Traumwandler von Salim ================================================================================ Kapitel 1: Traumwandler ----------------------- Die große schwere Holztür aus dunklem Mahagoni fiel leise knarrend ins Schloss, als eine große Gestalt auf lautlosen Sohlen das Zimmer betrat. Die tagsüber in allen Farben leuchtenden Rosenblüten vor dem Fenster, die sich wie Schlangen an der Mauer empor rankten, verblassten in der Dämmerung und verloren in der heraufziehenden Schwärze der Nacht ihre strahlende Schönheit. Die Macht des wild wuchernden Gartens hatte ihre blättrigen Finger soweit über das Glas der Fenster gestreckt, dass selbst das letzte bisschen Tageslicht der am purpurnen Horizont versinkenden Sonne nicht in den Raum vordringen konnte. Die Person darin bewegte sich langsam, als sie den Mantel abnahm und ihn über einen fast nicht zu sehenden Stuhl hängte. Dann ging sie ohne einen Laut zu verursachen in eine Ecke des Raumes und zündete eine abgebrannte Kerze an. Sofort flackerte goldenes Licht über die Wände, als die tanzende Flamme entsprang und beleuchtete die wenigen Gegenstände, die darin standen. Der Mann, in dessen grünen Augen sich das Flackern der Kerze widerspiegelte, ließ den Blick durch den Raum schweifen. Jemand hatte einen Strauß leuchtend gelber Dahlien in eine weiße Porzellanvase gestellt. Gerade als der Mann sich hinunterbeugen und ihren Duft aufnehmen wollte, öffnete sich die zweite kleinere Tür und eine weiß gekleidete Frau trat ein. „Idrael, du bist wieder da!“, rief sie lachend und warf sich in die Arme des Bruders. „Ja. Verzeih mir, ich war zu lange fort“, antwortete Idrael und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein junges Gesicht. Seine Schwester lehnte sich zurück und strahlte ihn mit blitzenden roten Augen an, die sich herrlich mit ihrem langem wehendem silbernen haar bissen. „Allerdings!“, sagte sie tadelnd. „Du bist ein schrecklicher Mistkerl, der einfach fort geht und sich dann tagelang nicht mehr blicken lässt! Eines Tages sperre ich die Tür zu und lasse dich nicht mehr ein!“ Sie lachte und umarmte ihn nochmals. Idraels Schwester Kyria war jung und ungestüm, dabei mit einem hübschen Gesicht gesegnet. Schließlich ließ sie ihn los, trat zurück und hängte sich bei ihm ein. „Erzähl, wo warst du?“, forderte sie ihn auf, fröhlich und glücklich, weil er wieder da war. Idrael ging langsam mit ihr zur Tür und begann zu erzählen. Er sei beim Rat der Erzengel gewesen und habe Bericht über eine abtrünnige Gruppe erstattet, die im Osten der Menschenwelt Unruhe stiftete. Außerdem wäre er noch zu manch anderen gegangen.. Mehr erzählte Idrael nicht. Die beiden standen nun in einem kleinen, von Fackeln erhelltem Raum, mit weiß getünchten Wänden und bunt schillernden Vorhängen aus Musselin, in dem zwei große Betten standen. Kyria setzte sich auf eines von ihnen und stieß einen langen Seufzer aus. „Du sagst mir nie, wo du genau gewesen bist. Du warst über eine Woche lang fort“ Sie sah zu Boden, strich mit den schlangen Fingern gedankenverloren über die blütenweiße Bettdecke. „Solange kannst du doch nicht diese jungen Leute verfolgt haben. Wo warst du wirklich? Belügst du mich, Idrael? Warum erzählst du es mir nicht?“ Ihr Lächeln erstarb, als sie einen gequälten Ausdruck in Idraels traurigen Augen wahrnahm. Sofort bereute sie es, ihn beschuldigt zu haben. Ihr Bruder war immer so gut zu ihr. Er dachte stets und allein nur an sie. Idrael wandte sich ab und gab vor, aus dem Fenster in den wuchernden Garten zu sehen. „Es tut mir leid, Kyria“ Diese Worte sprach er oft, zu oft, doch er hatte das Bedürfnis, sie zu sagen. Dann wurde sein Blick weicher, als er sie wieder betrachtete. „Ich habe eine Schiffsreise gemacht. Soll ich dir davon berichten?“ „O ja, bitte!“, rief Kyria und klatschte vor Freude in die Hände. Nachdenklich ließ Idrael sich neben ihr auf dem Bett nieder und legte einen Arm um seine jüngere Schwester. Kyria lehnte sich glücklich an ihn und sah zu ihm auf. Und dann begann Idrael von der langen Reise zu erzählen, die er gemacht hatte; von den reichen Kaufleuten und Passagieren, den frechen Dieben, die sich von diesem Reichtum angezogen fühlten, dem Sturm, der das Schiff tagelang in seiner Gewalt gehabt hatte, vom Meer, das gurgelnd und rauschend vor ihnen hergeschäumt war und von den Möwen, welche ihn auf seiner Reise begleitet hatten. Warum er nicht gleich davon erzählt hatte, sagte er nicht. Als Idrael schließlich geendet hatte, war Kyria an ihn gelehnt mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen. Er zog eine Decke heran, deckte sie sorgfältig zu und nahm sie dann schweigend in die Arme. Still blickte er auf die Wand gegenüber, während die Fackeln langsam abbrannten, bis ihr Schein langsam aber sicher erstarb. Sobald die Dunkelheit der schwarzen kalten Nacht ihn umfing, drückte Idrael Kyria noch fester an sich. Sie war alles, was er noch hatte, da einzige Überbleibsel seiner Familie. Er musste sie beschützen, denn er liebte sie mehr als sein eigenes Leben. Idrael bemühte sich, sie nicht einzusperren und sie nicht zu belügen, doch es ging beinahe nicht anders. Niemals durfte er zulassen, dass sie die Welt der Menschen besuchte, niemals zulassen, dass er etwas geschah, denn sie wusste nicht, dass der Tod nach ihrem Leben trachtete, nach ihrem vermutlich sogar noch mehr als nach seinem eigenen. Kummer und Gram überwältigten Idrael plötzlich, als er so in der Finsternis saß; er hatte schrecklich Angst sie zu verlieren, wie er zuvor nacheinander jedes einzelne Wesen, das er geliebt hatte, verloren hatte. Darum musste er