Nai Kan - Das innere Tor von Ixtli (Sommer-Wichtel-Story für Asaliah) ================================================================================ Kapitel 2: Jitsu Getsu - Sonne und Mond --------------------------------------- ~ * ~ Jitsu Getsu - Sonne und Mond Eine Woche war mittlerweile seit dem Unfall vergangen und Mischa radelte wieder munter durch die Stadt. Er trug zwar eine alte Jacke ohne technische Ausstattung, dafür aber einen neuen Helm samt Headset. Sein Chef hatte ihm wegen des blockierten Radschlosses, das ausgetauscht werden musste, und der vergessenen Kleidung ordentlich den Kopf gewaschen. Und nebenbei hatte er ihm auch noch nahegelegt, die Jacke baldmöglichst zu beschaffen, ansonsten würde er sie ersetzen müssen. Baldmöglichst - die hirnverbrannteste Beschreibung, die sein Chef seit langem benutzt hatte. Es hätte vollkommen genügt, ihm zu sagen, dass er die Jacke innerhalb einer Woche wieder zurückbringen sollte, wenn er weiter als Kurier arbeiten möchte. Und natürlich wollte er das, aber Henning machte ihm ständig einen Strich durch die Rechnung. Seit er ihn in einem der Geschäfte aus den Augen verloren hatte, hatte Mischa ihn nicht mehr gesehen. Selbst zuhause war der Mann nie anzutreffen, egal zu welcher Tageszeit Mischa auch dort vorbeifuhr und klingelte. Eine Autotür wurde aufgerissen und Mischa schaffte es gerade so auszuweichen. Das fehlte ihm noch: wieder ein paar Tage krank zu Hause bleiben zu müssen... Mischa warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Die letzten drei Kunden hatte er beliefert und die Tour war für heute vorüber. Danach stand das Treffen der Fahrradkuriere im Gemeindezentrum auf dem Plan. Mischa freute sich still. Das alljährliche Radrennen gegen die Kuriere eines anderen Bezirks musste organisiert werden. Schließlich war das das Highlight des Sommers, bevor der Herbst mit seinem Schmuddelwetter einzog. "Mischa?! Zurück in die Zentrale! Schnellstmöglich!", quäkte die Stimme seines Chefs aus dem Headset. Schnellstmöglich? Mischa stieß genervt die Luft aus. Schnellstmöglich war die Steigerung von baldmöglichst. Was konnte denn noch dringender sein als die neue Jacke? Mischa trat in die Pedale und wechselte auf die Gegenspur. "Bin schon so gut wie da!" "Ich habe gerade zwei Anrufe bekommen, die mir einige Rätsel aufgeben." Abwartend sah Mischa seinen Chef an, der mit verschränkten Armen vor ihm gegen den Schreibtisch gelehnt dastand und den Kurier ruhig musterte. "Kunden? Ging was bei einer Lieferung schief? Bezahlt es die Versicherung", versuchte Mischa das Problem vorsichtig auszuloten. "Nein, nicht ganz." Mischas Chef suchte offensichtlich nach den passenden Worten. "Das Fundbüro rief vor einer Stunde an. Man hat vor ein paar Tagen ein Fahrrad gefunden, das laut Registrierungsnummer aus unserer Zentrale stammt. Genau genommen war es deines." Mischa wartete auf die Auflösung des scheinbaren Witzes, immerhin war er bis eben erst noch auf besagtem Rad durch die Stadt gedüst und hatte seine Botengänge erledigt, aber sein Chef sah ihn weiterhin stur an, ohne die Miene zu verziehen. "Der wirklich seltsame Anruf kam aber eine viertel Stunde später", fuhr der Kurierdienstleiter nun fort. "Dieses Mal war es die Polizei und ein netter Beamter behauptete allen Ernstes, das Rad sei vorgestern als gestohlen gemeldet worden. Na, Erklärung?" "Wie soll das denn bitteschön möglich sein? Ich bin die ganze Zeit mit dem Rad unterwegs gewesen", wandte Mischa ungläubig ein. "Wie hätte ich damit fahren können, wenn es gestohlen worden wäre?" "Ganz einfach", antwortete sein Chef. "Du stehst unter Verdacht, das Rad gestohlen zu haben. Laut Zeugenbeschreibung hat man dich dabei gesehen, wie du das Rad aus einem Haus mitgenommen hast." "Das ist ja vollkommener Schwachsinn!", fuhr Mischa auf. "Warum sollte ich etwas stehlen, was mir gehört? Was