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Blood Holidays

Suicide Apartment
von

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Suicide Apartment

-Suicide Apartment-
 

8ter August
 

Der Wagen holperte noch ein paar Meter über die Landstraße. Dann gab der Motor den Geist auf. Regen klatschte gegen die Scheiben. Der Himmel war rabenschwarz und mit ein wenig Glück konnte man 2 Meter weit sehen.

„Scheiße!“

Darrin drehte den Schlüssel im Zündschloss. Drehte ihn wieder und wieder, trat die Kupplung fast durch den Boden, doch der Toyota gab kein noch so winziges Lebenszeichen von sich.

„Scheiße!“ fluchte Darrin wieder.

„Beruhig dich, Schatz“, sagte seine Freundin, Jana, vom Beifahrersitz und spähte in die Dunkelheit.

„Ich habe getankt, bevor wir losgefahren sind. Tony, ich habe getankt, stimmt’s?“

Tony beugte sich zu seinem Freund nach vorne und starrte stumm auf die Tankanzeige im Armaturenbrett. Die kleine matt leuchtende Nadel schien auf „voll“ zu stehen. Tony tastete über sich nach der Innenbeleuchtung und knippste sie an. Es funktionierte. An der Batterie lag es in jedem Fall nicht, aber woran dann, wenn der Tank doch voll war?

„Vielleicht ist die Anzeige kaputt“, sagte Jana unbekümmert und sah die beiden Jungs an.

„Die Anzeige ist nicht kaputt“, sagte Darrin mit säuerlichem Unterton. „Der Wagen ist so gut wie neu.“

Tony ließ sich zurück in den Sitz fallen. Die Dunkelheit machte ihn unendlich müde und sie waren jetzt seit 2 Stunden unterwegs ohne auch nur einmal angehalten zu haben. Jana hatte sich geweigert. Sie wollte unbedingt den ganzen Weg ohne Unterbrechung hinter sich bringen. Darrin hatte zwar gemurrt, dann aber nachgegeben. Tony hatte geschwiegen. Er hatte schnell gelernt sich nicht mit Jana anzulegen.

„Bei dem verdammten Wetter, können wir ja nicht mal sehen wo wir sind!“

Darrin stieß die Autotür auf und man hörte ein schmatzendes Geräusch, als seine Schuhe im Schlamm versanken. Tony meinte ihn fluchen zu hören. Wann hatte das Unwetter angefangen? Bestimmt vor gut einer halben Stunde und ab da war es immer schlimmer geworden.

„Ist ja fast gruselig“, sagte Jana, als die Autotür hinter Darrin zuflog. Ein paar Regentropfen hatten sich längst ihren Weg ins Auto gesucht und wurden von den Polstern des Fahrersitzes aufgesogen.

Jana wirkte belustigt. Tony war eher übel. Er konnte vor Hunger kaum noch Brötchen schreien und so wirklich lustig fand er das hier nicht. Wenn der Wagen nicht wieder ansprang, dann bedeutete das, dass er noch länger auf Nahrung warten müsste, es sei denn … er käme an den Kofferraum. Das war allerdings nicht so einfach wie es klang. Vor allem nicht bei diesem scheiß Unwetter. Was Darrin wohl grad machte? Tony hangelte sich nach vorn auf den Fahrersitz und starrte das Lenkrad misstrauisch an.

„Ach, komm schon“, Jana lachte, sie lachte ihn aus. „Du kannst das nicht!“

„Nein, aber ich kann es versuchen“, gab Tony zurück und drehte, wie vor ihm Darrin, den Schlüssel. Nichts passierte. Jana lachte wieder.

„Wenn Darrin das nicht hinkriegt, dann kannst du das erstrecht nicht.“

„Tolle Theorie, wirklich toll!“ sagte Tony, der langsam sauer wurde. Warum musste Jana ihn permanent so herunterwirtschaften? Tony beschwerte sich nicht und er würde es auch weiterhin nicht tun, denn immerhin war Jana die Verlobte seines langjährigen besten Freundes. Er ließ sich wieder zurücksinken und starrte auf die triefend nasse Scheibe. Hoffentlich ging es Darrin gut. Tony machte sich einfach zu viele Sorgen um Darrin. Er sah auf seine Uhr. Sein Freund war gerade mal 4 Minuten weg.

„Schau mal!“ sagte Jana plötzlich und Tony schreckte hoch. „Da ist Licht!“

„Wo denn?“ Tony sah nichts.

„Na da!“

Tony starrte in die Richtung in die Jana zeigte, als diese plötzlich laut auflachte.

„Verarscht! Man du fällst immer wieder drauf rein!“

Tony wollte sich gerade einem kleinen Ausraster ergeben, als er wirklich einen schwachen Lichtpunkt auf Janas Seite ausmachte. Er starrte in die Richtung. Da musste etwas sein. Der Lichtpunkt verschwand, tauchte wieder auf, verschwand wieder. Tony wurde mulmig.

„Was hast du denn? Mich legst du nicht rein!“

Tony hörte gar nicht zu. Der Lichtpunkt flackerte immer noch in unregelmäßigen Abständen und langsam realisierte Tony, dass dort etwas auf sie zukam.

„Tony!“ sagte Jana scharf und schubste ihn.

„Was denn?“ giftete er zurück, doch schon musste Jana wieder so ekelhaft lachen.

„Du benimmst dich manchmal so schwul!“

Kaum hatte sie das gesagt, da wurde auf ihrer Seite die Tür aufgerissen. Jana schrie auf. Regen preschte ihr ins Gesicht. Tony wäre beinahe in ihren Schrei eingefallen, doch im letzten Moment sah er, dass Darrin dort zur Tür hereinspähte.

„Ich hab da was gefunden!“ brüllte er fast über das laute Prasseln des Regens hinweg. „Scheint ne Villa zu sein! Vielleicht sollten wir einfach mal hingehen.“

„Könnt ihr nicht erstmal allein gehen?“ fragte Jana, nicht grad begeistert und beäugte ihren klatschnassen Freund. „Wenn wir nicht reinkommen nützt uns eine Villa auch nichts.“

Tonys Blick fiel auf Janas High Heels und er grinste schief.

„Och, wieso willst du denn nicht mitkommen? Angst das dir ein Hacken abbricht?“

Jana gab einen beleidigten Ton von sich und blickte schmollend zu Darrin hoch. Der sah sich das einen Moment an und blickte dann zu Tony herüber. Ein angenehmes Kribbeln machte sich in Tony breit, als er Kontakt mit Darrins Augen aufnahm.

„Kommst du mit?“

Tony dachte nicht eine Sekunde daran, nein zu sagen. Er wollte einfach weg von dieser dämlichen Zicke und da war ihm selbst der Regen draußen recht.

„Na klar!“

Als Tony, nach ein paar Sekunden nass bis auf die Knochen, Darrin erreichte, hatte der bereits die Beifahrertür wieder zugeschlagen und Jana wahrscheinlich gesagt, sie solle warten. Tony watete mit Darrin an seiner Seite in Richtung des Lichts.

„Meinst du, da ist jemand?“ rief er über das Rauschen des Wassers hinweg.

„Kein Plan!“ rief Darrin zurück. Er legte einen Arm um Tonys Schultern und zog ihn mit sich. Tony wurde warm und er senkte schnell den Blick.

„Da geht’s lang!“

Sie bewegten sich im Laufschritt durch den Schlamm, der neben ihnen ein paar gute Zentimeter hoch spritzte. Bald schon meinte Tony die Konturen eines großen Hauses zu erkennen. Ja, vielleicht eine Villa, wenn Darrin nicht falsch lag. Aber wie kam hier eine Villa hin? Sie erreichten eine hölzerne Veranda. Darrin hechtete drei Stufen hoch und Tony folgte ihm schnell. Augenblicklich stand er im Trockenen. Der Wind pfiff eisig um sie herum. Tony fror erbärmlich. Doch jetzt sah er die Quelle des Lichts: Eine kleine hübsche Laterne, die neben der Tür baumelte. Sie schaukelte verdächtig heftig im Wind. Er trat näher. Auf

der Tür fand er eine eingeritzte Botschaft, die nicht so einladend aussah, wie ihr Inhalt.

„Was ist das?“ fragte Darrin und trat neben Tony.

„Seid Willkommen, Besucher“, las Tony vor. „Fürchtet euch nicht, tretet nur ein. Fühlt euch wohl, denn es wird einzigartig sein.“

„Netter Reim“, sagte Darrin lachend und sah sich dann die Tür genauer an. „Ist nicht abgeschlossen.“

Darrin öffnete frank und frei die Tür. Tony sah ihn mit großen Augen an.