sie vor dem schützen, das ihrer beider Leben zerstört hatte. Leider war das nicht alles, das Idrael Sorge bereitete. In gewisser Weise war Kyria nach über tausend Jahren noch immer ein Kind, naiv und unschuldig, vielleicht auch zum Teil durch seine eigene Schuld weltfremd, aber sie sollte ohnehin nichts von der Grausamkeit der Welt erfahren. Zeitweise schien sich auch über ihre Augen der Schleier des Wahnsinns zu legen, jenem Wahnsinn, den er mehr fürchtete als alles andere, dem Wahnsinn, der seine Familie zerrissen hatte. In diesen Momenten umklammerte Furcht sein Herz wie glühendes Eisen und er hoffte inständig, dass wenigstens sie ihm bleiben würde und er die drohende Geisteskrankheit, den Fluch ihrer Familie, abwenden konnte. Bisher hatte Idrael immer versucht, sich den Luxus des Selbstmitleids zu versagen. Nicht aus Stolz oder Ehrgefühl. Sondern aus schuld. In gewisser Weise, dachte Idrael manchmal, beschützte Idrael seine Schwester nicht nur aus Liebe so verzweifelt, sondern auch um Vergebung zu erlangen. Doch er wusste, dass es keine Möglichkeit gab, die Vergangenheit oder seine Fehler zu ändern. Aber Idrael sagte sich, er hatte so vieles falsch gemacht, so müsse er jetzt immerhin weiterleben und sich um Kyria kümmern, die eigentlich immer ein Kind geblieben war. Idrael wusste nicht, wie lange er traurig und versonnen auf dem Bett gesessen hatte, bis er schließlich einnickte und zurück auf das Bett fiel. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Stunden später blinzelte Idrael überrascht,, denn ihn ein breiter Streifen goldenen Lichts weckte. Sanftes Vogelgezwitscher durchflutete das Zimmer, vorgetragen in allen möglichen Variationen und Tonlagen. Als Idrael sich schließlich aufsetzte und verschlafen umsah, erstarrte er wie vom Donner gerührt. Vor seinem Bett stand ein riesiger glitzernder Vogelkäfig in dessen Innerem mehr als ein Dutzend bunt schillernder Vögel singend und tirilierend umherflatterten. Ein großer blauer mit langen Schwanzfedern von ihnen hüpfte neugierig heran und zwitscherte seinen Besitzer neugierig an, in der Hoffnung, belohnt und gefüttert zu werden. Nun schien auch der Rest von ihnen zu bemerken, dass Idrael wach war und sie alle hüpften eifrig zu den Stangen um hinausgelassen und verwöhnt zu werden. Einige Minuten lang sagte und dachte Idrael gar nichts. Er saß einfach nur auf dem langen Bett in einem langem Raum, dessen Großteil der Fläche von dem Käfig ausgefüllt waren, den Rest bedeckten mehrere Regale, zum Teil mit Büchern und kleinen Porzellanschmuckstücken vollgestellt, und ein großer Schreibtisch aus glänzendem Teakholz. Das Zimmer war groß und hell mit großen Fenstern und von einem warmen Gelbton. Ganz langsam, wie in Trance, erhob sich Idrael und trat näher an den Käfig heran. Die Vögel, klein und groß, flatterten augenblicklich aufgeregt auf ihn zu in der Erwartung, dass er den Käfig öffnen und sie freilassen würde. Stumm beobachtete er eine Zeit lang ihr Gedrängel, dann öffnete er mit bebenden Fingern das Schloss. Sofort zischte einer nach dem anderen hinaus, sie flatterten fröhlich im Zimmer umher und durch das weit geöffnete Fenster hinaus in den in voller Blüte stehenden gepflegten Garten. Sie würden nicht davonfliegen, dafür mochten sie ihren Herren viel zu gerne. Der große blaue Vogel dagegen ließ sich leise singend auf Idraels Schulter nieder und begann damit, sein Gefieder zu putzen. Sprachlos streichelte Idrael ihm abwesend über den Kopf, während er sich in seinem Zimmer beinahe den Hals verrenkte, als er alles und jeden kleinsten Winkel absuchte. Dann fiel sein Blick auf die Tür. Er wusste nicht, was hier vor sich ging, und doch ging er auf die Tür zu und legte eine Hand auf den Knauf. Heftig atmend wartete er. Sollte er das Schicksal auf diese Weise herausfordern? Der blaue Vogel auf seiner Schulter kniff ihm zutraulich ins Ohr und Idrael stieß die Tür auf. Kurz darauf stockte ihm der Atem. Tatsächlich. Er stand dort, in dem alten Gang im ersten Stock eines großen Hauses. Die vertrauten Flügeltüren zu den übrigen Räumen in diesem Stockwerk glänzten sauber und hell im Sonnenlicht. Ganz links befand sich die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern, daneben sein eigenes Zimmer, rechts davon war die mit kindlichen Bildern vollgeklebte Tür zu Kyrias Zimmer und daneben am Ende des Ganges war- „Idrael, du bist ja schon wach.“, tönte es von den Stufen herunter, die in den zweiten Stock führten und das lächelnde Gesicht einer Frau erschien auf dem Treppenabsatz über ihm. Ihr Züge wirkten exotisch und schön, die gütigen Augen von einem klaren Violett und ihre Haare, schwarz wie der Himmel um Mitternacht, fielen lockig über ihren Rücken, als sie herabstieg. Idrael starrte sie an, weiß wie Kreide, alles Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. Sie blieb vor ihm stehen und musterte ihn besorgt. „Liebling, geht es dir nicht gut? Du bist ganz bleich.“, fragte sie mit ihrer melodiösen Stimme und legte eine kühle Hand auf seine Stirn. Idrael öffnete den Mund, doch die Stimme versagte ihm. Er brauchte keinen Laut hervor. Er sah sie einfach nur an, während die führsorglichen Augen seiner Mutter auf ihm ruhten. „Du solltest dich vielleicht wieder hinlegen.“, schlug sie lächelnd vor und strich ihm eine Strähne seines silbernen Haares aus dem Gesicht. Idrael schüttelte den Kopf. „Nicht?“ Seine Mutter legte den Kopf schief und betrachtete ihn nachdenklich. „Bist du sicher?“ Idrael nickte. „Aurélia?“ In diesem Moment kam eine dunkle Männerstimme aus dem unteren Stockwerk. „Hast du Kyrias Hasen irgendwo gesehen?