Als ich lächelte von Lichtsonett ================================================================================ Kapitel 3: Begegnung mit dem Schicksal -------------------------------------- An eines erinnere ich mich jedoch noch sehr genau: An dem Tag, als ich in das Wohnheim kam, regnete es. Vielleicht weinte jemand um mich und um mein Schicksal. Aber wer sollte dies schon tun? Denn es gab ja niemanden, der um mich weinen konnte. Und nun stand ich hier. Und es regnete. Wie an jenem Tag, als eine Veränderung in mein Leben getreten war. Die dicken Tropfen prallten an mir ab und rannen an meinem Körper hinunter, bis zum Boden unter mir, an dem sie sich schließlich zu einem fließenden Strom verbanden und davonschwammen. Ich beobachtete dieses immer wiederkehrende Schauspiel und merkte dabei nicht, dass ich mittlerweile der einzige war, der sich auf der Straße befand. Meine Haare klebten an meinem Gesicht wie ein Seestern an einem Felsen und meine Schuhe hatten sich längst in Boote verwandelt, dessen Passagiere meine durchnässten Füße waren. Ich senkte langsam den Kopf und hob ihn wieder an. Dann tat ich es wieder. Und wieder. Immer wieder und immer schneller. Nein! Dies war tatsächlich keine Illusion. Ich befand mich im Hier und Jetzt, es regnete wie an jenem Tag und ich war erwachsen. Ja, ich war bereits erwachsen, doch das konnte doch nicht alles sein. Dieser Regen mußte eine andere Bedeutung haben. In der Stadt K., in der ich lebte, regnete es zwar sehr oft und sehr stark, doch an diesem Tag war er besonders gerüstet und verwandelte Straßen in Flüße, trockenes Laub in schwimmende Fische und Häuser in gewaltige Felsen. Ich betrachtete die Szene um mich herum und sah, wie sich alles veränderte. Es war wie an jenem Tag, als sich alles angefangen hatte um mich zu drehen, um mich in einen neuen Lebensabschnitt zu führen. Sollte das jetzt etwa genauso werden? Doch was kam nach dem Erwachsensein? Etwa das Alter? Nein! Alt werden wollte ich nicht, noch nicht. Das Schicksal sollte mich kein zweites Mal einholen. Also fing ich an zu rennen. Ich hatte nicht besonders darüber nachgedacht, aber wann tat ich dies auch? Es war doch reine Zeitverschwendung über Dinge zunächst nachzudenken und sie dann erst in die Tat umzusetzen. Ich hatte kein Ziel vor Augen und ließ mich von meinen Beinen dorthin tragen, wo ich sicher sein würde, wo mich das Schicksal nicht heimsuchen konnte. Ich kniff die Augen fest zusammen und rannte weiter. Um mich herum war bis auf das plätschernde Geräusch meiner am überschwemmten Boden aufkommenden Schuhe nichts zu hören. Es war beängstigend, diese Stille und der Druck, die mich umgaben und zu erdrücken schienen. Ich fühlte mich wie in einem endlos tiefen, schwarzen Meer, welches mich hinunter in die Tiefe ziehen und dort elendig verenden lassen wollte. Erschrocken darüber öffnete ich meine Augen wieder und blickte um mich. Die Umgebung hatte sich tatsächlich verdunkelt, jedoch sah ich noch genug, um zu erkennen, dass sich vor mir ein sehr hohes und mächtiges Gebäude befand, das, je näher man ihm kam, immer mehr Licht von sich gab und die Dunkelheit vertrieb. Ich blickte gen Himmel und entdeckte das ferne Kreuz, welches die Spitze des höchsten Turmes bildete. Innerlich fing ich schon an zu lachen und meinen Triumph zu feiern, denn nun würde ich das Schicksal endlich überwinden und als Sieger aus unserem ewigen Kampf emporsteigen. Ich rannte also weiter, die steinernen Treppen hinauf und Richtung Eingansportal. Meinen Kopf hatte ich, ebenso wie den Blick, starr nach vorne gerichtet, denn ich hatte nun ein Ziel gefunden, vielleicht