Liebe auf den 2. Blick von abgemeldet (wenn man sich in den Freund seiner besten Freundin verliebt...) ================================================================================ Dem Glück ein Stückchen näher T.1 --------------------------------- Kapitel 28 Lucie wusste nicht genau, was sie sich vorgestellt hatte, wenn sie an ihre vielleicht zukünftige Schule gedacht hatte. Hatte sie überhaupt darüber nachgedacht? In Gedanken sah sie eigendlich immer nur einen bespiegelten Saal, Mitschüler ohne Namen und Gesichter. Sie hatte sich vorgestellt, wie sich harter Boden unter ihren Füßen anfühlte, wenn sie mit schwebenen Schritten über ihn tanzte oder hart mit den Händen aufkam, wenn sie einen Flik-Flak oder Handstand ausführte. Wie genau würde der Unterricht überhaupt aussehen? Würde ihr ganzer Tag vom Tanzen ausgefüllt sein oder würden Deutsch oder Geschichte dazwischen funken? Wären die Lehrer hier anders? Wieso eigendlich habe ich mir nie genau die Broschüren durchgelesen?, fragte sich Lucie und betrachtete die Landschaft. Seit gut einer halben Stunde ging die Straße nur bergauf und bergab. Rechts und Links zeigten Wälder in den verschiedensten Grünfarben ihr Pracht. Die Sonne war inzwischen ganz aufgegangen und verscheuchte jede Wolke, die am Himmel vorbeiziehen wollte. Wann war es eigendlich so warm geworden?, fragte sie sich. Wann war es passiert, dass die Sonnenstrahlen so warm waren, dass man seine Jacke auszog und das T-Shirt darunter zum Vorschein kam? Waren nicht vor einigen Wochen erst geschlossene Knospen zu sehen? Und jetzt waren sie aufgegangen, zeigten ihre herrlichen Farben und versprühten ihren Duft. War sie wirklich so lange aus der Realität geflohen, dass sie das alles garnicht mitbekommen hatte? Der Sommer bedeutete die Rückkehr von Anna. Vielleicht war sie deswegen in eine Welt geflohen, die ihr viel besser gefallen hatte. Wenn Anna zurück kam würde es auch heißen, dass sie sich mit ihren Gefühlen und den der anderen auseinander setzten müsse. Zum ersten Mal in ihrem Leben musste sie plötzlich kämpfen. Das war Lucie völlig unbekannt, sodass sie erst jetzt richtig erkannte, wie wohlbehütet sie doch aufgewachsen war. War ihr Leben bis jetzt wirklich immer so einfach gewesen? Sie konnte sich die Frage selbst beantworten. Nie musste sie sich auch nur eine Sekunde darüber Gedanken machen, was die Zukunft brachte. Sie hatte die Liebe ihrer Familie und die tiefe Freundschaft zu Anna und Tim immer so selbstverständlich genommen. Egal was sie getan hatte, sie tat es mit dem Wissen, dass sie immer hinter Lucie stehen und ihr den Rücken stärken würden. Unbewusst waren sie ihr Fels in der Brandung. Und jetzt kam sie in eine Situation die ihr völlig neu war. Sie musste kämpfen. Für ihren Traum, für ihre Liebe. Für ihre Zukunft. Und sie stand alleine da. Ist so das Erwachsenwerden?, fragte sie sich und schaute zu ihrer Tante, die ganz vertieft einen dicken Mittelalterroman las. „Sie werden doch nicht ewig auf mich sauer sein, oder?”, fragte Lucie leise und beobachtete Erika genau. Die legte überrascht ihr Buch beiseite. „Deine Eltern? Nun ja.”, sie überlegte und tippte sich dabei mit einem Zeigefinder an die Lippen. „Sie sind zwei absolute Dickköpfe, besonders wenn es um ihre Kinder geht. Sie wollen für euch nur das Beste. Und ganz besonders um dich sind sie jetzt besorgt. Du bist ihre Älteste. Ihr erstes Kind. Die Fehler, die sie bei dir gemacht haben, aus denen lernen sie zwar, sodass sie sie bei den Zwillingen nicht mehr machen können, aber bei dir wird es nicht einfach so