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Legend of Lorn

von

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Das Fleischfest

Als Jessy behutsam und widerwillig die Augen öffnete und sich ihr trotz allem kein anderes Bild bot als jenes immerwährender, undurchdringlicher Finsternis, war die erste Erinnerung, die sie ihrem Gedächtnis zu entwinden vermochte, die Erinnerung an ihren eigenen Tod, obwohl sie sich verschwommen zu entsinnen glaube, ihm im letzten Augenblick durch die kalten, dürren Finger geglitten zu sein und als sich der trübe schwarze Schleier, der sich mit dem Verlust ihres Bewusstseins über ihr Gesicht gelegt hatte, allmählich lichtete, konnte sie nichts erkennen als die schemenhafte Silhouette einer schlanken Gestalt die neben ihr stand und ihre Hand zu halten schien, ohne dass sie einen Druck oder ein Gefühl der Zärtlichkeit verspürte. Sie konnte den weichen, wohlig warmen Untergrund fühlen auf dem sie lag und der ihren Rücken wie mit tausenden winziger, weissglühender Nadeln zu streicheln schien und trotzdem plagte sie auf erschöpfende Weise das unnachgiebig enervierende Gefühl zu Stehen. Hinzu gesellte sich der weitaus unangenehmere Drang einfach aufzustehen, doch selbst wenn sie die Kraft dazu besessen hätte, es zu versuchen, sie hätte es nicht gekonnt, denn eine einzelne, zärtliche Hand, die so weich war wie das Fell eines Welpen, presste mit sanfter Gewalt entgegen ihrer Bewegung und eine Stimme, die Stimme einer jungen Frau die so klar war wie das Flüstern des Windes und so angenehm auf dem gemarterten Trommelfell wog wie das Plätschern eines Wildbaches, sprach zu ihr: „Wenn du den Wunsch hegst, jemals wieder aus eigener Kraft und ohne ein Hilfsmittel Gehen zu können, tätest du gut daran liegen zu bleiben!“

Augenblicklich entspannten sich sämtliche Muskeln in Jessys Leib wie auf den unhörbaren Befehl ihres eigenen Verstandes hin, der ihrem Körper aufzuzeigen suchte, dass er im Moment überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre, aufzustehen oder gar zu Gehen, doch irgendetwas in ihr sträubte sich mit aller Macht gegen die unumstössliche Entscheidung ihres Körpers, hier liegen zu bleiben. Der Schmerz war längst zu einem Teil ihres Bewusstseins geworden, wie das Atmen oder das Weinen und selbst wenn sie es versucht hätte, hätte sie ihn unmöglich von all den anderen Gefühlen und Emotionen isolieren können, die in ihren Eingeweiden tobten und ihren eigenen, kleinen Krieg zu führen schienen, dann spürte sie eine starke, eiskalte Hand, deren knochige Finger kurz und mit aller Kraft gegen eine Stelle an ihrer Kehle drückten und verlor die Besinnung.
 

Was Jessy am darauffolgenden Morgen weckte waren nicht Schmerzen oder die Stimmen Dritter, die den Raum erfüllten, es war der grelle Schein einer angenehm warmen, wunderschönen Morgensonne, der sich an der Scheibe irgendeines Fensters millionenfach brach, weisse Punkte auf alle Wände zauberte und sie zärtlich aus einem erquickenden Schlaf rüttelte. Bald merkte sie, dass es da überhaupt keine Schmerzen mehr gab, die eine genügende Intensität besessen hätten, um ihr zur Qual zu werden, denn ihr rechtes Bein war vollkommen taub. Von der Hüfte abwärts konnte sie nichts mehr fühlen als ein stetes, unangenehmes Pochen, das jedoch nicht von schmerzlicher Natur war und Jessy allmählich daran zweifeln liess, dass ihr Bein unterhalb des zerstörten Knies überhaupt noch dran war, doch im Augenblick kümmerte es sie nicht, solange die grauenhaften Schmerzen, derer sie sich nur widerwillig entsinnte, nicht abermals einsetzten.