das einzige, das ich jemals haben würde, doch ich musste es erreichen. Nie wieder wollte ich den Schmerz des Verlustes fühlen, nie wieder zwanghaft die nächste Stufe des Lebens erreichen. Dies würde ich tun, wenn ich es fühlte, wenn ich bereit dazu wäre. Mit vollem Herzen und klarem Kopf und nicht, wann es vorgeschrieben war, dies zu tun. Das Gesetz besagt, dass man mit achtzehn Jahren erwachsen ist, doch was ist mit denjenigen, die sich einfach noch nicht bereit dafür fühlen, die vielleicht einen Teil ihrer Jugend verpasst haben und diese noch nachholen wollen? Sind diese etwa dazu verdammt, mit der ewigen Schuld zu leben, nichts aus seinem jugendlichen Lebensabschnitt gemacht zu haben? Was ist, wenn sie es nicht konnten, wenn sie durch jemand anders aufgehalten wurden? Mit achtzehn erwachsen. Das ist doch alles nur Gerede! Das haben wieder irgendwelche großen Politiker behauptet, doch indes haben sie nichts Weiteres getan, als ihre Meinung zu präsentieren, da ihrer Ansicht nach Menschen in diesem Alter bereits in der Lage waren der Volljährigkeit bemächtigt zu sein. Die Denker eben! Die hatten für alles einen Grund. Zwar war ich keiner davon, doch hatte auch ich nun einen Grund etwas zu tun, was ich vorher noch nie getan hatte: Ich ging in die Kirche. Mit der ganzen Kraft, die in meinem Körper steckte, steuerte ich weiterhin auf das Portal zu. Was ich nicht ahnen konnte, war die Tatsache, dass die mächtig eichene Tür in diesem Moment bereits von innen geöffnet wurde, womit ich, immer noch übermäßig schnell rennend, direkt in das heilige Gebäude schoss. Meine nicht gerade unsanften Schritte hallten laut von den Wänden wider, doch war es ein Glück, dass bis auf den Pfarrer, der das Portal geöffnet hatte, niemand zu sehen war. Es dauerte ein wenig, bis ich endlich zum Stehen kam und als keine stampfenden Geräusche mehr zu hören waren, stand ich reglos da und betrachtete das, was sich vor meinen Augen bot, mit großem Erstaunen. Ich war vorher noch nie in einer Kirche gewesen. Im Waisenhaus waren wir sonntags immer in der kleinen Schulkapelle gewesen, aber das war nicht im Geringsten vergleichbar mit dem, was ich in diesem Moment zu sehen bekam. Zu meiner Linken befand sich die Statue einer Frau, die ein Kind im Arm hielt. Auch wenn ich kaum etwas darüber wusste, so hallte in meinem Kopf der Name ,,Maria" wider, während ich sie betrachtete. Ich hatte es mal auf der Schulmesse mitbekommen, als man uns das Leben des Jesus Christus erzählte. Etwa ein Dutzend Treppenstufen führten zu einem Tisch hinauf, auf dem einige Pflanzen standen und der mit einem weißen Tuch bedeckt war. Mein Blick wanderte an den weißen Wänden entlang, die hier und da durch einige mit Säulen ausgeschmückten Bogen unterbrochen war. Wohin jedoch der Durchgang führte, konnte ich nicht erkennen. Stattdessen wurde meine Aufmerksamkeit von dem Kreuz angezogen, an welchem ein dürrer Mann mit geschlossenen Augen hing und das unter dem höchsten aller Bogen plaziert war. Ich hielt meinen Kopf dabei gerade und wagte nicht einmal zu blinzeln, so als ob ich erwartete, dass der Mann sich bewegte. Natürlich tat er es nicht und innerlich lachte ich über mich selbst und meine Naivität, doch ich konnte einfach nicht wegsehen. War das etwa die Kraft Gottes, die mich hier festhielt? Für einen Moment bekam ich tatsächlich Zweifel. Eigentlich glaubte ich nicht an Gott und die Religion war für mich einfach nur ein Begriff. Sonst nichts. Häufig bekam ich mit, wie die Menschen erzählten, dass sie jeden Abend zu Gott beteten und ihm ihre Dankbarkeit und Ehre zusprachen; was sie sich