Fesseln der Liebe (?) von Animegirl_07 ================================================================================ Kapitel 22: Kapitel 22 ---------------------- Nach wenigen Minuten hatte die kleine Gruppe endlich einen geeigneten Plan entwickelt und kurz darauf waren sie mitten in der Nacht losmarschiert. Vielleicht konnten sie Taiyo-Yoru nicht überraschen, aber sie konnten ihn immerhin verwirren. Während der Mond weit oben am Himmelszelt hing, umringt von vielen wunderschön leuchtenden Sternen, liefen sie durch das Gras, aber nicht gemeinsam. Die Gruppe von Lucio war bereits in sichtweite des Schlosses und wanderte durch das Dickicht. Sie wollten nicht gesehen werden, doch hielten sie sich nahe dem Weg. Kurai und Aya waren nur zu zweit unterwegs, denn alle waren der Meinung, Aya konnte als einzige wirklich in das Schloss vordringen. Somit hatten sie sich getrennt, um nicht auf die beiden aufmerksam zu machen. „Glaubt ihr, wir schaffen das?“, fragte Ria etwas nervös nach. Das Schloss vor ihnen stand auf einem kleinen Hügel, von einer dicken Mauer umgeben, die es vor der Außenwelt schütze. Ob sie das Schloss erreichten, war nicht die frage, denn die Mauer war das wirkliche Hindernis, dass es zu überwinden galt. Ihre beiden Begleiter, Lucio und Jackin, blieben stehen und wanden sich an sie. Sie standen inmitten der Gebüsche, um nicht aufzufallen. Lucio nickte bekräftigend. „Natürlich schaffen wir das! Schließlich sind wir nicht umsonst bis hierher vorgedrungen. Nur nicht den Mut verlieren.“ Er lächelte sanft, als auch Jackin ihm zustimmte. „Und wenn wir es nicht schaffen sollten, dann die anderen. Shinri wartet auf uns, also geben wir unser Bestes, um ihn zu befreien.“ Dass es dabei aber auch um das Leben aller Zomas ging, musste nicht unbedingt extra erwähnt werden. Ria schöpfte aus den Worten ihrer Begleiter neue Hoffnung und lief an ihnen vorbei, durch das Dickicht, immer den Blick auf das Schloss gerichtet. Sie würde Shinri befreien. Ob mit der Hilfe der anderen, oder alleine. Sie konnte es nicht wagen, ihn weiterhin dort zu lassen. Er war in Gefahr und die Hoffnung der Zomas lag in seinen Händen. Jackin und Lucio folgten ihr leise und schweigend. Das Lucio hier war, hatte Ria etwas verwirrt. Der junge Mann brauchte die Zuwendung menschlicher Frauen, um zu überleben. Andererseits hatte er seine Partnerin bereits verloren. Also was hatte er denn schon zu verlieren? Dafür war es umso eigenartiger, wie sehr Jackin sich für die Zomas einsetzte. Der Junge glich ihnen auf eine gewisse Art und Weise, ohne es vielleicht zu merken. Er wahrte eine tödliche Ruhe und hatte Mut ohne Maß. Mit jeder Minute, die Ria ihn nun schon kannte, verliebte sie sich ein weiters Stück in ihn. Dabei hatte sie ihr Herz bereits bei der ersten Begegnung verloren. Das Schicksal schweißte sie unweigerlich zusammen. Es gab kein Entkommen und Ria zeigte ihm nur zu gerne ihre Liebe. Deswegen verstand sie nicht, weswegen Aya diese Gefühle gegenüber Shinri so lange hatte leugnen können. All diese Versuche, sich von ihm abzuwenden, brachten sie keinen Schritt weiter. Früher oder später wäre sie dann so verliebt, dass sie nicht ohne ihn leben wollte. Wahrscheinlich hatte sie diese Grenze bereits erreicht, sonst würde sie nicht ohne Unterlass nach ihm suchen. Liebe war etwas schönes, aber sie konnte auch genauso schmerzhaft sein. „Was denkt ihr, wird Shinri im Kerker festgehalten?