Nai Kan - Das innere Tor von Ixtli (Sommer-Wichtel-Story für Asaliah) ================================================================================ Kapitel 3: Nai Kan - Das innere Tor ----------------------------------- ~ * ~ Nai Kan - Das innere Tor Der Besuch einer nahegelegenen Kneipe war nach der zweiten Kursstunde bereits zum festen Ritual geworden und auch am heutigen Abend bevölkerte Hennings Shiatsu-Kurs das Gasthaus. Mischa saß an einem Tisch und starrte nachdenklich auf die Tischplatte vor sich. Als die Eiswürfel in seinem Drink bereits geschmolzen waren und sich gerade niemand in seiner Nähe befand, gesellte sich Henning zu ihm. Eine Zeit lang saßen sie sich schweigend gegenüber. Mischa hielt sein Glas in seinen Händen und sah zu wie sich die Lichter der Musikbox von gegenüber darin brachen. Und auch Henning ging in Gedanken durch, was er zu sagen vorhatte. Eine falsche Formulierung und das Vertrauen, das sich gerade zwischen ihnen aufzubauen begann, war wieder dahin. "Ist doch nicht schlimm", richtete Henning schließlich vorsichtig das Wort an Mischa. "Du bist nicht der erste, dem das passiert ist." Mischa lachte tonlos auf. "Aber es war das erste Mal, dass mir das passiert ist!" "Ich habe dich vermutlich zu sehr bedrängt." "Im Gegenteil", erwiderte Mischa so leise, dass es fast im Kneipenlärm unterging. Henning sah Mischa an, der den Blicken auswich. "Irgendeinen Fehler werde ich wohl gemacht haben, wenn du dich bei der Behandlung so unwohl gefühlt hast", seufzte er. Mischa schüttelte kaum merklich seinen Kopf. Henning verstand es nicht. Er setzte das Glas an seine Lippen und trank den letzten Schluck seines mittlerweile schalgewordenen Drinks. "Du hast überhaupt keinen Fehler gemacht", begann Mischa Minuten später erneut und dieses Mal wandte er die Blicke nicht ab, als Henning ihn stumm ansah. "Und ich habe mich auch nicht unwohl gefühlt, sondern viel zu wohl." Henning stutzte, dann nickte er. Er stand auf und ging wortlos davon. Nach einer Weile kam Henning zurück an Mischas Tisch und setzte sich wieder auf seinen vorherigen Platz. Er stellte ein gefülltes Glas vor Mischa auf die Tischplatte und trank einen Schluck von seinem eigenen frischen Getränk. "Bist du das nächste Mal wieder dabei?", erkundigte sich Henning vorsichtig. "Es ist die letzte Stunde." Mischa schwieg und starrte wieder in sein Glas, in dem sich neue Eiswürfel stapelten. "Was ist denn an der Reihe?" Henning zögerte die Antwort hinaus. "Die Körpervorderseite", erwiderte er verhalten. "Angefangen beim Hara?", erkundigte sich Mischa. Henning nickte langsam. "Jetzt, wo wir ja schon so weit gekommen sind, dass das mit dem gegenseitigen Vertrauen schon klappt, dachte ich, dass wir jetzt damit beginnen könnten, aber wenn du nicht möchtest, machen wir eben eine andere Übung..." Mischa zuckte mit den Schultern. "Hara klingt gut. Ich bin dabei", stimmte er so locker zu, dass Henning sich fragte, ob das Gespräch kurz zuvor überhaupt stattgefunden hatte. Mischa hielt Wort und erschien pünktlich zur nächsten Stunde. Henning schwankte zwischen Erleichterung und den zweifelnden Gedanken, die er sich noch nach dem Kneipenbesuch vom letzten Mal gemacht hatte, aber Mischa schien die Sache vergessen zu haben. Die Stunde begann wie immer mit Atem- und Lockerungsübungen. Danach legten sich die zu Behandelnden auf den Rücken und Henning begann seine Erklärungen zur besten Vorgehensweise. Mischa sah hoch an die Decke. Henning schien der Behandlung ausweichen zu wollen, er redete und redete, ohne endlich mit dem Shiatsu zu beginnen. Als ihm dann endlich der Gesprächsstoff ausgegangen war und er seine Hände zögernd auf Mischas