ungeschehen gemacht werden. Bei dir können die Fehler nicht einfach ausradiert werden.” Lucie verstand nur eins: Dass Erika ihrer Frage ausgewichen war. Sie hatte noch immer keine Antwort erhalten und langsam wurde ihr mulmig. Was, wenn Stella und Frank ihr wiklich nicht verzeihen konnten? Was, wenn sie an der Tanzschule aufgenommen werden würde? Würden die beiden es wirklich soweit bringen,den Kontakt zur ihr völlig abzubrechen? Als das Taxi plötzlich halt machte, wischte Lucie ihre Gedanken weg und starrte nur noch auf das riesige Gebäude, was vor ihr lag. Es war aus dunkelroten Backsteinen, teilweise mit Efeu überzogen. Die Rundfenster, das spitz zulaufende graue Ziegeldach und die Schornsteine, die aus einem Turm rausragten erinnerten eher an ein Schloss aus dem Roman, den Erika gerade gelesen hatte. Es fehlten eigendlich nur noch die Zugbrücke und eine dicke Mauer mit Besatzungstürmen. Stattdessen fuhren sie nur durch ein schmiedeeinsernes Tor auf eine lange Kiesstraße. Recht dominierte ein riesiger Parkplatz, auf denen sie zufuhren. Links war eine große grüne Wiese, auf denen sich Schüler rumlümmelten. Einige lagen da, mit Büchern vor sich, andere saßen in Gruppen zusammen und tauschten den neuesten Klatsch aus. Der Rasen schien noch hinter das Schloss zu führen und wer weiß, was sich dahinter noch so alles befand? Sollte das wirklich eine Tanzschule sein? „Hat sich der Fahrer auch ganz sicher nicht in der Adresse geirrt? Ich meine, hier könnten Könige leben.” Erika lachte laut. „Oh nein, Schätzchen. Er hat sich ganz sicher nicht geirrt. Ninas Urgroßvater, der die Schule gegründet hat, hatte schon immer einen etwas anderen Geschmack gehabt. Und Nina ist sogar ganz froh darüber. Tausende Schüler unterzu bringen in Klassenzimmern und Privaträumen ist manchmal garnicht so leicht. Siehst du den Turm dahinten?”, sie zeigte auf einen, der keinen Schornstein hatte. „Das da ist der Ostflügel, da wo sich alle Zimmer für euch Schüler befinden, die sich keine eigene Wohnung außerhalb leisten können. Und der Rest besteht eigendlich nur aus langweiligen Klassenräumen.” „Klassenräumen?”, fragte Lucie irritiert, deren schlimmste Träume anscheinend wahr wurden. Erika lachte erneut und nickte. „Was dachtest du denn? Das ihr von morgens bis abends durchtanzt? Die füttern eure Köpfe hier auch mit Allgemeinwissen. Wer kann denn schon eine dumme Tänzerin gebrauchen?” „Ist doch egal, solange sie sich die Choreo merken kann.”, murmelte Lucie und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück in den Sitz. Da dachte sie endlich Mathe und den Rest losgeworden zu sein, und nun das. „Jetzt lass den Kopf doch nicht hängen.”, munterte Erika sie auf und begann ihre Sachen zusammenzupacken, als das Taxi auf einen freien Platz parkte. „An erster Stelle steht natürlich das Tanzen. Und jetzt hol deine Trainingssachen aus dem Kofferraum, den Rest lassen wir zu mir fahren.” Und wärend Lucie ausstieg, überreichte Erika dem Fahrer einen dicken Umschlag, den er wortlos entgegennahm und im Handschubfach verschwinden ließ. „Oh man, ich bin so aufgeregt. Ich glaub, ich stolper gleich über meine eigenen Füße.”, ertönte eine hohe Stimme neben Lucie, die gerade den Kofferraum aufgemacht hatte. Sie schaute rüber und erblickte ein Mädchen, vielleicht einen halben Kopf kleiner als sie, mit springenden, blonden Locken und tiefen braunen Augen, die hin und her wanderten. Genau wie ihre Füße. Wärend ihre Begleitung, ein älterer Mann mit einem Melonenhut und grauem Anzug einen schweren Koffer aus dem Auto zog, hüpfte das