“ Jackin war ein kleines Stück vorgelaufen und wartete an einem großen Wildbeerbusch. Die Entschlossenheit stand ihm und machte ihn gefährlich schön. Zu gerne hätte sie sich in diesem Moment von seinen Lippen genährt, musste sich aber erst von einem Busch befreien, der mit seinen Ästen nach ihr griff. Lucio half Ria, bevor Jackin zurück kommen konnte, und antwortete dann: „Kann sein. Aber vielleicht auch in einen der ganzen Zimmer. Das Schloss ist sehr groß und leer. Er könnte überall sein.“ Er runzelte die Stirn sorgevoll. Er dachte an die Qualen, die Shinri wohl in diesem Moment erlitt. Auch Ria konnte es sich nicht verkneifen. Die Vorstellung war schmerzhaft und vielleicht auch wahr. Wer wusste, wie weit er in seinem Stadium bereits war. Es konnte sogar sein, dass sie zu spät kamen, um ihn zu retten. Doch diese Möglichkeit mussten sie ausschließen, bis sie ihn sahen. Solange konnten sie hoffen, dass er noch zu retten war. Der blonde Junge rieb sich die Schläfe, als plage ihn Kopfschmerzen. Die Lage war fast aussichtslos und er zermaterte sich bereits seit Stunden das Gehirn. Ria gefiel es, wenn er sich genauso Mühe gab, wie einer von ihren Cousins. Das zeigte ihr, dass ihm viel daran lag. Sie legte ihm eine Hand beruhigend auf seinen Oberarm und sah ihn liebevoll an. „Das schaffen wir, auch wenn wir dafür alle Zimmer durchsuchen müssen. Wir schaffen es“, verkündete sie zuversichtlich. Es ging um Ayas Sicherheit. Jackin wollte seine beste Freundin für immer von den Schmerzen des Verlustes retten. Dieser selbstlose Wunsch zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Er war der perfekte Mann, dachte sie bei sich. Sie wollte nie jemand anderen an ihrer Seite haben. Nur ihn. Nun musste auch Jackin lächeln. „Ja, selbst wenn wir Tage dafür brauchen sollten, wir werden es schaffen. Mit dir an meiner Seite, kann nichts schief gehen.“ Er sah ihr tief in die Augen, als ihm diese wundervollen Worte über die Lippen kamen. Ehrlichkeit und Liebe sprach aus seinem Blick. Und auf einmal, wie um es zu besiegeln, hauchte er ihr einen zarten Kuss auf die Lippen. Ein Schauer überkam Ria und ihr Herz schlug schneller und schneller gegen ihren Brustkorb. Sofort entgegnete sie seinen Kuss, legte ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn noch näher an sich heran. Sie intensivierte den Kuss und verschlang Jackins Mund heißhungrig. Und sie entfachte auch ein kleines Feuer in Jackin, der sie fest in die Arme schloss und einen innigen und leidenschaftlichen Kuss mit ihr genoss. Ihr erster Kuss. Ria konnte es kaum glauben, dass es wirklich geschah. „Und wer küsst mich?“, scherzte Lucio und blickte sich mit schnellen Blicken im Dickicht um. Natürlich war keine Menschenseele in Sicht. Mit einen resignierenden Seufzer zuckte er mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Ihr wollt mich wohl quälen. Aber nicht mit mir. Ich gehe und suche mir meinen Schatz. Sicher wartet Aya irgendwo auf mich.“ Schon wand er sich um, kam aber nicht weit. Er schluckte schwer und räusperte sich dann, um die anderen beiden auf sich aufmerksam zu machen. „Ich glaube, wir haben Besuch.