ... Natürlich! Schnell strampelte sie die Decken von sich und entzündete ungeduldig einige Kerzen. Das war AUCH wieder typisch! Da hätte man EINMAL eine sinnvolle Verwendung für einen Feuerfuzzi, und dann glänzte er durch Abwesenheit. Wo hatte Aya die Nachricht hingelegt? Ah ... dort. `Jin, mein Herz, ich weiß, momentan bist Du überaus enttäuscht und mit Sicherheit auch überaus ungehalten. Doch vielleicht hat Aya es geschafft, Dich soweit zu beruhigen, dass Du Dir meine Zeilen wenigstens durchliest, statt sie in den Kamin zu werfen. PAH! Es tut mir unendlich leid, nicht hier sein zu können, doch Dein ehemaliger König besteht leider auf die Anwesenheit ALLER Staatsoberhäupter. Sollte dies wieder nur einer seiner paranoiden Schübe sein, dann schwöre ich, Die nächsten beiden Sätze waren dreifach durchgestrichen, und somit leider (oder den Göttern sei Dank ...) unleserlich. Ich habe leider nicht die Zeit, Dir die Situation näher zu erläutern, da ich in diesem Augenblick bereits unterwegs sein sollte. Nur so viel: Lu Ten und Lee haben ihre Strafe sowohl verdient, als auch akzeptiert. Es kann den beiden nur gut tun, dem höfischen Leben für eine Weile den Rücken zu kehren. Trotzdem ist mir bewusst, wie zornig Du auf mich bist, und glaube mir, ich würde mich diesem Zorn liebend gerne stellen, doch dieser verfluchte Cretin Nuro besteht auf sein Gipfeltreffen. Zu allem Übel kannst Du Deinem Unmut mir gegenüber nicht einmal in schriftlicher Form Ausdruck verleihen, da Ort und Grund dieses Affentheaters geheim sind. Bitte verzeih mir, Kobold, und versuch zu verstehen, weshalb ich so gehandelt habe. Bei meiner Rückkehr steht es Dir selbstverständlich frei, Dich der groben Majestätsbeleidigung schuldig zu machen. Aber, BITTE tu solange nichts Unüberlegtes! In Liebe, Zuko´ WAS??? Nicht mal schreiben konnte sie ihm? Oh ... dieser verflixte Kerl! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)