Versammlung
Als alle gesättigt waren, stand Konomi auf und jede Unterhaltung verstummte. Sheila hatte mit niemandem ein Wort gewechselt, so unwohl hatte sie sich gefühlt.
Umso glücklicher war sie, dass Konomi nun wieder den Tagesablauf in die Hand nahm.
Er klatschte in die Hände und lächelte in die Runde, wobei sein Blick zuletzt auf Sheila ruhte.
„Ich bitte Euch nun, liebe Freunde, mir in die Bibliothek zu folgen. Ich finde es ist an der Zeit auf die Probleme dieser Welt zu sprechen zu kommen.“
Sheilas Herz machte einen Satz. Endlich kamen sie voran. Bald würde sie womöglich verstehen, was ihre Aufgabe war und die Ziele der zehn Clans.
Immer noch ein wenig überfordert mit ihrer Situation, versuchte Sheila sich hinter der
Gruppe zu halten, doch Periphae war bald an ihrer Seite. Die Adlerdame hakte sich bei Sheila ein und drückte beruhigend ihre Hand.
„Mach dir keine Sorgen mein Kind. Keiner hier zweifelt wirklich an dir. Setz dich nicht unter Druck.“ Erst jetzt, da Periphae es aussprach, bemerkte Sheila, dass ihr größtes Problem darin lag, dass Sheila Angst hatte zu versagen. Sie wollte so gerne den Erwartungen der Dämonen und dieser Welt entsprechen, aber es war doch so schwer. Sheila atmete tief durch und rüstete sich. Periphae nickte anerkennend.
„Gut so mein Kind.“
Auf dem Weg zur besagten Bibliothek durchstreiften sie weitere hohe Gänge mit überdimensional großen Fenstern, die entweder auf den Burghof oder die Weite vor der Burg blicken ließen. Die Streben des Ganges waren mit Stuck verziert und doch schlicht und hier und dort befanden sich Gemälde von Burgbewohnern und Helden. Was Sheila sofort bemerkte, war die Tatsache, dass es nicht nur Dämonen waren, die diese Bilder zierten, sondern auch Menschen, meist wunderschöne Frauen in beeindruckenden Kleidern und Roben. Periphae erzählte ihr währenddessen alle Namen der Clanführer und ihr Herkommen.
Ein Gemälde ließ Sheila stutzen und sie blieb stehen. Periphae folgte ihrem Blick. Sheila meinte, sich darin wieder zu erkennen.
„Ja, das ist Celine, mein Kind.“
Sheila schluckte. Obwohl Celine kerzengerade auf einem Stuhl saß und einen ernsten und fast schon überheblichen Ausdruck im Gesicht hatte, schien alles an ihr weich und verführerisch. Sie trug ein feuerrotes Kleid, welches außergewöhnlich tief ausgeschnitten war und eine in gold gefasste Perlenkette wand sich um den schlanken, langen Hals. Sie hatte ihre feingliedrigen Hände im Schoß gefaltet und saß leicht seitlich, wobei ihr Gesicht jedoch genau dem Maler zugewandt war.
„Ihre Augen sind wie meine und doch sehe ich etwas ganz anderes in ihnen.“
Periphae sah Sheila an. Sie hatte geahnt, dass Sheila sich mit der Frage quälte, ob sie nur ein Abbild Celines war oder ein Individuum.
„Aussehen ist nicht alles, mein Kind. Zwischen euch liegen Welten.“
Sheila nickte und wandte den Blick ab.
„Ich weiß, dass sie anders ist….war. Aber wissen es auch alle anderen? Sehen sie vielleicht etwas in mir, dass ich nicht sein kann?“
Periphae lächelte, sodass sich kleine Fältchen um ihre gelblichen Augen bildeten.
„Meinst du Kasuke oder alle?“
Sheila errötete und versuchte, einen Ausweg aus dem Fettnäpfchen zu finden.
Die Adlerdame tätschelte ihr aber beruhigt die Hand, während sie den anderen wieder folgten.
„Der Wolf ist vielleicht vorgezeichnet, aber unterschätz ihn nicht. Auch er wird lernen, dass man die Vergangenheit nicht wieder beleben kann.“
„Hoffentlich!“, dachte Sheila
Vor einer weiteren gigantischen Doppeltür machten sie Halt. Das Zedernholz war mit rotem Samt ausgekleidet und auf beiden Flügeltüren waren Bilder eingenäht. Sheila trat einen Schritt näher und besah sich die Stickerreien.
Sie zeigten Menschen, scheinbar Gelehrte, die lasen, schrieben oder zeichneten.