„Das ist ne Einladung!“ sagte Darrin achselzuckend und spähte hinein, dann verschwand er vollkommen in dem Haus. Tony folgte ihm langsam. Es blitze auf. Darrin hatte einen Lichtschalter gefunden.

„Wow“, sagten die beiden gleichzeitig und sahen sich mit großen Augen um.

„Der Hammer!“ staunte Darrin und Tony konnte ihm nur zustimmen.

Vor ihnen erhob sich ein weiter Raum, der größer war als drei normale Räume und doppelt so hoch. Direkt vor ihnen lag eine schneeweiße Treppe, die hinauf ins obere Stockwerk führte. Der Boden bestand aus einem wunderschönen Mosaik, dessen Farben zu leuchten schienen. Links und rechts waren zwei hohe dunkle Türen, die wohl in weitere Räume führten. Eine angenehme Wärme schlug ihnen entgegen. Tony meinte sogar etwas unheimlich Gutes zu riechen. Die Tür hinter ihnen klappte zu.

„Wie geil“, Darrin zog seine verdreckten Schuhe aus und ging hinüber zur Treppe. „Das nenn ich mal geile Semesterferien.“

Tony machte es ihm nach.

„Was steht denn dort auf den Messingplaketten?“ fragte er und deutete auf die Treppenbalken, auf denen zwei elegante Adler hockten.

„Suicide Apartment!“ sagte Darrin prompt und legte den Kopf schief. „Was heißt das Tony?“

Tony trat näher heran und begutachtete die Worte. Er studierte Anglistik und wusste, dass es um Darrins Englischkenntnisse ziemlich schlecht stand.

„Suicide heißt so viel wie Selbstmord“, sagte Tony.

„Wieso sollte sich jemand umbringen, der so viel Luxus hat? Ist doch geil!“ meinte Darrin und zuckte verständnislos mit den Schultern. „Hast du so was schon mal gesehen?“

Tony schüttelte vorsichtig den Kopf und durchmaß mit seinen Augen den Raum. So gigantisch … Er merkte, dass Darrin ihn ansah und erwiderte den Blick.

„Was ist denn?“ fragte er. In Darrins Blick lag dieser Ausdruck, der nur noch entstand, wenn Jana weit weg war. Das geschah bei weitem nicht oft.

„Du hast mir echt gefehlt“, sagte Darrin und starrte auf das Mosaik unter seinen Füßen.

„Ach, ich bin doch wieder da“, erwiderte Tony und schluckte. Das hatte er jetzt nicht erwartet, aber er konnte verstehen, warum Darrin gerade jetzt so etwas sagte. Dieser Raum strahlte so eine wohltuende Atmosphäre aus. Tony hatte nach dem Abitur ein Jahr in England verbracht. Mit Darrin war er seit der 1ten Klasse befreundet gewesen. Die Jungen waren durch dick und dünn gegangen. Für sein geplantes Studium hatte sich Tony für ein Auslandsjahr entschieden, während Darrin mit seinem Biologiestudium begonnen hatte. Tony erinnerte sich noch genau an den Abschied am Flughafen. Darrin hatte ihn damals gefahren, da seine Mutter hatte arbeiten müssen. Beinahe hätte Tony es damals nicht über sich gebracht Darrin loszulassen, als dieser ihn umarmt hatte. Keiner hatte etwas gesagt und Tony war nachher im Flugzeug in Tränen ausgebrochen. Wie peinlich … aber er hatte nicht mehr anders gekonnt. Als Tony dann zurückgekommen war und es kaum erwarten konnte Darrin endlich wieder zu sehen, war bereits Jana in sein Leben getreten. Jana … Darrins Freundin, kurz darauf seine Verlobte. Tony hatte es das Herz gebrochen, aber das war der Teil, den Darrin nicht kannte. Und was Jana anging …

„Wollen wir nicht noch …“ Tony deutete auf die Tür in die Richtung, in der er das Auto vermutete.

„Ja“, sagte Darrin abwesend und schüttelte irritiert den Kopf. Tony fragte sich unweigerlich, was ihm wohl gerade durch den Kopf gegangen war. Darrin machte Anstalten an ihm vorbei zur Tür zu gehen, blieb dann aber neben Tony noch einmal stehen.

„Nächstes Mal, machen wir mal wieder was allein, okay?“

Tony nickte nur und sah Darrin hinterher, wie er sich die Schuhe anzog und wieder hinaus in den kalten Regen lief, der mittlerweile schon abgenommen hatte.
 

Darrin blieb noch kurz auf der Veranda stehen. Es regnete kaum noch, doch der Boden war weiterhin aufgeweicht und schlammig. Seufzend sah Darrin hinunter auf seine dreckigen Schuhe. Sie waren kaum noch wieder zu erkennen. Vielleicht hätte er dem Wetterbericht vor ihrer Abreise mal Gehör schenken sollen, aber das war nicht wirklich Darrins Art. Er sah sich noch einmal um. Tony hatte sich auf einer der untersten Treppenstufen niedergelassen und den Kopf in die Hände gelegt. Darrin spielte mit dem Gedanken noch einmal zurück zu gehen. Jana würde sicher noch etwas warten können, aber er verwarf die Idee und stapfte hinaus in den Schlamm. Seine Füße wurden langsam nass, aber Darrin hatte eigentlich schon viel früher damit gerechnet. Er ignorierte das, zog seine feuchte Jacke dichter um sich und setzte tapfer einen Fuß vor den anderen. Der Wind war immer noch stürmisch und kalt. Besonders mit der nassen Jacke fror Darrin unangenehm doll.

Bald schon kam das Auto in Sicht und Darrin schritt etwas großzügiger aus. Jetzt, wo der Himmel sich langsam lichtete fragte er sich, welcher Esel ihn geritten hatte diesen Feldweg einzuschlagen. Es dämmerte. Nur noch ein paar Minuten und es wäre wieder einmal vollständig dunkel. Langsam hasste Darrin die Dunkelheit. Er dachte daran, wie sie geplant hatten Sommer und Sonne an der Ostsee zu genießen. Aber der Sommer hatte sich kurzzeitig dazu entschlossen doch lieber etwas Regen zu spendieren. Darrin hatte es bereits aufgegeben sich darüber aufzuregen. Er spähte neugierig in Richtung seines Toyotas und stellte erschrocken fest, dass Jana nicht mehr drin saß. Darrin stutzte und blieb stehen. Das unangenehme Halbdunkel musste ihm einen Streich spielen. Sie hatte das Licht ausgeschaltet, so viel war klar, aber wo konnte sie dann hingelaufen sein?

„Jana?“

Darrin ging jetzt schneller, immer weiter auf das Auto zu.

„Jana?!“

Vielleicht war sie eingenickt und lag jetzt auf dem Sitz ausgestreckt. Darrin begann zu rennen, erreichte die Autotür und riss sie auf ohne einen weiteren Blick zu verschwenden. Jana fiel ihm entgegen. Erschrocken fing Darrin sie auf. Er sah hinunter auf ihren braunen Haarschopf.

„Schatz?“

Sie war schwer in seinen Armen, obwohl sie nicht mehr als 56 Kilogramm auf die Waage brachte.

„Jana?“

Sie hatte niemals einen so festen Schlaf … niemals. Aber vielleicht legte sie ihn rein. Manchmal konnte sie einfach nicht damit aufhören andere reinzulegen.

„Jana, komm schon. Das reicht“, sagte Darrin geduldig, doch sie rührte sich nicht. Darrin setzte sie schräg auf den Sitz, wollte wieder etwas sagen, als es ihn eiskalt durchfuhr. Ihr Körper fiel nach hinten, wie der einer Stoffpuppe. Ihr Rücken krümmte sich in einem Bogen über dem Schalthebel. Das ganze weiße T-Shirt, dass sie getragen hatte war besudelt mit etwas rotem … etwas, dass verdammt nach Blut aussah und den Mittelpunkt des ganzen Bildeten drei Einstiche, die pervers genau ein gleichschenkliges Dreieck bildeten. Für Sekunden starrte Darrin seine Verlobte nur an. Ihre Arme hingen kraftlos an ihrer Seite. Die Augen waren weit aufgerissen und so verdammt leer.

Darrin stolperte ein paar Schritte rückwärts und bekam kein Wort mehr über die Lippen. Er drehte sich hastig um. Sein Blick fiel auf das kleine einladende Licht in der Ferne.