Sie brauchte eine Weile ehe sie es wagte, die Augen zu öffnen und als sie es tat war das einzige, was zu erkennen sie sich ganz sicher war, eine kompakte bunte Wand, die aus einem ganzen Zimmer zusammengeflossen sein musste und stetig Wellen schlug wie ein Tuch im Wind. Sie wollte die Hand vor das Gesicht heben um die geblendeten Augen vor dem Licht zu schützen, dass durch das Fenster sickerte, doch sie war zu schwach dazu, sie versuchte zu sprechen, doch alles, was ihre ausgetrocknete Kehle zustande brachte war ein gequältes, leises Stöhnen.

„Langsam!“, murmelte eine freundliche Stimme neben ihr. Es war nicht dieselbe Stimme wie die, die sie am Vortag gehört hatte, doch auch diese war die Stimme einer, zweifelsohne sehr jungen Frau und sie war nicht minder klar und angenehm als die andere Stimme, trotzdem fehlte ihrem Klang ein entscheidendes Detail, an dem Jessy die beiden Stimmen hatte unterscheiden, das sie jedoch nicht in Worte hätte fassen können. Eine raue, kalte Hand griff nach der ihren um ihr mittels eines sanften Drückens zu zeigen, dass sie nicht alleine war. „Lass dir Zeit!“, fuhr die Stimme leise fort. „Du hast sehr lange geschlafen!“

Alles um Jessy herum schien sich mit einem Male zu drehen als sie die Lider wieder schloss und bittere Galle sammelte sich unter ihrer trockenen Zunge, die ganz furchtbar schmeckte und das Gefühl der Übelkeit, das sich im nächsten Augenblick in Jessy ausbreitete, nur noch bekräftigte. Sie hatte das ungute Gefühl, sich jedem Moment übergeben zu müssen und sie wusste, sie würde nicht die Kraft haben sich umzudrehen oder sich gar aufzurichten, so kämpfte sie den Brechreiz so gut es ihr gelang nieder und atmete mehrere Male tief ein und wieder aus. Sie konnte es zwar nicht sehen, doch sie konnte fühlen wie sich die junge Frau, die mit ihr im Raum war, langsam erhob und an sie heran trat, dann legte sich ein kühler Handrücken auf ihre schweissnasse Stirn und zog sich kurz darauf wieder zurück.

„Du hast immer noch ein wenig Fieber!“, flüsterte die sanfte Stimme besorgt. „Aber es scheint dir schon besser zu gehen!“

„Wo?... wer?“, hörte Jessy sich selbst entkräftet stottern. Mehr brachte sie nicht zustande. Sie hatte das Gefühl binnen weniger Augenblicke tausende von Toden zu sterben so elend war ihr zumute und die fremde Frau, die bei ihr war, schien das zu wissen.

„Sch!“, machte sie. „Streng dich nicht zu sehr an, du brauchst Ruhe. Du bist in Galgareth, bei Freunden, mach dir keine Sorgen!“

Der Raum, der noch immer aus nicht viel mehr als dutzenden bunter Punkte zu bestehen schien, wollte einfach nicht aufhören sich zu drehen und Jessys Magen begann allmählich zu revoltieren. Sie hätte es vielleicht noch einen Augenblick hinauszögern können, doch dazu war sie in ihrem Zustand einfach nicht mehr stark genug, so drehte sie lediglich den Kopf zur Seite und erbrach sich über die eigene Schulter, wobei sie nicht viel mehr als ein ekelhaftes Würgen und einen kaum nennenswerten Schluck Galle herausbrachte, dann verlor sie abermals das Bewusstsein.
 

