Jäger und Gejagte
Sam drehte sich um, als er hörte, wie sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, und da Deans Präsenz noch mindestens zwei Zimmer weit weg war, wusste er, dass es sich nur um Sean handeln konnte.
Der grinste ihm zu, schloss die Tür ein wenig zu gründlich hinter sich und gesellte sich zu Sam ans Fenster.
„Dean ist duschen gegangen“, beantwortete er Sams unausgesprochene Frage, und Sam war sich unangenehm bewusst, dass er gerade mit den Augen ausgezogen wurde.
„Sean“, setzte er an, und dieser hob die Hand und lächelte schwach.
„Keine Sorge, ich werd mich hüten, dich noch mal anzufassen …“
Sam dachte, dass das kaum schlimmer sein konnte als seine Blicke oder das Geflirte, beschloss allerdings, den Mund zu halten.
Wer wusste schon, wie Sean auf eine derartige Anklage reagieren würde?
Hoffentlich würde Dean sich bald dazu entschließen, weiter zu fahren – Sam wusste nicht, wie lange er dieser irischen Doppelbelastung noch gewachsen war, außerdem wollte er endlich wieder mit ihm allein sein.
Vielleicht sollte er sich einfach seinen Laptop schnappen und nach einem neuen Job suchen, das konnte er allerdings schlecht machen, solange Sean ihm nicht von der Seite wich, und der würde sich ihm wahrscheinlich eher auf den Kopf setzen, als ihn auch nur eine Sekunde lang allein zu lassen.
Sam seufzte, ging zum Sofa hinüber und setzte sich, und Sean, der ihm mit den Augen gefolgt war, legte leicht den Kopf schief.
„Alles in Ordnung?“
Sam runzelte anklagend die Stirn und nickte und ihm ging auf, dass es ihm in höchstem Maße unangenehm war, wenn ihm jemand anders als Dean diese Frage stellte, weil einfach niemand anders die Antwort etwas anging.
„Ähm … du und Dean“, setzte Sean an und erntete einen zurechtweisenden Blick, den er genau so geschickt ignorierte, wie Dean es immer tat. „Ihr wisst noch nicht lange, dass ihr nicht verwandt seid, oder?“
Sam biss die Zähne zusammen und nickte, auch wenn er ahnte, worauf das hinauslaufen würde.
„Ich glaub ja nicht, dass er je schnallen wird, dass du schwul bist“, erklärte Sean ruhig, und Sam starrte ihn perplex an.
Okay, damit hatte er jetzt nicht gerechnet.
„Ich bin nicht schwul!“, presste er hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, und Sean lachte leise auf.
„Natürlich nicht – mein Fehler. Du siehst ihn bestimmt die ganze Zeit so verträumt an, weil er für dich nicht mehr ist als dein großer Bruder.“
Sean gab seinen Platz am Fenster auf, kam zu ihm hinüber, setzte sich neben ihn aufs Sofa und sah Sam direkt in die Augen.
„Du solltest irgendwo Dampf ablassen, Sammy.“
Sam ballte unwillkürlich die Hand zur Faust, und Sean korrigierte sich lächelnd. „Verzeihung – Sam, natürlich.“
Er legte Sam die Hand auf den Oberschenkel, und der bekam eine so heftige Ekelgänsehaut, dass er sich nicht rühren konnte.
„Ich seh ihm ähnlich, Sam … Ich könnte dir alles beibringen.“
Die Wohnzimmertür schloss sich mit einem Knall, und sowohl Sam als auch Sean fuhren zusammen und starrten Dean an, der lautlos eingetreten war.
„Du bringst ihm gar nichts bei“, stellte Dean mit einiger Schärfe in der Stimme klar, und Sam sprang vom Sofa auf, und dann wusste er nicht, was er tun sollte.
Sean grinste nur, als er Deans wutentbrannten Blick bemerkte, und stand ebenfalls auf.
„Es war einen Versuch wert.“
Dean gab so etwas wie ein Knurren von sich, winkte Sam zu sich heran, und der setzte sich sofort in Bewegung und eilte an seine Seite.
„Das kannst du bei jedem anderen versuchen, aber nicht bei meinem kleinen Bruder“, wies Dean Sean zurecht, warf Sam neben sich einen prüfenden Blick zu und seufzte.
„Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir weiter ziehen.“
„Dean ich wollte nicht -“ – „Dich von ihm betatschen lassen? Das will ich doch schwer hoffen!“
Sie hatten soeben den fröhlich winkenden Sean am Straßenrand stehen lassen, und Sam war etwas verwirrt, weil Dean sich einen Moment lang angehört hatte, als sei er eifersüchtig – aber das war natürlich vollkommener Schwachsinn.