„TONY!!!!“
 

Langsam ließ sich Tony auf einer der untersten Treppenstufe nieder und sah sich noch einmal kurz um. Die Wärme kroch langsam in seine Glieder und ihm wurde viel wohler, obwohl sein Hunger bald nicht mehr auszuhalten war. Müde ließ er seinen Kopf auf die Hände sinken und schloss die Augen. Hoffentlich fanden sie hier einen Platz zum Schlafen. Es würde bald wirklich dunkel werden. Seine Gedanken schweiften ab verhedderten sich in einem Gewirr von Bildern und Tony glitt langsam in einen Traum, aus dem er kurz darauf jäh erwachte. Seine Arme hatten seinen Kopf nicht mehr halten können. Er wischte sich benommen über das Gesicht. Seine Glieder fühlten sich so schwer an. In seinem Kopf schien es zu dröhnen.

Plötzlich hörte er Schreie. Tony wurde blitzschnell wach und sprang auf. Da schrie jemand seinen Namen! Das musste Darrin sein. Tony wollte losrennen, doch sein Kreislauf machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Mit wackligen Beinen klammerte er sich an einen der Treppenpfosten, während vor seinen Augen kleine Sterne tanzten. Die Schreie kamen näher.

„Tony!“

Es klang panisch. Was war denn passiert? Tony blinzelte und der Schwindel legte sich langsam wieder. Er stolperte auf die Tür zu und sah schon Darrin auf sich zu rennen.

„Tony!“ Sein Freund erreichte ihn mit keuchendem Atem. „Tony! Jana …“

„Was ist denn passiert?“ Tony starrte Darrin hilflos an. „Was ist mit Jana? Wo ist sie? Mein Gott, beruhige dich doch!“

Tony blickte seinem Freund in die Augen. Langsam wurde ihm bewusst, was geschehen sein musste, aber glauben wollte er es nicht …
 

11ter August
 

Der Abend senkte sich langsam über Rostock. Tony stand am Balkonfenster seiner Wohnung in der Südstadt und starrte hinaus in den Himmel. Hier vom 11ten Stockwerk aus hatte er einen wunderbaren Ausblick über den Südring und nach Westen. Doch heute Abend war der Himmel wieder Wolken verhangen. Nur am Horizont brannte die Sonne noch und schickte ihre gelb leuchtenden Strahlen auf die Erde. Bald würden die Wolken sie ganz verdecken, noch bevor sie untergehen konnte. Kleine Wassertröpfchen glitzerten auf der Scheibe von Tonys Fenstern. Sie strahlten in demselben gelb wie die Sonne. Tony blinzelte, senkte den Kopf und ließ sich von den letzten wärmenden Strahlen streicheln. Bald war es wieder dunkel und Tony hatte gelernt die Dunkelheit zu fürchten.

Zugegeben, Jana hatte er nie wirklich gemocht, aber ihre Leiche dort in Darrins Auto liegen zu sehen, hatte in ihm ein unbeschreibliches Gefühl der Angst ausgelöst, die ihn jede Nacht wieder einzuholen drohte. Im Zimmer hinter ihm war es fast totenstill. Nur die Uhr an der Wand tickte leise. In der Nachbarwohnung lief sehr laut ein Fernseher. Tony entfernte sich vom Fenster, als die Wolken die Sonne erstickten und es langsam wieder anfing zu regnen. Seit ihrem kleinen Ausflug regnete es fast unentwegt. Langsam ließ sich Tony auf seinem Bett nieder und legte wieder den Kopf in die Hände.

Es klingelte an der Wohnungstür und Tony fuhr hoch. Wer konnte das sein? Mit klopfendem Herzen, weil er sich so erschrocken hatte, ging er hin und öffnete. Noch bevor er genau sah, wer dort vor ihm stand, umfingen ihn zwei zierliche und silberbehängte Arme und er hörte eine zarte Frauenstimme.

„Tony! Du bist wieder da!“

Tony reagierte reflexartig und erwiderte die Umarmung. Er roch ein bekanntes süßes Parfum und merkte endlich, wen er da vor sich hatte. Mit der rechten Hand berührte er das lange schwarze Haar, mit den weiß gefärbten Strähnen darin. Er schob sie leicht von sich weg und grinste.

„Mia!“

Mia grinste zurück. Ihre grünen Augen, die schwarz von Kajal umrahmt waren leuchteten ihn an. Ihre zierliche Gestalt stecke in einer schwarzen, sehr kuschelig anmutenden Strickjacke. Darunter trug sie ein schwarz weißes Top. Sie hatte einen schwarzen Mini an und trug abgelatschte schwarze Chucks. An ihren Handgelenken baumelten scheinbar hundert silbern glitzernde Kettchen und sie trug einen Pentagrammanhänger um den Hals. Ja … Mia. Genau so hatte Tony sie in Erinnerung und so stand sie nun vor ihm.

„Du hast dich gar nicht bei mir gemeldet!“

Ihre Arme hatten sich um seinen Nacken geschlungen und wollten ihn wohl gar nicht mehr loslassen. Tony wurde schmerzlich bewusst, wie Recht sie hatte. Kaum das er zu Hause angekommen war, hatte Darrin ihn zu diesem Ausflug an die Ostsee überredet und dann, als Jana getötet worden war, hatte er Mia ganz vergessen.

„Tut mir Leid“, sagte er und strich über ihre zarte glatte Wange. „Mir ist was sehr Übles dazwischen gekommen. Aber komm erst rein!“

Mia nickte, strahlte immer noch und ließ von ihm ab. Tony schloss die Tür und bemerkte dabei einen Mann, der schräg auf der anderen Seite des Ganges stand und zu ihm herüber sah. Er trug eine Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Tony meinte ihn schon mal gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern wo und schloss einfach die Tür. Mia hatte inzwischen auf seinem Bett Platz genommen, das mit einer kleinen Couch die einzige Sitzgelegenheit bot.

„Es ist schön, wieder mal hier zu sein“, sagte Mia fröhlich und grinste Tony an.

„Ging mir nicht anders“, sagte er und setzte sich zu ihr.

„Ich hab dich vermisst!“

Es klang kindlich, aber nicht unangenehm naiv. Sie wirkte einfach nur so süß, wie sie spielerisch ihre weiblichen Reize einsetzte. Tony lächelte sie wieder an und Jana und Darrin waren für einen Moment vergessen. Er zog Mia zu sich ran und küsste sie.

„Wofür war der?“ fragte sie lachend und strich durch seine Haare.

„Dafür, dass du so unheimlich süß bist.“

„Schleimer.“

Jetzt musste Tony auch lachen. Er und Mia waren eine Sache für sich. Sie waren kein Paar, das auf keinen Fall, aber ihre Freundschaft ging weit über körperliche Grenzen.

„Du musst mir alles erzählen, Süßer“, sagte Mia eifrig. Ihre Augen glänzten im schönsten Grün, das Tony je gesehen hatte. Ihm wurde heftig bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte.

„Kann das nicht warten?“, fragte er und rückte näher an sie heran. Sie lächelte einfach so unwiderstehlich und dieses süße Vergessen, das ihn überflutete war einfach zu schön. Ihre schlanken Beine die unter dem schwarzen Mini hervor lugten machten ihn fast etwas schwindelig.

„Ich möchte so gerne alles wissen“, sagte sie. Tony riss seinen Blick von ihrem aufreizenden Ausschnitt und sah wieder in ihre grünen Augen. Ihm ging etwas durch den Kopf, was er jetzt eigentlich fragen musste, denn ihr letztes Treffen lag mehr als ein Jahr zurück.

„Hast du jetzt ...?“

Er fand irgendwie nicht die richtigen Worte.

„Nein, ich habe immer noch keinen Freund“, beantwortete Mia seine unfertige Frage. Es schien sie nicht zu stören. Tony zog die rechte Augenbraue hoch und schubste sie rückwärts auf sein Bett.

„Warum nicht?“

„Warum sollte ich?“ kam die Gegenfrage. Ihr sonniges Gemüt schien unerschütterlich.

„Weil du …“, Tony stemmte sich über sie und sah auf sie hinunter. „Weil du wunderschön bist und jedem Mann den Kopf verdrehen könntest.“

„Das ist nicht immer ein Segen, Großer.“

Großer. Tony grinste schief. Er war genau ein Jahr älter als Mia, die in dem Jahr, als er in England war, ihr letztes Jahr an der Schule gehabt hatte. Vielleicht hätte er sie lieber fragen sollen, wie denn das ABI gelaufen war und ob diese Idioten, die Tony immer Prügel angedroht hatten, weil er Mia so nahe stand, es tatsächlich auch geschafft hatten. Aber irgendwie interessierten ihn im Moment ganz andere Sachen. In Gedanken war Tony schon weit weg von der Realität, als es wieder an der Tür klingelte. Tony fluchte leise, Mia lachte wieder. Während er sich mit gequälter Miene wieder der Tür näherte setzte Mia sich hin und strich ihr schwarzes Haar glatt. Diese Frau konnte einen Wahnsinnig machen.