von ihm wünschten und erhofften. Sie steckten all ihren Glauben in etwas, das es vielleicht gar nicht gab- vielleicht... Oft war die Rede von einem ,,Leben nach dem Tod" und dass man entweder in den ,,Himmel" oder in die ,,Hölle" kam. Aber das war wieder eines der Dinge, über das man sich zu viel Gedanken machen musste, um letztendlich zu einem Schluss zu gelangen. Wahrscheinlich gab es gar keinen Schluss. Man musste ewig darüber nachdenken- und das war es, was mich davon abhielt, es überhaupt zu tun. Mein Blick war indes noch nicht von dem Gekreuzigten gewichen. Noch immer schaute ich mit großen Augen zu ihm hinauf und wurde merkwürdigerweise ein wenig traurig dabei. Ich kannte die Geschichte. Man hatte sie uns ja im Waisenahaus erzählt. Doch ich hatte noch nie ein Bild von ihm gesehen, noch hatte man uns je eines gezeigt. Am Kreuz in der Kappelle war er nicht gehangen, war ihnen vielleicht zu teuer gewesen. Aber nun sah ich ihn. Das statuenähnliche Abbild des Jesus Christus befand sich direkt vor meinen Augen und gab ein mysteriöses Leuchten von sich. „Bist du auch gekommen, um eine Beichte abzulegen, mein Sohn?“, hörte ich auf einmal jemanden hinter mir sagen. Sofort wandte ich mich um und erblickte den alten weißhaarigen Pfarrer in seinem weißen Gewand, das am Saum und den Ärmeln rot gefärbt und mit goldenen Knöpfen verziert war. Auch gekommen? Das hieß dann wohl, dass ich nicht alleine mit ihm hier war und ich mit meinen lauten Schritten vorher vielleicht doch jemanden beim Beten gestört hatte. Ich blickte betreten zu Boden. „Du brauchst dich nicht zu schämen, mein Sohn. Die Beichte dient dazu, deine Seele von deinen Sünden zu befreien, indem Gott dir vergibt. Also- ’’ „Aber Pater, ich dachte, ich sei zuerst dran.“, ertönte plötzlich eine weitere Stimme von links her. Ich stutze kurz auf, bevor ich den Kopf wandte, denn es war eindeutig nicht die Stimme eines Mannes, weder die eines kleinen Jungens. Doch was ich nun zu sehen bekam, ließ mich noch mehr aufsutzen- nicht aus Schock oder Ekel, sondern vor Erstaunen. Das erste, was mir auffiel, war das fuchsrote, lange, wellige Haar, die zartroten Lippen und die smaragdgrünen, leuchtenden Augen, die auf den Alten gerichtet waren und einen etwas enttäuschten Ausdruck aufwiesen. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Diese edle und selbstbewusste Haltung, die Leichtigkeit im Schritt- sie schien eher zu schweben als zu gehen- die süßliche Stimme, die ich eben zu hören bekommen hatte: sie war einfach das schönste Wesen, das ich jemals gesehen hatte. So schön, dass ich schon fast glaubte, sie sei wirklich ein Wesen, denn so etwas Schönes konnte nicht von dieser Welt sein. Wahrscheinlich bemerkte sie meinen Blick, denn sie verlangsamte ihren Gang und stellte sich dann vor mich. Ich blickte auf sie herab. Sie war genau einen Kopf kleiner als ich und musste somit ihren Kopf anheben, um mich ansehen zu können. Unsere Blicke trafen sich un mit jeder Sekunde schien mein Herz ein wenig schneller zu schlagen, je länger wir uns ansahen. Was war das auf einmal? Ich hatte so etwas noch nie gespürt. Vielen Frauen war ich bisher begegnet, doch bei keiner hatte mein Herz gedroht, beinahe zu zerspringen. Und wieso stieg in mir solch eine Hitze auf? Mein Gesicht glich bestimmt dem roten Saum des Pfarrer-Gewandes- und ich wandt den Blick schließlich ab und richtete ihn wieder zu Boden. Es war ihr nicht entgangen. „Oh, Entschuldigung, habe ich Sie etwa überrumpelt?“ „N-nein“, stotterte ich leise. „Wissen Sie, ich komme nämlich jede Woche hierher und bete. Danach führe ich immer ein sehr langes Gespräch mit dem Pfarrer und somit auch mit Gott, damit...