„Gott, ich wusste ja gleich, dass diese ‚echte Familie’ Sache einen Haken haben musste! Wenigstens ist der Typ bloß mein Cousin und nicht mein Bruder, sonst wär das wohlmöglich noch genetisch bedingt!“
Sam ignorierte diesen grantigen Monolog und kam wieder auf das zurück, das er ursprünglich hatte sagen wollen.
„Ich wollte nicht, dass wir so überstürzt abfahren … von mir aus -“
„Ach, halt die Klappe, Sam!“, fuhr Dean ihn ungeduldig an. „Denkst du denn, ich weiß nicht, dass du dich zur Not auch noch hättest flachlegen lassen, nur um mir mein ‚Familientreffen’ nicht zu verderben? Du musst echt langsam lernen, Prioritäten zu setzen!“
Dean klang wirklich verdammt wütend, also beschloss Sam, dass es klüger sei, vorübergehend zu schweigen, um ihn nicht noch weiter zu reizen.
Er war nur froh, dass er endlich wieder mit Dean allein und zudem noch weit genug von Sean entfernt war, um langsam aber sicher sein inneres Gleichgewicht zurück zu gewinnen.
Falls sie den je wieder besuchen sollten, würde er ihn garantiert effektiver abzuweisen wissen – Dean hatte seinen Standpunkt, was das anging, zur Genüge klar gemacht, und Sam somit keinerlei Hemmungen mehr, Sean zu zeigen, was sich gehörte und was nicht.
Sean würde in der Tat keine Ahnung haben, was ihn getroffen hatte, wenn er mit ihm fertig war.
Sam beobachtete, wie Dean die Hand nach dem Radio ausstreckte, und als er die guten alten Stones vernahm, fühlte er sich mit einem Mal so sehr zu Hause, dass er die Augen schloss und tief durchatmete.
Es war egal, dass sein Zuhause offenbar der Beifahrersitz eines Chevy Impala war – sein Zuhause war an Deans Seite auf dem Beifahrersitz eines Chevy Impala, nur das zählte.
Sam legte den Kopf in den Nacken und entspannte sich, ließ seine Gedanken auf Wanderschaft gehen, und die marschierten natürlich sofort zielstrebig zu seinem Traum der vergangenen Nacht.
Wenn er jetzt darüber nachdachte, hätte ihm eigentlich selbst im Schlaf auffallen müssen, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war.
Falls Dean sich jemals dazu entschließen sollte, ihn flachzulegen – Sam durchfuhr unwillkürlich ein Kribbeln bei dem Gedanken – dann bestimmt nicht nach dem Konsum von Bier – egal wie viel es auch gewesen sein mochte.
Um dieses Wunder zu vollbringen, musste schon etwas sehr viel Härteres als Bier durch Deans Blutkreislauf zirkulieren, immerhin war der neuerdings Ire.
Sam war sich wage bewusst, dass ihm ein trauriges Dasein als Asket bevorstand, sollte er sich nicht doch irgendwann überwinden und Dean beichten, dass er das Ziel seines ungeteilten Interesses war.
Inzwischen konnte er nicht einmal mehr sagen, wie Dean auf diese Beichte reagieren würde.
Entweder würde er ihm strenge Buße auferlegen und wochenlang zu seinen Füßen im Staub herum kriechen lassen – Sam hatte unwillkürlich sich selbst mit angelegtem Hundehalsband vor Augen, und sein Körper wurde erneut Austragungsort eines heftigen Kribbelns – oder aber einen so heftigen Schock erleiden, dass er die Angelegenheit komplett verdrängen und ihm volle Absolution erteilen würde, bevor er sich den Messwein literweise hinter die Binde kippte und ins Nirwana entschwand.
Die morsche Tür öffnete sich mit einem schauerlichen Knarren, Sam unterdrückte einen Fluch und stieß sie gerade so weit auf, dass er hindurch schlüpfen konnte.
Er betrat die verfallene Hütte, blickte dabei beständig um sich und leuchtete mit seiner Taschenlampe jeden Zentimeter des Innenraumes ab.
Im Strahl der Taschenlampe sah er verfallene Möbel, Überreste einer Küche, unter einer dicken Schicht von Staub, durch das zerbrochene Fenster machte die Flora Anstalten, die Hütte zu erobern.
Wo war der verdammte Mistkerl?
Der Strahl seiner Taschenlampe traf auf eine Treppe, die vermutlich in den ersten Stock führte, und Sam packte die Schrotflinte in seiner Rechten fester, bevor er sich in Bewegung setzte, den Raum durchquerte und begann, die Treppe hinauf zu steigen.
Bei jedem Schritt ächzten die Stufen unter seinen Füßen protestierend auf, und er sah sich im Geiste schon einbrechen und dem Keller seine unfreiwillige Aufwartung machen, dann war er am oberen Treppenabsatz angekommen und hatte das zwingende Gefühl, dass er auf dem richtigen Weg war.
Was zum Teufel machte Dean nur so lange?