Tony drückte die Klinke herunter und öffnete. Dieses Mal rannte ihn niemand um, aber beim Anblick der todtraurigen Mine seines Besuchers, erfasste ihn ein neuer Gefühlsschwall.

„Hast du kurz Zeit?“

Darrin sah an Tony vorbei und erblickte Mia im Türrahmen zu Tonys Allroundzimmer.

„Ich meine, wenn’s gar nicht geht …“

„Nein, nein, nein!“ Wehrte Tony ab und zog Darrin mit sanfter Gewalt in die Wohnung. „Es ist völlig okay, wenn du rein kommst. Überhaupt kein Problem.“

Darrin nickte Mia verlegen zu und zog seine Schuhe aus. Während Mia noch völlig trocken bei Tony angekommen war, glich Darrin mehr einer Wasserleiche, als einem lebenden Menschen. Tony nahm ihm die nasse Jacke ab und hing sie über seine kleine Badewanne, damit sie trocknen konnte. Er hörte Mia leise mit Darrin reden. Ach, sie hatte ja keine Ahnung. Weder Mia noch Tony hatten Jana wirklich leiden können, aber unter diesen Umständen würden sie das Darrin nicht gerade unter die Nase reiben. Er schien ihrer kleinen romantischen Liebesgeschichte sehr hinterher zuhängen und Tony verstand das nur zu gut. Warum auch immer. Darrin hatte Jana wirklich geliebt.

Tony trat aus dem Bad in den schmalen Flur und betrat den Wohnraum. Rechts von ihm befand sich seine kleine Küchenzeile. Links standen ein kleines Bücherregal und davor das Bett. Mia und Darrin hatten dort Platz genommen und Mia wirkte jetzt nicht mehr so unendlich fröhlich.

„Wo kommst du jetzt her?“ fragte Tony und reichte Darrin ein Handtuch, dass er aus seinem Bad mitgenommen hatte. Darrin nahm es an, hielt es aber nur fest ohne seine Haare abzutrocknen, oder wenigstens sein Gesicht. Tony war zum Heulen zumute.

„Ich war bei der Polizei“, sagte Darrin etwas tonlos und trocknete sich jetzt doch das Gesicht ab. „Sie haben keine Spuren, keine DNA Spuren, keine Fingerabdrücke, nichts. Sie haben lediglich herausgefunden, wem die Hütte dort gehört. Ist wohl nur ein stinkreicher Engländer, der von unserer Anwesenheit nichts mitbekommen haben will. Er sagt, dass er telefoniert hat, als der … Mord geschah. Leider gibt es dafür Beweise. Er war es nicht.“

„Keine Spuren“, Tony war ratlos. Wer hätte Jana umbringen sollen? Wer hätte dort gewesen sein können? Es war nichts gestohlen worden, das Auto war völlig unversehrt. Nur eine Leitung war kaputt gewesen, aber das diente höchstens als Ursache dafür, dass sie keinen Meter weiter hatten fahren können.

„Und die Autopsie?“ fragte Tony vorsichtig. Er streifte kurz Mias Blick. Sie schien ein wenig geschockt und hatte ihre Hand tröstend auf Darrins Arm gelegt.

„Ein einziger präziser Stich. Sofort tot …“, Darrin schluckte und ließ den Kopf hängen, doch dann sagte er noch etwas: „So präzise, dass es entweder perverses Glück oder ein geübter Stich gewesen sein kann. Die beiden anderen waren scheinbar nur Zierde.“

Tony schauderte. Ihm gingen so viele Sachen durch den Kopf, die er Darrin jetzt hätte sagen können. Aber die Sache war so aussichtslos, wie konnte er seinen Freund da mit leeren Phrasen belasten?

„Ich glaube so was … können nur Ärzte“, murmelte er. In England an der Uni hatte er viele Medizinstudenten kennen gelernt. „Vielleicht engt das den Täterkreis ein.“

„Oh ja“, sagte Darrin sarkastisch. „Und jetzt fragen wir mal alle Millionen Ärzte in Deutschland, ob nicht vielleicht jemand Jana erstochen hat. So ganz zufällig.“

„So war das doch nicht gemeint, Darrin“, sagte Mia sanft. „Tony wollte dir nur Mut machen. Das weißt du.“

Tony senkte den Blick und dachte nach. Die Lampe über ihnen sendete ihr weißes künstliches Licht auf sie herunter und Tony fühlte sich nicht ganz so panisch, wie die letzten Tage. Immerhin war er nicht allein. Die Sekunden verstrichen und keiner der drei sagte ein Wort. Niemandem fiel etwas ein und Darrins Gedanken schweiften immer wieder zur Landstraße, zu seinem Toyota und Janas Leiche, wie sich ihr Rücken über dem Schalthebel bog.

„Können wir irgendwas für dich tun?“ fragte Mia sehr einfühlsam, doch Darrin schüttelte nur mit dem Kopf.

„Vielleicht sollte ich einfach nur nach Hause gehen. Sie werden keinen Mörder finden.“

Klarer hätte er es nicht ausdrücken können, doch Tony tat es in der Seele weh, seinen langjährigen besten Freund so leiden zu sehen. Darrin erhob sich, gab Tony das Handtuch zurück und ging um seine Schuhe anzuziehen.

„Darrin!“ Tony stand hastig auf und folgte ihm. „Soll ich dich nicht lieber nach Hause bringen?“

Darrin schien einen Augenblick zu überlegen. Dann nickte er. Tony kehrte zu Mia zurück und sagte ihr, dass er Darrin nach Hause bringen müsse.

„Ich hab wirklich Angst, dass ihm was passiert, wenn er jetzt allein geht.“

Mia verstand das. Tony küsste sie dankbar und verließ dann mit Darrin die Wohnung im elften Stock. Es regnete immer noch in Strömen und die Ziolkowskistraße stand fast unter Wasser. Tony schüttelte mit dem Kopf. Das im August! Als würde der Himmel mit weinen.
 

Eine knappe Stunde später fuhr Tony sein Auto zurück auf den Parkplatz und kämpfte sich durch den Regen zur Haustür der Nummer 10. Durchnässt und mächtig niedergeschlagen betrat er den Fahrstuhl, drückte die Taste mit der 11 und ließ sich nach oben befördern. Es machte ihn nervös, dass Mia so lange auf ihn warten musste, aber sie war geduldig und würde sicher nicht böse sein.

„Elf!“ verkündete die Fahrstuhlstimme und Tony äffte sie genervt nach, als sie ihre knappe Aussage wiederholte. „Das Ding hat doch ’nen Sprung in der Platte“, murmelte er seufzend und zückte den Schlüssel für die Wohnungstür. „Mia? Ich bin wieder da!“

Er bekam keine Antwort. Tony machte ein dummes Gesicht und trat in die Wohnung. Sorgsam streifte er seine nassen Schuhe ab.

„Mia?“ flötete er, obwohl ihm schon irgendwie klar war, dass sie gegangen sein musste. Zugegeben, er konnte nicht erwarten, dass sie eine ganze Stunde lang auf ihn wartete. Tony seufzte und rieb sich die Stirn. Das alles machte ihm Kopfschmerzen. Er würde Mia anrufen und sie fragen, ob sie nicht Lust hatte den morgigen Tag mit ihm zu verbringen. Sicher würde ihr das gefallen. Er würde ihr versprechen, sich ganz ihr zu widmen. Frauen waren ja so kompliziert! Müde schlurfte Tony in sein Wohnzimmer und ließ sich wieder auf dem Bett nieder. Er spähte hinüber zu dem kleinen runden Tisch, der gegenüber von seinem Bett vor einer kleinen Couch stand und entdeckte einen Zettel.

„Bestimmt von Mia“, murmelte er und stand wieder auf. Er hatte richtig getippt. „Ruf mich bitte morgen an“, las Tony. Genau das, was er erwartet hatte.
 

12ter August
 

Tony rührte etwas gelangweilt mit seinem hübschen silbernen Löffel in seinem Kaffee. Mia saß ihm gegenüber und sah ihn gespannt an. Unsicher blickte Tony hoch und sah sie fragend an.

„Ist was?“ fragte er etwas unwirsch.

Heute war nicht gerade sein Tag. Von Janas Mörder war noch immer keine Spur und Darrin ging es zusehens dreckiger. Doch er hatte Mia versprochen, sich heute Zeit für sie zu nehmen, also konnte er sie wohl kaum wieder abwimmeln.