“ Er klang angespannt und nervös. Ria und Jackin lösten sich nur widerwillig voneinander. Sie taten es nur, weil Lucios Stimme nach Ärger klang und seine Worte auch nichts gutes verhießen. Als sie dann in dessen Richtung blickten, verschlug es ihnen den Atem. Verdammt! Die Mauer war wie eine unüberwindbare Festung. Sie barg das Schloss hinter ihren Schranken und ließ niemanden walten, der nicht erwünscht war. Doch Aya wusste, dass sie unbedingt hinein mussten. Shinri war hier. Das spürte sie tief in ihrem Inneren. Es zog sie an diesen Ort und je näher sie kamen, desto tiefer wurde dieses Gefühl eines leisen Rufens. Shinri. Sie blickte zu ihrem Begleiter. Kurai stand neben ihr im Dickicht und starrte die Mauer schweigend an. Sie mussten sich unbedingt einen Weg suchen, um hinein zu gelangen. Leider wusste keiner von ihnen weiter. “Was denkst du, wo sind die anderen jetzt?”, fragte Aya dann nach, denn das Schweigen wurde immer unerträglicher. Kurai sah sie mit seinen kalten, goldenen Augen an. “Ich hoffe doch, dass sie bereits im Schloss sind.” Aber Aya wusste, dass er nicht wirklich daran glaubte. Die Reise war doch etwas länger gewesen als gedacht und der Himmel rötete sich bereits. Schon bald würde die Sonne aufgehen. “Fliegen kannst du nicht zufällig?”, wollte Aya dann wissen. Es war eine verzweifelte Frage, die eigentlich keinen Sinn ergab. Welcher Mensch konnte denn fliegen? Andererseits … Die Zomas waren keine richtigen Menschen. “Ich bin ein Wolf, ein Tier der Erde, kein Vogel”, entgegnete Kurai ihr ruhig, aber in seinen Augen glitzerte ein Wissen auf. “Shinri ist ein Kind der Lüfte. Er kann fliegen.” Aya schüttelte den Kopf. Nicht, dass sie ihm nicht glaubte, aber Shinri konnte im Moment gewiss nicht fliegen. Schließlich war er in diesem Schloss eingesperrt. Wahrscheinlich an Ketten gelegt und unter Qualen so sehr geschwächt, dass er nicht einmal hätte fliegen können, wenn man ihn befreit hätte. “Das geht nicht. Shinri ist nicht hier und das weißt du auch”, schimpfte sie ihn, klang dabei aber sehr traurig. Sie senkte den Blick, um Kurai nicht die Traurigkeit in ihrem Augen zu zeigen. Doch der Zoma sah sie weiterhin an. Seine dunkle Stimme erklang erneut, so ruhig wie das tiefe Wasser: “Ja, aber seine bessere Hälfte ist bei uns. Und wer über einen Zoma regiert, hat auch die Macht über dessen Beschützer.” Aya blickte auf und sah sich wieder den durchdringenden goldenen Augen gegenüber. “Ich?”, fragte sie etwas perplex. Sie war Shinris Auserwählte. Seine Partnerin. Aber das hieß nicht, dass sie Macht über ihn hatte. So tief ging ihre Beziehung nicht. Nein. Sie hatten nicht einmal etwas ähnliches, wie eine Beziehung. Kurai schien ihren Zweifel zu bemerken und nickte bekräftigend. “Versuch es, Aya. Was haben wir denn schon zu verlieren?“ Das Mädchen seufzte leise. Sie hatten Shinri zu verlieren und sie mussten jeden Versuch in Kauf nehmen, der ihnen helfen konnte. Selbst wenn sie sich vielleicht zum Volldeppen machen würde, so hatte sie es immerhin versucht. Für Shinri. Mit neu gesammeltem Mut nickte sie ihrem Begleiter zu. Entschlossen, es zu versuchen, egal was es kostete, bat sie ihn: “Sag, was soll ich machen.” Ein leichtes Lächeln zierte für einen flüchtigen Moment Kurais Lippen. Dann erschien wieder seine ernst Miene, die er sonst immer aufgesetzt hatte. “Schließe die Augen und konzentriere dich nur auf Shinri. Er ist die Person, die dich mit seinen Beschützern verbindet. Konzentrier dich auf ihn und rufe den Adler der Nacht herbei. Wenn du dich fest genug konzentrierst, wird er dich hören.” “Hoffentlich funktioniert ‘s wirklich”, nuschelte Aya leise zu sich selbst, denn sie hatte ihre Zweifel. Wer sollte sie denn im Wald hören? Adler? Würde wirklich ein Adler angeflogen kommen? Doch sie