Als Jessy das nächste Mal erwachte, ging es ihr schon bedeutend besser als zuvor. Sie fühlte sich ausgeruht und sehr viel stärker und sowohl der anfängliche Schmerz, der sich stetig am Rande der Erträglichkeit bewegt hatte, als auch die darauffolgende Taubheit waren aus ihrem rechten Bein gewichen und als sie die Augen öffnete, konnte sie nach einer Weile sogar Einzelheiten erkennen. Dieses Mal war sie ganz alleine in dem kleinen Raum, der nicht anders war als all die anderen Räume, die Jessy Zeit ihres Lebens gesehen hatte, und dennoch auf eine nur schwer greifbare weise anders, um nicht zu sagen seltsam, denn das grobe Mauerwerk, aus dem die vier Wände scheinbar lieblos zusammengezimmert worden waren, war überall mit verschiedenen Farben beschmiert, gerade so als sei die Gestaltung des Raumes einem Kleinkind in einem Anfall der Tobsucht überlassen worden und vor den beiden Fenstern, eines zu Jessys Linker, das andere zu ihrer Rechten, hingen schwere, dunkle Samtvorhänge, die ebenfalls verschiedenfarbig waren. Das gemütliche Strohbett auf dem sie lag, stand im Zentrum des Zimmers und liess dem in ihm Liegenden damit den Blick auf die schwere Holztür, die das Zimmer vom Rest der Hütte trennte, und den schweren Schild, der darüber hing und das Zeichen der zwei küssenden Drachen trug, ein Wappen, das Jessy irgendwo schon einmal zu sehen gehabt glaubte und das ihr sehr gut gefiel. Neben dem Bett stand ein grob gehauener, hölzerner Hocker, auf dem die leere Scheide ihres Schwertes lag, das sie ihrem Vater überlassen hatte, und daneben ein, ebenfalls hölzernes, Regal, beinahe wie eines von denen, die sie in der Cullenakbeth gesehen hatte, auf dem allerlei Utensilien lagen, die wenigstens so aussahen als dienten sie zur Behandlung eines zertrümmerten Knies.

Eine ganze Weile lag sie einfach da und musterte jeden Quadratzentimeter des Raumes, in dem sie lag, mit höchster Aufmerksamkeit, um sich jede noch so winzige Einzelheit genau einprägen zu können, etwas, das Jessy immer schon das Liebste gewesen war, denn niemand konnte wissen, wozu sie eventuelle Informationen über einen bestimmten Ort später einmal brauchen konnte, dann schlug sie vorsichtig die warme Schafwolldecke beiseite und sah an sich herab. Von dem grauen Leinenhemd, das ihr fast bis an die Knie reichte und das eindeutig nicht ihres war, abgesehen, trug sie überhaupt nichts. Ihr Knie war schichtweise in Mullbinden und Stofffetzen eingewickelt worden und ein merkwürdiges, metallenes Gestell sorgte für die nötige Stabilität und wohl auch dafür, dass Jessy das verletzte Glied im Schlaf nicht unversehens biegen konnte. Jessy fiel es schwer zu glauben, dass man von dem zerfledderten Gelenk überhaupt noch etwas hatte retten können, umso erleichterter war sie nun, da sie sah, dass ihr Bein noch war, wo es sein musste und das selbst ihr Knie einen ganz passablen, stabilen Eindruck machte.

Mit beiden Händen packte sie das verletzte Bein, hievte es mühevoll über die Bettkante, und setzte es behutsam auf den Boden, ehe sie sich aufrichtete und auch das andere, gesunde Bein aus dem Bett schwang. Rasch merkte sie, dass sie eine ganze Weile hier gelegen haben musste, denn es schien als sei alle Kraft aus ihrem Körper gewichen und habe einer zermürbenden Erschöpfung Platz gemacht, die sich nur schwerlich wieder vertreiben liess, ausserdem ergriff sie fast augenblicklich ein Übelkeit erregendes Schwindelgefühl und zwang sie, noch einen Moment sitzen zu bleiben und die Augen zu schliessen, um sich innerlich zu sammeln, dann nahm sie allen Mut zusammen, stiess sich vom Bett ab und stand, schwer auf das unverletzte Bein gestützt und sich am Bettpfosten festhaltend, auf.

Es ging ganz gut, fand Jessy, solange sie es vermied, das verletzte Bein zu belasten, dann jedoch setzte sie es auf den Boden, presste die Zähne fest aufeinander und verlagerte einen Augenblick lang einen Teil ihres Gewichtes darauf, gefasst, im nächsten Moment vor Schmerz schreiend zusammenzubrechen, doch der Schmerz blieb aus. Sie konnte ihr Gewicht tatsächlich eine Weile, lange genug, um einen Schritt zu machen, mit ihrem verletzten Bein tragen, ohne die geringste Pein zu verspüren und sie nutzte diese Tatsache gleich aus, um durch das Zimmer hinüber zur Tür zu humpeln und sie vorsichtig zu öffnen, um zunächst einen Blick in den dahinterliegenden Rest der Hütte zu werfen, ehe sie ihn betrat.