“ Idrael schluckte, als er die Stimme erkannte. Aurelia beugte sich über das Treppengeländer und rief hinunter: „Nein, Thariel, leider nicht.“ Der Mann unten an der Treppe seufzte leidvoll und verschwand, um die ausgebüxten Haustiere seiner Tochter unter Tischen, Stühlen und Schränken zu suchen. Noch immer schaffte Idrael es nicht, ein Wort zu sagen. Die Frau lächelte Idrael noch einmal an, dann eilte sie die Treppen hinunter und sagte: „Am Besten du trinkst einen Tee, Idrael, dann geht es dir sicher besser!“ Benommen, als hätte man ihn in Eiswasser getaucht, stand Idrael wie ein Hutständer da und lauschte den leisen Stimmen seiner Eltern, die sich in ihr Schicksal ergaben und die Suche nach den verlorengegangenen Hasen aufnahmen. Er schloss die Augen, wie um die Stimme seiner Mutter in seinem Kopf noch einmal zu hören, versuchte, sich den Klang und ihre Art und Weise, die Wörter auszusprechen, unauslöschlich in sein Gedächtnis einzubrennen, ebenso wie das charakteristische leidende Seufzen seines Vaters. Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf die vierte und letzte Tür des Ganges. Tief Luft holend machte er einige Schritte darauf zu. Langsam legte er eine zitternde Hand auf die Türklinke. Aus dem Raum dahinter drang kein Laut. Absolute Stille. Einige Sekunden vergingen schleichend, wie Jahre im Fluss der Ewigkeit. Schließlich waren es Minuten. Idrael schloss die Augen und drückte die Klinke mit laut klopfendem dröhnendem Herzen herunter. Die Tür schwang ohne das leiseste Geräusch auf und offenbarte ein großes helles Zimmer, das auf den ersten Blick wie eine Miniaturbibliothek wirkte. In der Mitte befand sich ein großes Himmelbett mit weinroten Samtüberzügen. Außen herum waren die Wände vollgestellt mit Regalen. Tatsächlich war jeder Zentimeter mit Büchern jeglicher Art verdeckt, sie stapelten sich auf den Schränken und dem Schreibtisch, in den Regalen, auf dem Boden, unter dem Bett, ganze Bauwerke aus Büchern türmten sich in den Ecken bis an die Decke. Das Zimmer wirkte, als würde es jeden Moment aus allen Nähten platzen. An der einzigen Stelle, an der die Wand nicht von ihnen verdeckt war, hingen große Pergamentblätter, auf die mit fließender Hand Zeichnungen um Zeichnungen in schwarz glänzender Tusche angefertigt waren. Darunter waren ein schwarzes Pferd, daneben ein Bild, auf dem ein Garten zu sehen war und darunter... darunter eine Zeichnung der gesamten Familie, auf dem sich Idrael selbst oben rechts wiederfand. An einem kunstvoll geschnitztem Schreibtisch saß ein junger Mann, vielleicht um die 18 Jahre alt, mit ebenso silbernem Haar wie Idrael, ein dickes Buch vor sich aufgeschlagen. Ein Paar klarer azurblauer Augen blickte Idrael an, als er aufsah. Und Idrael stand da, im Zimmer seines kleinen Bruders, dem alten Zimmer, das er zuletzt vor über 2000 Jahren gesehen hatte und betrachtete Auriel stumm, dessen Gesicht, jetzt da er sie kurz zuvor erblickt hatte, mehr denn je dem wunderschönen Antlitz seiner Mutter ähnelte. „Was ist?“, fragte Auriel und zog die Brauen zusammen, ganz genauso, wie sie es tat. Die Tür fiel laut krachend hinter ihm ins Schloss, als Idrael sie losließ. Er hatte es nicht beabsichtig, sie war einfach so zugefallen. Bei dem Krach schürzte Auriel die Lippen und sah ihn ungehalten an. „Was willst du?“, herrschte er ihn ungeduldig an. Idrael sagte noch immer nichts, sondern starrte nur. „Verschwinde, du störst!“ Idrael schüttelte leicht den Kopf, wie um ihn klar zu bekommen. „Auriel?“ „Jaah, wer denn sonst, der Kaminkehrer vielleicht?“ „Bist du das?“ Auriel setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Warte, lass mich überlegen... nein, du hast Recht, ich bin Michael!“ Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Gott, wie konnte ich das nur vergessen?“ Endlich fand Idrael seine wirkliche Stimme wieder und stammelte ein „Ich – tut mir leid-“ vor sich hin, während Auriels Augenbrauen allmählich unter den Haaren verschwanden. „Sag mal, Idrael, hast du dir in der letzten Zeit vielleicht aus Versehen dein Gehirn heraus operieren lassen, oder so?“, fragte er mitleidig und sah Idrael neugierig an, als suche er nach frischen Operationsnarben. Idrael starrte ihn erneut an und Auriel schien dieses Schweigen wohl als „Ja“ aufzufassen, denn er musterte seinen Bruder, als käme er geradewegs von den Affen auf dem Baum herunter. „Ich wollte nur... mal vorbeisehen“, versuchte sich sein großer Bruder erneut zu erklären. „Schön, dann verschwinde wieder und lass mich ihn Ruhe!“, fauchte Auriel wütend und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Idrael, der sich allmählich dämlich vorkam, machte vorsichtig einen Schritt auf ihn zu. „Sag mal“, fing er völlig perplex an zu stammeln, „... willst du mich nicht – ähm – umbringen?“ Auf diese Frage hin drehte sich Auriel ungläubig zu ihm um und war offensichtlich davon überzeugt, dass Idrael nun völlig durchgeknallt sei. „Also wenn dir das so wichtig ist, können wir es gerne einrichten“, meinte er spöttisch und nahm wie zur Bestätigung seiner Drohung ein extra dickes Buch, das vermutlich mehr als ein übergewichtiges Nashorn wog, zur Hand. In diesem Moment erschien ein großer dunkelhaariger Mann in der Tür. „Ach hier seid ihr, ich wollte euch fr-„ „Na toll, da ist der nächste - HAU AB!“ „Na hör mal, wie sprichst du denn mit mir?!“ „Also – also hasst du mich nicht?“ „Du bist wirklich so blöd, dass es wehtut, Idrael!“ „Hör auf deinen älteren Bruder zu kritisieren!“ „Das ist keine Kritik. Das nennt man Tatsachenbericht. Genauso, als wenn ich sagte, dass du nervst.