mir zumindest während der Arbeitszeit gehört!" "Erklär es mir ruhig." Mischa sah nachdenklich vor sich hin. Plötzlich fiel ihm etwas ein. "Stimmt, ich habe das Rad tatsächlich gestohlen - und vorher verloren..." Der Kurierdienstleiter blickte sein Gegenüber eindringlich an. "Jetzt bin ich aber gespannt, wie dir das passiert ist." "Mann, da hat sich das Fundbüro aber ganz schön Zeit gelassen", meinte Mischa zu sich selbst. "Und ich wette, ich weiß auch schon, wer mir das eingebrockt hat." Mit einiger Verspätung und ziemlich schlecht gelaunt traf Mischa schließlich im Gemeindezentrum ein. Sein Chef hatte sich die Sache mit dem gestohlenen und verlorenen Fahrrad mehr als ausführlich erklären lassen und den jungen Mann am Ende schallend ausgelacht. Es war einfach unmöglich wie er sich benahm, wenn man gerade noch mit dem Schlimmsten gerechnet hatte. "Ist sie noch nicht da?", erkundigte sich Mischa bei einem der anwesenden Kuriere, der den Kopf schüttelte. "Wir warten schon seit einer dreiviertel Stunde. Umsonst, wie du siehst." "Na toll", Mischa blickte sich um. "Gibt es hier wenigstens was zu trinken?" "Meinst du, wir würden dann noch mit leeren Händen da stehen?" Der Mann lächelte schief. "Wenn Bea nicht kommt, können wir die Sache für heute sowieso abblasen. Sie hat die ganzen Streckenpläne mitgenommen. Aber wenn wir Glück haben, schickt sie jemand anderen vorbei." Mischa seufzte. "Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal zuerst einmal besprechen und planen wie man etwas organisiert", witzelte er trocken. "Was ist los? Wieder die Innenstadt gehabt?" Mischa wich dem wissend lächelnden Mann aus. "Schlimmer", knurrte er. Sein Kollege hob abwehrend die Hände. "Ich frage nicht weiter, aber tu mir nichts..." "Spinner", quittierte Mischa den Satz seines nun lachenden Kollegen. Er schob die Hände in seine Hosentaschen und sah sich gelangweilt um. Zufällig fielen seine Blicke zur Eingangstür, die sich in genau diesem Moment öffnete. Mischa erbleichte. "Das darf ja wohl nicht wahr sein", stöhnte er auf und trat wieder ein paar Schritte hinter seinem Nebenmann zurück. In der Tür stand Henning, der die lärmende Meute vor sich erstaunt ansah. Seine Blicke wanderten von einem zum anderen. Als er unter den ganzen Leuten Mischa erkannte, ging er zielstrebig auf den jungen Mann zu, der sich noch immer hinter einer kleinen Gruppe Kuriere vor dem sich nähernden Henning zu verstecken versuchte. "Er meint nicht mich! Er meint nicht mich! Er meint-" "Hey, Dornröschen!" Henning hatte das Grüppchen umrundet und stand nun lächelnd vor Mischa, der ihn zerknirscht ansah. "Und, wieder alles verheilt?", erkundigte sich Henning interessiert. "Ja, danke", murmelte Mischa knapp. Irgendwie musste er den wieder abwimmeln. "Dass ausgerechnet du zu meiner Gruppe gehörst, hätte ich nicht gedacht." Henning schien sich tatsächlich über Mischas Anwesenheit zu freuen. "Und ich hätte nie erwartet, dass du unser Radrennen organisierst", erwiderte Mischa unverhohlen enttäuscht. Henning stutzte. "Welches Rennen?", hakte er nach. Mischa sah den Mann vor sich genauso verdutzt an. "Das Radrennen durch die Stadt." "Von einem Radrennen weiß ich nichts", gab Henning zurück. "Ich bin nur der Dozent für den Shiatsu-Kurs, der heute Abend hier beginnen sollte." "Oh", war das einzige, was Mischa herausbrachte. Ratlos sahen sich die beiden jungen Männer an. "Dann sind das wohl auch alles Kuriere?" Henning nickte in Richtung der schwatzenden Leute. "Oder bleiben noch welche für den Shiatsu-Kurs übrig?" Mischa hob ahnungslos die Schultern. "Die einzigen, die ich nicht kenne, sind die drei dort." Nacheinander deutete Mischa auf zwei Frauen und einen Mann, die sich unter die Kuriere gemischt hatten und sich interessiert mit ihnen unterhielten. "Nur drei?" Henning wirkte deutlich enttäuscht. "Angemeldet hatten sich aber