Der Raum, der sich ihr eröffnete, war einiges grösser als das Zimmer, in dem sie gelegen hatte, ohne ihn einen Saal nennen zu wollen und ganz und gar aus grobem Holz und Lehm gefertigt. Die Pfeiler, die das Gerüst des Strohdaches trugen, verliefen mitten durch den Raum und dahinter standen ein Tisch, an dem vier hölzerne Stühle standen, ein zweites Regal, dasselbe wie in dem Zimmer, in dem sie erwacht war und ein grosser, bequemer Sessel der vor einem steinernen Kamin stand, in dem, über einem prasselnden Feuer ein grosser, dampfender Gusseisentopf hing. In dem Sessel davor sass eine fremde junge Frau, dieselbe, die Jessy schon einmal gesehen hatte und blätterte in einem grossen, ledergebundenen Buch, das in einer Sprache geschrieben war, die Jessy nicht kannte. Auf dem kleinen Holztisch zur Rechten des Sessels lagen noch mehr solcher Bücher und alle waren sie in derselben, fremdartigen Sprache verfasst.

Jessy öffnete die Holztür ganz, um aus dem Zimmer zu treten und unter den Knarren und Quietschen der ehernen Scharniere, schrak die fremde Frau hoch, wandte sich nach der Tür um und schloss, als sie Jessy erkannte, mit einem lauten Knall ihr Buch, nur um augenblicklich aufzuspringen und ihr entgegen zu eilen, um sie zu stützen.

„Du hättest liegen bleiben sollen!“, tadelte sie die Fremde. „Du musst dein Bein schonen!“

Wie eine gramgebeugte Greisin überliess Jessy fast ihr ganzes Gewicht ohne Wiederworte der fremden Frau, liess sich von ihr hinüber zum Sessel führen, in dem diese eben noch gesessen hatte und dann einfach erschöpft und entkräftet hineinfallen.

„Wer bist du?“, wollte Jessy wissen und sprach, zu ihrer eigenen Verwunderung, klar und kräftig und ohne zu stottern. „Wo bin ich und warum bin ich hier?“ Sie war vollkommen durcheinander. Obgleich sie sich jedes Details dessen, was geschehen war, entsinnen konnte, kamen ihr diese Erinnerungen wie eine gigantische Mauer vor, die sie eingerissen hatte und nun, trotz aller Mühe die sie sich gab, einfach nicht wieder richtig zusammensetzen konnte.

„Mein Name ist Damira!“, antwortete die Fremde schlicht, räumte die Bücher von dem kleinen Holztisch und schob ihn unter Jessys verletztes Bein. „Du bist hier in Galgareth. Wir hörten von dem Überfall auf Artmore und als wir dich fanden glaubten wir, du seiest eine Überlebende, auch wenn wir nur schwerlich glauben konnten, dass überhaupt jemand in Artmore den Sturm überlebt hat! Ist dem den nicht so?“

Jessy dachte einen Moment angestrengt nach, dann kehrten die Bilder schliesslich zurück. „Doch!“, sagte sie. „Das stimmt!“ Sie hatte ihren Vater Alexius den Aughrim überlassen und Arthex hatte ihre Mutter entführt. „Meine Mutter!“, murmelte sie und Damira sah verwirrt und auch ein wenig besorgt auf sie herab, schwieg jedoch. „Seit wann bin ich hier?“, wollte Jessy plötzlich wissen. Sie musste schon seit einer Weile hier sein, dachte sie, dabei musste sie doch Arthex verfolgen um ihre liebe Mutter Andira zu befreien und plötzlich war sie ganz aufgeregt. Damira dachte einen Augenblick nach, wohl um keine falschen Angaben zu machen, dann sagte sie: „Du bist vor zwölf Tagen schon einmal erwacht, das war einundzwanzig Tage nachdem wir dich gefunden haben!“

Jessy erschrak. „Ich bin seit mehr als dreissig Tagen hier?“, erkundigte sie sich noch einmal, auch wenn sie die Antwort schon wusste bevor Damira mit einem überzeugten Nicken zustimmte. Arthex musste ihre Mutter längst an die entlegensten Orte Lorns verschleppt haben oder es hatte die Insel gar schon wieder verlassen. Jessy würde ihm nach Illdroil folgen müssen wenn sie ihre Mutter retten wollte, auf das Festland, in das Reich der ewig Sterblichen wo alle Magie ein Verbrechen und alle Kämpfer und Verfechter der Magie Ketzer waren und bis zu ihrem Tode verfolgt und gedemütigt wurden. Sie wollte dort nicht hin, aber sie hatte ihrem Vater still geschworen, ihre Mutter zu befreien und genau das würde sie auch tun.