“ „Das ist ja wohl die Höhe! Du wirst dir gefälligst abgewöhnen, ständig an allem und allen rumzumeckern!!“ „Es ist ja wohl nicht meine Schuld, dass alle anderen dümmer sind als ich.“ „Wie bitte?!“ „Ähm- also wenn ich auch mal was sagen dürfte -“ „Verschwindet endlich!!“ „Wie kommst du eigentlich dazu, so mit mir zu reden?!“ „Das kommt daher, dass ihr alle so minderbemittelt seid, dass man es verbieten sollte.“ „Papa, Papa, hast du meine Hasen gefunden?“ Plötzlich rannte ein junges Mädchen herein, das Haar zu einem langen silbernen Zopf geflochten, der auf und ab hüpfte, als sie einen Stapel Bücher umwarf. „Bist du noch bei Trost, du dumme Gans?“, stöhnte Auriel, rannte hinzu um die Bücher aufzuheben auf und starrte Kyria zornfunkelnd an. Er rauchte förmlich vor Zorn, schließlich hatte man es gewagt, ihn mit seinen heiligen Büchern zu stören. „Du hast meine Hasen genommen!“, krähte sie beleidigt und zeigte mit dem Finger dramatisch auf Auriel, als bezichtigte sie ihn eines grausamen Mordes. „Was sollte ich denn bitteschön mit deinen dämlichen Kaninchen?“, höhnte dieser. „MAMA! MAMA! AURIEL HAT MEINE HASEN GEGESSEN!“ Nun erschien Aurelia seufzend in der Tür und nahm mit mütterlichem Gleichmut die versammelte Gesellschaft in Augenschein, angefangen bei Thá riel, der sich während des Gesprächs stolz in die Brust geworfen hatte, über Idraels verblüffte Miene bis hin zu Kyrias weinerlich verzogenem Gesicht und Auriels funkensprühender Gestalt, bereit auf der Stelle alle, die seinen Büchern etwas zuleide taten, zu exekutieren. Sie lächelte besänftigend, ging zu Kyria und fragte: „Was ist denn los, mein Schatz?“ Kyria, die Gunst ihrer Mutter auf ihrer Seite während, fing augenblicklich tragisch zu schluchzen an. „Auriel hat meine Hasen gegessen, Mama!“ „Wie kommst du denn auf diesen Schwachsinn?!“, schimpfte Auriel empört. „Weil er nämlich total blöd ist und ich eines seiner Bücher kaputt gemacht habe!“, krakeelte Kyria sofort, um jetzt auch ihren Vater von ihrer Schutzbedürftigkeit zu überzeugen und brachte sich hinter ihrer Mutter in Sicherheit. „Was??!“, donnerte Auriel aufgebracht und griff sofort nach einem dicken Wälzer, zweifellos um Kyria für diesen Frevel gebührend zu erschlagen. „Einen Augenblick!“, rief Aurelia alarmiert und zog Kyria schnell außer Reichweite. „Kyria, warum sollte Auriel deine Hasen essen?“ Kyria öffnete den Mund, doch wie Idrael bereits vermutet hatte, fiel ihr nichts ein. Sie hatte ihn einfach nur ärgern wollen, nur dummerweise schien Auriel sie jedes Mal hart dafür zu strafen und so wagte sie es nur noch in Gegenwart ihrer Eltern. Ihre Mutter sah sie streng an. „Hinaus mit dir, junge Dame!“ Nach diesen Worten drehte sie sich lächelnd wieder um. „Auriel, Liebling, was gibt es?“ „Ich LESE“, fauchte Auriel und sah drein, als wäre damit alles gesagt. Seine Mutter nickte, nun war alles klar, fasste ihren Mann mit festem Griff am Arm und schob ihn hinaus, ohne auf seine Proteste zu achten. Idrael, der die ganze Szene ungläubig mitangesehen hatte, sah ihnen hinterher. Es war als wäre er in einem höchst wirklichen Traum. „Sag mal, brauchst du etwa eine schriftliche Einladung, oder was?“ Plötzlich gewahrte Idrael, dass Auriel mit verschränkten Armen vor ihm stand, seinen Ich-bin-wirklich-nur-von-absoluten-Vollidioten-umgeben-Blick im Gesicht. Gehorsam flüchtete Idrael zur Tür. „Ich wollte dir nur sagen...“, fing er nocheinmal an, doch da schlag Auriel ihm schon die Tür vor der Nase zu. Im Gang standen immer noch seine Eltern. Idrael konnte es noch immer nicht fassen. Da standen sie, obwohl sie vor langer langer Zeit gestorben waren. Sie waren da. „Er ist unmöglich!“, seufzte Thariel und sah leidend drein. Seine Mutter dagegen legte mit ruhigem Lächeln einen Stapel Kleider zusammen und sagte: „Du bist selbst schuld wenn du ihn störst. Ihr wisst doch, dass er es nicht leiden kann, wenn man ihm beim Lesen stört.“ „Aber er liest IMMER!“, murrte sein Vater. Sie lächelte. „Damit wäre das ja geklärt! Also seid leise und entschuldige dich später bei ihm.“ „Wie bitte? Ich soll mich entschuldigen?“ „Ja.“, meinte Aurélia beschwichtigend. Sein Vater verschränkte die Arme. „Warum hast du mich hinausgeschoben? Ich hätte ihm eine gehörige Lektion erteilt!“ Aurelia begann zu lachen, dann sah sie ihren Mann verschmitzt an. „Weil du jedes Streitgespräch gegen ihn verlierst, und dich danach bei mir ausjammerst, darum!“, sagte sie vergnügt und hob die Kleidung auf. Thariel öffnete empört den Mund um zu protestieren, schloss ihn dann jedoch, als er einsehen musste, dass sie Recht hatte, wieder und murmelte, er gehe jetzt noch einmal die Hasen suchen. Als er fort war, legte seine Mutter, die wieder einmal bewiesen hatte, dass sie stets Recht hatte, summend jeweils einen Stapel Kleidung vor eine jede Tür und verschwand dann wieder nach unten. Noch immer völlig benommen sah Idrael ihr nach und traute noch immer kaum seinen Augen. Als der Gang wieder leer war, ging Idrael langsam die Stufen nach oben in den dritten Stock. Ja, dort stand es, das alte Klavier, das in seinen Erinnerungen immer noch dieselben Melodien spielte. Jetzt im Moment saß niemand daran. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, es zu berühren. Er stand einfach nur da und sah es an. Irgendwann ging er wieder hinunter in den zweiten Stock, aber auf den letzten Stufen drehte er sich noch einmal um, um es zu betrachten. Was geschah hier? War das alles Wirklichkeit? Oder litt er an einem besonders realistischem Hirngespinst? Aber wenn er die Wand berührte fühle sie sich ausgesprochen echt und stabil an. Die Tür hinter ihm öffnete sich quietschend und seine kleine Schwester steckte den Kopf heraus. „Ist die Luft wieder rein, Idrael?