Falkenauge
Sheila stand auf einem großen, von Buchsbäumen und Rosensträuchern gesäumten Balkon und starrte über das weite Land, das sich vor der Burg erstreckte.
Dort war sie hergekommen und war schnurstracks ihrem Schicksal in die Arme gelaufen, buchstäblich.
Sheila schlang die Arme um ihren Körper, so als ob sie versuche, sich davor zu schützen, einfach auseinander zu fallen. Sie war während der Versammlung, als ihre Anwesenheit nicht mehr weiter von Bedeutung gewesen war, hier her geflüchtet. Sie brauchte Luft um die Enge in ihrer Brust los zu werden und ihr war, als wenn ihr der Himmel jeden Augenblick auf den Kopf fallen würde.
Sheila hätte es nie vor den Clanführern zu gegeben – obwohl sie wusste, dass die Dämonen sich nicht täuschen ließen – aber sie fühlte sich überfordert. Von ihrer Entscheidung hing sehr viel ab, Menschenleben, und bei dem Gedanken wurde ihr schlecht.
Sie wäre mit einer passiveren Rolle wesentlich glücklicher gewesen. Irgendwo stehen und lieb winken und Hoffnung geben, aber Schicksale zu besiegeln, nein danke.
Doch es war zu spät, sie hatte eine Aufgabe und sie musste sie so gewissenhaft ausführen, wie sie konnte.
Erschöpft legte Sheila ihre Arme auf die Mauer des Balkons und die heiße Stirn darauf. Sie mussten so viele Truppen rekrutieren wie sie konnten, also auch menschliche Soldaten. Sheila wusste es und doch war ihr nicht wohl dabei. Was auch immer der Imperator war, er würde keine Rücksicht auf die schwächeren Gegner nehmen.
Sheila hatte nie einen Krieg erlebt. Alleine das Wort machte ihr Angst. Vor allen Dingen, weil die Lebewesen dieser Welt mit Mitteln kämpften, mit denen sie nichts anfangen konnte.
Sofort sah sie wieder das Bild der Dorfbewohner vor sich, die in so kurzer Zeit regelrecht abgeschlachtet worden waren. Nein, man würde auf die Menschen keine Rücksicht nehmen. Sheila musste den Menschen zumindest die Wahl lassen, ob sie sich verteidigen wollten.
„Warum kann ich nicht einfach aus diesem Alptraum aufwachen?“ In diesem Augenblick übermannte sie Heimweh und es verschlug ihr den Atem.
Wenig später lief sie gedankenverloren über den Burghof. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, hatte sie nicht allzu viel mitbekommen. Zu sehr war sie durch die Dämonen abgelenkt gewesen und auch jetzt war sie nicht wirklich bei der Sache. Doch sie musste einen klaren Kopf bekommen und deshalb hatte sie sich entschlossen, ein wenig umher zu laufen.
Die Sonne stand in ihrem Zenit und schien unbekümmert auf den Hof.
Sheila spürte die Wärme und Geborgenheit, die sie augenblicklich umfing und Ruhe überkam sie.
Die Menschen und Dämonen- Schmiede, Stallburschen, Ritter und einfache Bewohner- hielten in ihren Arbeiten und Gesprächen inne und begutachteten Sheila, die mitten auf dem Hof stand, die Augen geschlossen und einen entspannten Ausdruck im Gesicht.
Viele kannten die Geschichten, andere wiederum hatten sie erst kurz nach Sheilas Ankunft gehört. Doch jeder hatte sich gefragt, wie dieses Mädchen ihnen helfen sollte. Sie alle hatten Kämpfe miterlebt; darin gekämpft, Waffen erschaffen, oder verwundete Tiere und Menschen versorgt. Doch dort stand ein zierliches Mädchen. Jung noch und von schöner Gestalt, aber niemals in der Lage eine Schlacht zu führen. Und doch: sie verzauberte die Menschen. Keiner von ihnen konnte sich wirklich ihrer Ausstrahlung entziehen. Erst als Sheila die Augen öffnete, kehrten die Burgbewohner wieder zu ihren Aufgaben zurück.
Sheila hatte von den Vorgängen um sich herum nichts mitbekommen. Sie konnte auch nicht ahnen, wie sie auf die Bewohner dieser Welt wirkte. In ihr wohnte eine noch ihr vollkommen unbekannte Kraft, die jedoch außer ihr niemanden verborgen blieb. Selbst Blinde konnten es spüren und Taube es hören.
Da war etwas gekommen, das die Welt verändern würde.
Der Burghof hatte einen Durchmesser von etwa 150 Metern und war rund angelegt worden. Im Süden befand sich das riesige Tor und ihm gegenüber eine Treppe, die in die Burg selber führte. Diese Treppe hatte Sheila im Rücken, als sie nun das Treiben um sich herum betrachtete. Zu ihrer Linken waren Stallungen in den Fels des Gebirges gehauen worden, in denen geschäftig Ritter und Stallburschen umherliefen. Direkt daneben befand sich eine Schmiede aus der es stetig zischte und Rauch aus einem Loch im Strohgedeckten Dach stieg. Rechts von Sheila hatten einige Bewohner des Umlandes Marktstände errichtet, an denen es nur so von Menschen und Dämonen wimmelte. Marktschreier priesen Waren und Nahrungsmittel an.