zwölf. Wo die wohl sind...?" Mischa zuckte wieder mit den Schultern. "Was ist denn Shiatsu?", mischte sich einer der umstehenden Kuriere in das Gespräch ein. Hennings angespannte Miene löste sich sichtlich. Er wandte sich zu dem Fragesteller um und erklärte ihm das Prinzip des Shiatsu. Bald wurden aus einem interessiert lauschenden Kurier zehn. "Asiatische Fingerdrucktherapie? Und das funktioniert?" Henning nickte. "Bis jetzt hat sich noch niemand beschwert", lachte er. "Na wenn Bea nicht kommt, machen wir eben den Shiatsu-Kurs mit", beschloss einer der Kuriere eifrig. Der Rest stimmte lachend zu, bis auf Mischa, der sich etwas abseits hielt und wie erstarrt die Tür anblickte. "Bea kommt bestimmt", flüsterte er vor sich hin. "Hoffentlich..." Eine weitere halbe Stunde war verstrichen, ohne dass sich an der Teilnehmerzahl des Shiatsu-Kurses noch etwas geändert hatte. Henning klemmte sich seinen Ordner unter den Arm und nahm die drei Kursteilnehmer zur Seite, die schon zu ahnen schienen, was ihnen blühte. "Tut mir sehr leid", entschuldigte sich Henning bei den drei, "aber der Kurs wird wohl wegen der zu geringen Beteiligung ausfallen müssen." "Das war eben ernst gemeint", fiel eine der Kurierfahrerinnen Henning ins Wort. "Wir machen den Kurs mit. Wir wurden ja auch im Stich gelassen." "Tatsächlich?" Henning sah sich die wenigen 'echten' Kursteilnehmer an und danach die überragende Mehrheit der Kuriere, die verwaist im Raum standen. "Okay", stimmte er nach einer kurzen Denkpause erfreut zu. "Dafür ist die erste Stunde auch gratis." "Super!" Die junge Frau machte sich daran, die Nachricht zu verbreiten und bald lagen, verteilt über das ganze Zimmer, dünne Matten auf dem Boden auf denen jeweils zwei Leute saßen und abwartend zu Henning schauten, der in der Mitte des Zimmers stand und sich allen vorstellte. "Ich denke, wir fangen mit ein paar leichten Auflockerungsübungen an", sagte Henning und teilte an jedes Paar ein kleines Kissen aus. Mischa, der sich heimlich aus dem Raum stehlen wollte, spürte plötzlich eine Hand auf seiner Schulter, die ihn wieder in das Zimmer zurückführte. Henning lächelte ihn an und bugsierte ihn zu einer noch unbesetzten Matte. "Die erste Übung führe ich am besten an einem lebenden Beispiel vor und mein angespannter Freund hier", dabei klopfte Henning Mischa freundschaftlich auf die Schulter, "ist das ideale Beispiel." Der sich sträubende Mischa fand sich bald sitzend auf der Matte mit einem sich köstlich amüsierenden Henning an seiner Seite. "Wir setzen uns alle Rücken an Rücken aneinander und verharren so für eine Weile", fuhr Henning mit seiner Erklärung fort. "Das hat den Zweck, dass man lernt, dem Partner so viel Vertrauen entgegen bringen zu können, ohne dass man ihn sieht. Beim Shiatsu sollte man sich nicht nur auf das Sichtbare verlassen, sondern sich hauptsächlich auf das Fühlbare konzentrieren, und dafür braucht man die Augen nicht." Mischa sah den lächelnden Henning übelgelaunt an. "Aber wir beide können den Schritt auch ausnahmsweise überspringen, oder?" "Danke", grummelte Mischa. Erleichtert bemerkte Henning nach einer Weile, dass sämtliche seiner Ersatzteilnehmer mit Feuereifer bei der Sache waren. "Wenn sich alle einig sind, wer als erstes das Shiatsu durchführt und wer behandelt wird, kommen wir auch schon fast zur Praxis." Henning kniete sich neben Mischa auf die Matte. Gespannt sah er Mischa an, der bewegungslos vor ihm saß. "Du müsstest dich schon hinlegen, sonst kann ich die Übung nicht vorführen", wies Henning sein sich sträubendes Gegenüber freundlich an. "Ich habe mich nicht darum gerissen, hier mitzumachen", lehnte Mischa brüskiert ab. "Spaßbremse!", erklang es aus der Reihe der Kuriere. Erfolglos versuchte Mischa den Rufer unter seinen unschuldig zurück blickenden Kollegen auszumachen, aber ehe er sich versah, lag er auf dem Rücken. Henning