Mädchen von einem Punkt zum andern. „Oh Opa, ich glaube, mir wird schlecht.” „Das ist ja auch kein Wunder, so zappelig wie du bist.”, brummte der Mann und ließ den Koffer auf den harten Beton plumpsen. „Noch fünf Minuten länger mit dir in diesem Auto und ich wär freiwillig ausgestiegen.” „Das hättest du doch eh nicht gemacht, denn sonst wär ich nie bei der Schule hier angekommen und du wärst mich nie los.”, sie gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange und schaute sich dann trällernd um. „Wohl auch jemand der vortanzen muss.”, bemerkte Erika grinsend und richtete einen ihrer Schals. Lucie nickte nur. Je näher sie Berlin kamen, desto nervöser wurden sie. Trotz der offenen Fenster herrschte solch dicke Luft, dass man sie hätte schneiden können. Kai trommelte die ganze Zeit auf dem Lenkrad herum, wärend er immer wieder einen hastigen Blick aufs Navigationsfenster warf um zu schauen, wie lange sie noch fahren mussten. Laut Anzeige würden sie in weniger als fünf Minuten da sein. „Oh man, ich glaub mir wird gleich schlecht.”, grummelte Maik, der in Lilians Schoß lag und sich den Bauch rieb. „Können wir nicht wieder umkehren?” Lilian grinste. „Vor ein paar Stunden konntest du es kaum noch erwarten, endlich da zu sein.”, sie strich ihm liebevoll die Haare aus der Stirn. „Es wird schon alles gut gehen.” „Oder es wird einfach nur alles schief gehen, was schief gehen kann.” Sarah grinste zu Lilian hinüber. „Männer können manchmal solche Memmen sein. Schlimmer als wir Weiber.” „Bei dir steht aber auch nicht der Spiel des Lebens auf dem Rest.”, sagte John grummelnd und stockte, als Sarah nur plötzlich anfing zu lachen. „Was?”, fragte er verwirrt. Sarah lachte weiter. „Genau, der Spiel des Lebens.”, sie hielt sich den Bauch. „Vielleicht solltet ihr es euch wirklich nochmal überlegen ob ihr auftreten wollt.”, sie prustete. „Wir sind da.”, sagte Kai und sofort wurde es still im Auto. Um ihnen herum herrschta das reinste Chaos, anders konnte man es nicht nennen. Eine riesige Wiese wurde provisorisch zu einem Parkplatz umgewandelt, die verschiedensten Autos standen kreuz und quer durcheinander. Sie parkten neben einem roten Mini-Van, der einem Punk gehörte, mit einem riesigen roten Irokesenschnitt. Er trug ein zerissenes schwarzes Muskelshirt, eine Lederhose mit fünf Gürteln um den Hüften und schwarzen Springerstiefeln. „Na schau mal einer an.”, sagte er grinsend, als Chris überrascht ausstieg, sobald der Bus angehalten hatte. „Der gute alte Christian!” „Tobi.”, Chris war mehr als überrascht als er seinen alten Kumpel in den Arm nahm. Seit mehr als drei Jahren hatte er seinen ehemaligen Nachbarn nicht mehr gesehen. Erst durch ihn war er erst richtig zur Musik gekommen. „Ich bin komischerweise echt überrascht, dich hier zu sehen.”, er packte seinen Freund an den Schultern und musterte ihn von oben bis unten. Er hatte sich definitiv nicht verändert. Außer seine Haare, die er damals zu langen Igelstacheln hochgegelt und in den verschiedensten Farben hat leuchten lassen. Auch das Augenbrauen- und Lippenpiercing war noch da. Auch wenn es sich jeweils verdoppelt hatte. „Gut siehst du aus.”, meinte er dann aufrichtig. Tobi grinste. „Genau wie du, Kleiner. Und du hast inzwischen deine Band?”, er schaute zu den andern. „Ah, Maik, dich kenn ich noch. Wie gehts?” „Ganz gut.”, sagte Maik grinsend und legte einen Arm um die Schulter seiner Freundin. „Du trittst auch hier an?” „Na klar.”, er nickte zu seinem Van. „Mimi und ich haben vor das Baby hier mit nach Hause zu nehmen.” Wie auf ihr Stichwort