Hör auf zu fragen! von Alaiya (Kurzgeschichte) ================================================================================ Kapitel 1: Hör auf zu fragen! ----------------------------- Hör auf zu fragen! „Was würdest du tun, wenn du das Schicksal verändern könntest?“ „Frag nicht!“ Ich ging mit ihm die Straße entlang. Damals war ich so glücklich wie nie. Wir liefen Hand in Hand durch die nächtliche Stadt. Ein Date. Kino, Essen gehen… Ich hatte mich schon die ganze Woche darauf gefreut. „Was würdest du tun, wenn du die Zukunft verändern könntest?“ „Kenne ich die Zukunft?“ Die Stadt war laut. Es war halt eine Stadt. Es war Wochenende und viele Leute waren unterwegs. Auch viele Pärchen. Noch vor kurzem hätte es mich gestört, doch heute nicht. Denn ich gehörte zu ihnen, ich gehörte zu diesen Pärchen. Nach so langer Zeit. Endlich hatte ich wieder jemanden gefunden, mit dem ich zusammen sein konnte. Der mir seine Wärme gab. „Was würdest du tun, wenn du die Welt verändern könntest?“ „Die Welt interessiert mich nicht.“ Zwischendurch blieben wir immer wieder stehen. Dann beugte er sich zu mir hinunter und wir küssten uns. Ich weiß es noch genau. Seine warmen Lippen berührten meine und ein Schwall von Glück durchflutete meinen Körper. Man redet doch von „Schmetterlingen im Bauch“, nicht? Genau diese spürte ich in dieser Nacht. Ich fühlte mich wohl! „Was würdest du tun…“ „Was soll die Fragerei?“ Wir waren noch nicht lange zusammen. Na ja, ein Monat ist noch nicht lange, oder? Aber trotzdem freute ich mich. Trotzdem war ich mir sicher, endlich den richtigen gefunden zu haben. Ich fragte mich, warum ich es nicht vorher gewesen hatte. Mein bester Freund, schon so lange Zeit. Ja, ich weiß, es ist kitschig, aber ich hatte mich in meinen besten Freund verliebt. Ich liebte ihn. Er mich. Wir gehörten einfach zusammen, da war ich mir ganz sicher. Ich fühlte mich, wie die Hauptdarstellerin in einem Liebesfilm. Damals… „Glaubst du an das Schicksal?“ „Hä?“ Seine Hand war warm, umfasste meine, leitete seine Wärme in meinen Körper. Der Atem der Menschen um uns herum bildete, genau wie der unsrige, Schwaden vor den Gesichtern. Es war Winter und um die null Grad herum. Schnee lag keiner. Wir beide versanken im Gewühl der Menschen in der Stadt. Wir lebten. Ich hatte das Gefühl im Meer der Lichter, im Meer der Geräusche und Gerüche zu schwimmen. Dinge die mich sonst störten, erfreuten mich an jenem Abend. „Was ist der Sinn des Lebens?“ „Zu lieben? Zu leiden? Was weiß ich? Überlass das doch den Philosophen!“ Wir erreichten das Kino etwa eine viertel Stunde vor Beginn der Vorstellung, aber mir wäre es egal gewesen, wenn wir zu spät gekommen wären. Darum ging es doch nicht. Es war ein Date… Nachdem wir die Tickets gekauft hatten, kaufte er noch Popcorn und Cola. Dann warteten wir auf den Einlass. „Glaubst du an das Schicksal?“ „Muss ich das?“ Es war ein Liebesfilm, denn wir uns ansahen – was wäre auch passender an einem Date anzuschauen? Während des Films lag seine Hand entweder in der meinen oder auf meinem Oberschenkel. Ab und zu beugte er sich zu mir herüber und küsste mich. Irgendwann überwand ich meine leichte Scheu und legte meinen Kopf gegen seine Schulter. Er war wirklich warm. Alles an ihm war warm. „Was ist der Sinn deines Lebens?“ „Gibt es einen?“ Irgendwann war der Film vorbei und wir verließen das Kino. Wir hatten keine Eile. Die U-Bahnen fuhren die ganze Nacht in das Viertel, wo wir wohnten. Im selben Haus, seit bereits vier Jahren. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil er mich eingeladen hatte. Egal ob er mein Freund war oder nicht. Wie ich studierte auch er und hatte nicht mehr Geld als ich. Trotzdem hatte er darauf bestanden alles zu zahlen und selbst abgelehnt, dass ich eine Kinokarte von meinem Geld kaufte. „Was würdest du tun, wenn du das Schicksal verändern könntest?“ „Fängst du jetzt wieder von vorne an?“ So gingen wir nach dem Kino noch bei einem Italiener essen. Ein kleines Restaurant, aber es hatte wirklich Stil. Wir aßen Pizza, tranken Cola und jeweils ein Glas Rotwein. Immer wieder trafen sich unsere Blicke. Immer wieder berührten sich unsere Hände, wie durch Zufall. Ich lächelte. Er lächelte. Seine Augen blitzen schelmisch. „Was würdest du tun, wenn du deine Zukunft bestimmen könntest?“ „Du nervst…“ Schließlich verließen wir auch das Restaurant. Dieses Mal hielten wir nicht mehr Händchen. Er hatte den Arm um mich gelegt. Ich schmiegte mich an ihn. Wir gingen zur nächsten U-Bahnstation, warteten zwanzig Minuten auf unsere Bahn und fuhren schließlich nach Hause. „Was würdest du tun, wenn du die Welt verändern könntest?“ „Nichts!