Gemächlich schritt Sheila die Stände entlang. Sie nahm wahr, dass die Menschen ein wenig zur Seite gingen, sobald sie sich näherte, aber da sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte, legte sie sich einfach ein Lächeln zurecht und lief weiter.
Sie sah verschiedene Lebensmittel vom Feld. Getreide, Mehl sowie Gemüse und ein wenig Obst. Doch auch Waren wie Wolle, Leinen und Schmuck wurden angeboten. Die Stoffe waren meist schlicht und farblos, doch die Frauen der Burg feilschten um jeden Meter, als wenn sie Gold in den Armen halten würden.
Dann erreichte Sheila einen kleinen Stand mit Schmuck. Der Mann hinter dem hölzernen Tisch sah alt aus und hatte kaum noch Zähne in seinem Mund, doch in seinem offenen Lächeln und seinen warmen, braunen Augen meinte Sheila ein wenig von seiner jugendlichen Aura zu spüren.
„Ein wunderschönen guten Tag, Mylady.“
Unwillkürlich musste Sheila lächeln, was den Mann für einen kurzen Augenblick aus der Fassung brachte. Doch dann leuchteten seine Augen umso mehr.
„Einen schönen Tag wünsch ich auch Euch.“ Sheila musste ein Kichern verhindern. Es war ungewöhnlich in der mittelalterlichen Sprache zu sprechen, aber es machte Spaß. Etwas anderes hätte diesen Mann auch mit Sicherheit verwirrt.
„Darf ich Euch sagen, dass ihr unglaubliche Augen habt?“ Bevor Sheila etwas erwidern konnte, kramte er auch schon in seiner Auslage und beförderte eine silberne, überraschend fein gearbeitet Kette hervor, an der ein Stein baumelte. Sheila streckte vorsichtig die Hand aus und berührte ihn, um ihn genauer besehen zu können. Er war blaugrau, mit seidig wogender Lichtlinie und faszinierte Sheila.
„Wir nennen es Falkenauge, doch der Stein hat die Farbe eurer Augen, wenn sie leuchten.“
Beschämt schlug Sheila die Augen nieder. Der Stein war wirklich wunderschön, aber der Mann übertrieb.
„Ich danke Euch, mein Herr. Leider habe ich kein Geld bei mir.“
Der Mann war doch mit Sicherheit an einem guten Geschäft interessiert. Doch er schien nicht enttäuscht zu sein. Viel mehr wurde sein zahnloses Grinsen noch breiter.
„Nein, dieses Schmuckstück möchte ich euch schenken. Es soll Euch Kraft geben.“
Erschrocken ließ Sheila den Stein los und schüttelte den Kopf.
„Nein, das kann ich nicht annehmen.“
„Doch, Mylady, das könnt ihr. Ihr seid mir nichts schuldig. Vielmehr schulden wir Euch Dank.“
Am Liebsten hätte Sheila laut aufgeschrieen. Sie war womöglich ihr Verderben, ihr Tod und dieser Mann bedankte sich. Sie hatte rein gar nichts getan und dieser Mann bedankte sich. Doch bevor Sheila einen hysterischen Anfall bekommen konnte, besann sie sich dieser liebevollen Augen ihres Gegenübers. Er hatte Vertrauen und Hoffnung. War das nicht genau das, was sie vermitteln sollte?
Huldvoll- und schrecklich gekünstelt- neigte Sheila zum Dank den Kopf und nahm das Falkenaugen entgegen. Um dem alten Mann eine Freude zu machen,
versuchte sie die Kette umzulegen, was diesen noch glücklicher aussehen ließ. Sie hatte ein wenig Schwierigkeiten mit dem Verschluss, was ihr langsam peinlich wurde.
Plötzlich legte sich eine warme, starke Hand auf die ihren und entnahmen ihr die Kette. Überrascht wandte sie sich um und sah in die gelben Augen von Sekura. Sheila spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß und drehte sich abrupt wieder um. Was machte er auf einmal hier?
Sie spürte, wie seine Hände geschickt den Verschluss der Kette bewältigten und dann – sie wusste nicht, ob sie es sich einbildete- eine Weile auf ihrem Nacken verweilten.
Als sie sich jedoch diesmal umwandte, hatte sie sich voll und ganz unter Kontrolle.
„Danke.“ Sie versuchte ihn unschuldig anzulächeln und hoffte, dass er nicht gesehen hatte wie sie errötet war.
Seitdem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, machte er sie nervös. Immer hatte sie das Gefühl, er würde sie durchschauen, sie nicht ernst nehmen. Sekura war Kasuke sehr ähnlich und doch…irgendwie beängstigend.