blendete diese Gedanken aus und schloss die Augen. Sie musste nur an Shinri denken. Egal, ob es schief ging, oder nicht. Hauptsache sie hatte den Versuch gestartet. Sie dachte an den jungen Mann. Stellte sich ihn vor. Seine schulterlangen Haare in der Farbe der Nacht. Die Augen gleich der Dunkelheit. Ein freches Grinsen im Gesicht und neckende Worte auf den Lippen. Shinri. Immer wieder rief sie im Gedanken seinen Namen, wie ein leises Gebet. Sie versuchte Kontakt aufzunehmen, zu irgendjemanden, der auf Shinris Seite stand. Währenddessen hielt sie das Bild des Zomas in ihrem Kopf fest verankert und rief im Hintergrund immer wieder seinen Namen. Shinri. Erschöpft öffnete Shinri seine Augen. Noch immer herrschte undurchdringbare Dunkelheit. Er sah nichts, als schwarze Nacht. Ob nun Tag oder Abend war, konnte er nicht bestimmen und es war ihm mittlerweile auch egal. Das Einzige, was er wollte, war die Sicherheit von Aya. Er betete, dass es ihr gut ging und dass man sie zurück in die Menschenwelt gebracht hatte. Mehr wünschte er sich nicht. Denn sein Ende würde komme, ob er wollte oder nicht. Ihm war nicht mehr zu helfen. Wer sollte denn auch kommen? Es wäre ein Wunder, wenn man ihn hier herausschaffen konnte. Er glaubte nicht mehr daran. Seine Hoffnung war bereits gestorben und er existierte nur noch vor sich hin, bis seine Instinkte das Kommando übernahmen und sein Verstand komplett ausschaltete. Shinri, Shinri, Shinri, …, hallte es in seinem Kopf wieder. Er blickte schwach um sich, doch sah er nichts. Anscheinend halluzinierte er bereits. Müde schloss er die Augen und wartete auf den Schlaf, eine Ohnmacht oder sonst irgendetwas, damit er nicht weiter denken musste. Jetzt schlafen wäre schön. Shinri, Shinri, Shinri, …, erklang es erneut. Shinri riss schockiert die Augen auf, erblickte aber wieder nur Dunkelheit. Diese Stimme. Aya sagte seinen Namen, aber er konnte ihre Anwesenheit nicht spüren. Er konnte nichts anderes, als seinen schweren Körper und die Schmerzen fühlen. Aber die Stimme war keine Halluzination. Wie ein leises summen wurde sein Name immer und immer wieder ausgesprochen. Verzweifelt aber mit einer kleinen Hoffnung sprach Aya erneut und erneut. Und ihre liebevolle Art, wie sie ihn aussprach, hüllte sein Herz in Liebe ein. Er vermisste sie so schmerzlich. Er wollte unbedingt zu ihr. Zu seiner Aya. Shinri, Shinri, Shinri, …, erklang es erneut, aber leiser. Über den leisen Refrain, der seinen Namen bildete, ertönte ein weiterer Text. Bitte, helft mir. Kommt zu mir und helft mir. Ich brauche euch. Er braucht euch. Das leise Gebet wurde wieder lauter und sie wiederholte seinen Namen mehrere Male. Shinri genoss ihre Stimme und schloss die Augen für einen kurzen Moment, bis ihre leise Bitte erneut einsetzte. An wen wand sie sich damit? Auf einmal schlug er die Augen erneut auf und starrte in die Finsternis. “Verdammt”, ächzte er und fluchte innerlich einige Male. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! “Aya, hör auf. Hör auf, bitte. Geh. Verschwinde! Such dein Glück wo anders und lass mich hier. Bitte!”, flehte er leise und fluchte wieder, denn ihr Gebet hörte nicht auf. Sie holte sie. Sie versuchte Kontakt zu den Adlern aufzubauen. Das hieß, sie suchte ihn immer noch. Wie konnte Kurai das zulassen? Und Jackin? Wieso hielten sie Aya nicht auf, sondern ließen sie unaufhaltsam in ihren Untergang rennen? Verflucht! Shinri, Shinri, Shin-. Auf einmal verstummte sie. Der Kontakt brach ab und Shinri stieß ein verärgertes Brüllen aus. Die Wut auf seinen kleinen Bruder wurde immer unerträglicher und die Lage, in der Aya sich befand, wurde ihm nun schmerzlich bewusst. Und was tat er? Er hing hier fest und versauerte. Eigentlich müsste er jetzt unten bei Aya sein und sie von hier wegbringen. Verflucht! Er hasste sich dafür. Seufzend schloss er die Augen und wartete auf seinen eigenen Tod. Wenn sie spürte, dass es bereits zu spät war, würde sie vielleicht verschwinden. Aber … der Tod setzte nicht ein und würde es auch niemals. Der Schmerz war fast unerträglich, aber dennoch brachte es ihn nicht um. Erstaunt betrachtete Aya den großen Adler, der über den Himmel flog, wie ein Geier in der Luft kreisend. Während Aya ihm zusah, konnte sie kaum glauben, dass sie den pechschwarzen Vogel herbeigerufen hatte. Erst, als er auf einem großen Ast, des nächsten Baumes, landete und sie unverwandt ansah, wurde es ihr wirklich bewusst. “Ich wusste, du kannst es.” lobte Kurai sie, und legte ihr anerkennend die Hand auf die Schulter. “Sprich mit ihm.” Aya nickte. Ihr erster Versuch war gelungen und sie schöpfte aus dieser Erfahrung neue Hoffnung und neuen Mut. Sie sah in die pechschwarzen, intelligenten Augen des großen Adlers. Aus der Nähe betrachtet, war er riesig. Er maß mehr als einen Meter und besaß ein Federkleid in verschiedenen Schwarztönen. Düster und faszinierend. Der dunkle Schnabel war spitz und sah gefährlich aus und seine Augen hatten etwas, dass sie kaum definieren konnten. Die dunklen Augen funkelten sie wissend an. Das Schwarz erinnerte Aya an jemand ganz bestimmten. Shinri. Er hatte die selben wunderschönen schwarzen Augen. Aus einem undefinierbaren Grund heraus, ging sie auf den Vogel zu und streckte langsam die Hand aus, als wage sie sich in ein fremdes, gefährliches Territorium vor. Genauso fühlte sie sich auch. Ihr Begleiter blieb an der selben Stelle stehen und sah zu. Aber Aya wusste, dass Kurai eingreifen würde, wenn etwas geschehen würde. Andererseits war sie sich ungemein sicher, dass sie nicht in Gefahr war. Nicht sie. “Ich … mein Name ist Aya. Und du musst Shinris Beschützer sein? Ich habe dich gerufen, weil wir deine Hilfe brauchen. Kannst du uns helfen?” Sie stand vor dem Ast, auf dem der große Adler zu ihr herabblickte. Sie sahen sich unverwandt in die Augen und es war, als würden sie wortlos Kontakt zueinander aufnehmen. Auf einmal hörte sie eine leise, weibliche Stimme in ihrem Kopf. Aya blickte nicht um sich, denn sie wusste, dass es der Alder war, der zu ihr sprach. Ich kenne dich. Und ich weiß, was dein Problem ist. Die Mauer verwehrt es dir, zu Shinri zu kommen. Mein Name ist Shiko und ich werde dir helfen, so gut ich kann. Leider werde ich dir keinen schmerzfreien Flug ersparen können. Shiko sah Aya entschuldigend an, aber dem Mädchen waren Schmerzen egal. Sie wusste, dass Shinri in diesem Moment mehr zu leiden hatte und sie würde alles auf sich nehmen, um ihn zu retten. “Ich bin bereit, lass uns aufbrechen”, stimmte Aya dem Vorschlag zu und nickte mit ernsthafter Miene. Noch nie war ihr etwas so wichtig, wie heute. Sie wollte und musste über diese Mauer, egal was es kosten möge. Auf einmal heulte im Wald ein Wolf auf und alle blickten in diese Richtung. Nur der Alder ließ seinen Blick nicht von Aya los. “Was war das? Kurai, was ist los?”, fragte das Mädchen, denn nach Kurais Blick zu urteilen, schürte er im