kniete neben ihm und fuhr unbeirrt in seiner Rede fort. "Das wichtigste sind vor allem warme Hände, stimmt's?", flachste er. Die Kuriere lachten. "Na ja, die warmen Hände sind fast das wichtigste. Man sollte auch wissen, wohin man sie legen muss." Henning wandte sich dem auf dem Rücken liegenden Mischa zu. Seine Hände deuteten nacheinander auf die unterschiedlichen Körperzonen seines Vorführobjektes, ohne den jungen Mann jedoch zu berühren. Mischa zog es vor, nicht weiter mitzumachen und stattdessen einfach liegen zu bleiben, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen und zu warten, bis die Gefahr in Hennings Gestalt vorüber war. Nur am Rande hörte er, wie der Shiatsulehrer gerade etwas von Meridianen faselte, die sich angeblich wie Leitungen durch den Körper zogen, und von den Tsubos, den Druckpunkten, die auf diesen Meridianen lagen. "Der zentrale Energiebereich des Körpers ist das Hara", fuhr Henning eifrig fort. "Es liegt eingerahmt vom unteren Rippenbogen und den beiden Beckenknochen oberhalb des Schambeins." Hennings Hände schwebten nur knapp über Mischas Unterleib. "Finger weg von meinem Hara!", rief Mischa nun entsetzt auf. "Von hier aus verteilt sich das Ki, die Lebensenergie, über die Meridiane durch den ganzen Körper", fuhr Henning unbeeindruckt fort. "Manchmal sind Bereiche auf den Meridianen blockiert und das Ki kann nicht mehr ungehindert fließen. Durch Druck auf die jeweiligen Tsubos lösen sich die Blockaden und das Ki fließt wieder." "Auf meine Tsubos drückt niemand, die sind privat!", zischelte Mischa dem neben ihm knienden Mann zu. "Man kann seine Tsubos natürlich auch selbst erfühlen", konterte Henning, "und das darf nun jeder einmal bei sich oder seinem Partner ausprobieren - sofern der ihn lässt." Mischa verzog beleidigt das Gesicht. Henning sah in die Runde. Alle Teilnehmer waren konzentriert auf Tsubosuche, die meisten auch mit Erfolg, wie man hören konnte. "Wenn das so gut funktioniert, können wir auch gleich mit der ersten Übung beginnen. Dazu sollte sich der zu Behandelnde auf den Bauch legen." Ehe Mischa auch nur den Mund öffnen konnte, um zu protestieren, lag er auch schon auf dem Bauch und starrte sprachlos die Matte unter sich an. Henning kniete links neben ihm und lächelte triumphierend. Ohne, dass er überhaupt den Hauch einer Chance gehabt hätte, hatte Henning ihn mit Leichtigkeit in diese Position verfrachtet. Mischa war noch nicht einmal die Zeit geblieben, sich darüber zu ärgern. "Zuerst legt derjenige, der behandelt, die Hände still auf seinen Partner ohne jedoch Druck auszuüben. Fühlen Sie sich einfach nur eine Weile in Ihren Partner ein und spüren die Wärme, die von seinem Körper ausgeht. Am Anfang ist es noch nicht ganz so leicht, die verspannten von den intakten Bereichen zu unterscheiden, aber im Laufe der Zeit merken Sie ganz schnell, wo Ihr Partner behandelt werden muss." Mischa war noch immer so überrumpelt von Hennings letzter Aktion, dass er dessen Hände, die sich nun sachte in die Mitte seines Rückens legten, stillschweigend über sich ergehen ließ. "Folgende Übung ist für die sich ständig in Bewegung befindenden Kuriere wohl die interessanteste. Der Punkt, den ich jetzt gleich vorführe, ist für einen der beanspruchtesten Bereiche des Körpers." Henning neigte seinen Kopf leicht und sah den noch immer verstummten Mischa eindringlich an. "Man weiß ja, welche Folgen es haben kann, wenn man den ganzen Tag auf dem Sattel sitzt..." Mischas Kopf schnellte augenblicklich in die Höhe. "Ich habe einen Gelsattel mit Aussparung! Ich habe garantiert keine Potenzprobleme!", fauchte er empört. Henning hob unbeeindruckt die Augenbrauen. "Gut zu wissen", antwortete er schmunzelnd, "aber ich habe eigentlich die Knie gemeint." Beschämt ließ Mischa seinen Kopf wieder auf die Matte sinken. Er beschloss, hier einfach so mit dem Boden