kam ein kleines zierliches Mädchen mit knallpinken Haaren um den Bus und gesellte sich zu Tobi. Im Gegenteil zu ihm (mal ganz abgesehen von ihren pinken Haaren) sah sie sehr normal aus, mit den Jeanshotpan und dem schwarzen Top, das bauchfrei war und ein Bauchnabelpiercing in Form eines Sternes zum Vorschein brachte. „Leute, das ist mein heißer kleiner Feger Mimi.”, stellte Tobi das Mädchen vor, das bestimmt erst fünfzehn war. „Und sie hat eine Stimme, die einen umhaut. Nur das Beste für den Besten eben.”, wieder grinste er. „Mimi, das sind meine ehemaligen Freunde der kleine Chris und Maik. Und ihre Bandkollegen.” „Von deiner Zeit aus Bremen?”, fragte Mimi und ihre Stimme klang wie Engelsgesang. „Freut mich, euch kennen zu lernen. Tob´ hat schon einiges über euch erzählt. Besonders von dir schien er sehr angetan.”, sie blickte intensiev zu Chris. „Er meinte, du hast eine der schönsten Stimmen, die er je gehört hat.”, sie warf ihre Haare zurück. „Wollen wir hoffen, dass das stimmt. Dann hätten wir wenigstens echte Konkurrenten. Der Rest hier ist unfähig auch nur den geringsten Ton zu treffen.” „Tja ... nun...”, Chris wusste nicht sorecht was er sagen sollte, als zuckte er nur die Schultern. „Wir werden es ja spätestens auf der Bühne sehn.” „Genau. Und dafür mache ich mich jetzt fertig.”, Mimi drehte sich um und schlenderte mit schwingenden Hüften davon. „Ist sie nicht ein tolles Mädel?”, grinste Tobi. „Erst sechszehn, aber sie weiß schon was sie will.” „Mir kam sie eher wie eine Zicke vor.”, grummelte Sarah, wurde von Tobi jedoch gehört. Dieser lachte so laut los, dass alle zusammen zuckten. „Oh, sie ist auch eine. Aber wenn sie auf der Bühne steht, dann sind alle Augen und Ohren auf sie gerichtet. Und wenn man sie auch richtig kennenlernt, sieht man, was für ein großes Herz sie doch hat. Aber was stehen wir hier eigendlich? Ihr solltet euch lieber anmelden gehen. Wir sehen uns spätestens hinter der Bühne. Da beginnt übrigens langsam der Soundcheck. Beeielt euch also lieber.” „Danke.”, Chris reichte seinem Freund die Hand. „Und es tut gut, dich wieder zu sehen.” Tobi nickte nur und ging dann seiner Kollegin Mimi hinterher. „Ist das nicht der Kerl, der entdeckt hat, das du so gut singen kannst?”, fragte Kai und Chris nickte. „Ja, er ist eigendlich der Grund, warum diese Band eigendlich existiert.”, er wante sich zum Auto und nahm seinen Rucksack aus dem Fußraum ihres Minibuses. „Durch Zufall hat er mich mal singen hören und ich weiß nicht warum, aber er hatte mich sofort unter seine Fittiche genommen und mit mir die Tonleiter auf und ab geübt. Gerade als ich beschlossen hatte, eine eigene Band zu gründen, zog er weg. Oder wanderte eher weiter.”, er lachte kurz auf. „Wäre ich schneller gewesen, wäre er jetzt vielleicht der Leadsänger.” „Und wir hätten einen Konkurrenten weniger.”, lachte Maik. „Oh man, mit diesem Kerl hätten wir das Ding hier locker gewonnen.” „Ihr werdet auch so gewinnen.”, sprach Lilian ihnen Mut zu, wärend sie auf ein kleines Häuschen zu gingen, vor dem sich schon eine Menschenmenge angesammelt hatte. „Ich weiß, dass ihr gut seit. Ich bin jetzt schon euer größter Fan. Ich weiß zwar nichtm wie die andern hier so sind, aber ihr seid besser.”, sie gab Maik einen Kuss auf die Wange. „Ihr macht sie alle fertig.” „Wenn sie das sagt, muss das wohl stimmen.”, lachte Maik. „Braves Mädchen.”, er grinste seine Freundin verliebt an und Chris schaute weg. Wenn er sah, wie glücklich sein bester Freund war, wurde er neidisch und eifersüchtig. Am liebsten würde er jetzt derjenige