„Ich muss gehen!“, sagte sie bestimmt und versuchte aufzustehen, wobei sie eine falsche Bewegung machte und vom Schmerz übermannt in den Sessel zurück fiel.

„Das würde ich an deiner statt nicht tun!“, sagte Damira und fuhr fort, als sie Jessys fragenden Blick richtig gedeutet hatte. „Dein Knie ist noch nicht ganz verheilt und braucht Ruhe, ausserdem haben in Galgareth vor zwei Tagen die Horia- Riten begonnen und eine junge, hübsche Frau wie du es bist sollte nicht ohne Begleitung durch die Gassen der Stadt wandern!“

Jessy war verwirrt. „Die Horia- Riten?“, wiederholte sie fragend, während Damira sich abwandte, einen Teller und einen grossen Holzlöffel aus dem Regal neben dem Kamin holte und aus dem dampfenden Gusseisentopf über dem Feuer eine grosse Portion heisse Gemüsesuppe in den Teller schöpfte, um ihn Jessy zu reichen. Jessy hatte überhaupt keinen Hunger, dennoch nahm sie ihn dankend entgegen da sie um den Zustand eines Menschen nach dreissig Tagen Schlaf aufgrund einer Verletzung genau Bescheid wusste und auch wusste, dass sich der ausbleibende Hunger nach dem ersten Löffel Suppe automatisch hinzu gesellte.

„Das Fleischfest!“, erklärte Damira. „Eine siebentägige Zeremonie zu Ehren der Urmagierin Horia!“

Jessy kannte das Fleischfest, doch sie hatte nicht gewusst, dass es dafür noch eine andere Bezeichnung gab, da sie den Sinn hinter der sieben Tage andauernden Zeremonie, die im Grunde nichts anderes war als eine riesige Orgie öffentlicher sexueller Ausschweifungen, niemals verstanden hatte. Sie wusste auch nicht viel darüber, doch sie wusste, dass eine Frau, die während des Fleischfestes, ohne Kennzeichnung und ohne die Begleitung eines Mannes, durch die Strassen Galgareths ging, gejagt, gefangen und mit dem Azka, dem Zeichen der Unreinheit, einer kleinen Tätowierung oberhalb der rechten Brust, versehen wurde. Eine Frau, die das Azka trug, durfte von jedem Mann, der ein gewisses Ansehen und einen gewissen Ruf in der Stadt besass, zu seinem Eigentum erklärt werden und musste diesem fortan dienen, ganz gleich, was er von ihr verlangte. Dieses Ritual wurde praktisch nur benutzt, um neue Huren anzuwerben, die ihren Besitzern Geld einbrachten. Jessy wusste auch, dass jede Frau Zeit des Fleischfestes nur die Farbe Rot tragen durfte. Sie schnitt ihren Gedankenstrom abrupt ab und musterte Damira, die sie nun schon zum zweiten Mal sah und trotz allem nicht wiedererkannt hätte, aufmerksam. Die junge Frau war ganz mager, ungefähr einen Kopf grösser als Jessy und gewiss kaum älter als sie. Das hüftlange, nachtschwarze Haar hatte sie zu einem gleichmässigen Zopf geflochten, der nun von ihrer linken Schulter hing und gewandet war sie in ein bodenlanges, wunderschönes Seidenkleid von blutroter Farbe, das von gutem Geschmack ebenso zeugte wie von Wohlstand, was jedoch die Tatsache, dass sie darunter keine Schuhe trug, sondern baren Fusses war verfälschte.