Bauch legte, stoppte dieser ihn. Irritiert sah Henning zu Mischa hinab. "Kann es sein, dass du heute selbst ein bisschen angespannt bist?" Mischa schickte dem Satz ein Lächeln hinterher, das Henning erleichtert wahrnahm. "War keine Absicht", entschuldigte sich Henning und fuhr mit der Übung fort. Mischa griff erneut nach Hennings Hand, der mittlerweile so unsicher wirkte, wie Mischa ihn noch nie gesehen hatte. "Wie wäre es, wenn wir mal die Positionen tauschen?", schlug Mischa dem verblüfften Henning vor. "Dann könnte ich das, was ich bisher gelernt habe, auch mal endlich anwenden..." "Na - Okay", stimmte Henning zögerlich zu. Er tauschte mit Mischa den Platz, der sich gleich in seiner neuen Rolle wohlzufühlen schien. "Mal was anderes, was?" Mischa grinste breit, als er von oben auf Henning hinabsah. Henning lächelte leicht. Auch wenn Mischa dran war, Henning die Behandlung zu geben, war es der Shiatsulehrer, der auch weiterhin die Anweisungen gab. Und Mischa hielt sich genau an das, was Henning ihnen sagte. Er schob eine Hand auf Nabelhöhe unter Hennings Rücken und legte seine andere still auf die gegenüberliegende Bauchseite. Mischa konzentrierte sich auf Hennings Atmung und spürte das entfernte Klopfen von dessen Herz unter seiner Bauchdecke. Ganz langsam merkte Mischa, wie sich Henning zu entspannen begann. Er beobachtete seinen liegenden Partner ganz genau und merkte schnell, dass, soweit er das Prinzip des Shiatsu schon verstanden hatte, ihn Henning genau das glauben machen wollte. Er war alles andere als entspannt. Er wirkte zwar äußerlich so, aber seine Hände, die locker an seiner Seite ruhen sollten, suchten nach Halt auf der Matte. Henning war regelrecht erleichtert, als die Stunde zu Ende war. Er schloss die letzte Kursstunde mit einigen Worten ab und teilte an jeden einzelnen seiner Schüler ein selbstgestaltetes Zertifikat aus. "Dann sind wir jetzt wohl die ersten Fahrradkuriere, die auch Shiatsu-Behandlungen geben dürfen. Das weitet unser Betätigungsfeld ungemein aus", freute sich einer der Kuriere. Henning freute sich mit ihnen. "Es ist zwar nicht offiziell, aber wenn ihr etwa drei Jahre durchhaltet, gibt es ein echtes Zertifikat." Die Fahrradkuriere jubelten und klatschten. "Wann beginnt eigentlich der nächste Kurs?", warf einer der Kuriere fragend dazwischen. "Bis jetzt hast du uns noch keine Zeit genannt und auch keine Anmeldung verlangt." Henning druckste etwas herum. "Die Anmeldungen von diesem Kurs hier reichen auch für den nächsten aus. Mehr als die Namen brauche ich nicht", antwortete er schließlich. "Und was den Termin angeht, da gebe ich allen am Wochenende Bescheid, da findet noch eine kleine Abschlussfeier bei mir statt, zu der natürlich alle eingeladen sind. Die Kuriere jubelten erneut. "Deine Nachbarn tun mir ehrlich leid", begrüßte Mischa Henning als er am Abend der Party bei diesem eintraf. "Sieht es so nicht besser aus?" Mischa legte den Kopf schief und sah Henning stirnrunzelnd an. "Wie viele Zimmer hat deine Wohnung überhaupt? Funktioniert das wie ein Karussell? Beim nächsten Mal, wenn ich komme, ist dann das Schlafzimmer im Arbeitszimmer?" Henning lachte auf und schob Mischa vor sich her in das Wohnzimmer, durch dessen Rundbogen man nun statt ins Esszimmer in einen Teil des Schlafzimmers sehen konnte. "Ist doch ganz einfach", begann Henning. "Oben rechts neben dem Schlafzimmer ist noch ein Zimmer und hier rechts vom Wohnzimmer liegt auch noch eines. Und in das Bad und die Küche kommst du vom Flur aus. Nimm dir was zu trinken oder zu essen, steht alles im Esszimmer." Henning war verschwunden, ehe Mischa hatte nachfragen können, wo das Esszimmer denn