Moment ernsthafte Wut. Der Zoma knurrte bedrohlich, den Blick weiterhin in den Wald gerichtet, als ein erneutes Heulen erklang. “Die anderen wurden angegriffen. Und es sieht nicht gut aus. Es ist Taiyo-Yoru.” Seine Stimme triefte vor Hass. Aya sah Kurai besorgt an. Ihre Freunde brauchten jetzt dringen Hilfe und Aya war beinahe so weit, in das Schloss hervor zu dringen. Sie fasste einen Entschluss. “Kurai, du musst ihnen helfen. Geh und kämpf. Ich werde mich um Shinri kümmern. Los, mach schon!” Kurai schüttelte mit ernsten Blick den Kopf. “Und wenn es eine Falle ist? Was ist dann? Ich kann dich nicht alleine lassen, bevor ich dich nicht in Sicherheit weiß.” Aya schnaubte wütend. “Als ob ich nicht auf mich selbst aufpassen könnte”, schimpfte sie. “Ich pack das schon! Und jetzt zisch ab, oder willst du noch jemanden verlieren?” Kurai sah noch immer unaufhörlich in den Wald, als suche er nach irgendetwas. Aber man sah seinen Augen an, dass der Gedanke, Aya hier zu lassen, ihn mehr als störte. “Und was ist, wenn du Taiyo-Yoru begegnest? Oder wenn irgendwelche Wachen dich aufhalten?”, wollte der Zoma wissen. Er sorgte sich, auch wenn seine Stimme noch immer ruhig und kalt war. Aya wollte nicht, dass er blieb. Es ging um das Leben von drei Leuten, die ihr wichtig waren. Sie war nur ein einziges, kleines Mädchen. Jackin war nicht stark genug. Ob Ria kämpfen konnte, war genauso fraglich, also blieb nur Lucio übrig. Und alleine gegen Taiyo-Yoru? Kurai musste ihnen unbedingt helfen! Beruhigend und sanft legte Aya ihre Hand auf Kurais Schulter. “Ich werde schon klar kommen. Ich bin vorsichtig und wenn ich jemanden erblicke, dann werde ich sie anschreien und ihnen einen richtig harten Tritt gebe, in eine Gegend, die sehr schmerzhaft ist, okay? Ich komme schon klar. Ich bin schon so lange alleine klar gekommen. Also geh schon. Die anderen brauchen dich dringender!” Ja, sie war schon so lange alleine. Ihre Eltern waren weit weg und meldeten sich fast nicht mehr. Und sie hatte bis vor kurzen auch nur einen einzigen Freund. Jackin. Was blieb ihr denn sonst, wenn Jackin nicht mehr war? Und Shinri? Die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben waren in Gefahr. Sie mussten etwas unternehmen! Ein weiterer Wolf begann zu heulen und kommunizierte mit Kurai. Dieser zuckte zusammen, als hätte er eine schlechte Nachricht empfangen. “Wachen. Taiyo-Yoru hat sie in eine Falle gelockt und sie müssen zusätzlich gegen seine Leute kämpfen. Es sieht schlecht aus. Sehr schlecht.” “Dann verzieh dich endlich!”, fauchte Aya wütend und funkelte ihn zornig an. “Steh nicht so blöd rum und geh. Mach schon!” Kurai merkte, wie ernst es ihr war. Aya würde sich alleine zu Shinri begeben, werden sie Taiyo-Yoru versuchten zu besiegen. Mit einem zustimmenden Nicken erklärte er sich bereit und wies Aya noch einmal darauf hin, dass sie aufpassen sollte. Kurz darauf machte er sich auf den Weg, um den anderen zur Hilfe zu eilen. Aya blieb alleine zurück. Aya wand sie sich erst wieder an den wunderschönen Adler Shiko, als sie auch wirklich sicher war, alleine zu sein. Sie tauschten einen wissenden Blick miteinander, bevor Aya beschwörend erklärte: “Los, Shinri braucht uns. Bringen wir es hinter uns.” Schon breitete Shiko ihre dunklen Flügel aus, mit einer Spannweite von mindestens drei Metern. Beeindruckend und beängstigend zugleich. Aber es schlug Aya nicht in die Flucht. Sie hatte keine Angst. Mutig und