„Dieser Raum dient nicht nur als Bibliothek, sondern wurde schon immer als Versammlungsraum, als Rückzugsmöglichkeit oder schlicht weg für die Bildung der Jungen genutzt“. Konomis dunkle Stimme drang an Sheilas Ohr. Er war an sie heran getreten, als er gesehen hatte, wie sie sich die Türen näher angesehen hatte.
Ein Angestellter, der es nicht wagte sie alle anzusehen, kam herbei geeilt und öffnete feierlich die Türen und bat sie einzutreten.
Sheila, der noch immer unbehaglich war, wenn sich jemand so unterwürfig verhielt, trat an den jungen Mann heran und legte ihm eine Hand auf den Arm. Erschrocken wäre er am Liebsten zurückgewichen, doch seine Ausbildung ließ dies nicht zu.
„Vielen Dank. Darf ich dich nach deinem Namen fragen?“
Dem Jungen fielen fast die Augen aus dem Kopf und Sheila schien das zunehmend absurder. Der Diener war so alt wie sie. Nervös blickte er den Dämonen hinterher und als er bemerkte, dass sich der Wolf und Herr Konomi umgewandt hatten, wollte ihm fast das Herz stehen bleiben.
„Ho…Hotori, Herrin.“
„Vielen Dank, Hotori. Versprichst du mir etwas?“
Der Junge nickte eifrig.
„Bitte tu mir den Gefallen und nenn mich bei meinem Namen. Ich heiße Sheila!“ Sie reichte dem schon sowieso kalkweißen Diener die Hand, der daraufhin noch eine Nuance bleicher wurde. Weil er nicht reagierte, nahm Sheila einfach die seine und drückte sachte.
„Ich möchte, dass wir jetzt Freunde sind.“
Ein weiteres Mal nickte der Junge, doch so langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück.
Als Sheila sich nun umdrehte und den anderen in die Bibliothek folgen wollte, sah sie in zehn, unterschiedlich dreinblickende Gesichter. Einige sahen ungläubig zu dem Diener und ihr, doch Sekura, Kasuke und Konomi wirkten eher überrascht.
„Er ist doch auch nur ein Mensch so wie ich. Wieso sollte er vor mir Angst haben?“
Die Bibliothek war der Wahnsinn. Ein Paradies, wie Sheila fand. Die Decke war fünfzehn Meter hoch und fünfzehn Meter breit und in mehrere Etagen von Bücherregalen unterteilt, die durch eine Treppe erreicht werden konnten. Die obersten Bücher waren durch eine rollende Leiter zu erreichen, die über eine ovale, dem Raum angepasste Schiene lief.
Der ganze Raum war mit dunklem Teakholz ausgestattet, genauso wie der gigantische, runde Tisch in der Mitte des Raumes, so wie die Schreibpulte, die überall verteilt standen und mit Tinte und einer Gänsefeder ausgestattet worden waren. Doch der Raum wirkte deshalb nicht düster, sonder behaglich und warm durch die vielen Goldtöne die in den Wandbehängen, Vorhängen der zwei großen Fenster rechts neben der Tür und vielen Verzierungen eingearbeitet worden waren, die die Regale, Stühle und Tische verschönerten.
Die Clanführer sammelten sich um den Tisch, während Sheila über die Bücheranzahl staunte. Hoffentlich hatte sie irgendwann einmal die Möglichkeit hier zu stöbern.
Konomi wartete, bis jeder Platz genommen hatte, dann stand er auf. Er streckte seine Hand aus, sodass die Handfläche etwa einen Meter über dem Tisch schwebte.
Langsam entstand ein Glühen, was sich zunehmend ausbreitete. Sheila, scheinbar die einzige, die dies noch nicht gesehen hatte, beugte sich herüber, um alles genau beobachten zu können.
Eine Lichtkugel breitete sich nun nach und nach aus und wurde zusehends größer, bis es die Tischplatte berührte. Konomi nahm die Hand von der Kugel und das Licht verblasste und es war eine feste Form zu erkennen, mit Linien und Farben.
Konomi wandte sich an Sheila: „Darf ich vorstellen, Sheila. Unsere Welt: Kemono.“
Auf den ersten Blick sah sie der Erde sehr ähnlich, doch es gab nicht mehrere Kontinente, wie Amerika, Europa oder Afrika. Über den Globus zog sich in Form eines Bandes eine einzige Landmasse, nur die Küsten waren von einzelnen Inseln gespickt. (eine Zeichnung des Globus habe ich in den Charakteren hochgeladen.)