“, frage sie mit glitzernden Augen. „Komm, ich will dir etwas zeigen!“ Kyria lief zu ihm und zog ihn geschwind am Ärmel in ihr Zimmer. Als Idrael sich umschaute, stellte er fest, dass es völlig anders aussah, als er es in Erinnerung hatte. Auch in Kyrias Zimmer stand ein großes Himmelbett, umgeben von kleinen Tischchen und Schränken, auf denen sich zahllose Schmuckkästchen befanden. In einer großen Vase vor dem von blauen Vorhängen umwehten Fenster steckte ein Strauß weiß blühender Lilien. Kyria drehte sich jetzt strahlend zu Idrael um. Von einem Moment auf den anderen hatte sie sich von dem quengelnden kleinen Mädchen in eine junge Dame verwandelt und Idrael ging mit einem Mal auf, dass sie so um die zwölf Jahre alt sein musste. Sie ließ sich erhaben in eine Sessel sinken, strich ihren Rock glatt und begann ihr Haar zu kämmen. „Hast du schon meine neuen Ohrringe gesehen?“, fragte sie ihn freudig und sprang so schnell wieder auf, dass man meinen konnte, sie hätte versucht, sich auf einen Igel zu setzen. Im nächsten Moment ergossen sich nicht ein Paar, sondern mindestens ein Dutzend Paare glitzernder Ohrringe in Idraels Hände. „Nein, du hast sie mir noch nicht gezeigt...“ Idrael schüttelte den Kopf und betrachtet die funkelnden Schmuckstücke, während Kyria ihn gespannt beobachtete und fragte sich im Stillen, woher sie das Geld dafür hatte. Offensichtlich wollte Kyria seine Meinung dazu einholen. „Sie sind sehr schön!“, meinte Idrael anerkennend und unterdrückte ein Schmunzeln, als er sah, wie sich Kyria durch ihr langes Haar strich und dabei möglichst hübsch und erwachsen zugleich zu wirken. Er musste zugeben, dass sie die Rolle des kleinen weinenden Mädchens vorhin glänzend gespielt hatte. Jetzt seufzte sie schwer und setzte sich wieder. „Es ist wirklich schlimm, weißt du? Ständig meckert er nur rum und verlangt, dass absolute Ruhe im Haus herrscht! Und immer bin ich schuld!“ Idrael kam kurz der Gedanke, dass daran vielleicht ein wahres Wort sein könnte. Kyria stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und zog eine beleidigte Schnute. „Es ist wirklich schwer mit zwei solchen Brüdern zusammen zu leben! Eigentlich sollte ja ich die Hübscheste in der Familie sein, schließlich bin ich ja das einzige Mädchen hier“, sagte sie schmollend und warf Idrael einen strafenden Blick zu, ganz so, als habe er persönlich diese Ungehörigkeit verbrochen. „Wenigstens du könntest dir etwas Mühe geben und zusehen, dass du etwas hässlicher wirst!“ „Ich, ähm ... werde mein Bestes geben“, versprach Idrael halbherzig und fragte sich im Stillen, ob er Kyria zuliebe wirklich eine Art Penner werden sollte. Neben seinen Beinen stand ein großer Käfig mit Heu und Stroh ausgedeckt, einige Karotten und Salat in der Ecke. Kyria war schon als Kind in alles vernarrt gewesen, was auch nur Ansatzweise ein Fell besessen hatte. „Wieso kommst du auf die Idee, Auriel könnte deine Hasen haben?“, fragte er schließlich und lehnte sich neugierig zurück. „Na ja, sie sind weg und ...“ Kyria sprach nicht weiter. „Und hast du wirklich eines seiner Bücher kaputt gemacht?“ „Ähm ... also, nicht direkt ... ich ...“, sie rutschte jetzt unbehaglich auf ihrem Sessel hin und her und warf ständig Blicke zur Tür, als könnte sie jemand belauschen. Flüsternd fuhr sie fort: „Ich hab’s verkauft. Zu einem Spitzenpreis. Beim letzten Markt. Ich wollte doch unbedingt diese neue Kette und er hat mich so geärgert, weil er ständig so gemein ist! Und da ist es einfach über mich gekommen ...“, schloss sie und schob trotzig das Kinn nach vorne. Immerhin sah sie Idrael trotz allem recht schuldbewusst an „Er wird dich töten“, sagte Idrael besorgt. Und das meinte er wörtlich. „Ich weiß, deswegen habe ich ja gesagt, er habe meine Hasen. Ich hab mir gedacht, wenn Mama und Papa ihn zuerst schimpfen, ist er schon mal im Unrecht, und kann später nicht mehr ausflippen!“, wisperte sie und blickte mächtig stolz wegen ihres Plans drein. Kopfschüttelnd unterdrückte Idrael einen Kommentar, denn er hegte den leisen Verdacht, dass Kyria ein wenig eifersüchtig auf Auriel war und deswegen dauernd mit ihm streiten wollte (womit sie sich einen denkbar ungünstigen Streitpartner ausgesucht hatte, wie Idrael fand). Nun, ein wenig zickig war sie eben auch, doch Idrael sagte kein Wort davon. Er betrachtete sie nur versonnen, wie sie so da saß, unentwegt über ihre Haare strich und sich darüber aufregte, dass die Natur so ungerecht die Erbanlagen in ihrer Familie verteilt hatte. Plötzlich schnellte Kyria hoch und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Auf der Treppe waren Schritte und die Stimmen ihrer Mutter und die eines fremden Mannes zu hören. Kyria stand sofort wie ein Wachhund vor der Tür, öffnete sie einen Spalt breit und lugte mit seltsam hellen Augen hinaus. Idrael trat neugierig hinter sie, er erhaschte einen Blick auf Aurélia und den Rücken eines sehr großen Mannes und im nächsten Moment machte er unwillkürlich einen Sprung rückwärts und riss kreidebleich die Augen auf. Vor der Tür stand buchstäblich der Teufel. Stocksteif, wie gelähmt vor Schreck stand Idrael da und sah gebannt zu, wie sich seine Mutter freundlich mit dem Mann mit den langen schwarzen Haaren unterhielt, und sich offensichtlich nicht an der Tatsache störte, dass sie ein Gespräch mit dem meistgefürchteten und wohl mächtigsten Mann der Welt führte. „Es ist wirklich eine große Ehre für uns, dass ihr uns so oft besucht! Ihr werdet doch hoffentlich zum Mittagessen bleiben?