„Das mit Jana find ich wirklich schlimm“, sagte Mia vorsichtig und senkte den Blick. Das war eindeutig nicht das, was sie hatte sagen wollen, das sah Tony ihr an der Nasenspitze an.

„Ja“, meinte er trotzdem seufzend und rührte weiter in seinem Kaffee. Die schwarze Flüssigkeit schwappte leicht auf und ab. Er hatte Lust sie zum Überlaufen zu bringen, oder die Tasse einfach vom Tisch zu fegen, aber das durfte er nicht. Sie saßen in der Kröpeliner Straße in einem recht großen Café und heute strahlte die Sonne wieder vom Himmel, als wäre nie etwas gewesen. Tony war es eindeutig zu warm. Um sie herum bummelten Touristen und Shoppingfreunde durch die Straße und guckten ihnen neugierig beim Kaffeeschlürfen zu. Es war wie im Zoo. Aber Mia liebte dieses Café.

„Was wolltest du denn wirklich?“ Tony gab sich einen Ruck, ließ die Tasse, Tasse sein und sah Mia direkt an. Sie errötete leicht.

„Es ist dumm, so was jetzt zu fragen, wo du doch gerade so viele Probleme hast“, sagte sie, wirkte dabei irgendwie traurig und starrte nun ihrerseits auf ihre Eisschokolade.

„Mia, Süße, sag es einfach, du weißt, dass ich dir nichts übel nehme, außer du lügst mich an“, lenkte Tony ein und versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln. Mia schien etwas Mut zu schöpfen.

„Es geht halt darum …“ genau in diesem Moment begann das Handy, das neben Tonys Kaffeetasse auf dem Tisch lag, zu vibrieren. „Darrin ruft an“, verkündete das Display und Tony zögerte keine Sekunde abzunehmen.
 

Darrin lag wach auf seinem Bett. Er fühlte sich schrecklich. Träge drehte er den Kopf zur Seite um nicht weiter auf die graue Decke starren zu müssen. Er hatte die Vorhänge seines Zimmers fest zugezogen, wollte die Sonne nicht hereinlassen. Er sperrte alle Geräusche von draußen aus, wollte nicht hören, wollte einfach nur allein sein. Und er war allein. Darrin war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er das wirklich wollte. Jana war tot, jetzt war er allein. Ihm war zum heulen zumute. Schnell schloss er die Augen, um die Tränen zurückzudrängen. Darrin erinnerte sich noch so genau an damals, als er Jana kennen gelernt hatte. Wie noch einen Tag zuvor war der Himmel bedeckt gewesen und es hatte pausenlos geregnet …
 

Darrin ging geduckt und die Kapuze weit ins Gesicht gezogen, den Regenschirm wie einen Windschutz vor sich haltend, schnellen Schrittes durch den Rosengarten. Der Regen prasselte unaufhörlich und Darrin fluchte leise. Er lief schneller, seine Schuhe waren bereits durchgeweicht. Doch je schneller er zum Steintor kam, desto schneller würde er die erste Bahn nach Hause nehmen können. An der Kreuzung musste er stehen bleiben, denn die Fußgängerampel war auf rot umgesprungen. Darrin fluchte, als er sah, dass seine Bahn gerade an der Haltestelle zum stehen kam. Er blickte hektisch die Straße auf und ab. Nein, da war kein durchkommen. Die Autos zischten an ihm vorbei, von den Reifen spritzte Wasser. Darrin biss die Zähne zusammen. Dort zwischen den nächsten beiden kam er bestimmt durch, wenn er schnell genug war. Er wollte gerade ansetzten, war schon halb auf der Straße, als jemand ihn zurückzerrte. Darrin, nicht darauf vorbereitet, stolperte nach hinten und entging knapp einem LKW, der von der anderen Seite angerauscht kam. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er merkte, dass er nur knapp seinem sicheren Tod entgangen war. Rasch drehte er sich um und sah ein Mädchen mit ängstlichem Gesicht vor sich stehen. Ihre langen braunen Haare waren klitschnass, genau wie ihre Sachen. Sie war mindestens doppelt so durchgeweicht wie Darrin.

„Pass doch auf!“ sagte sie, wirkte etwas verlegen und wurde rot.

„Danke“, nuschelte Darrin, hielt seinen Regenschirm über sie und sah sie sich genauer an. „Ich hab den LKW wirklich nicht gesehen.“

„Das dachte ich mir“, antwortete sie, sah dann an ihm vorbei. „Es ist grün.“

Die Linie fünf, Darrins Bahn, war längst davongefahren, doch jetzt störte ihn das nicht weiter. Dieses Mädchen, das ihm das Leben gerettet hatte, löste in ihm mehr als Dankbarkeit aus. Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Jetzt wo Tony weg war, wo er kaum jemanden hatte, an den er sich wenden konnte, hatte er das Gefühl sie zu brauchen … und er hatte das Gefühl verliebt zu sein.

„Wie heißt du?“ fragte er anscheinend lässig, doch innerlich aufgewühlt, als sie die Straße nun bei Grün überquerten.

„Jana“, sagte sie geradeheraus.

Darrin nickte. Er meinte sie schon gesehen zu haben. Ob das an der Schule gewesen war? In der Wallstraße? Möglich war es. Die Schule war so voll gewesen, dass man selbst in zwei Jahren Unterricht dort längst nicht alle Gesichter gesehen hatte.

„Ich bin Darrin“, sagte er und hielt weiterhin seinen Regenschirm über sie.

„Bist du nicht der beste Freund von diesem Tony gewesen, auf den alle Mädchen abgefahren sind? Und der Tony, den fast alle Jungs aus meinem Jahrgang verprügeln wollten, weil er mit Mia zusammen ist?“

Darrin lachte über die vielen Fragen. Aber Jana hatte Recht. Darrin hatte gar nicht mehr zählen können, wie viele Mädchen Tony verliebt angestarrt hatten.

„Ja, der bin ich. Du warst in Mias Jahrgang?“

Sie nickte und lächelte ihn an.

„Ich hab das alles nie verstanden. Ich glaube ja Tony ist schwul“, sagte sie offen und Darrin musste wieder lachen.

Während er auf seine Bahn wartete, kam er in ein angeregtes Gespräch mit Jana, sie tauschten ihre Handynummern und trafen sich nach diesem Tag noch öfter.
 

… Darrin begann abzuschweifen, zog Parallelen, die ihm so eindeutig und doch sinnlos erschienen. Der Regen, als Jana aufgetaucht war … Hatte es nicht gerade aufgehört in Strömen zu gießen als er sie fand? Und was war mit Tony? Nicht eine Woche nach seiner Abreise war Jana bei ihm gelandet. Jetzt war Tony

wieder da und Jana war unwiderruflich fort. Darrin drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht in den Kissen. Wollte er jetzt Tony für alles verantwortlich machen? So ein Unsinn. Er schluckte schwer, stützte sich dann auf die Ellenbogen und sah sich wieder in seinem Zimmer um. Vielleicht sollte er etwas Licht hereinlassen, vielleicht sollte er sich aufraffen und einfach leben, denn noch war ihm nicht alles genommen. Darrin ließ sich mit dem Gesicht nach unten zurück auf sein Kissen fallen. Wieso dachte er nur so viel an Tony? Das war Jana gegenüber einfach nicht fair! Er versuchte sich ihr Bild zurück ins

Gedächtnis zu rufen, wie ihr braunes Haar sanft ihr Gesicht umspielte, wie sie lachte und wie sie ihn immer angesehen hatte. Darrin fiel es schwer zu atmen. Er drehte sich zurück auf den Rücken, starrte wieder zur Decke hoch. Wenn er schon Parallelen ziehen musste, warum fing er nicht damit an, dass er sie damals gebraucht hatte, weil Tony nicht erreichbar war. Jetzt brauchte er Tony, weil sie nie wieder erreichbar sein würde. Müde und zittrig hievte er sich hoch, griff zu dem Handy auf seinem Schreibtisch und wählte Tonys Handynummer.

„Ja?“

„Hey Tony … stör ich?“

„Darrin? Nein, nie, was gibt’s denn?“

„Könntest du … eventuell vorbeikommen?“

Tony zögerte eine Sekunde, schien nachzudenken, ein paar Dinge abzuwägen. Wo er wohl gerade war?

„Ich bin in ein paar Minuten bei dir. Ich nehme die Bahn.“

Darrin warf einen Blick auf die Uhr.

„Wo bist du?“

„Uniplatz. Na ja, so gut wie.“

„Die Bahn fährt in 5 Minuten von der Langen Straße“, Darrin merkte das seine Stimme tonlos klang. Er hörte einen Stuhl am anderen Ende der Leitung scharren.