überhaupt war. Kurzerhand machte er sich selbst auf die Suche. Laut Henning blieben ja nicht mehr viele Möglichkeiten, wo das Esszimmer sein konnte und da er näher am Schlafzimmer stand, fing er dort mit seiner Suche an. Mischa betrat den Raum, der nun derjenige mit der Klimaanlage war, die auch just an diesem Abend lief. So schnell wie möglich durchquerte Mischa Hennings Schlafzimmer um zu der Tür zu gelangen, die sich an der rechten Seite befand, aber ganz konnte er seine Neugierde doch nicht zügeln. Er hielt kurz inne und sah sich in dem Zimmer um, das ganz normal eingerichtet war. Bis auf die Matten und Kissen, die sich in einer Ecke stapelten - eben jene Matten und Kissen, die sie im Kurs benutzt hatten. Gehörten die nicht eigentlich ins Gemeindezentrum, wenn der Folgekurs dort stattfinden sollte, wunderte sich Mischa. Er sah stumm auf den Mattenstapel, als gäbe der ihm irgendwann die Antwort, dann verließ Mischa das Schlafzimmer Richtung Wohnzimmer, ohne hinter der Tür nachgesehen zu haben, welches Zimmer dort lag. "Doch keinen Durst?", erkundigte sich Henning bei Mischa, der ihm mit leeren Händen entgegenkam. "Eigentlich schon, aber du hast mir ja nicht verraten, wo das Esszimmer ist." Henning nickte zu der Tür im Wohnzimmer. Er folgte Mischa, der durch die Tür trat und sich ausnahmsweise im angekündigten Esszimmer befand. "War doch gar nicht so schwer zu finden, oder?", witzelte Henning. "Man könnte sich dran gewöhnen", entgegnete Mischa. Er nahm eine Flasche Bier aus einem Kasten, öffnete sie und reichte sie an Henning weiter. Nachdem er auch für sich selbst eine Flasche genommen hatte, trat Mischa durch die offene Balkontür hinaus ins Freie. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, war es noch fast so heiß wie am Tage. Der aufgeheizte Asphalt strahlte nun die ganze, über Stunden gespeicherte Hitze aus und nur der leichte Wind, der mit der Dunkelheit eingekehrt war, sorgte für etwas wohltuende Kühle. Mischa ging zum Geländer und stützte die Arme darauf ab. Er trank ein paar Schlucke aus seiner Flasche und ließ die Blicke über die Stadt wandern. Der Balkon lag zu einem kleinen Garten hin und aus dem vierten Stock hatte man einen nahezu ungehinderten Blick über die Umgebung. Irgendwo in der Nachbarschaft fanden wohl noch mehrere Grillparties statt. Man hörte leise Musik und das Lachen feiernder Leute in der Ferne. Lichtergirlanden hingen in den Bäumen und ab und zu sah man die kleinen bunten Lichter durch die Blätterkronen blitzen. "Du verschwendest den größten Raum der Wohnung als Schlafzimmer, obwohl das hier das ruhigste von allen ist?", begann Mischa das Gespräch. "Aber jetzt habe ich die Klimaanlage im Schlafzimmer. Ist doch besser bei der Hitze." "Ist es auch besser bei deinen Schlafstörungen, wenn du in dem Zimmer zur Straße hin schläfst?", wandte Mischa ein. "Außerdem liegt jetzt das Arbeitszimmer neben dem Schlafzimmer. Ist das nicht genauso ablenkend, als wenn es neben dem Wohnzimmer liegt? Deswegen hattest du die Wohnung doch damals umgeräumt, wenn ich mich nicht irre." Henning stand neben Mischa und schien erst ausführlich zu überlegen, was er antworten sollte. "Es ist egal, wie ich die Wohnung umräume, das Arbeitszimmer liegt immer irgendwo neben einem anderen Raum, von dem ich mich vielleicht von der Arbeit ablenken lassen könnte..." "Du räumst doch sowieso nur um, wenn du nicht schlafen kannst und nicht, weil du die Zimmer anders angeordnet haben möchtest." Mischa schien mit seinem letzten Satz ins Schwarze getroffen zu haben, denn plötzlich kam wieder Leben in Henning. "Eigentlich brauche ich ja gar kein Arbeitszimmer. Der PC kann auch im Wohnzimmer stehen