„Ich brauche nur ein Schwert,“, sagte Jessy plötzlich, „dann wird es keiner der Männer da draussen wagen mir zu nahe zu kommen!“

Damira lächelte bemitleidend. „Ich bezweifle dass du ein Schwert zusätzlich zu deinem eigenen Gewicht überhaupt tragen könntest!“, entgegnete sie. „Und überhaupt, wo willst du denn hin? Artmore steht nicht mehr, du findest dort kein Zuhause!“

„Ich muss nicht nach Artmore!“, antwortete Jessy. „Ich muss Arthex finden und meine Mutter aus seinen gierigen Klauen befreien!“

„Arthex hat sein Lager nach Norden verlegt!“, entgegnete Damira traurig. „Er belagert seit Tagen die Stadt Mesmeria und der König von Extaphia will ihnen nicht helfen, weil der Kronprinz von Mesmeria die Königstochter Extaphias nicht ehelichen wollte. Du hast nicht die Kraft gegen Arthex zu kämpfen und selbst wenn du sie hättest: hinter dem Grosskönig steht eine Armee, die dreimal so gross ist wie das mesmerianische Heer und die königliche Garde zusammen! Sie können nicht besiegt werden!“

„Arthex liegt vor Mesmeria?“ murmelte Jessy besorgt.

„Ja!“, antwortete Damira, „Wenn die Stadt fällt, ist Lorn verloren! Und wenn Lorn fällt, endet das Zeitalter der Magie! Wenn deine Mutter tatsächlich von Arthex verschleppt worden ist, dann ist sie inzwischen wohl tot!“

Für den Bruchteil eines, von weissglühendem Zorn geprägten, Momentes, vergass Jessy die Schwäche ihres verletzten Knies und die Schmerzen, die es ihr hätte bereiten müssen und stand so abrupt auf, dass Damira erschrocken einen Schritt zurückwich. Der Teller mit Suppe, den Jessy von ihr bekommen hatte, fiel scheppernd zu Boden und verteilte seinen ganzen Inhalt darüber, doch Jessy war es egal. Sie packte Damira mit aller Kraft an der Kehle und drückte brutal zu.

„Meine Mutter ist nicht tot!“, fauchte sie wütend, während Damira würgend und ächzend versuchte, sich dem kräftigen Druck ihrer Hand zu erwehren, doch Jessy liess nicht locker. Sie wollte Damira nicht töten, sie wollte ihr nur ein wenig Angst einjagen, doch der Zorn über die Überzeugung der Fremden, ihre Mutter sei tot, war so gross dass sie Damira, selbst wenn sie es wollte, nicht loslassen konnte.

„Lass ihr ein wenig Luft zum atmen!“, verlangte eine fremde Stimme und Jessy wandte sich instinktiv der grossen Holztür zu, die aus der Hütte nach draussen führte. Sie war geöffnet worden und ein gross gewachsener, schlanker junger Mann war darin erschienen. Er würdigte Jessy keines Blickes während er eintrat, die Türe hinter sich schloss und den grossen Stoffbeutel, der reich gefüllt war mit Kräutern, Blüten und Wurzeln hinüber zum grossen Tisch trug und darauf legte. Den langen Stab, den er bei sich hatte, stellte er in eine Ecke des Zimmers und streifte sich schliesslich den langen, hellbraunen Mantel von den Schultern, um ihn in einer anderen Ecke des Raumes an einen eisernen Haken zu hängen, der in der Holzwand steckte.

„Wer bist du?“, fragte Jessy, ohne Damira dabei loszulassen.

Der junge Fremde ging zurück zum Tisch, holte eine kleine Holzschale aus dem Regal neben dem Kamin und füllte sie mit Wasser aus einem silbernen Krug, der auf dem Tisch stand. Stillschweigend und scheinbar willkürlich zupfte er ein paar Blätter, Kräuter und Würzelchen aus dem prall gefüllten Stoffbeutel, zerpflückte sie und vermengte sie mit dem Wasser in der Schale zu einer breiigen, grünlichen Masse die eine ganz seltsame Konsistenz besass und nach einem frisch erblühten Laubwald duftete.