zu verschmelzen und zu warten, bis dieser ihn vollständig absorbiert hatte. Dann würde er nie wieder aufstehen und mit den anderen reden müssen; von Henning ganz zu schweigen. Unterdessen legte Henning seine linke Hand mit der Innenfläche auf Mischas linke Kniekehle und schob seine andere Hand unter den Fuß des Kuriers. Vorsichtig beugte er Mischas Bein, bis dessen Ferse beinahe seinen Oberschenkel berührte. Mischa, der sich erst gegen die Behandlung wehren wollte, spürte mit einem mal, wie sich die ständige Spannung in seiner Wade langsam löste. Die gesamte Muskulatur, angefangen beim Fuß bis hin zum Rücken lockerte sich während Henning Mischas Bein noch immer in der angewinkelten Position beließ. Wenige Augenblicke später verringerte Henning die Spannung wieder und ließ Mischas Bein sachte zurück zu Boden sinken. Er begab sich auf Mischas rechte Seite und wiederholte die Übung auch an diesem Bein. Um sie herum war zu hören, dass auch die anderen Kursteilnehmer die Lockerung ihrer Muskulatur begeistert bemerkten. Und auch Mischa tat die Behandlung so gut, dass er alles anstandslos zuließ. Er spürte einen angenehmen Druck auf sein Kreuzbein und ein entspannendes Streichen sein Rückgrat hinab. Selbst als es sich bis zu seinen Lendenwirbeln hinabzog, protestierte Mischa nicht. "Das reicht dann für die erste Behandlung." Nur widerwillig nahm Mischa Hennings Worte wahr. "Das reicht ja noch ganz und gar nicht", wandte er schläfrig ein. Henning löste vorsichtig seine Hände von Mischas Rücken. "Es muss ja nicht die letzte Stunde gewesen sein", meinte er mit einem Augenzwinkern zu dem nur langsam wieder munter werdenden Fahrradkurier. "Nächste Woche geht es weiter, wenn du möchtest." "Na und ob ich möchte!", erwiderte Mischa begeistert. Er stand auf streckte sich. "Ich bin so entspannt, dass ich wahrscheinlich nicht mehr geradeaus gehen kann." "Dann habe ich zumindest schon mal vier Kursteilnehmer zusammen", freute sich Henning. "Denke ich nicht." Mischa deutete zu den übrigen Kurierfahrern, die sich um einen Stapel Papier drängten. Verblüfft sah Henning zu den jungen Leuten, die eifrig die Lücken auf den Anmeldezetteln ausfüllten und dann gingen. "Bis nächste Woche." Mischa drückte Henning seine Anmeldung in die Hand und verschwand durch die Tür nach draußen. Henning räumte die Matten weg, löschte das Licht in dem Zimmer und sperrte die Tür hinter sich ab. Stolz hielt er die ausgefüllten Anmeldeformulare in den Händen. Mit so einer Resonanz auf den Kurs hatte er ehrlich gesagt nicht gerechnet. "He, Moment!" Henning drehte sich in die Richtung des Rufenden um, der ihm, ein Rad neben sich herschiebend, über den Parkplatz folgte. "Funktioniert das Geradeauslaufen wieder?", erkundigte sich Henning bei Mischa, der nun zu ihm aufgeholt hatte. "Ja, alles bestens", bestätigte Mischa lachend. "Die Wirkung des Shiatsu ist ja fantastisch. Hätte ich nie gedacht." "Das war doch nur eine von zig anderen Übungen", amüsierte sich Henning über seinen begeisterten Nebenmann. Mischa meinte, sich verhört zu haben. "Wie lange dauert der Kurs denn?", wollte er verblüfft wissen. "Mal sehen", Henning ging in Gedanken die Termine durch. "Da das ein Einsteigerkurs ist, dauert es fünf Wochen mit je zwei Stunden pro Woche." "Und im Anschluss geht es gleich mit dem Fortgeschrittenenkurs weiter?", hakte Mischa nach. Der plötzliche Eifer des Kuriers amüsierte Henning. "Von mir aus gerne, aber nur wenn ich dich nicht jedes Mal zum Hinlegen zwingen muss", zog er Mischa auf, der ihn verlegen anlächelte. "Ich hatte mir auch eher etwas anderes unter Shiatsu vorgestellt", gab Mischa zögernd zu. "Aha, und was?" Henning sah den jungen Mann neben sich gespannt an. "Na ja", druckste Mischa unter den abwartenden Blicken herum. "Eher so was mit Räucherstäbchen und Meditationsgedudel. Aber wie einer dieser Esoterikheinis siehst