Konomi schnippte mit den Fingern und die Landmasse verfärbte sich in drei verschiedene Farben.
„Kemono ist durch ein Gebirge gigantischen Ausmaßes getrennt. Wir nennen es die kalten Berge, der Lebensraum großer Drachenschwärme“.
Drachen! Sheila fühlte sich erneut in einen Traum zurückversetzt.
Konomi machte eine leichte Handbewegung und der Globus bewegte sich ein wenig im Kreis, sodass jeder an der Tafel einen Blick auf den rot schraffierten Westen hatte.
„Es ist ein wesentlich kleinerer Teil von Kemono, aber alles hier ist von dem Imperator und seiner Armee unterworfen worden. Manche Teile schon seit unzähligen von Jahren, sodass kaum einer der Menschen sich dort noch daran erinnern kann, wie es früher einmal gewesen ist“. Ein Schatten zog über Konomis Gesicht. Harus, der rechts von ihr saß, beugte sich zu Sheila herüber: „Dieser Teil des Landes ist einmal von den Phönixen beherrscht worden. Der Imperator hat sie den Legenden nach vernichtet. Konomi kannte diesen Clan noch.“
Sheila nickte Harus zu, dass sie verstanden hatte. Welche Verbindung Konomi auch zu dem Clan der Phönixe gehabt haben mochte, es bekümmerte ihn sichtlich, dass der Imperator dieses Gebiet noch immer beherrschte.
Ein weiteres Mal drehte der Globus sich und Sheila bekam Sicht auf den größten Teil Kemonos, welcher grün gekennzeichnet worden war.
„Das ist der freie Teil unserer Welt. Bisher haben es nur kleine Truppen geschafft, die Berge zu überqueren, um unsere Dörfer zu terrorisieren. Leider muss ich sagen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Imperator genug Kraft gesammelt hat, um sich den Gefahren der kalten Berge zu stellen und uns anzugreifen. Vielleicht gelingt es ihm sogar, die Drachen für sich zu gewinnen“.
Xantus stand auf und Konomi nickte, um ihm die Möglichkeit zu gewähren, sich zu äußern.
„Issst dasssss nicht ssssehr unwahrssssscheinlich? Der Herr der Drachen hat nur den Phönixen Freundssssschaft gesssschworen.“
Konomi nickte.
„Das ist wahr. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Clan der Phönixe schon seit Jahren als ausgerottet gilt. Die Drachen sind schwierig und unberechenbar. Sie könnten sich auf die Seite schlagen, die sie für nützlich erachten“.
Die meisten nickten, der ein oder andere senkte den Blick, scheinbar in Gedanken versunken. Sheila wandte einen Augenblick den Blick vom Globus und sah sich nach Kasuke um. Er saß links von Konomi. Obwohl er wie immer zu sein schien, merkte sie ihm an, dass er kaum bei der Sache war. Er schien sich seine eigenen Gedanken zu machen und sie waren nicht gerade die schönsten, was seine verkrampfte Haltung erklärte.
Nun meldete sich der kleine Fuchs Inari zu Wort. Seine piepsige Stimme hallte durch den hohen Raum.
„Nun gut, wir wissen was uns bevorsteht. Aber haben wir auch schon einen genauen Plan, wie wir vorgehen sollen?“
Konomi sah zu Harus herüber, der sich daraufhin erhob. Da der Hirsch riesig in seiner Menschengestalt war, musste Sheila ihren Kopf fast gänzlich in den Nacken legen.
Einen kurzen Augenblick spürte sie den Blick Kasukes, dann widmete er seine Aufmerksamkeit ganz Harus.
„Zunächst sollten wir unsere Truppen mobilisieren und hier in der Ebene vor der Burg lagern lassen. Im Moment schätzen wir eine Stärke von etwa 20 000 Dämonen. Der nächste Schritt wäre zu überlegen, ob wir Menschen rekrutieren sollten. Da sie keinen Fürsprecher haben, wird dies Sheila übernehmen.“
Erschrocken fuhr Sheila auf.
„Wie bitte? Das ist doch ein Witz, oder?“
Sheila sah in die Runde, doch zu ihrem Entsetzen lachte niemand.
Konomi stand erneut auf und hob beschwichtigend die Hand.
„Du bist die Einzige, die unseren und den Truppen der Menschen Hoffnung geben kann. Solltest du der Meinung seien, dass die Menschen diesem Krieg nicht gewachsen sind, werden wir sie in Frieden lassen“.
Sheila erhob sich nun ebenfalls.