sein, mit seiner Freundin am Arm, die ihm gut zu spricht und Mut macht, weil er viel zu viel Angst hat, einen Ton zu versämmeln. Er wollte der sein, der einen letzten Kuss von seiner Geliebten bekam, bevor er die Bühne betrat und der, der als erstes deren Lippen wieder spürte, wenn er herunter kam, mit einem Energiepekel, womit er Bäume hätte ausreißen können. Wie schon so oft an diesem Tag holte er sein Handy aus der Jeanstasche und schaute auf den Display. Sie hatte immer noch nicht geschrieben. Ob sie schon angekommen war? Wie lange fuhr man nach Bayern. Oder hatte sie ihn schon vergessen und konzentrierte sich voll auf das Tanzen, so wie er es eigendlich bei der Musik machen sollte. „Glaubst du, dass dein Handy sich in Luft auflösen könnte, wenn du nicht immer drauf starrst?”, fragte Maik und grinste seinen Freund an. „Oder hast du von Anna noch keine Viel-Glück-Sms bekommen?” „Anna?”, für einen kurzen Augenblick war Chris verwirrt. „Naja, du hast ihr doch sicher von dem Auftritt heute erzählt, oder?” „Ach, ja klar. Natürlich.”, Chris lachte unsicher. „Sie drückt uns übrigens die Daumen. Und ich soll lieb von ihr grüßen.”, was natürlich gelogen war. In Wahrheit hatte Chris noch garkeine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu telefonieren. Wann hatte er eigendlich das letzte Mal ihre Stimme am Telefon gehört? Und wann hatte er sich zuletzt danach gesehnt? Lucie setzte sich auf den kalten Laminatboden und streckte ihren Oberkörper nach vorne um sich zu dehnen. Um sie herum herrschte absoluter Tumult. Mindestens dreizig Mädchen um sie herum rannten von einer Stelle zur Nächsten, kramten in ihren Taschen nach den passenden Sachen. Andere drängten sich vor den schmalen lebensgroßen Spiegel um ihr Make-Up und die Haare zu kontrollieren. „Ich versteh wirklich nicht, warum die sich alle so aufbrezeln, wo es im Endeffekt doch nur ums tanzen geht?” Lucie setzte sich auf und sah in die strahlend blauen Augen des Mädchen, dass sie vorhin auf dem Parkplatz neben sich gesehen hatte. Statt verwaschener Jeans und einem schlabbrigen T-Shirt trug sie jetzt einen hautengen Body in einem zarten gelb. Darunter eine quietschblaue Leggins und rote Stulpen. Ihre Haare hatte sie versucht, zu einem Pferdeschwanz zurückzubinden, doch einige Strähnen gehorchten ihr nicht und fielen locker um ihr Gesicht. „Ich bin übrigens Hannah.”, sagte sie und reichte Lucie die Hand. „Lucie.”, sie lächelte leicht. „Du willst also auch dein Glück versuchen?”, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen könnte. Hannah lachte. „Worauf du wetten kannst. Und weißt du was?”, sie setzte sich neben Lucie und beugte sich zu ihr rüber, als wolle sie ihr ein wichtiges Geheimnis verraten. „Ich habe vor, nicht hier rauszugehen ehe ich Mitglied dieser Schule bin. Ich hatte es letztes Jahr auch schon versucht, aber da haben die mich postwendend abgelehnt mit der Begründung ich sei mit fünfzehn noch zu jung für sowas. Als würde ein Jahr Unterschied da etwas ändern.”, sie zuckte mit den Schultern. „Aber ich hab nicht aufgegeben und mich für dieses Jahr erneut beworben. Und siehe da? Jetzt bin ich hier. Und ich sage dir noch was. Die Mädels da drüben, die gerade versuchen so toll wie möglich auszuehen; die haben nicht die geringste Chance gegen uns. Weißt du warum die sich so auftakeln? Weil die von ihrem schlechten Tanzen ablenken wollen.” „Make-Up tragen bedeutet für dich also, dass man eine schlechte Tänzerin ist?”, fragte Lucie verwirrt und hatte schon fast ein schlechtes Gewissen weil sie Wimperntusche