du ja nicht unbedingt aus." Henning brach in lautes Lachen aus. "Du hast gerade ohne mit der Wimper zu zucken den Großteil meines Freundeskreises beleidigt." "Tut mir leid", entschuldigte sich Mischa geknickt. "Ach was", Henning winkte ab. "Ich sage es auch keinem." Eine Zeit lang gingen beide schweigend weiter. "Ich habe schon öfter versucht, dich zu erreichen, aber du warst anscheinend nie zu Hause", lenkte Mischa vorsichtig ein, als sie eine Straße überquerten. Henning horchte auf. "Warum denn?" "Meine Jacke..." Mischa schob sein Rad den Bordstein hinauf. "Ist meiner Jacke beim letzten Mal was passiert?" "Nein, die hängt ganz friedlich an der Garderobe in meinem Arbeitszimmer", zerstreute Henning Mischas Befürchtungen. "Das heißt, sie sieht aus als ob sie in Ordnung wäre. Ausprobiert habe ich sie ja natürlich nicht." Mischa atmete erleichtert aus. "Ach", begann Henning, dem gerade etwas einfiel. "Dann warst du also derjenige, der mit seiner Klingel- und Klopforgie meine Nachbarn aufgescheucht hat?!" "Was soll ich getan haben?" Mischa hielt an. "Du hast Oma Alma einen ganz schönen Schrecken eingejagt", tadelte Henning Mischa spaßeshalber. "Hatte sie auch verdient, die alte Ziege...", fügte er ungewohnt gehässig hinzu und brachte Mischa damit zum Lachen. "Wo warst du denn überhaupt die ganze Zeit?", fuhr Mischa die Befragung fort. "Auf Fortbildung." "Wirklich? Wo denn? In Tibet?", frotzelte Mischa. "Nein, bei einem dieser Esoterikheinis aus meinem Freundeskreis", konterte Henning und lachte dann über Mischas schuldbewusste Miene. "War doch nur Spaß", milderte er den vorangegangenen Satz ab. Mischa grinste schief. "Und wann kann ich meine Jacke abholen? Mein Chef steigt mir deswegen schon die ganze Zeit aufs Dach." Henning zuckte mit den Schultern. "Such es dir aus, ich bin nachmittags immer zu Hause." "Okay, dann schaue ich die Woche mal vorbei." "Schön, bis bald!" Henning hob die Hand und machte sich daran, den Weg, den sie gerade erst gekommen waren, wieder zurückzugehen. "Wohnst du nicht auch Stadteinwärts?", rief Mischa dem nun in die entgegengesetzte Richtung laufenden Henning hinterher. "Schon", antwortete Henning, "aber mein Auto steht noch auf dem Parkplatz des Gemeindezentrums." Mischa wollte Henning noch fragen, warum dieser dann den ganzen Weg mitgegangen war anstatt gleich mit dem Auto zu fahren, aber Henning war schon außer Hörweite. "Mann, der war wohl zu lange bei seinen komischen Freunden..." Mischa schüttelte ungläubig den Kopf. Er schwang sich auf sein Rad und machte sich auf den Heimweg. "Scheint ja wirklich dringend zu sein, dass du die Jacke zurück bekommst", begrüßte Henning Mischa an der Tür. "Komm rein und geh ins Esszimmer. Ich bringe dir deine Jacke." Mischa ging dorthin, wo er noch von seinem letzten Besuch her das Esszimmer wusste, fand sich aber unverhofft im Wohnzimmer wieder. Erstaunt sah er, dass in dem Durchgangszimmer, das vor knapp zwei Wochen noch das Esszimmer gewesen war, das bunte Sofa nebst Biedermeierstuhl und Fernseher stand. Dafür blickte man durch den Rundbogen nun in das ehemalige Wohnzimmer, wo nun eine Essgruppe stand. Verwirrt blieb Mischa vor dem dunklen Esstisch stehen. "Warum hast du denn die Zimmer getauscht?", rief Mischa auf gut Glück in irgendeine Richtung der Wohnung, wo er Henning vermutete. Hinter Mischa öffnete sich eine Tür und Henning trat hinaus. "Das mache ich öfter. Immer dann, wenn ich nicht schlafen kann." "Dann bedanken sich deine Nachbarn aber sicher." Ungläubig sah Mischa den jungen Mann an. "Hast du etwa alle Zimmer umgestellt?" "Alle, bis auf die Küche und das Bad", antwortete Henning gutgelaunt. Mischa nickte zur Wand. "Jetzt hast du aber die Klimaanlage im Esszimmer", gab er zu bedenken. "Macht doch nichts", erwiderte Henning unbekümmert, "durch den Rundbogen kommt genug kühle Luft ins Wohnzimmer. Außerdem