„Okay, alles klar. Ich werd versuchen die zu schaffen! Bis gleich.“

„Bis gleich“, Darrin legte wieder auf und starrte noch eine Weile auf das Display. Dann stand er träge auf und öffnete langsam die Jalousien an seinem Fenster.
 

„Tony, wo willst du hin?“ Als Tony auflegte sah er, wie Mia fassungslos zu ihm hoch starrte. Sie war wütend, aber nicht nur das, sie war auch enttäuscht.

„Ich muss zu Darrin“, Tony hatte ein schlechtes Gewissen, aber konnte er denn seinen besten Freund in diesem Zustand allein lassen? Hastig kramte Tony in seiner Geldbörse und legte den Betrag für den Kaffee auf seine Untertasse. Er hatte kaum etwas getrunken.

„Aber du hast doch versprochen, dass …“

Tony saß auf heißen Kohlen. Wie konnte er jetzt so schnell erklären, was Darrin ihm bedeutete, wie konnte er Mia in 2 Sekunden Dinge erzählen, von denen er selbst kaum etwas wusste und wie konnte er ihr begreiflich machen, dass er doch nur zu gern Zeit mit ihr verbracht hätte?

„Ich ruf dich an“, versprach er und verließ fast fluchtartig das Cafe.
 

Darrin blieb am Fenster stehen und sah hinunter auf den grauen Asphalt. Die Sonne hatte sich ein paar Streifen durch die Wälle von Stein gebahnt und blendete unangenehm auf den Frontscheiben der Autos. Er empfand es als schmerzhaft und hätte am liebsten die Jalousien gleich wieder herunter gezogen. Darrin wohnte noch bei seinen Eltern, hier am Hafen in dieser unangenehmen dunklen Gasse. Er hatte auch noch sein altes Kinderzimmer, das schon so einiges mitgemacht hatte. Angefangen bei der ersten Übernachtungsaktion mit Tony von vor gut 10 Jahren, bis hin zu kleinen Experimenten mit Drogen und reichlich Alkohol.

Darrin lehnte die Stirn gegen die kühle Scheibe und seufzte. Das Glas beschlug. Darrin hob seinen Finger und schrieb Janas Namen auf die Scheibe. Die Buchstaben verschwanden sehr schnell wieder, doch Darrin wischte die letzten Reste mit der Hand weg und hauchte noch einmal gegen das Glas. Diesmal zierte Tonys Name das Fenster. Wieder wischte Darrin alles weg, schrieb, wischte, schrieb und wischte. Was verband die beiden nur? Wieso schloss sich in seinem Kopf immer ein Kreis? War er jetzt völlig durchgedreht oder hatte er noch nicht verstanden, dass Tony jetzt wieder zurück war und ihn nicht verlassen würde? Oder doch? Er blieb am Fenster stehen und starrte weiter hinunter in die hohle Gasse. Sein Toyota stand fast genau unter dem Fenster, dort, wo er ihn zuletzt geparkt hatte. Ein Pappkartonschild wies nun darauf hin, dass der Wagen zum Verkauf stand. Die Polizei hatte ihre Proben entnommen, ans Labor geschickt und absolut nichts gefunden. Jetzt suchten sie noch immer an Janas Körper herum. Vergebens. Der Kerl musste unheimlich gut vorbereitet gewesen sein. Präzise wie ein Mediziner.

Darrin ballte die Hand zur Faust, als hätte er ein Messer in dieser und führte sie langsam in Richtung seines Herzens. So war es nicht schwer, aber … wie konnte man so gut treffen ohne an einer Rippe abzurutschen? War das wirklich einfach nur Glück gewesen? Dummes Glück. Darrin lehnte die Stirn wieder gegen die kühle Scheibe. Hoffentlich war Tony bald da. Er hastete bestimmt grad von der Haltestelle hinunter in die Eschenstraße. Während Darrin das dachte klingelte es bereits an der Tür. Er stieß sich vom Fenster ab und lief etwas hastig aus seinem Zimmer und zur Wohnungstür. Ungeduldig riss er die Tür auf und sah einen besorgten Tony vor sich stehen.

„Wer ist da, Darrin?“ Tony erkannte die Stimme von Darrins Mutter, die aus der Küche klang.

„Es ist Tony!“ rief Darrin zurück und schaffte ein kleines Lächeln.

Darrins Mutter kam mit einem Geschirrhandtuch aus der Küche und lächelte Tony freundlich an.

„Hallo“, sagte Tony, grinste und kratze sich hinterm Ohr.

„Hallo Tony, du warst ja schon lange nicht mehr hier. Schön, dass du da bist.“

Sie schien erleichtert, dass sich noch jemand um ihren Sohn kümmerte und der noch nicht völlig in seiner Trauer versunken war. Die Hilflosigkeit, die sie ob dieses schlimmen Falles verspürte machte sie fast noch unsicherer, als Darrin selbst. Sie lächelte die beiden noch einmal an und verschwand dann wieder in der Küche.

„Ist dein Vater noch arbeiten?“ fragte Tony beiläufig.

„Ja“, sagte Darrin und schloss die Tür hinter Tony. „Du kennst das doch.“

Schon eigenartig wie wenig sich doch geändert hatte. Tony sah sich im Flur um, nahm den altbekannten Geruch wahr, den jede Wohnung individuell für sich beanspruchte. Es war angenehm wieder hier zu sein, nach so langer Zeit.

„Kommst du?“

Tony sah zu Darrin herüber, der sich umdrehte und traurig schlurfend in sein Zimmer trottete. Schnell folgte Tony ihm. Er betrat das Zimmer und fühlte sich überfallen von alten Erinnerungen. Ihm kann es vor, als wäre er hundert Jahre nicht hier gewesen, dabei war es doch nur ein Jahr gewesen.

„Man, es sieht alles noch so gleich aus“, murmelte Tony.

„Ja, was soll ich auch verändern?“ fragte Darrin etwas betrübt.

„Du hast sogar die Fahne vom letzten Schultag noch hängen“, sagte Tony und starrte auf die große Fahne, die über Darrins Bett hing. Es war eine Regenbogenfahne, die Tony spaßeshalber vom Rostocker Christopher Street Day mitgenommen hatte. Lange hatte er sich dort nicht aufgehalten, aber für eine

Fahne hatte es gereicht. Am letzten Schultag hatten dann alle im feuchtfröhlichen Zustand darauf unterschrieben. Ein besonders weiser Mitschüler hatte den Schriftzug: „Alles gayt vorbei!“ hinterlassen. Tony betrachtete seine Unterschrift um die Darrin nach dem 5ten Bier ein Herzchen gemalt hatte. Er grinste schief, war aber irgendwie traurig.

„Wieso sollte ich sie abnehmen?“ fragte Darrin jetzt und weckte Tony aus seinen Erinnerungen. „Ich mag sie. Auch wenn sie irgendwie schwul ist.“

„Magst du keine Schwulen?“ fragte Tony in Gedanken und las alle Schriftzüge noch mal. „Ich meine, es war schon lustig da.“ Womit er den Christopher Street Day meinte.

„Ach was, ich hab nichts gegen Schwule, das weißt du doch. Jana mochte sie nicht, aber …“

„Jana hat mich gehasst“, rutschte es Tony heraus und als er merkte, was er gesagt hatte biss er sich schuldbewusst auf die Unterlippe und sah Darrin entschuldigend an.

„Ich weiß“, sagte der nur leise. „Sie hat dich eben für schwul gehalten.“

Tony erwiderte nichts, dachte sich nur seinen Teil. Auf Tote sollte man nicht schimpfen, dass hatte ihm seine Mutter schon früh beigebracht. Darrin ließ sich schwungvoll auf sein Bett fallen und sah Tony dann an. Die Anwesenheit seines besten Freundes beruhigte ihn unheimlich. Darrin hatte das Gefühl ihn nur anfassen zu müssen und alles wäre wie früher. Aber war diese Phantasie nicht völlig übereilt?

„Möchtest du … vielleicht reden?“ fragte Tony etwas hilflos und setzte sich vorsichtig neben seinen Freund.

„Ja“, sagte Darrin, stützte das Kinn auf seine Hände und sah zu seinem Computer auf dem Schreibtisch herüber. „Ja, ich möchte reden.“

Tony nickte, sichtlich hilflos, sichtlich ängstlich etwas Falsches zu sagen. Darrin wandte sich ihm zu und sah ihn einen Moment an, dann lehnte er sich zurück, schob sich ein Kissen unter den Kopf und lehnte sich so gegen die Wand.