Sam leuchtete den schmalen Flur entlang, entschied sich, nach links zu gehen und ignorierte die aufgescheuchte Ratte, die quiekend vor ihm die Flucht ergriff.
Er hörte die Tür unten erneut knarren und wusste, dass Dean seinen Erkundungsgang ums Haus endlich abgeschlossen haben musste.
Sie hatten schon lange nicht mehr in stockfinsterer Nacht eine verfallene Hütte mitten im Nirgendwo nach den sterblichen Überresten eines ruhelosen Geistes durchsuchen müssen, und Sam konnte nicht behaupten, dass es ihm gefehlt hätte.
Bobby musste eine merkwürdige Vorstellung von Vergnügen haben, der hatte nämlich behauptet, dieser Job sei wie ein Spaziergang im Park, und das war etwas, was Sam für gewöhnlich mit Vergnügen verband – möglicherweise hatte Bobby sich mit dieser Beschreibung aber auch an Dean gewandt, und der hielt von Spaziergängen ja bekannter Weise nicht viel.
Nachdem sie die Knochen von Jesiah Martin gesalzen und verbrannt hatten, und der hartnäckige Kerl noch immer sein sadistisches Spiel in den örtlichen Wäldern trieb – und zwar mit den örtlichen Jägern – und Dean seine Meinung über militante Tierschützer kundgetan hatte, die selbst nach ihrem gewaltsamen Tod durch einen höchst undankbaren Bären nicht zur Besinnung kamen, hatten sie sich zu Jesiahs leer stehender Hütte aufgemacht, die den attraktiven Ruf hatte, dass es in ihr spukte – wer glaubte denn bitte an sowas.
Jetzt war nur noch die Frage, welches von Jesiahs mannigfaltigen Besitztümern seine tierliebe Seele im Diesseits hielt und ihn dazu antrieb, jedes Jahr zur Jagdsaison mindestens drei Jägern den Garaus zu machen.
Sam stellte sich kurz die Frage, was zur Hölle eigentlich ein Garaus war, und wo dieses merkwürdige Sprichwort seinen Ursprung hatte, dann fand er sich in einem Zimmer mit unzähligen Gewehren, Fallen und Schlingen wieder und schluckte trocken.
Genau so hatte er sich das Zimmer eines geisteskranken Massenmörders vorgestellt.
Jesiah mochte kein Jäger gewesen sein, dafür aber ein ziemlich passionierter Sammler.
Sam leuchtete erst die Gewehre eins nach dem anderen ab, dann fiel ihm ein, dass den beklagenswerten Jägern die Köpfe erschreckend sauber von den Schultern getrennt worden waren – der Leichenbeschauer hatte eine Art dünnes Seil als Mordwaffe angegeben – und wandte sich mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend den Drahtschlingen zu.
Ein Knarren aus Richtung der Treppe informierte ihn, dass Dean das Erdgeschoss für langweilig befunden und sich auf den Weg in den ersten Stock gemacht hatte, Sam richtete seine Taschenlampe auf die nächste Schlinge und fand sich mit Jesiah Martin konfrontiert, dessen bleicher Teint einiges zu wünschen übrig ließ.
Jesiah schlug ihm die Schrotflinte mit dem Steinsalz aus der Hand, bevor er sich noch ganz von seinem Schreck erholt hatte, und in der nächsten Sekunde hatte Sam eine von diesen verdammten Drahtschlingen um den Hals und wurde gewürgt.
Er packte die Schlinge geistesgegenwärtig – Ironie des Schicksals – mit beiden Händen und zog aus Leibeskräften, während er in Jesiahs tote Augen starrte, die so schrecklich gefühllos waren und doch zu allem entschlossen.
„Ngh!“
Der Draht schnitt ihm in die Hände, als er es schaffte, ihn ein winziges Stück auseinander zu ziehen, und der Ausdruck in Jesiahs Augen veränderte sich und wurde zornig.
„Dean!“
Kurz hatte Sam Angst, seine Stimme sei zu leise gewesen – er hatte sich ja selbst kaum gehört – dann vernahm er hastige Schritte im Flur, die Tür wurde aufgestoßen und Dean, heroisch wie eh und je, stand da wie Charles Bronson persönlich.
„Ey, Jesiah! Ich hab heute nen falbelhaften Hirsch geschossen!“, gab er fröhlich kund, fiel damit freilich ein kleinwenig aus der Rolle des heldenhaften Beschützers, und Jesiah verpuffte prompt vor Sams ungläubigen Augen, manifestierte sich vor Dean und würgte nun ihn, und einen aberwitzigen Moment lang wusste Sam nicht, was er tun sollte, dann erblickte er die Schrotflinte zu seinen Füßen.
Man möge mir den abrupten Sprung zum letzten Absatz verzeihen.
Mir war mal wieder danach.
Alle noch mit Spaß dabei, oder wird's langsam langweilig?
Habt noch ein kleinwenig Geduld mit mir.
moko-chan