war das Arbeitszimmer neben dem Wohnzimmer völlig fehl am Platz. Immer wenn ich etwas dringendes zu tun hatte, bin ich am Ende im Wohnzimmer gelandet und habe dort nur unproduktive Dinge getan. Ferngesehen, gelesen und so..." Mischa lachte. "Gute Taktik!" "Eben." Henning nickte zustimmend. "Hier", er drückte Mischa die vermisste Jacke in die Hand, der sie freudig entgegennahm. "Danke. Wenn die kaputt gewesen wäre, hätte ich sie ersetzen müssen", Mischa atmete erleichtert auf. Henning hob die Schultern. "Keine Ursache, die hing so zufrieden zwischen all den anderen Jacken, dass sie kaum noch auffiel." "Wenn sie nicht so teuer wäre, würde ich sie ja hier lassen, aber mein Chef ist fest davon überzeugt, dass dieses Mistding sinnvoll ist." Mischa sah die Jacke verhasst an. "Du kannst sie ja ruhig einfach mal so vorbei bringen, wenn sie wieder nervt", schlug Henning lachend vor. "Nur wenn ich das Rad nicht dabei habe", warf Mischa ein, "sonst komme ich nicht weit und habe am Ende bloß wieder Ärger, weil das Fahrrad verschwunden ist." Henning gefror das Lächeln im Gesicht. "Sag nur, dir wurde auch das Fahrrad gestohlen?" "Wieso 'auch'?" Mischa folgte Henning ins Wohnzimmer. "Unser Hausmeister hat sämtliche Mieter verrückt gemacht, weil hier ein Rad aus dem Keller gestohlen wurde." Verlegen blickte Mischa auf die Jacke in seinen Händen hinab. "Das Rad habe ich gestohlen, obwohl es im Prinzip ja kein Diebstahl war, weil es mein eigenes Fahrrad war." Henning hielt ihn für übergeschnappt. Zumindest drückten das seine ratlosen Blicke aus, mit denen er Mischa musterte. "Schon vergessen? Ich kam ins Krankenhaus und mein Rad stand noch hier", wandte Mischa erklärend ein. "Du hast es doch selbst in den Keller geschoben. Deswegen hatte ich fast noch mehr Ärger, als wegen der Jacke." "Ich habe auf kein Rad geachtet und erst recht keines in den Keller geschoben, ich war ja tagelang gar nicht hier", entschuldigte sich Henning. Dann fiel bei ihm der Groschen und er lachte lauthals. "Da wird sich unser Hausmeister aber freuen, wenn er das hört. Er hatte schon fast die Hausverwaltung davon überzeugt, eine Alarmanlage einbauen zu lassen." Befremdlich sah Mischa den lachenden Henning an. "Ich wünschte, mein Chef hätte das genauso lustig gefunden." "Ich mach's wieder gut, in Ordnung?" "Das will ich aber meinen!" Mischa schlug in die ihm versöhnlich hingestreckte Hand ein. "Du weißt ja, wem du deine Kursteilnehmer zu verdanken hast." "Bea?", scherzte Henning und hielt Mischa die Haustür auf. "Die kommt nächstes mal übrigens auch", eröffnete Mischa Henning triumphierend, der anerkennend nickte. "Man sieht sich!", verabschiedete er sich und ging. Mischa half Henning dabei die dünnen Matten von dem Stapel zu wuchten und sie über den Kursraum zu verteilen. Langsam trudelten auch die restlichen Teilnehmer ein und jeder nahm seinen Platz ein. "Was ist heute an der Reihe", erkundigte sich Mischa neugierig bei Henning, der noch auf jede der Matten ein kleines rundes Kissen legte. "Der Gallenblasenmeridian", antwortete Henning. Mischa verzog den Mund. "Klingt ja... spannend." "Wart's ab!" Henning nickte zu der auf dem Boden liegenden Matte hin. "Du weißt ja wie das funktioniert?!" Augenblicklich ließ sich Mischa auf ihrer Matte nieder. Mittlerweile hatte er die anfängliche Skepsis abgelegt und sträubte sich vor keiner der Übungen mehr. Henning tat nie etwas, mit dem Mischa nicht einverstanden gewesen wäre. Im Kursraum wurde es still, als die Anwesenden begannen, sich auf die Behandlung einzustimmen. Jeder von ihnen wusste schon von alleine, was zur Vorbereitung gehörte, ohne dass Henning sie erst dazu auffordern musste. "Der, der behandelt wird legt sich bitte auf die linke Seite", begann Henning die Teilnehmer anzuweisen, während er geduldig darauf wartete, bis Mischa ebenfalls lag. "Den linken Arm ausgestreckt