trug. Hannah schüttelte lachend den Kopf. „Oh nein, auf keinen Fall. Ich habe Verständnis dafür, wenn man sich ein bisschen Hübsch machen will. Aber ist das nicht das Gleiche wie bei einem Casting für Models? Man sollte den Juroren doch eher so natürlich wie möglich gegenüber treten, damit sie sich ein Bild machen können, was sie alles mit denen anstellen können. Die da drüben zum Beispiel.”, unmerklich nickte sie zu einem Mädchen, das gerade eine pinke Schleife in ihre braunen Locken band. „Da wird die Jury denken, dass sie nur als Barbie durchgehen wird. Durch die grelle Schminke und dem ganzen Krims Krams versteckt die das wahre Ich von ihr. Wie können sie sich ein Bild von ihr als eine Nebendarstellerin von einem Musikal machen oder eine Primaballerina?”, plötzlich lachte sie. „Oh man, ich laber wieder so vor mir hin. Bestimmt interessiert es dich nicht einmal. Mein Opa sagt immer, dass er immer das Bedürfnis hat, mir ein dickes Klebeband über den Mund zu kleben, sobald ich auch nur ein Ton sage. Aber er meint es nur gut und ich weiß ja, dass er mich lieb hat. Wollen wir uns vielleicht beim aufwärmen helfen? Ich bin so aufgeregt, ich muss mich unbedingt bewegen.” Lucie lachte. Sie hatte diesen Wirbelwind sofort ins Herz geschlossen. Unbewusst hatte das blondgelockte Mädchen ihr durch ihre offene Art die Nervosität genommen. Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Oh nein, Chris.”, rief sie aus und schlug sich gegen die Stirn. „Verdammt.”, sie sprang schnell auf und schnappte nach ihrer Tasche. „Dein Freund?”, grinste Hannah und schaute Lucie dabei zu, wie sie durch ihre Sachen wühlte. „Mein - Freund?”, Lucie wurde rot. „Oh naja.”, sie hielt kurz mit dem Wühlen inne. „Aah, dann ein heimlicher Schwarm.” Lucie biss sich auf die Unterlippe. In was für einem Status stand denn Chris jetzt eigendlich zu ihr? Konnte man ihn wirklich schon als ihren festen Freund nennen oder eher ihr Verhältnis. Verwirrt schüttelte sie den Kopf und kramte weiter. „Das ist ein bisschen kompliziert.”, sagte Lucie dann zu Hannah. „Wenn man es nämlich genau nimmt, kann ich noch garnicht fest mit ihm zusammen sein.” „Wieso? Ist er dreißig Jahre älter und verheiratet? Für so eine hätt ich dich jetzt aber nicht gehalten.” Lachend schüttelte Lucie den Kopf. „Oh, nein nein. Er ist schon in meinem Alter. Das Problem ist, dass er nicht zu haben ist. Eigendlich.” Neugierig kam Hannah näher heran. „Aha. Und was bedeutet eigendlich? Sind eure Eltern dagegen? So wie bei Romeo und Julia?”, sie bekam einen verträumten Ausdruck. „Schleicht ihr euch abends immer aus dem Haus, um euch heimlich zu treffen? Tauscht ihr keuche Küsse aus und kämpft darum, irgendwann abzuhaun? Ist er vielleicht schon in einem anderem Land und wartet sehnsüchtig auf dich? Du bist doch nicht etwa schwanger, oder?” Lucie stockte. „Um Gottes Willen, nein. Und er ist auch nicht ausgewandert. Ah, da ist es ja.”, sie griff nach ihrem Handy und fing sofort an zu tippen. „Aber das mit den Eltern könnte hinkommen. Zumindest mit meinen.”, sie machte eine kurze Pause, um Chris schnell eine Sms zu schreiben, dass sie gut angekommen sei und jetzt darauf warte, bis das Vortanzen begann. Sie würde ihm schreiben, sobald sie fertig sei und würde jede Sekunde an ihn denken. Soll ich ein Ich liebe dich dahinter schreiben?, fragte sie sich und wartete. Sie hatten es sich zwar gesagt, aber normalerweise war sie nie so ein Typ für soetwas gewesen. Trotzdem hatte sie die drei Worte schon eingetippt und abgeschickt, ehe sie es richtig realisieren konnte. Ich hab