und die Bücher schleppe ich sowieso immer in der ganzen Wohnung mit mir herum", sinnierte Henning. Er hielt kurz inne und sah Mischa an, als bemerke er ihn jetzt das erste Mal. "Ich schmeiße die Regale raus und mache aus dem Zimmer einen Raum, in dem ich Shiatsu-Behandlungen anbieten kann." Mischa schwieg verblüfft. Er hatte das Gespräch aus einem anderen Grund auf die Zimmer gebracht, aber das Ergebnis war noch besser als das Geplante. "Das wäre wohl das Naheliegendste", stimmte Mischa zu. "Dann räume ich das Wohnzimmer wieder dorthin, wo es als erstes war, neben das Arbeitszimmer", spann Henning eifrig weiter. "In das Zimmer mit der Klimaanlage?", unterbrach Mischa seinen Nebenmann, der ihn mit seinen Umräumplänen zu verwirren begann. Henning nickte zustimmend. "Dann könnte ich beide Räume als Behandlungszimmer nutzen! Das kleine für Einzelbehandlungen und das Wohnzimmer für Kurse mit mehreren Teilnehmern." "Dann geht der Kurs also wirklich weiter?", hakte Mischa misstrauisch nach. "Hast du denn was anderes erwartet?" Mischa warf Henning einen ernsten Blick zu, der diesem auf der Stelle sämtliche Euphorie zu nehmen schien. "Nach der letzten Stunde hat es sich so angehört, als hättest du noch gar keine richtigen Pläne für den Folgekurs", brachte Mischa seine Bedenken auf den Punkt. "Außerdem liegen die Matten und Kissen für den Kurs komischerweise hier in deinem Schlafzimmer, anstatt im Gemeindezentrum, wo die Kurse stattfinden." Schon wieder ins Schwarze getroffen, dachte Mischa, als er Hennings erstarrte Miene sah. "Manche Dinge ändern sich eben nie." Henning versuchte ein zögerliches Lächeln, das ihm gründlich misslang. "Sieht man ja an der Wohnung, die dann bald wieder so ist, wie zu Anfang", warf Mischa ein. "Wieso hast ausgerechnet du als Shiatsulehrer Schlafstörungen, obwohl du uns versuchst beizubringen, wie man sich richtig entspannt?" Herausfordernd sah Mischa Henning an. "Weil eben auch Shiatsulehrer Probleme haben, die sie nicht schlafen lassen", antwortete der ausweichend, "aber es ist nichts, was sich nicht auch irgendwie wieder lösen lässt." Henning probierte ein erneutes Lächeln. "Ich glaube dir kein Wort", erwiderte Mischa enttäuscht, der doch etwas mehr Vertrauen von Henning erwartet hatte, als dieser ihm nun entgegen zu bringen schien. Er wandte sich von dem Geländer ab und ließ einen nachdenklichen Henning alleine auf dem Balkon zurück. Bevor er zu den anderen ins Wohnzimmer zurückging, nahm sich Mischa noch etwas von den auf dem Esstisch angebotenen Speisen. Er füllte sich ein bisschen von allem auf den einen Teller und suchte sich einen Sitzplatz, wo er einigermaßen ungestört essen konnte. Schon nach dem ersten Bissen, den er sich in den Mund schob, verzog Mischa angewidert das Gesicht. Das Essen schmeckte scheußlich. Völlig versalzen! Mischa legte das Besteck zurück auf den Teller und überlegte, wie er den ungenießbaren Fraß möglichst unauffällig wieder verschwinden lassen konnte. Vorsichtig sah sich Mischa um. Auch einige der anderen Partygäste hatten wohl das gleiche Problem wie er. Mehrere der Leute standen ratlos mit ihren vollen Tellern in den Händen herum und sahen sich nach einer Möglichkeit um, es wieder loszuwerden, ohne ihren Gastgeber zu beleidigen. Mischa blickte Richtung Küche, aber Henning blockierte beide Ausweichmöglichkeiten, die ihn ungesehen aus dem Wohnzimmer geführt hätten. Er stand genau zwischen Esszimmer und der geöffneten Tür zum Flur, durch den man in die Küche gelangte. Mischa seufzte. Zufällig fielen seine Blicke neben das Sofa, auf dem er saß. Eine einsame Topfpflanze stand neben dem bunten Sitzmöbel und der Blumentopf hatte genau