“, sie hielt kurz inne und besann sich, so als ob sie daran zweifelte, wirklich das zu sagen, was sie eigentlich beabsichtigt hatte. „Ich bin übrigens Elena.“, fügte sie schließlich noch lächelnd hinzu und streckte mir ihre Hand entgegen. Mit leichtem Zögern tat ich es ihr gleich und drückte meine schweißnasse Hand gegen ihre. Doch ich sagte nichts. Ich sagte nicht, dass ich nie in die Kirche kam, nie betete, nie mit dem Geistlichen redete, dass ich nicht einmal religiös war und meinen Namen auch nicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass, wenn ich ihr tatsächlich sagen würde, wie ich hieß, ich sie belöge. Denn im Grunde genommen wusste ich selbst nicht, ob das mein richtiger Name war. Der Name, den mir meine Eltern gegeben hatten. Das einzige, was ich wusste, war, dass man mich im Waisenhaus so genannt hatte. Ein Schweigen breitete sich plötzlich zwischen uns aus, was sowohl ihr als auch mir unangenehm war, wir jedoch beide nicht wussten, was wir als nächstes tun sollten. Im Grunde genommen war ich ja dran, etwas zu sagen, doch ich konnte nicht. Ich konnte es einfach nicht. Unsere Rettung war letztendlich der alte Pfarrer, der die Situation verfolgt und begriffen hatte. „Ich denke, es ist nun an der Zeit unser Gespräch einzuleiten, mein Kind“, sagte er freundlich zu Elena gewandt und legte seine rechte Hand auf ihre Schulter. „Ja, das denke ich auch“, antwortete sie, den Blick immernoch starr auf mich gerichtet. Ich fühlte mich sehr unwohl dabei und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Aber es wäre nicht schlimm, wenn wir etwas später anfingen, denn ich komme ja nächste Woche wieder hierher, Pater.“ Auf die letzten Worte legte sie eine besondere Betonung und ein Lächeln umspielte erneut ihre Lippen. „War nett, Sie kennenzulernen“, fügte sie daraufhin hinzu und wandte sich schließlich um, dem Pfarrer in Richtung einer kleinen Tür folgend. Ich starrte den beiden noch hinterher, bis sie durch die Tür verschwunden waren, die Hände noch immer in den Hosentaschen. Nun war ich wieder allein. Zurückgelassen- jedoch mit einem Gefühl, als tanzten hunderttausend Ameisen in meinem ganzen Körper. Dieser Augenblick- so kurz er auch gewesen sein mag- war einfach unglaublich gewesen. Noch immer schwebten ihre grünen Augen in meinem Kopf herum; und auch ihren Händedruck konnte ich noch spüren. Der zarte süßliche Duft, der sie umgab, lag noch immer in der Luft und ich sah noch immer ihre roten Lippen. Nur sehr langsam machte ich mich auf zu gehen, stieg die wenigen Treppenstufen hinab, auf die ich gestiegen war und ging in Richtung Portal. Elenas wallendes Haar schien dabei die ganze Zeit vor mir zu flattern und verschwand erst wieder, nachdem ich die große linke Türhälfte geöffnet hatte und in die trübe Straße blickte. Der Regen hatte bereits aufgehört. Eigenartig. War dies etwa erst geschehen, als ich mit Elena geredet hatte? Vielleicht war das ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass ich es mir gelungen war, meinem Schicksal zu entkommen. Ich dachte ein weiteres Mal an ihre letzten Worte: „...nächste Woche ohnehin wieder...“ Vielleicht sollte ich auch wieder hierher kommen. Dann würde ich sie erneut treffen. Elena... Ihr Blick kam mir ein weiteres Mal in den Sinn – erwartungsvoll und ein wenig neugierig war er gewesen. Und das Lächeln erst! Ein Traum. Zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke, dass es vielleicht doch jemanden auf dieser Welt gab, den ich interessierte... 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