unerschütterlich blieb sie stehen, während der Adler sich in die Luft erhob. Einem Instinkt folgend hob Aya ihre Arme, ging einige Schritte zurück auf eine freie Fläche und wartete auf Shiko, die hoch oben in der Luft ihre Kreise zog. Der Sturzflug ließ nicht lange auf sich warten. Schnell und geschmeidig stürzte der Adler auf sie zu, visierte sie an wie eine Beute und ließ sie nicht entkommen. Aya blieb ungerührt stehen und blickte dem Vogel entgegen. Kurz über ihr änderte Shiko ihren Kurs, flog über Ayas Kopf hinweg und schnappte sich ihre Handgelenke. Die Krallen bohrten sich schmerzhaft in das zarte Fleisch. Es brannte und schmerzte, aber Aya blieb still und biss die Zähne zusammen. Gleich darauf wurde sie von den Schmerzen abgelenkt, als sie den Boden unter den Füßen verlor. Ihr Körper wurde in die Luft gezogen und immer weiter fort getragen, als wöge sie nicht mehr als ein Sack voller Federn. Das Gras und die Bäume wurden kleiner und die Entfernung zur Erde weiter. Sie hatte den Blick in Richtung Wald und gab sich ganz unter Shikos Schutz. Nach einigen Sekunden passierten sie bereits die Mauer und Aya sah hinab in einen großen Garten, der bereits ungepflegt und alt war. Efeu überzog den großen Springbrunnen und die Innenmauer. Die Gewächse waren groß und undurchdringbar. Nach einigen weiteren Metern hörte der Garten auf und eine Wiese fing an. Aya spürte, wie sie dem Schloss immer näher kamen. Sie fühlte, wie sie angezogen wurde und je näher sie kam, desto erleichterter fühlte sie sich, als fiele ihr eine schwere Last von den Schultern. Das Schloss sieht still und leer aus. Wir sind bald da. Ich kann nicht mit hinein kommen. Aber wenn etwas ist, kannst du jederzeit ein Fenster öffnen. Ich werde hier sein, verkündete Shiko, während sie viele Meter über der Wiese hinweg flog, dem Schloss von Shinris Familie entgegen. “Vielen Dank, dass du gekommen bist. Ich werde Shinri befreien. Das verspreche ich”, verkündete Aya feierlich und dankbar. Ohne Shiko wäre sie nie so weit gekommen. Ein weiser und liebenswürdiger Adler. Sie hatte Shiko bereits tief in ihr Herz geschlossen. Danke mir nicht, sondern mache Shinri glücklich. Wenn er zufrieden ist, bin auch ich es. Sein Glück ist auch mein Glück. Wenn du ihn befeist, dann bin ich es, die zu danken hat. Sie schwieg kurz, bevor sie dann wieder ihre freundliche Stimme erhob. Wir sind da. Ich werde dich jetzt loslassen. Mach es gut und rufe mich, wenn du mich brauchst. Ich weiß immer, wo du bist. Obwohl sie es nicht wollte, dankte Aya ihr trotzdem noch einmal. Shiko segelte einige Meter tiefer und auf einmal löste sich der schmerzliche Griff und Ayas Handgelenke und sie stürzte in die Tiefe. Das Gras war hoch und weich und dämpfte ihre Landung ab. Der Schmerz, der sie durchfuhr, nahm ihr dennoch den Atem. Sie blieb für einen kurzen Moment liegen und verdaute ihr Leiden, riss sich dann aber wieder zusammen, denn ihre Wunden waren nicht halb so schlimm, wie Shinris. Sie rappelte sich auf und blickte sich um. Vor ihr stand das Schloss in seiner ganzen altertümlichen Pracht. Das Gestein war dunkel und alt. Efeu wuchs hinauf und bedeckte das Grau der Steine. Aya ließ sich keine Zeit, um das Bild weiter zu bewundern. Es ging um Leben und Tod. Ganz allein an ihrer Geschwindigkeit hing es ab, ob sie Shinri noch retten konnte. Ungeachtet aller Schmerzen rannte sie los, dem Schloss entgegen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)