„Ich bin der elende Narr der dein Knie zusammengeflickt hat!“, antwortete der Fremde, noch immer ohne Jessy dabei anzusehen. „Mein Name ist Nikq und die junge Frau die du gerade im Begriff bist zu töten, ist das dumme Ding das Tag und Nacht an deinem Bett gewacht, dir zu essen und zu trinken gegeben, deine Verbände gewechselt und deine Wunde gesäubert hat. Sie hat übrigens auch ganz ohne Widerworte deinen ganzen anderen Dreck aufgewischt wenn du verstehst was ich meine, also lass sie los!“

Jessy gehorchte widerstandslos. Sie löste ihren Griff von Damiras Kehle und liess sich behutsam in den Sessel sinken.

„Es tut mir leid!“, sagte sie ehrlich. „Ihr habt mir wohl das Leben gerettet.“

Damira hustete, lächelte dann freundlich und setzte dazu an, etwas zu sagen, doch Nikq kam ihr zuvor. „Nein!“, sagte er ruhig. „Ich habe dein Knie zusammengeflickt und Damira hat auf dich aufgepasst, aber gefunden hat dich Ayla! Ihr hast du dein Leben zu verdanken!“

Ayla musste das Mädchen gewesen sein, dessen Stimme sie als erste gehört hatte, kurz nachdem die Aughrim sie vor den Toren Galgareths einfach hatten liegen lassen.

„Dann sollte ich mich wohl bei ihr bedanken!“, entgegnete Jessy, doch Nikq wiedersprach mit einer knappen, kaum als solche zu bezeichnenden Geste.

„Alles zu seiner Zeit!“, sagte er, nahm die Schale mit dem grünen Schleim und brachte sie zu Jessy. „Trink!“

Jessy nahm ihm die Schale ab und warf einen angewiderten Blick hinein. „Was ist das?“, fragte sie und schnüffelte kurz an der Masse. Sie roch grauenvoll.

„Das ist Ächustran!“, gab Nikq zur Antwort, als sei das das natürlichste der Welt. Als sich der fragende Blick in Jessys Augen jedoch nicht änderte, beschloss er, seiner Erklärung einige Details hinzuzufügen. „Er wird aus der Weissdornwurzel gewonnen, vermengt mit einigen anderen Kräutern und Wasser ergibt sie einen wundervollen Trank der die seltene Fähigkeit besitzt, Wunden sehr schnell heilen zu lassen. Man sollte es allerdings nicht zu oft benutzen da der Körper rasch immun wird gegen das Mittel!“

„Es ist ein Magiergebräu?“, fragte Jessy erregt und wollte die Schale auf den kleinen Holztisch stellen, doch Nikq ergriff ihre Hände, in der die Schale lag und führte sie zurück an ihren Mund.

„Genaugenommen ist es vollkommen natürlich!“, entgegnete Nikq. „Ein Druide hat mir das Rezept verraten. Trink!“

Jessy wehrte sich nicht länger, das war sie den beiden einfach schuldig, sondern goss sich das Gebräu wortlos in den Hals, ohne dabei eine Miene zu verziehen und würgte es in drei grossen Schlucken die Kehle hinunter. Es schmeckte widerlich. Jessy musste an sich halten um das schleimige grüne Zeug nicht in hohem Bogen durch das Zimmer zu spucken, doch als der ärgste Geschmack von fauligem Fisch und vermodertem Schlamm verflogen war, war alles nur noch halb so schlimm. Nikq lachte sie aus.

„Was hast du erwartet?“, grölte er und hielt sich vor Lachen den Bauch. „Hast du schon mal ein Druidenrezept probiert das gut geschmeckt hat?“

Jessy wusste es nicht. Sie hatte davon gehört dass die Magie der Druiden sehr stark war und ihre Heilkräfte unübertroffen, aber sowohl die Geschmäcker ihrer Tränke als auch ihre Küche sollten ganz grauenvoll sein. Solange es seine Wirkung zeigte war es ihr im Grunde ganz egal.

„Ich muss fort!“, sagte sie abermals, dieses Mal jedoch an Nikq gewandt da sie glaubte, ihn eher überzeugen zu können, doch auch Nikq liess sich nicht erweichen.