die Richtige Größe, um einen Teller dahinter zu verstecken. Langsam rückte Mischa näher zum Seitenteil des Sofas. Er lehnte sich leicht nach links über die Armlehne und stellte den vollen Teller hinter der Palme ab. Erleichtert, das Essen doch so einfach losgeworden zu sein, begab sich Mischa wieder unter die anwesenden Gäste. Gegen zwei Uhr in der Früh verabschiedeten sich auch die letzen Gäste, allerdings nicht, ohne Henning nicht noch wegen eines neuen Termins für den nächsten Shiatsukurs gelöchert zu haben. "In drei Wochen, gleiche Zeit wie immer", antwortete Henning nach kurzem Nachdenken. "Wieder im Gemeindezentrum?", erkundigte sich einer der Kuriere. Henning sah für einen Moment wieder etwas ratlos drein, was Mischa auch prompt nicht entging, aber dann fiel Henning wieder das Gespräch ein, das er an diesem Abend mit Mischa geführt hatte. "Nein, dieses Mal treffen wir uns nicht im Gemeindezentrum. Die Kurse finden in Zukunft hier bei mir statt." "Klasse", freute sich einer aus der Runde und die anderen murmelten zustimmend. Nachdem sich die Tür endgültig hinter den Letzten geschlossen hatte, sah sich Henning in seiner Wohnung um. Er rieb sich kurz über die müden Augen, aber als er sie wieder öffnete, war das Chaos in seiner Wohnung noch immer da. "Morgen ist ja Sonntag", sprach er sich selbst Mut zu. "Und zu zweit geht das Aufräumen schneller." Henning wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Mischa hatte einen leeren Bierkasten aus dem Esszimmer geholt und war dabei, die ausgetrunkenen Flaschen in der Wohnung einzusammeln. Henning gesellte sich zu ihm und schweigend füllten sie den Kasten mit den leeren Flaschen. Als Henning kurz aufseufzte, freute sich Mischa schon darauf, dass dieser nun endlich über das zu sprechen begann, was auf dem Balkon vorgefallen war, aber als sich Henning zu dem abwartend dreinschauenden Mischa umdrehte, hielt er ihm einen vollen Teller unter die Nase. "Das ist sicher schon der fünfte volle Teller, den ich heute Abend irgendwo gefunden habe und alle stehen an den unmöglichsten Plätzen", murmelte Henning vorwurfsvoll. Mischa lächelte Henning unsicher zu. Er dachte an seinen eigenen gefüllten Teller, den er selbst hinter einem Blumentopf versteckt hatte. Er nahm dem jungen Mann den Teller aus der Hand und trug ihn in die Küche. "Ich übernehme die Ecke", bot Mischa Henning großzügig an, der gerade gefährlich nahe am Sofa aufräumte. Er ließ sich auf die Knie hinab und angelte ein paar leere Flaschen unter dem Sofa hervor, die er an Henning weitergab. Dann sah er seinen Teller, der noch immer halb verborgen hinter dem Blumentopf stand. Den konnte er ja kaum dort stehen lassen. Mischa streckte seine Hand nach dem Teller aus, als dieser plötzlich aus seiner Reichweite verschwand. Henning zog den Teller hinter der Topfpflanze hervor und sah fragend zu Mischa hinüber, der noch mit ausgestrecktem Arm vor dem Sofa kniete. Langsam stand Henning auf. Er nahm auf der niedrigen Wohnzimmertischplatte Platz und hielt den Teller stumm auf seinem Schoß. "Ich kann mir das nicht erklären", sagte er geknickt. "Warum stehen die Teller hier überall verteilt? Und warum sind alle noch voll?" "Das ist mein Teller und ich kann dir sagen, warum er da stand. Wenn du möchtest...", versuchte Mischa zu erklären. Er lächelte Henning verschämt an. "Was, deiner?!", lachte Henning nun. "Warum hast du den denn hinter der Dracena versteckt?" Mischa bekam erst kein Wort heraus. Er nahm gegenüber Henning auf dem Sofa Platz. "Das Essen war etwas... gewöhnungsbedürftig", stammelte er leise. "Du meinst ungenießbar", berichtigte Henning sein Gegenüber grinsend. "Macht ja nichts", Henning