„Erzähl mir von England.“

Tony verschluckte sich, hustete und sah Darrin dann verwirrt an.

„Was?“

„Erzähl mir von England. Bitte. Ich brauch einfach nur etwas Ablenkung, okay?“ Darrin schien es todernst zu meinen. Tony blinzelte verstört.

„Ja, also ich meine“, stammelte er. „Es ist nichts Spannendes, nur Uni, lernen, Partys und unheimlich viel … Alkohol.“

„Sex meinst du“, berichtigte Darrin ihn und klang irgendwie amüsiert.

„Auch“, gestand Tony. „Jedenfalls nichts, was dich irgendwie ablenken könnte.“

„Nichts lenkt mich mehr ab, als ne schöne Story voller Alkohol und Sex“,

Darrin lachte, als Tony das Gesicht in den Händen vergrub und ganz rot anlief um die Ohren.

„Ich sag dir, es war so unheimlich geil“, murmelte Tony durch die Hände und sah Darrin zwischen seinen Fingern hindurch an.

„Erzähl“, meinte Darrin nur. Er drängte jeden schlechten Gedanken zur Seite. Tony war wieder bei ihm und Tony würde es schon schaffen ihn aus diesem Loch ohne Boden herauszuziehen. Darrin war sich sicher, dass sein Freund dafür noch sein allerletztes Hemd hergeben würde.
 

„Na ja, wie beschreibe ich es am Besten? Irgendwann stand ich dort auf dem Flughafen, verzweifelt auf der Suche nach meiner Gastfamilie. Ich fühlte mich ziemlich beschissen, hatte fast den ganzen Flug lang nur geheult. Was sollten die nur von mir halten, wenn ich mit meinen geröteten Augen und bis zum Umfallen erschöpft vor ihnen stand? Verzweifelt fragte ich mich endlich bis zum Haupteingang durch und blieb dann einfach dort und sah mich um. So viele Leute, wie sollte ich jemals die finden, die ich suchte? Etwa eine halbe Stunde lief ich ziellos auf und ab. Meine Schultern schmerzten unter dem schweren Rucksack und der Reisetasche. Ich begann mir vorzustellen, wie es wäre, wenn niemand kam. Könnte ich dann einfach nach Hause zurück? Könnte ich dann wieder völlig entspannt mir dir ins LT gehen und mir keine Sorgen machen um fremde Familien, die mich vergaßen? Das war schon eine hübsche Vorstellung, denn ich hatte wirklich keine Lust mehr hier zu bleiben und hier ein Jahr, zwei Semester, lang zu lernen. Du hast mir gefehlt, Mia hat mir gefehlt. Sogar die ganze alte „Stadtschule“ mit ihren ätzenden Treppen, die einen dauernd aus der Puste brachten und den Klos, die Nachmittags abgeschlossen wurden und es manchmal morgens noch waren. Ich dachte daran, wie wir immer im Rosengarten gesessen hatten, als es uns die 11te Klasse endlich möglich gemacht hatte, bei den „Großen“ lernen zu dürfen. Ich erinnerte mich sogar noch an die tolle Lindenstraße, in der wir unsere ersten 6 Jahre verbracht hatten. Als man klein war, kam einem alles noch so groß und toll vor. Selbst wenn das Gebäude einem fast auf den Kopf gefallen wäre. Geschichten der, später mit uns fousionierten, Goetheschüler zufolge, ging es uns noch ganz gut. Jemand erzählte mir mal, im „Goethe“, wie man es nannte, seien schon die Heizungen von den Wänden abgebrochen und Fenster aus den Rahmen gefallen. So was fällt mir immer ein, wenn ich alleine irgendwo herumirre und absolut nicht weiß wohin. Nach einer ¾ Stunde dann, dachte ich langsam darüber nach, ob ich nicht vielleicht irgendetwas verplant hatte. Vielleicht glaubten sie ich käme erst eine Maschine später, oder ich würde mit dem Taxi zu ihnen fahren. Du glaubst gar nicht, wie schrecklich es ist, wenn einen ewig diese Fragen quälen.

Zu guter Letzt hatte ich natürlich nichts falsch gemacht. Mein Gastbruder hatte mich schlichtweg vergessen. Er kam eine knappe Stunde zu spät in die Flughafenhalle gesprintet, sichtete mich und nahm sicher als erstes meinen flehenden Blick wahr. Tyler war sein Name. Er war 21, lebte bei seinen Eltern, studierte und er sah dir unheimlich ähnlich. Am liebsten wäre ich schreiend weggelaufen, aber dazu hatte ich gar keine Kraft mehr. Er fragte mich in lockerem und sehr umgangssprachlichem Englisch wie mein Flug gewesen sei und wie es mir ginge. Ehrlich gesagt bekam er nicht sonderlich viel aus mir heraus. Aber wenigstens nahm er mir die verdammte Tasche ab. Eine weitere Stunde später (ich verschlief die Fahrt im Auto) erreichten wir endlich mein neues zu Hause. Es war unbestreitbar gut. Ich bekam mein eigenes Zimmer (nicht grad sehr klein), direkt neben Tyler. Sie erzählten mir, dass es ihrem ältesten Sohn Dylan gehört hatte, der aber mittlerweile weggezogen war. Ich sagte zu allem „Ja und Amen“ und hoffte nur, dass sie mich endlich in Ruhe ließen.

Nun ja, so verging eigentlich meine erste Woche in England. Dann musste ich zur Uni und es wurde wirklich lustig.“

Tony versank in Gedanken und merkte kaum, dass Darrin so an seiner Geschichte kaum noch teilhaben konnte. Er ließ einiges Revue passieren. Bilder flossen an ihm vorbei. Darrin sah ihn nachdenklich gespannt an.

„Willst du nicht weitererzählen?“ fragte er vorsichtig.

Tony schreckte aus seinen Gedanken hoch.

„Oh, oh doch, natürlich“, stammelte er und schenkte Darrin ein gewinnendes Lächeln, für das er sofort belohnt wurde.

„Der Kerl sah also aus wie ich?“

„Tyler? Ja, das war ganz schrecklich.“

„So schlimm findest du mich?“ Darrin lachte.

„Nein! Aber dadurch hatte ich noch mehr Heimweh als ohnehin schon. Du weißt doch. Klein Tony ist ohne seinen großen Darrin verloren.“

Darrin lachte laut auf.

„Komm schon, erzähl mal lieber was von den Partys! Und den Mädels!“

Tony starrte hinunter auf seine Finger und schien nachzudenken. Wo machte er am besten weiter? Wie brachte er Darrin seine einschlägigen Erfahrungen näher?

„Na ja, da waren mehrere Mädels. Alle Namen weiß ich nicht mehr. Die hatten alle Hoffnung auf eine Beziehung, aber ich wollte das nicht. Wäre doch dumm gewesen, oder? Für ein Jahr? Nein, danke.

Und dann lernte ich William kennen …“

„Wo kam der her?“ fragte Darrin prompt und Tony blickte verwirrt zu ihm auf. Die Frage war so unvermittelt gestellt worden.

„Eifersüchtig?“ Tony grinste leicht, senkte aber schnell wieder den Blick. Er wusste, die wahre Antwort war „Ja“, aber so würde Darrin es nicht sagen.

„William war bei mir an der Uni. Er studiert Medizin und er ist Bester in seinem Studiengang, aber wenn du mich fragst ein wenig … überdreht. Nicht das er von seiner Person her anstrengend wäre. Ich würde sagen William hatte ziemlich komische Ansichten über die Welt. Er … mochte tote Dinge.“

Darrin zog die Augenbrauen zusammen.

„Mit so was gibst du dich ab.“

„Nein, das würde ich so nicht sehen. Ich hab William halt auf der Uni kennen gelernt. Er war eigentlich ein recht netter Kerl, wenn man ihn nur oberflächlich betrachtete. Ich mochte ihn eigentlich auch, aber irgendwann hab ich doch die Flucht ergriffen.“

Tony schwieg einen Moment, dachte an William zurück. Er war nicht hässlich gewesen, ein hübscher blonder junger Mann mit eisblauen Augen. Immer mit weißem Hemd und hellblauen Jeans. Fast unauffällig und sehr speziell.

„Wieso hast du die Flucht ergriffen?“ fragte Darrin, stieß sich von der Wand ab und sah Tony unheimlich gespannt an.

„Er wollte was von mir“, sagte Tony.

„Was denn?“ fragte Darrin etwas dümmlich.

„Na, was wohl?“ stellte Tony die Gegenfrage.

„Bah? Der war heiß auf dich?“ fragte Darrin etwas perplex und seine Augen wurden ganz groß. Tony unterdrückte ein Grinsen.