“ Er küsste mich, als wir die Station verließen. Dann gingen wir wieder Hand in Hand zu dem Apartmenthaus indem wir lebten. Ich kam noch mit in seine Wohnung. Wir saßen einfach aneinander gekuschelt auf dem Sofa – bei Kerzenschein – und hörten Musik. Da war so viel Wärme – seine Wärme. Es musste einfach Schicksal sein, dass wir zusammengefunden hatten, dass wir uns liebten. Daran glaubte ich damals fest. „Glaubst du an das Schicksal?“ „Nein, verdammt!“ Gierig sog ich seinen Geruch ein. Ich mochte seinen Geruch. Ich fühlte mich einfach nur geborgen auf diesem Sofa in seinen Armen. Doch ich traute mich nicht, bei ihm zu übernachten. So etwas hatte ich noch nie getan, nicht bei einem festen Freund. Dabei hatte ich so oft bei ihm geschlafen, als er noch mein „bester Freund“ gewesen war. Aber an jenem Abend trennte ich mich schweren Herzens von ihm – ich würde ihn ja am nächsten Morgen wieder sehen. Ich versprach mit ihm zu frühstücken am nächsten Morgen und ging in meine Wohnung ein Stockwerk höher. „Was…“ „Sei endlich still!“ Als ich am nächsten Morgen erwachte und auf die Uhr sah, stellte ich fest, dass ich fast um eine halbe Stunde verspätet war. Ich zog meinen Bademantel über und ging im Bademantel zu ihm hinunter. Ich klingelte, doch er öffnete nicht. „Warum…“ „Hör auf mich zu fragen!“ Da hörte ich die Sirene von irgendeinem Rettungs- oder Polizeiwagen. Neugierig, wie wohl jeder Mensch ging ich zum Fenster auf der Ebene im Treppenhaus zwischen seiner und meiner Etage. Draußen schien es einen Unfall gegeben zu haben. Ein Auto stand verkehrt da, ein Rettungswagen, ein Notarzt und ein Polizeiauto. Drumherum eine Menschentraube. Wie immer… „Warum lässt du mich nicht ausreden?“ „Du nervst…“ Als ich erfuhr was passiert war, fuhr ich sofort ins Krankenhaus. Ich weinte, als ich neben dem Bett saß, in dem er ohnmächtig lag. Wie hilflos ich mich fühlte, kann ich gar nicht beschreiben, genau so wenig, wie ich die Schuld beschreiben konnte, die ich empfand. Er war von dem Auto angefahren worden, als er vom Brötchenholen wiederkam. Er hatte eine Gehirnerschütterung und mehrere Knochenbrüche. Auch wenn die Ärzte sagten, es sei nichts Schlimmes: Allein der Anblick der Platzwunde auf seiner Stirn und seines leblosen, wenngleich friedlichen Gesichtes zerriss mein Herz fast. „Wann hast du zum letzten Mal geweint?“ „Weiß ich nicht mehr… Was…“ Am Nachmittag starb er. „Warum lebst du?“ „Warum lebst du?“ Irgendwelche Adern waren beim Unfall verletzt worden. Die Ärzte hatten davon wohl nichts gemerkt. Jedenfalls war er innerlich verblutet. Nur weil ich verschlafen hatte… „Warum antwortest du nicht auf meine Fragen?“ „Warum stellst du sie?“ Ich verkroch mich in meinem Zimmer. Ich weinte, tobte, schrie. Ich nahm ein Messer in die Hand und legte es wieder weg. Immer wieder. Ich fühlte mich so schuldig. Wäre ich früher aufgestanden, hätte ich gehen können, hätte er nicht gehen gemusst. Er hatte die Brötchen für mich geholt. Wozu überhaupt verdammte Brötchen? Warum war ich nicht bei ihm geblieben über Nacht? „Hat das Leben einen Sinn?“ „Nein!“ Warum war er gegangen? Warum war ich nicht da gewesen? Warum hatte er nicht aufgepasst? Warum war der Autofahrer zu schnell gefahren? Warum konnte ich es nicht ändern? Warum passierte so was? Warum war er tot? Warum war er tot? Warum… Ich hasste die Welt. Ich hasste mich. Ich fühlte mich allein. Warum… „Kann ein Mensch die Welt verändern?“ „Nein!“ Es kam der Tag seiner Beerdigung. Ich kannte kaum jemand aus seiner Familie, stand abseits, trauerte weit fort von ihnen. Ich weigerte mich zu glauben, dass es Schicksal war, dass das passiert war. Nein, so etwas konnte kein Schicksal sein. Es konnte kein Schicksal geben. Warum konnte ich es nicht ungeschehen machen? „Was würdest du machen, wenn du das Schicksal ändern könntest?“ „Ich habe doch schon gesagt, dass ich daran nicht glaube!“ Danach blieb nur noch ich. Die Welt drehte sich weiter. Die Menschen lebten weiter. Doch ich nicht mit ihnen. „Wann hast du das letzte Mal geweint?“ „Starke Menschen weinen nicht!“ Ja, vielleicht wäre das mit uns nie was geworden, doch nun wo er fort war… Er war fort. Warum? Ich würde nie erfahren, ob wir zusammen glücklich gewesen wären. Warum nicht? „Bist du stark?“ „Ich komme allein klar.“ Der Frühling kam. Ich blieb allein. Bis heute… Ich vermisse ihn, doch ich habe nicht den Mut zu ihm zu gehen. Ich liebe ihn noch immer. Ich kann nicht zurück. „Was würdest du machen, wenn du die Vergangenheit ändern könntest?“ „Das kann ich nicht!“ Ich liebe ihn noch immer! Warum? Er ist tot… „Was würdest du tun, wenn du etwas an deinem Leben ändern könntest?“ „Sterben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)