Forschend sah Sekura Sheila ins Gesicht, als würde er auf etwas warten. Sheila wurde ein wenig mulmig zumute, aber sie hielt diesen abschätzenden Augen stand. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, dann riss Sekura sich von ihr los und kramte in der Tasche seiner braunen Lederweste und förderte ein paar Münzen zutage, die er dem Alten zuwarf. Dieser wollte sofort widersprechen, doch ein Blick genügte um ihn zum Verstummen zu bringen.
Sheila war bisher so sehr von Sekuras Augen gefangen gewesen, dass sie nicht auf seine Kleidung und seinen Körper geachtet hatte. Außer der Lederweste und – hose trug er nichts weiter. Nicht einmal Schuhe. Seine Brust, genau auf Sheilas Augenhöhe, war makellos und stark. Er stand Kasuke in nichts nach.
Sheila versuchte diese verwirrenden Gedanken loszuwerden und schritt an Sekura vorbei, der ihr auf dem Fuß folgte.
„Das war sehr unhöflich.“ Der feste Ton ihrer Stimme überraschte sie und strafte ihre zitternden Knie Lügen.
Sie hatte ihn nicht ansehen wollen, doch sie wollte ihm keine Schwäche zeigen. Sekura hob eine wohlgeformte Augenbraue.
„Was war unhöflich?“ Seine tiefe Stimme war atemberaubend. Immer die Ruhe, ermahnte sie sich. Diese Welt bekam ihr einfach nicht gut.
„Er hat mir die Kette geschenkt. Er wollte kein Geld. Es ihm zu geben, hat ihn gekränkt.“
Sekura machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Außer Geld wollen diese Menschen doch nichts. Es zu bekommen ist doch ihr ganzer Lebenssinn.“ Sheila spürte Ärger darüber, wie abfällig Sekura über die Menschen sprach. Wollte er sie provozieren?
Er hatte vielleicht Recht. Die Menschen lebten und arbeiten dafür, sich zu bereichern. Aber war es ihnen vor zu werfen? In ihrer Welt war es doch nicht anders.
Viele schufteten um ihre Familien zu ernähren, Kinder und Ehefrau glücklich zu machen. Sie alle gaben das Geld aus, um Glück und Frieden zu erfahren. Wieso sollte es hier anders sein? Der Alte hatte sicher Frau und Kinder. Jedes verkaufte Schmuckstück war ein sattes Kind.
„Kein Wunder, dass ihr nicht an die Menschen ran kommt. Ihr seht sie doch nur mit euren Augen, wollt sie gar nicht verstehen!“
„Was soll man da verstehen? Sie sind doch alle gleich.“
Sie stiegen die Treppe zur Burg hinauf, doch Sheila blieb abrupt stehen.
„Sie sind alle gleich? Nichts weiter als Tiere, die euch nützlich sind, oder was?“ Fasziniert beobachtete Sekura, wie Sheilas Gesichtsfarbe in rot überging und ihr Augen sich wie im Sturm bewölkten.
„Ihr selbstgerechten Monster. Ihr habt keine Ahnung. Ihr könnt noch so einiges von diesen Menschen lernen.“ Sheila holte tief Luft und ihre Augen funkelten.
„Alle gleich also. Bin ich etwa auch so leicht zu durchschauen? Dann kann ich euch ja nur wenig nutzen.“
Sie wollte schnellstmöglicht die Treppen zur Burg erklimmen und in ihrem Zimmer verschwinden. Sie hatte von Anfang an Recht gehabt, was sie über Sekura gedacht hatte. Er nahm sie nicht Ernst.
Obwohl er leise sprach, hörte Sheila jedes Wort, doch sie hielt nicht inne.
„Ich durchschaue dich kein bisschen und ich weiß nicht wieso.“
Stirnrunzelnd lehnte Kasuke an der Wand neben der großen Tür zu Burg und beobachtete Sekura. Wieso suchte sein alter Freund Kontakt zu Sheila?
Auch er wusste, dass Sekura nicht viel von Sheila hielt. Zumindest bis jetzt nicht. Was ging in dem Panter vor?
Aufgebracht stampfte Sheila an Kasuke vorbei. Er wusste sie hatte ihn bemerkt, aber sie wollte nicht mit ihm sprechen. Sie hatten auch seit dem Streit kein Wort mehr gewechselt und er würde das Schweigen nicht brechen. Celine war eine ständige Barriere zwischen ihnen. Er spürte Sheilas inneren Kampf und er konnte ihr nicht helfen, denn zu sehr beschäftigte ihn Celines Vermächtnis.
Sekura kam nun nachdenklich die Treppe hinauf, doch er blieb bei Kasuke stehen und sah Sheila nach.
„Ein seltsames Mädchen, findest du nicht auch?“
Kasuke spürte einen kleinen Stich der Eifersucht.
„Ohne Frage!“
„Das könnte noch interessant werden.“
Kasuke fragte nicht weiter nach, sondern nickte nur.
Klein, aber fein ^^