stellte den Teller beiseite, "ich weiß, dass ich nicht kochen kann. Ich hätte wohl besser einen Cateringservice beauftragt..." "Du willst mir weismachen, dass dir das bei den ganzen Abschlussfeiern deiner Kurse noch nie aufgefallen ist?", neckte Mischa Henning grinsend. "Bis jetzt haben immer alle aufgegessen", erwiderte Henning unschuldig. Er schwieg kurz. "Die Ärmsten..." Mischa stimmte in Hennings Lachen ein. "Aber die Getränke waren immer leer", warf Henning dazwischen. "Ja, kein Wunder. Vermutlich haben sie als Essensersatz gedient, oder-" "Oder um das verspeiste Essen vergessen zu können", beendete Henning Mischas Satz lachend. "Dann fällt der nächste Kurs eben so lange aus, bis ich einen Kochkurs abgeschlossen habe." "Das ist nicht dein Ernst!", unterbrach Mischa Henning. "Du hast doch gesehen, wie sich alle auf den nächsten Kurs gefreut haben!" "Ja, ja", Henning winkte ab. "Und hinterher will keiner den Kurs abschließen, weil sie alle Angst vor dem Essen auf der Abschlussfeier haben." "Ich bringe dir das Kochen bei!", bot Mischa Henning eifrig an. "Sind zwar keine Fünf-Gänge-Menüs, aber ein bisschen was bekomme ich schon zusammen. Hauptsache, der Kurs fällt nicht aus." "Aha", Henning sah Mischa aus zusammengekniffenen Augen an. "Dann ist dein Angebot ja fast uneigennützig!" "Vollkommen", grinste Mischa sein Gegenüber an. "Ich will nur in den Kurs und hinterher auf die Party", setzte er zwar leise, aber laut genug für Hennings Ohren hinzu. "Das ist aber überhaupt nicht uneigennützig", tadelte Henning Mischa amüsiert. Mischa lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. "Aber so ergänzen wir uns doch perfekt, oder nicht?!" "Ergänzen?" Henning tat überrascht. "Hast du etwa nichts im Kurs gelernt, weil wir uns ergänzen müssen?" "Na und was ich alles gelernt habe", antwortete Mischa bereitwillig. "Vor allem, niemandem zu trauen, wenn es um Elektrizität geht..." Henning lachte laut auf. "Ohne die Erfahrung würdest du aber vermutlich kaum hier sitzen." "Dank dieser Erfahrung ist es ein Wunder, dass ich hier überhaupt sitzen kann!", entgegnete Mischa empört. Dann fiel ihm etwas ein, das er Henning die ganze Zeit schon fragen wollte. "Du hast mir damals im Krankenhaus doch die Hand gehalten, oder?" Henning zuckte mit den Schultern. "Kann gut sein." "Das gehörte doch schon zum Shiatsu?" Mischa sah Henning gebannt an, der langsam nickte. "Das war der Shin Mon-Punkt, der liegt unter dem Handgelenk", fuhr Henning fort. "Den wendet man bei Ohnmacht an." "Der hilft auch gegen Schlaflosigkeit", erklärte Mischa. Henning atmete bei der Erwähnung des leidigen Themas leise aus. Er sah auf seine Handgelenke hinab. "Der hilft zwar schon bei Schlaflosigkeit, aber die hat einen anderen Ursprung, den der Shin Mon-Punkt leider nicht heilt." "Aber der Nai Kan-Punkt", erwiderte Mischa. Er hielt Henning auffordernd die Hand hin, der sie zuerst nur stumm ansah. Dann streckte er seinen Arm Mischa entgegen, der ihn ihn ergriff und Henning daran Richtung Sofa zog, bis dieser vor ihm auf dem Boden kniete. Mischa legte seine Hände ruhig um Hennings Unterarm, der auf seinen Knien ruhte, und hielt ihn fest. "Diese ganzen interessanten Meridiane wolltest du uns alle vorenthalten?!" Henning verstand, was Mischa meinte. Er war nicht so ahnungslos, wie Henning vielleicht gehofft hatte, das hatte er ihm an diesem Abend jetzt gerade das zweite Mal bewiesen, nur gab es jetzt keine Ausweichmöglichkeiten mehr. "Du hast mir schon dreimal aus der Klemme geholfen, ja, praktisch das Leben gerettet, meinst du, ich lasse dich dann hängen?" Erleichtert sah Henning, wie sich Mischas nachdenkliche Miene zu entspannen