“, erklärte sie gerade und verneigte sich leicht. Der Mann vor ihr, der sie um mehr als einen halben Meter überragte, lächelte und erwiderte: „Nicht doch, ich möchte ihnen keine Umstände ma-“ „Ach so ein Unsinn!“, unterbrach ihn Aurélia ohne Umschweife und winkte strahlend ab. „Ich freue mich doch, einen so edlen Gast hier zu haben!“ Lautlos ächzend hob Idrael die Hand und wischte sich kalten Schweiß von der Stirn. War er verrückt, oder hatte seine tote Mutter gerade Lucifer zum Essen eingeladen? Kyria vor ihm spähte mit angehaltenem Atem nach draußen. Aurélia wandte sich nun der Tür nebenan zu und legte die Stirn in Sorgenfalten. „Leider ist er den ganzen Tag noch nicht herausgekommen – wie immer eben – ich sehe mal ob -“ „Das werden wir gleich haben!“, sagte Idraels Vater trocken, der soeben hinter seiner Frau aufgetaucht war. Mit einem kräftigen Schlag klopfte er mit der Faust gegen die Tür, als wolle er sie viel ehrer aus den Angeln hämmern und öffnete mit finsterer Miene die Tür. Im nächsten Moment segelte ein Stück teures Porzellan durch die Luft. Thariel sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, gefolgt von einem wütenden Aufschrei. Doch noch bevor Idraels Vater sich über diese Begrüßung aufregen konnte, schwirrte gleich darauf ein weiteres Schmuckstück hervor, Thariel hechtete gerade noch aus dem Weg und Lucifer wurde jäh von einer herumsirrenden Vase im Gesicht getroffen. Leicht benommen hielt er sich die Nase und während er versuchte, den Blutfluss mit seinem Ärmel zu stoppen, wollte er einen Schritt ins Zimmer machen um etwas Beschwichtigendes zu sagen, da wurde die Tür im gleichen Moment wieder mit solcher Wucht zugeschmettert, das dass glas in den Fenstern ringsum klirrte. Kurz darauf erschien Auriel in der Tür und warf mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick auf den zu Boden geschlagenen Lucifer. „Ach, du bist es.“, sagte er gnädig und betrachtete ihn mit ungeduldiger Miene. „Worauf wartest du noch, willst du da ewig rumlümmeln?“ Sprach’s, packte Lucifer am Kragen und schleifte ihn umbarmherzig hinein und schlug die Tür erneut zu, wobei es ihn nicht im Geringsten zu kümmern schien, dass er seinem Besucher soeben zweimal in Folge die Nase gebrochen hatte. Idraels Eltern standen noch immer im Gang. „Nicht zu fassen!“, sagte Thariel ungläubig und starrte die Tür an. Seine Frau lächelte schwach und sah aus, als ob sie nicht wüsste, ob sie weinen oder lachen sollte. Kyria schloss die Tür wieder und richtete sich auf. Ihr Gesicht war vom andauernden Luftanhalten schon ganz blau. „War das eben ... war das Lucifer?“, stotterte Idrael matt und hatte das Gefühl, jemand hätte einen Eimer Eis in seinen Magen geschüttet. „Ja“, hauchte Kyria mit rot glühenden Wangen und sah aus, als ob sie gerade den schönsten Tag ihres Lebens erlebt hätte. „Er sieht so gut aus, findest du nicht?“, schwärme sie hellauf begeistert. „Zum Glück kommt er immer, um mit Auriel an irgendeinem Übersetzungs-Dings zu arbeiten“ Sie sah träumerisch in die Ferne und flocht gedankenverloren ihr Haar wieder zu einem Zopf. „Zum Glück verstehen sie sich gut.“ Idrael dachte still, dass es schon ein starkes Stück war, dass sich der Teufel von seinem kleinen Bruder bereitwillig vermöbeln ließ und fand, dass man Auriel schon ganz schön gern haben musste, um sich den ganzen Tag lang von ihm herumkommandieren zu lassen. Doch Kyria schien es nicht weiter zu stören, dass Auriel ihren Angebeteten wie einen Fußabtreter behandelte, sondern sah weiterhin mit verklärtem Blick drein. „Ach ja, ich muss dir ja noch etwas zeigen!“, rief sie plötzlich und fing augenblicklich damit an, all ihre Sachen in hohem Bogen wild durchs Zimmer zu werfen. Idrael setzte sich, einem Kissen und zwei Röcken ausweichend, auf das Bett an der Wand. Aus dem Zimmer nebenan waren gedämpfte Stimmen zu hören. „Diese Vase hat mir fast ein Auge ausgestochen!“ „Kein Problem, du hast ja noch ein Zweites.“ „Du hast mir außerdem fast die Nase gebrochen!“ „Na, was stehst du auch immer im Weg?“ „Woher soll ich denn wissen, dass du das ganze Haus zerlegst, verdammt?“ „Du musst eben besser aufpassen. Ist ja nicht mein Problem, wenn du dich ständig verletzt.“ Lucifer stöhnte entnervt. „Warum bist du eigentlich so schlecht gelaunt?“ „Weil diese Narren mir schon den ganzen Tag auf den Geist gehen. Heute morgen hat mich zuerst mein unterbelichteter Bruder belästigt und dann mein trotteliger Vater. Ich glaube, mittlerweile ist auch noch das letzte bisschen Verstand flöten gegangen, den sie einst besaßen.“ Still schweigend saß Idrael an der Wand und sah Kyria dabei zu, wie sie nun den Inhalt einer großen hölzernen Kiste auf den Boden leerte. Der blaue Vogel saß noch immer auf seiner Schulter und piepste ab und an leise. „Ihr streitet wirklich jedes Mal, wenn ich komme ...“ „Niemand zwingt dich zu kommen.“ „Könntest du deine Laune vielleicht ausnahmsweise mal nicht an mir auslassen?“ „Warum sollte ich?“ Lucifer seufzte und wechselte die Taktik. „Na schön, aber mit Idrael streitest du dich ja sonst nicht.“ „Nun ja, der kam heute herein und war so geistig umnachtet wie schon lange nicht mehr – vielleicht liegt das an dem seltsamen Gesöff, das er immer trinkt.“ „Kannst du ihn denn wirklich nicht ausstehen?“ „Pff ... na ja, er ist ganz in Ordnung – aber in der Öffentlichkeit würde ich mich nicht mit ihm blicken lassen, das wäre mir zu peinlich!“ „Und mir sagen die Leute immer, Michael und ich wären schlimm!“, bemerkte Lucifer und klang, als würde er breit grinsen. „Es ist ja wohl nicht meine Schuld, wenn mein idiotischer Vater ständig etwas zu meckern hat und sich andauernd über alles beschwert.