„Ich kann diese Entscheidung nicht fällen. Ich kann doch nicht über Leben und Tod entscheiden. Was auch immer ich entscheide, es ist falsch. Wenn ich die Menschen heraushalte, könnte die Truppenstärke nicht ausreichen. Andernfalls könnte es den Menschen das Leben kosten, da sie nichts gegen Dämonen ausrichten können.“
Konomi und Harus nickten.
„Dies ist deine erste Prüfung. Wir können dir diese Last nicht abnehmen.“
Sheila spürte Zorn in sich aufsteigen.
„Warum, um Himmels Willen, lasst ihr mich über Menschen entscheiden, als wenn sie Vieh wären? Was soll das für eine Prüfung sein?“
Periphae sah zu den beiden Clanführern. Typisch Männer. Vollkommen taktlos.
„Hör mir zu, mein Kind. Seitdem der Imperator sich einen Namen gemacht hat, sind die Menschen uneins. Wir können sie nicht mehr erreichen. Sie haben Angst vor uns.“
Sheila dachte an ihre eigene Gefühle, den Dämonen gegenüber und die Unterwürfigkeit der menschlichen Dienerschaft.
„Habt ihr euch vielleicht einmal gefragt, ob es eventuell an euch liegt? Habt ihr euch jemals darum bemüht mit den Menschen Freundschaft zu schließen? Sie zu verstehen?“
Sheila bemerkte, dass der großen Echse beinahe der Kragen vor Wut platzte, während Gota und Inari erschrocken dreinblickten, angesichts des Temperaments, das ihnen entgegenschlug. Einzig Kasuke musste schmunzeln. Er hatte diese Ausbrüche schon erleben dürfen.
„Natürlich haben sie Angst. Sie sind euch haushoch unterlegen und ihr habt scheinbar niemals den Versuch unternommen, ihnen klar zu machen, wie viel sie wert sind.“
Nun hatten zumindest ein paar der Clanführer den Anstand bedröppelt drein zu schauen.
Harus wandte sich direkt an Sheila.
„Du hast Recht und ich schäme mich, das zugeben zu müssen.“ Er neigte den Kopf und Sheila wurde ein wenig mulmig zumute. War sie vielleicht ein wenig zu sehr ausgerastet?
„Würdest du uns helfen, zu den Menschen zu finden, sodass wir anfangen einander zu verstehen?“
Was sollte sie darauf schon sagen? Sie nickte und wusste, dass sie nun aktiv an dieser Geschichte beteiligt war.
Etwa zwei Stunden versuchten sie sich darauf zu einigen, wie sie weiter vorgehen sollten. Wie Harus bereits gesagt hatte, würden alle Clans sich zunächst einmal vor den Toren der Burg einfinden. Währenddessen wurden Boten des Vogelclans zu den Dörfern der freien Zone fliegen und die Anführer der Menschen zusammentrommeln. Hier kam Sheila ins Spiel. Sie würde mit den Menschen Kontakt aufnehmen und deren Meinung zu dem Ganzen erfragen und versuchen zwischen den Dämonen und den Dörfern zu vermitteln. Der Clan der Echsen würde für Waffen sorgen, da sie die besten Waffenschmiede waren und Sekura und einige seiner erfahrensten Kämpfer sorgten für die Ausbildung der Soldaten.
Für die Verpflegung der Truppen würde jeder Clan für sich sorgen, da jeder Dämon eine andere Vorliebe an Nahrung hatte.
Letztendlich bekam jeder Clan eine andere Aufgabe. Die Wölfe waren als Späher bestens geeignet, während die Insekten unter der Erde und in den Lüften Patrouille flogen und gruben.
Irgendwann, nachdem sie sich mehr und mehr überflüssig fühlte, hatte sie sich entschuldigt und einen Weg nach draußen gesucht. Sie brauchte jetzt ein wenig Abstand, um sich an ihre Aufgabe zu gewöhnen, sie überhaupt erst einmal zu begreifen. Sie hatte Angst. Natürlich hatte sie Angst. Das was ihr da bevorstand, war das Größte, was sie in ihrem Leben hatte tun müssen. Wäre auch seltsam gewesen, wenn sie in ihrer Welt mit Dämonen gegen einen verrückten Imerator kämpfen hätte müssen.
Sheila musste unwillkürlich lachen, doch es war kein fröhliches Lachen. Die ganze Sache schmeckte ihr bitter auf der Zunge, doch sie würde es schaffen. Nur um allen zu zeigen, dass sie nicht Celine war und doch stark. Um es Kasuke zu zeigen, der ihr weniger und weniger aus dem Kopf ging.