schien. "Übertreibst du nicht ein bisschen?" Ein Lächeln begann sich auf Mischas Gesicht auszubreiten. "Natürlich nicht", stritt Henning amüsiert ab. "Ich hätte ja den Stromschlag bekommen können und dann hätte der Kurs nie stattgefunden." "So, so", Mischa blickte sein Gegenüber belustigt an. "Und wann genau war das zweite Mal, dass ich dich gerettet habe?" Henning wurde wieder ein Stückchen ernster. "Als du mich auf die Idee gebracht hast, die Zimmer noch einmal zu tauschen. Erst da fiel mir ein, dass ich die Kurse ja auch hier geben könnte. Sonst hätte ich euch heute Abend kein Datum nennen können." "Das wusstest du aber schon am Ende der letzten Stunde", erinnerte Mischa Henning, der schuldbewusst den Blick etwas senkte. "Ich wusste es schon vor drei Wochen, dass es wahrscheinlich keinen Folgekurs mehr geben würde", gab er leise zu. "Man hat mir damals schon gesagt, dass ich die Kursleitung nicht bezahlt bekomme, weil die Teilnehmerzahl zu gering war." Mischa schwieg überrascht. "Und was ist mit uns? Wir waren doch mit den anderen Drei zusammen fünfzehn Leute." "Tja", Henning seufzte kaum hörbar. "Eure Anmeldungen kamen zu spät, die Schule ließ nur die drei früheren Anmeldungen gelten, die noch vor Beginn des Kurses eingingen." "Das heißt also, du hast überhaupt kein Geld für deine Arbeit bekommen?", schloss Mischa. Henning nickte beschämt. Und die Miete für die Räume des Gemeindezentrums musste er auch selbst bezahlen, dachte er bei sich, aber das war etwas, was er Mischa nicht unbedingt auf die Nase binden wollte. "Ich habe dort sowieso gekündigt", fügte Henning laut hinzu. Mischa schüttelte ungläubig den Kopf. "Dann hast du uns nach der letzten Stunde also einfach gesagt, dass es einen Fortgeschrittenenkurs geben wird, obwohl du wusstest, dass das unmöglich ist?" Hilflos hob Henning die Schultern. "Ich habe auf dich gezählt, und wie du siehst, habe ich mich nicht verrechnet." Henning sah Mischa so treuherzig an, dass dieser lachen musste, ob er wollte oder nicht. "Die dritte meiner heldenhaften Taten möchte ich jetzt aber auch noch wissen." Mischa sah gebannt zu Henning, der noch immer vor ihm kniete und ihn stumm lächelnd musterte. "Das ist noch gar nicht so lange her", Henning sah auf seinen Arm hinab. Mit einer Hand hielt Mischa noch immer Hennings Handgelenk und mit der anderen strich er sachte die Innenseite des Arms hinunter. Die ganze Zeit über hatte er das getan, während er Henning geduldig zugehört hatte. Als Mischas Hand seine Hand schließlich erreichte, schlangen sich ihre Finger ineinander. Henning beugte sich nach vorne, zu dem auf dem Sofa sitzenden Mischa hin und küsste ihn kurzerhand. Mischa hatte nichts anderes erwartet, Henning war ihm nur zuvorgekommen. Er rückte etwas weiter zur Sofakante vor und legte sachte seine Arme um Hennings Nacken. Beinahe hätte Mischa protestiert als sich Hennings Lippen nach einer Weile wieder von seinen lösten. "Das war bis jetzt die beste Wirkung des Shiatsu", flüsterte er. "Ach, das war ja noch gar nichts", wiegelte Henning lächelnd ab. "Da gäbe es noch so ein paar Punkte, die ich dir außerhalb des Kurses in ein oder zwei Privatstunden zeigen könnte..." "Nur zwei?", erwiderte Mischa prompt und küsste noch einmal den lächelnden Mund vor sich. Die Türklingel erscholl. Henning stellte den Wohnzimmertisch ab, den er gerade an seinen neuen Platz stellen wollte, und ging zur Tür. Mischa hatte sich erst für später angekündigt, um ihm beim Umräumen der Wohnung zu helfen, und anderen Besuch erwartete er heute eigentlich auch nicht mehr. An der Tür angekommen, zog Henning diese auf und blickte verwirrt auf eine unübersichtliche, lärmende Meute, die