“ Lucifer gab ein seltsames Geräusch von sich, das sich anhörte, als hätte er eine Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, gerade noch in einen höchst eigenartig klingenden Hustenanfall verwandelt und es nicht wagen würde, Auriel darauf aufmerksam zu machen, dass Auriel selbst, der nichts mehr liebte, als an anderen Leuten herumzumeckern, der wohl größte Nörgler aller Zeiten war. Mittlerweile flogen nicht nur Kleidungsstücke, sondern auch Bücher, Blätter, halb zugeschraubte Tintenfässer, Federkiele, tote Insekten, Karten und staubige Schmuckschatullen durch das Zimmer und so duckte sich Idrael ab und zu, weiter dem Gespräch nebenan lauschend. In seinen Augenwinkeln brannte es leicht. „Wo wir gerade davon reden, ich habe gehört, es gäbe Streit im Rat wegen den Trabanten?“, war Auriels fragende Stimme als nächstes zu hören. „Diese verdammten Schweine!!!“ Allem Anschein nach war Lucifer aufgesprungen und marschierte nun wild im Zimmer zwischen den Büchern auf und ab, wobei er von Auriel garantiert mit Argusaugen überwacht wurde. Da führt diese Meute dort tatsächlich Krieg – ohne unsere Erlaubnis ja – gegen die Sarlaner und Michael – ich schwör’s, eines Tages bring’ ich ihn um – ist auch noch dafür, dass wir nichts unternehmen, aber nein, der Herr lässt ich ja nichts sagen – und dann noch dieses Dilemma im Finsterwald – du glaubst nicht, was er zu mir gesagt hat – ein Frechheit! – irgendwann bring’ ich ihn um – dieser verdammte A...“ Er gebrauchte einen höchst unschmeichelhaften Namen für seinen Bruder und wetterte noch eine ganze Weile weiter, beschwerte sich über die Menschen, Michael, die Leiter der Bibliothek, Varga, Michael, den König von Darkunor, Michael, das Amt für die Himmelsverkehrslage, den Rat und Michael, wobei er sich immer mehr in Rage steigerte und einige wüste Schimpfworte benutzte, auf die hin Auriel „Nana“, „Tz ...“ und „Also wirklich!“, sagte. Kyria kippte gerade ihren Schreibtisch völlig um und hatte das Zimmer in eine Mischung aus Friedhof und Schlachtfeld verwandelt, als sich Lucifer dem Geräusch nach zu urteilen schwer atmend und finster wieder setzte, aber erst nachdem er ein paar mal wutentbrannt mit der Faust auf den Schreibtisch geknallt hatte. „Übrigens“, sagte Lucifer plötzlich, als wäre es ihm gerade eingefallen, „Sag mal Auriel ...in drei Tagen am Somûn findet das Mondsommerfest statt ...“ Eine kurze Pause trat ein. Dann fuhr Lucifer nach kurzem Zögern fort: „...gehst du mit mir dort hin?“ Für einige Sekunden herrschte Stille. Idrael sah zu, wie Kyria sich zwischen zwei umgestürzten Schränken, dem Schreibtisch, Bergen von Kleidern, in paar Büchern, auf dem Kopf stehenden Kisten und unzähligen Schmuckstücken durcharbeitete und schließlich fröhlich das Chaos auch noch auf das letzte verbleibende Regal ausweitete. Dann war Auriels Stimme zu hören, die etwas leise klang: „Hm ... na schön.“ Anschließend begannen sie in Auriels Zimmer damit, einen sehr alten kyrischen Text zu übersetzen, währenddessen Lucifer, plötzlich wieder guter Laune, ausgesprochen vergnügt summte und trotz Auriels ständigem Tadel, der ihm unentwegt erklärte, er würde alles falsch machen, ungeheuer zufrieden mit sich klang. „Da ist es ja!“, rief Kyria auf einmal und richtete sich inmitten des Zentrums der Verwüstung auf. „Idrael, ist alles in Ordnung mit dir?“ Idrael schrak zusammen, wischte sich kurz mit dem Ärmel über die Augen und sah zu ihr auf. Kyria stand mit besorgt gerunzelter Stirn vor ihm, ein Blatt Papier in er Hand und zeigte es ihm. Idrael nahm es vorsichtig in die Hand und betrachtete es. „Was ist das?“ „Ein Gedicht .. hab ich selbst geschrieben. Würdest du es einmal lesen?“, bettelte Kyria und schaute ihn mit hundegetreuen lieben Augen an. Nachdem Idrael es gelesen hatte, hatte sich seine Miene sichtbar aufgehellt. „Das ist sehr gut!“, sagte er anerkennend und Kyria lächelte stolz. Kurz darauf ertönte der Ruf ihrer Mutter, die verkündete, das Essen stehe auf dem Tisch. Das Mittagessen verlief den größten Teil über friedlich, bis Kyria, als Aurélia Auriel dazu bewegen wollte, etwas mehr zu essen, bemerkte, Auriel sei ohnehin zu fett, woraufhin plötzlich ihr Stuhl mitsamt dem Teller umkippte (Auriel konnte Mentalmagie) und ihr am Boden die Karotten ins Gesicht klatschten. Daraufhin warf Kyria ihr Besteck nach ihm (ohne Mentalmagie) und die beiden fingen eine wahre Schlacht an, währenderer Lucifer, der dummerweise zu vermitteln versuchte, einen Topf ins Gesicht geworfen bekam und infolgedessen nun schon zum dritten Mal an diesem Tag Nasenbluten hatte. Das Mahl endete damit, dass Kyria laut aufschluchzend und wehendem Haar in ihr Zimmer lief, Auriel ihr wutentbrannt nachsetzte (er hatte das mit dem Buch herausgefunden), mit der festen Absicht, Kyria aus dem Fenster zu werfen und Idraels Vater alarmiert hinterher keuchte, da er die Erfahrung gemacht hatte,, dass sein zweitältester Sohn dazu neigte, seine Drohungen meist wortwörtlich wahr zu machen. In der Zwischenzeit musste Lucifer Aurélia mit tränenden Augen hoch und heilig versichern, sich später von einem Heiler ernsthaft untersuchen zu lassen. Kurze Zeit später drang ein unglaublicher Lärm aus dem dritten Stock unter dem Dach, denn Auriel ließ Kyria tatsächlich mit einem sadistischen Funkeln in den Augen vor dem Fenster in einer Höhe von über 15 Metern über dem Boden baumeln und hatte zweifellos vor, sie aus noch größerer Höhe fallen zu lassen. Sein Vater und Auriel schrieen sich ungefähr eine geschlagene halbe Stunde lang an (Kyria hing derweil weiterhin jammernd in