„Gu gehst, wenn ich dir sage dass du gehen kannst!“, entgegnete er. „Dann kannst du auch sicher sein dass deine Wunde gut verheilt ist und nichts mehr passieren kann!“

„Sie ist gut verheilt!“, behauptete Jessy wütend. „Es ist alles in Ordnung. Dank euerer Fürsorge geht es mir wieder ausgezeichnet und nun würde ich gerne gehen!“

Sie stand auf, die Zähne fest aufeinandergepresst, um Nikq von ihrer Behauptung zu überzeugen, ging einige gewagte Schritte im Raum auf und ab und brachte dabei das Kunststück fertig, kein bisschen gepeinigt oder angestrengt zu wirken. Nikq allerdings schien sich nicht beirren zu lassen sondern nahm unmittelbar vor ihr Aufstellung, grinste hinterhältig, blickte ihr direkt in die Augen und fragte: „Dir tut das hier also nicht mehr weh?“, während er sein eigenes Knie mit grosser Kraft gegen ihr verletztes stiess.
 

Als Jessy die Augen aufschlug lag sie wieder in dem Zimmer, in dem sie schon zuvor erwacht war und erinnerte sich verschwommen an Nikqs Atem in ihrem Gesicht und den grässlichen Schmerz, der sie kurz danach übermannt und in die Knie gezwungen hatte, und im nächsten Moment hatte sie wieder hier gelegen.

Sie erschrak.

Abrupt richtete sie sich auf, atmete schwer und sah sich hektisch im Zimmer um, ehe sie erkannte, dass sie nicht alleine war, sondern Damira auf dem kleinen Hocker neben dem Bett, auf dem zuvor ihre leere Schwertscheide gelegen hatte, sass.

„Keine Angst!“, beruhigte sie Damira. „Du hast dieses Mal nur ein paar Stunden geschlafen!“

„Wo ist Niqk?“, wollte Jessy wissen.

„Er schläft!“, antwortete Damira. „Es ist schon spät nachts und draussen geht bald wieder der Lärm des Festes los, da ist er um jede Stunde Schlaf froh die ihm zufällt!“

Jessy schwang abermals die Beine vom Bett, setzte sich auf und legte ihre Hände auf Damiras Schultern. „Damira!“, flüsterte sie, um nicht unversehens den Heiler aufzuwecken. „Ich muss fortgehen! Nikq mag das nicht begreifen, aber ich bin sicher du wirst es, also versprich mir dass du nicht versuchen wirst, mich aufzuhalten!“

Damira dachte eine Weile nach, dann trat wieder dasselbe, mütterliche Lächeln in ihr Gesicht, das Jessy schon von ihr kannte. „Ich kann dich nicht gehen lassen, Jessy. Es ist zu gefährlich da draussen in deinem Zustand!“

„Ich kann schon...!“, wollte Jessy auffahren, unterbrach sich dann jedoch und sah Damira fragend an. „Woher kennst du meinen Namen?“, fragte sie. „Ich habe ihn nie genannt!“

Damira musste lachen. „Ich habe sehr viel Zeit an deiner Seite verbracht!“, antwortete sie. „Und du hast im Schlaf gesprochen! Ich weiss was passiert ist und ich weiss, was du durchgemacht hast, gerade deshalb solltest du nicht gleich wieder in den nächsten Krieg ziehen!“

„Ich habe das Leben einer Kriegerin gewählt,“, entgegnete Jessy. „Nun muss ich das Leben einer Kriegerin führen! Und wenn du mich aufhältst, dann wirst du diese Kriegerin kennen lernen müssen!“

Damira streifte Jessys Hände von ihren Schultern, stand auf, wandte sich um und trat ans Fenster, um mit verträumten Blicken die Finsternis, die draussen vorherrschte, zu durchbohren. Sie schwieg und Jessy fühlte, dass sie sich entschieden hatte. Sie stand auf, trat an Damira heran und zögerte einen Augenblick. „Es tut mir leid!“, flüsterte sie, dann rammte sie Damira den Ellbogen ins Genick, woraufhin sie in sich zusammenbrach als habe sie keine Knochen im Leibe. „Es tut mir leid!“, murmelte Jessy abermals, dann verliess sie das Zimmer.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2009-06-26T20:46:00+00:00 26.06.2009 22:46
na bin gespannt was passiert^^
deine ff ist echt interessant..außerdem liebe ich solche typen wie das arschloch dass sich könig aller könige nennt^^
ich find ihn toll^^


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