lachend und johlend den Flur und das Treppenhaus vor seiner Wohnung bevölkerte. "Wir haben gewonnen!", schrie ihm jemand aus dem vielköpfigen Pulk zu. Erst als sich einige aus der Meute lösten und in seine Wohnung drängten, erkannte Henning, wen er da vor sich hatte: es waren die Fahrradkuriere aus seinem Shiatsukurs. "Wir haben die anderen sowas von abgehängt, dass die wahrscheinlich noch gar nicht im Ziel sind!", schrie wieder jemand und der Rest brach erneut in tosenden Jubel aus. "Glückwunsch!" Henning lachte und schloss die Tür hinter dem letzten hineinstürmenden Kurier. Im leergeräumten Wohnzimmer versammelte sich die Gruppe schließlich und eine junge Frau trat vor. "Und dieses Mal haben wir das Preisgeld besser investiert, als nur in ein halbes Dutzend Kästen Bier", erklärte sie feierlich. Sie winkte zwei Männern zu, die zu ihr vortraten. "Wir haben nur einen Kasten Bier gekauft", die beiden Männer hielten den besagten Kasten hoch. "Der Rest des Geldes haben wir für etwas anderes ausgegeben." Einer der Kuriere drückte Henning nun ein paar bunte Blätter in die Hand. "Henning May; Shiatsu-Therapie; Einzel- und Gruppenstunden nach Vereinbarung", las Henning verblüfft von einem der Flyer ab, die man ihm übergeben hatte. Henning bekam kein weiteres Wort mehr heraus. Er sah fragend zu Mischa, der ihn anlächelte. "Du hattest noch etwas gut bei uns." Mischa zeigte auf die Zettel. "Wir haben eine ganze Menge davon drucken lassen und die nehmen wir ab jetzt auf unsere Touren mit und hinterlegen sie bei so vielen Geschäften und Firmen wie möglich." "Wir kennen alle lohnenden Kunden", beteuerte eine Kurierfahrerin. "Und die anderen werden uns noch kennen lernen." Die Kuriere samt Henning lachten. "Und woher habt ihr gewusst, dass ihr das Rennen gewinnen werdet? Immerhin war es ja erst heute und die Zettel sind doch sicher nicht in der letzten halben Stunde gedruckt worden", wandte Henning ein. "Ganz einfach. Wir haben mit nichts anderem gerechnet", antwortete ihm Mischa augenzwinkernd mit der gleichen Phrase, die Henning so gerne benutzte, wenn er eigentlich nicht wusste, was er sagen sollte. Mischa drückte dem erbleichten Henning eine geöffnete Flasche Bier in die Hand und stieß mit ihm an. "Da sind wir ja gerade noch rechtzeitig gekommen." Mischa nickte zur halb umgeräumten Wohnung hin. "Aber das schaffen wir heute noch. Wenn der Betrieb wegen den Shiatsustunden erst mal losgeht, hast du dafür ja zum Glück keine Zeit mehr." Henning legte einen Arm um Mischas Taille. "So tatendurstig kenne ich dich ja gar nicht", witzelte er. "Wir kennen uns ja auch noch nicht so lange. Mein ganzes Heldenpotential habe ich dir ja noch gar nicht vorführen können. Das war erst Nummer vier und Nummer fünf wartet noch." "Nummer fünf?", Henning sah Mischa fragend an, der ihm nun einen flachen, in Papier eingewickelten Gegenstand präsentierte. Vorsichtig faltete Henning das Papier auseinander und blickte erstaunt auf ein Messingschild mit seinem Namen, dem Hinweis auf die Shiatsubehandlungen und seiner Telefonnummer darauf. Still beobachtete Mischa Henning, der zuerst das Schild und dann ihn sprachlos anlächelte. "Schrauben wir es jetzt schon unten neben die Haustür oder erst, wenn die Wohnung umgeräumt ist?", wollte Mischa grinsend wissen. "Erst später." Henning strich sachte über Mischas Wangen. Er sah den jungen Mann vor sich lange an, dann neigte er seinen Kopf zu Mischa und küsste die ihn vertrauensvoll anlächelnden Lippen. "Und dieses Mal schalten wir zuerst den Strom ab, ich habe nämlich das Gefühl, ich könnte dich noch ganz gut gebrauchen." ~ Ende ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)