der Luft), bis Idraels Mutter dazwischentrat und weitere zehn Minuten auf Auriel einredete, bis dieser sich endlich dazu bereit erklärte, Kyria doch nicht alle Knochen zu brechen. Später stand Auriel mit Lucifer vor der Tür und machte seinem Zorn lauthals Luft. Lucifer stand brav nickend daneben. Nach all der Zeit war er so klug, ihm so lange zuzustimmen, bis er sich wieder beruhigt hatte. Idrael unterdessen hatte sich Kyria geschnappt und ging nun mit ihr am nahen Strand spazieren, in erster Linie vor allem, um zu verhindern, dass sie doch noch gemeuchelt wurde. Kyria plapperte die ganze Zeit über ununterbrochen wie ein Wasserfall. Sie erzählte von ihren Freundinnen, ihren Hasen, was sie auf dem letzten Sonnenfest alles gemacht hatte, welche Männer sie toll fand, warum Auriel total blöd war, welches ihre Lieblingskleider waren, warum Bernstein lange nicht so schön war wie Diamant, in welche Länder sie gern reisen wollte und hielt ihm zum Schluss einen ernsten Vortrag über kontrollierte und richtig angewandte Haarpflege. Idrael schwieg. Er nickte immer wieder und machte von Zeit zu Zeit den Mund auf, um etwas zu erwidern, was jedoch sofort von einem weiteren Wortschwall aus Kyrias Mund verhindert wurde. Doch das störte ihn nicht und als er so auf dem feinen, leise knirschenden Sand trat, das mächtige Rauchen des Meeres in den Ohren, das seine Wassermassen in sanft schäumenden Wellen ans Ufer trieb und den Worten seiner glücklichen kleinen Schwester lauschte, erfüllte ihn eine tiefe Glückseeligkeit, wie er sie seit Jahrhunderten nicht mehr gespürt hatte. Sie kehrten erst kurz nach Sonnenuntergang zurück. Als sie durch den großen Garten schlenderten, strich Idrael strich mit den Fingerspitzen über die farbigen Blüten der Rosen und Lilien. Vom anderen Ende des Gartens war seine Mutter zu hören, wie sie noch immer weiter im Garten arbeitete und selbst im letzten bisschen Tageslicht liebevoll jede Pflanze, jeden Strauch einzeln beschnitt und pflegte. Kyria war nach dem langen Spaziergang müde und verschwand ins Haus. Idrael jedoch blieb unter einer herrschaftlichen Weide zwischen Orchideen und Clematis sitzen. Das dunkle Rotgold des Himmels verfärbte sich langsam in ein samtenes mitternächtliches Blau und nach und nach blitzte ein Stern nach dem anderen am Firmament auf, nur noch überstrahlt vom fernen Licht des Mondes. Die Blüten der Sträucher schlossen sich zu kleinen unschuldigen Knospen, allein die „Königin der Nacht“ öffnete ihre Blüten erst in der Dunkelheit und verströmte ihren schweren süßlichen Duft. Die Stille der Nacht wurde nur begleitet von dem leisen Rascheln der Vögel zwischen den Blättern und dem Zirpen der Grillen. Einzig die sanften Klänge einer Geige schwebten langsam durch den Garten und füllten die Dunkelheit. Idrael lehnte sich mehr gegen den mächtigen Stamm des Baumes und schloss die Augen. Beim Klang der Melodie dachte er plötzlich an das alte schöne Klavier, mit seinen weißen und schwarzen Tasten, seiner glänzenden dunklen Oberfläche, das oben im dritten Stock stand. Und während er langsam in die Tiefen des Schlafes sank, dachte Idrael noch, wie sehr er noch einmal den Klang des Klaviers hören würde, bevor ihm die Augen zufielen und der Schlaf ihn übermannte. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Irgendwo in der Nähe wieherte ein Pferd, als Idrael wieder erwachte. Das gleißende Licht der Sonne fiel durch das staubige Glas vor dem wild wuchernden Garten herein. Kyria, die noch immer in seinen Armen lag, regte sich leicht. Sie hatte die Decke, in die er sie eingewickelt hatte, beinahe wieder weggetreten. Idrael schlug die Augen auf und betrachtete die leiht verblichene Decke über ihm. War alles nur ein Traum gewesen? Es hatte so echt gewirkt. Seine Eltern waren da gewesen, er hatte mit ihnen geredet. Seine gütige, wunderschöne Mutter hatte ihn mit ihrem bezaubernden Lächeln angesehen. Sein ernster, kluger Vater hatte zu ihm gesprochen. Kyria, kein kleines Mädchen mehr, wie in seinen Erinnerungen, sondern eine junge Dame hatte an seinem Arm gehängt. Sie alle waren da gewesen. Selbst Auriel. Auch er. Und er hatte nicht ... Er hatte ihn nicht ... War es wirklich nur ein Traum gewesen? Er war ihm so realistisch erschienen. Er hatte wirklich geglaubt, in ein anderes Leben zu tauchen. Oder war es vielleicht gar anderes herum? Was, wenn nicht dies, sondern das Jetzt der Traum war – vielleicht träumte er nur von einer Welt, in der alle tot oder verrückt waren! Oder doch nicht? Während Idrael so da lag, überkam ihn eine tiefe Traurigkeit, als er erkannte, das er gerade eine andere Welt für einen winzigen Augenblick betreten hatte; für den Bruchteil einer Sekunde der Ewigkeit erfahren hatte, was wahres Glück war; für die Zeit eines Augenzwinkerns erleben durfte, dass seine Eltern noch lebten; für ein einziges Mal hörten durfte, dass sein geliebter kleiner Bruder ich nicht hasste; dass er soeben ebenjene Welt schmecken durfte, nach der er sich so schmerzlich und verzweifelt mit jeder Faser seines Herzens verzehrte. Da kam ihm ein leiser, sanfter Gedanke. Idrael schloss wieder die Augen, und plötzlich war es völlig gleich, ob er nun im nächsten Moment aufwachen oder in einen Traum sinken würde. Es war völlig gleichgültig. Als er sie wieder öffnete, sah er nur eine Decke vor sich. Aber dann vernahm er Vogelgezwitscher und die leisen, weichen Klänge eines Klaviers einer fast vergessenen Melodie, die durch die Luft schwebten. Eine einsame Träne rann langsam seine Wange hinab. Idrael lächelte. Er war daheim. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)