mich wirklich verändert, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wollte sich gerade wieder zu Hannah wenden, die wieder angefangen hatte, sich zu dehnen, als die Tür zu ihren Umkleideraum aufging und eine ältere Frau mit weitem Kleid, dicker Lesebrille und streng zurück gekemmten Haaren hereintrat. Vor ihrer Brust hielt sie ein Klemmbrett mit ein paar Zetteln fest umklammert. „Ich hoffe, ihr seid fertig?”, sagte sie spitz und ihre Stimme klang genauso streng wie sie aussah. „Wenn nicht, habt ihr selber schuld. Ich werde euch gleich in einen Raum bringen, wo ihr warten werdet, bis eure Namen aufgerufen werdet. Danach kommt ihr auf die Bühne und werdet euer Talent unter Beweis stellen müssen. Folgt mir.”, ohne darauf zu warten, ob vielleicht noch jemand Fragen hat, machte sie kehrt und den anderen bieb garkeine andere Wahl, als ihr schnell hinterher zu gehen. Lucie warf ihr Handy zurück in ihre Tasche und gesellte sich zu Hannah, die plötzlich ganz rote Wangen hatte. „Oh, ich bin so nervös. Mein Magen dreht Purzelbäume und ich hab das Gefühl, als würde ich kotzen müssen. Hast du das auch?” Lucie schüttelte den Kopf. Komischerweise ging es ihr wirklich ausgesprochen gut. Weder drehte sich ihr Magen gleich um, noch spürte sie, wie ihr Blut schneller durch die Adern floss. Aber so wie sie sich kannte, würde das in wenigen Minuten einsetzen. Spätestens wenn ihr Name aufgerufen wurde und sie vortanzen musste. „Du wirst das schon packen.”, munterte sie die Blondiene auf. „Es wird ja nicht das erste mal sein, das du tanzt.” Hannah schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Aber noch nie war mir etwas so wichtig. Wenn ich das nicht packe-” „Versuchst du es nächstes Jahr wieder.”, brach Lucie dazwischen. „Du wirst es dann einfach immer und immer wieder versuchen. Solange, bis es klappt.” „Nein.”, beharrte Hannah. „Das hier ist meine letzte Chance. Entweder jetzt oder nie.” Lucie wollte schon weiter nachfragen, doch dann hatte sie keine Chance mehr dazu, da sie in einen anderen Raum eintraten und gebeten wurden jetzt kein einizigen Ton mehr zu sagen, sonst könnten sie gleich wieder nach Hause gehen. Still nahm Lucie auf einem roten Plastikstuhl platz und atmete tief ein und aus. Jetzt hieß es nur noch warten. Warten darauf, dass ihr Name gerufen wurde. Warten, darauf, dass sie endlich zeigen konnte, was in ihr steckte. Warten darauf, dass ihre Zukunft endlich ein konkretes Ziel haben würde. Die Stille in dem kleinen Raum war wirklich erdrückend. Manche saßen gemütlich auf ihren Stühlen mit geschlossenen Augen und in sich gekerht, andere wanderten nervös auf und ab oder tribbelten mit ihren Fingern auf ihren Beinen rum. Manche überprüften noch schnell ihre Haare und schauten ob ihre Kleidung auch wirklich saß. Mädchen gingen und kamen nicht wieder. Es dauerte eine halbe Stunde, ehe die Tür aufging und Lucies Name gerufen wurde. Eilig stand sie auf. Sie sah noch, wie Hannah ihr aufmunternd zuzwinkerte. „Folge mir.”, befahl die strenge Frau von vorhin und führte Lucie einmal über den ganzen Flur, dessen Neonleuchten an der Decke etwas zu grell schienen. Der Boden war mit einen braunen rauhen Teppich belegt, den sie unter ihren dünnen Schuhsohlen spürte und die Wände in einem so zarten gelb, dass es fast schon wieder weiß war. Hoffendlich würde der Rest der Schule nicht so kalt und abweisend wirken, schoss es ihr durch den Kopf. „Geh da rein.”, sagte die Frau und hielt ihr eine Tür auf. Lucie trat ein, mitten ins Ungewisse. 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