neben sich auf den Boden legen und das rechte Bein locker über das linke nach vorne zu Boden fallen lassen. Sieht aus, wie die stabile Seitenlage im Erste-Hilfe-Kurs, eben nur ohne anschließende Mund-zu-Mund-Beatmung. Aber wer das will - ich halte niemanden davon ab..." Vor zwei Wochen noch wäre Mischa spätestens jetzt entsetzt wieder aufgesprungen, aber heute konnte er über Hennings ständige Witzchen lachen. "Dann schieben Sie eine Hand unter dem oben liegenden Arm Ihres Partners hindurch und legen sie auf sein Schultergelenk. Ihre andere Hand legen Sie so auf die Schulter, dass Sie die Finger ineinander verschränken können. Jetzt halten Sie das Schultergelenk Ihres Partners praktisch in Ihren Händen - alles andere ist falsch und wird auch nicht von der Krankenkasse bezahlt." Henning beugte sich zu Mischa hinab, der leise lachte. "Du nimmst den Kurs nicht mehr ernst genug, kann das sein?" Mischa versuchte sich das Lachen zu verkneifen, aber seine bebenden Schultern verrieten das Gegenteil. "Und jetzt lockern wir zuerst die Schulter", fuhr Henning fort. "Lehnen Sie sich langsam etwas nach hinten und ziehen dabei vorsichtig die Schulter Ihres Partners mit sich." "Bitte nicht ausrenken, das Kursprogramm beinhaltet nämlich nicht das Wiedereinrenken", äffte Mischa Henning nach und erntete die Lacher der Kursteilnehmer dieses Mal selbst. "Du hast gerade die erste Grundregel des Shiatsu gebrochen", schalt Henning seinen liegenden Partner. Mischa wandte sich etwas um und sah Henning herausfordernd an. "Die da wäre?" "Nicht über den Lehrer lachen, so lange er noch die Hände an deinem Körper hat..." Henning tat so ernst, dass er selbst grinsen musste. Mischa schloss die Augen, als Henning die Behandlung fortfuhr. Ob er es früher einfach nicht wahrgenommen hatte oder schlicht nicht wollte, jetzt fiel ihm auf, dass Behandelnder und Patient tatsächlich so etwas wie Einheit bildeten. Es war kein reines Behandeln der Symptome, wie man einen Husten mit Saft zu heilen versuchte, es war ein völliges Einlassen auf den anderen, das ohne dabei auf den eigenen Körper acht zu geben nicht funktionierte. Mit jedem Ausatmen spürte er wie Henning seine Gelenke und Muskeln dehnte und mit jedem Einatmen ließ er wieder locker. Mischa genoss die entspannenden Berührungen. Er fühlte sich auf eine für ihn unerklärbare Weise behütet. Henning saß dicht hinter ihm und hielt ihn so sicher, dass Mischa keinerlei Bedenken hatte. Vielleicht lag es an der Selbstverständlichkeit, mit der Hennings Hände über seinen Körper fuhren, zuerst einige Zeit still auf einem Punkt ruhten und ihn wärmten, um dann ihren Weg ohne Hektik weiter zu gehen. Diese Ruhe übertrug sich auf Mischas gesamten, sonst so rastlosen Körper. Sie begann im Nacken und folgte Hennings Händen wie ein Schatten. Henning sah amüsiert zu Mischa, der wirkte, als wäre er eingeschlafen. Gerade so konnte er sich davon abhalten, die nächsten Anweisungen an die Kursteilnehmer nicht zu flüstern, aber er hätte sie auch mit einem Megaphon in den Raum brüllen können, Mischa würde davon wahrscheinlich sowieso nichts mitbekommen. Konzentriert arbeitete Henning die einzelnen Punkte an Mischas Körperhälfte ab. Seine linke Hand ruhte bewegungslos auf Mischas Hüftgelenk und seine rechte strich über die Lenden zum Beckenknochen und zurück zum Oberschenkel, als ihn sein Partner plötzlich aus der Behandlung riss. Mischa schlief nicht, wie Henning zuerst angenommen hatte. Seine Hand griff nun nach Hennings Hand und drückte sie sachte. Henning ließ seine Hand bewegungslos auf ihrem letzten Platz liegen und löste sie nach einer Weile langsam von Mischas Körper. Er rückte etwas von seinem Partner ab, gab aber weiterhin Anweisungen an die anderen Teilnehmer, während Mischa still auf seinem Platz blieb. ~ Ende - Kapitel 2 ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)