„Ja, genau das.“

„Und du hast ihn abblitzen lassen? Warum?“

Darrin war nicht ganz klar, warum ihn von dieser Geschichte jede Einzelheit interessierte, aber er wollte auf keinen Fall auch nur ein Detail verpassen. Hatte Tony ihn gemocht, womöglich noch attraktiv gefunden? Wäre Tony auf ihn eingegangen? Was hatte ihn davon abgehalten?

„Ja, mein Gott, ich war mir nicht unbedingt sicher, dass ich so direkt auf Typen stehe. Ich meine … ausschließen würde ich es eventuell nicht, aber ich meine … ja also … ich fand halt nichts an William. Er war mir einfach zu … kalt. Und er war mir vielleicht etwas zu anders.“

Tony schwieg wieder. Darrin starrte ihn immer noch gespannt an. Es verging eine Sekunde. Die Stille knisterte fast. Nur von draußen hörte man das Geschirr in der Küche klappern. Wahrscheinlich wusch Darrins Mutter wieder per Hand ab.

„Sag mal“, unter brach Darrin die Stille. „War dieser William der Einzige?“

Die Frage klang fast ehrfürchtig, sogar einen Hauch erschrocken. Tony presste die Lippen zusammen und schluckte. Langsam, ganz langsam schüttelte er mit dem Kopf. Wieder Schweigen. Darrin sah seinen Freund immer noch unentwegt an. Versuchte sich vorzustellen, was da in England abgegangen war. Tony war ein unheimliches Sahneschnittchen, keine Frage. Er hatte braune Haare, die sanft sein Gesicht umspielten. Die ebenfalls braunen Augen sahen aus wie blank polierte Murmeln. Tonys Augenbrauen und seine Wimpern waren so unnatürlich dunkel, dass sie fast wie gefärbt wirkten. Nur Darrin wusste, dass sie das absolut nicht waren. Noch dazu waren Tonys Augenbrauen so schmal und dezent geschwungen, als wären sie gezupft. Auch das war nicht der Fall. Seine Lippen waren zart und passten perfekt in dieses subtile Bild, dass Tonys Gesicht bot. Wie geschaffen für ein Portrait, das hatte ihr alter Kunstlehrer immer wieder betont, bis Tony ihn gebeten hatte, es doch bitte zu unterlassen. Tonys ganzer Körper schien auf Zierlichkeit und Perfektion aufgebaut zu sein. So empfand Darrin es in diesem Moment jedenfalls. Es war ein fast überwältigendes Gefühl. Janas Unterstellung an Tonys sexuelle Orientierung verstand er nun nur allzu gut. Er selbst hatte Tonys Vorzüge so in und auswendig zu kennen geglaubt, dass er sie mit der Zeit einfach übersehen hatte. War das alles so selbstverständlich gewesen? Tony trug ein weißes Hemd, dass seine zarte Statur etwas kaschierte. Darüber eine dunkle Strickjacke, deren Ärmel über seine zierlichen Hände fielen und eine dunkle Hose, die etwas zu lang für ihn war. Darrin bemerkte, dass Tony ihn jetzt wieder ansah. Seine Augen waren fast elektrisierend. Hatte Darrin jetzt völlig den Verstand verloren? Ihn durchzuckte die Vorstellung von Tony mit einem gesichtslosen Typen. Etwas in Darrin krampfte sich zusammen. Jana war in die hintersten Ecken seiner Erinnerung gerückt. Es war fast, als wäre sie nur ein hübscher Traum gewesen.

„Aber du hast nicht irgendwas Unanständiges mit einem von denen angestellt, oder?“ fragte Darrin ruhig. So ruhig fühlte er sich in Wirklichkeit gar nicht. Statt zu Antworten drehte Tony den Kopf zur Seite und starrte aus dem Fenster. Unsicher strich er sich die Haare aus den Augen und sagte dann entschuldigend:

„Doch, habe ich, aber wirklich nur ein Mal.“
 

Tony war noch nicht lange wieder von Darrin zurück, als sein Telefon klingelte. Mit noch einem Schuh am Fuß stolperte er rüber zu seinem Schreibtisch und nahm ab.

„Jaaa?“ fragte er gedehnt, klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter.

„Warum bist du einfach so abgehauen?“ Tony blinzelte verwirrt, kickte seinen Schuh zur Seite und bemerkte dann, dass es Mia war, die dort sprach.

„Ach Mia, Süße, bitte, es tut mir doch Leid, aber Darrin …“

„Ja toll, Darrin, immer höre ich nur Darrin, Darrin, Darrin!“

„Hey, komm das ist nicht fair!“

Mias Stimme klang aufgewühlt und hatte einen leicht hysterischen Unterton.

„Ich wollte mit dir reden! Merkst du das nicht? Darrin hätte sicher noch 10 Minuten warten können, meinst du nicht?“

„Mia, er hat seine Freundin verloren, es geht ihm …“ Tony stockte. Jetzt, wenn er so darüber nachdachte, war Darrin nicht wirklich depressiv oder Sonstiges gewesen. Etwas traurig und vielleicht war da dieser Melancholische Schimmer in seinen Augen, aber er hatte so viel Geredet, so viel gelacht, hatte alles über England wissen wollen.

„… es geht ihm einfach nicht gut!“

„Und? Hilft es, wenn ich dir sage, dass es mir auch nicht gut geht?“

„Mia bitte! Was wolltest du mir denn sagen?“

Sie schnaubte beleidigt.

„Jetzt muss ich das auch noch am Telefon mit dir abhandeln?“

„Du kannst auch noch vorbeikommen“, sagte Tony verbittert und wünschte sich eigentlich, sie würde nicht darauf eingehen. Musste sie ihm jetzt das Hochgefühl nehmen, das er von Darrin mitgenommen hatte? Er hatte nicht einmal gehofft Darrin so verständnisvoll zu finden, wie heute. Wie ruhig und sachlich er aufgenommen hatte, was Tony vermutete.

„Ich komme vorbei!“

Tony seufzte resignierend.

„Okay, wann bist du da?“

„In etwa 20 Minuten. Kommt drauf an, wie die Bahn kommt.“

Mia legte unvermittelt auf. Tony seufzte wieder und legte traurig den Hörer weg. Was war denn nur so wichtig, dass sie so einen Aufriss veranstaltete? Warum musste sie ihm jetzt alles versauen. Müde ließ er sich auf sein Bett fallen, streckte sich aus und starrte hoch an die Decke. Er schloss kurz die Augen und ließ einfach alles auf sich einströmen.

„Hey pretty boy.“

Ach dieser Satz, er hatte sich so fest gebrannt. Wieso hatte William ihn so angesprochen? Der Ton, dieser Hauch von Worten, so exakt artikuliert, als hätte er es darauf abgesehen ihn in Tonys Hirn zu brennen. Seine Aussprache war es gewesen, die Tony verabscheut hatte. Niemand den er kannte hatte je so deutlich jede Silbe betont, so exakt jeden Buchstaben klingen lassen.

Tony schlug die Augen wieder auf und ließ sich von seinem Bett hinunter auf den Boden rollen. Lustlos machte er seinen PC an. Seine prall gefüllten Musikordner sprangen ihm entgegen. Was hören? DHT? Cascada? Jan Wayne? Tony wusste es nicht. Vielleicht solle er alles in eine Playlist packen und einfach Random laufen lassen. Gesagt, getan. Seufzend lehnte er sich in seinen Schreibtischstuhl zurück und schloss wieder die Augen. Wenn er jetzt nur einfach schlafen gehen könnte! Es war kurz vor 11 Uhr. Mia kannte scheinbar keine Gnade. Tony ließ den Bass auf sich wirken und wünschte er könnte so weit aufdrehen, dass seine Schranktüren vibrierten, so wie er es am liebsten hatte. Aber wenn er das tat, würde sein Nachbar ihn lynchen und das hielt Tony für weniger gut. Gelangweilt ließ er seinen drehbaren Stuhl von links nach rechts trudeln und wollte gerade einnicken, als die Türklingel ihn wieder hochjagte.

Tony fuhr aus dem Halbschlaf hoch und rannte sofort zur Tür. Sein Körper protestierte, als er zur Türklinke griff und Tony wurde einen kleinen Moment fast schwarz vor den Augen. Er schüttelte den Kopf um den Schwindel zu verjagen und öffnete dann die Tür.

Mias Mine wirkte wie versteinert. Tony bemühte sich, nicht zu seufzen und trat zur Seite um sie rein zu lassen. Entmutigt schloss er die Tür hinter ihr und ging dann selbst, die Hände tief in den Taschen, zurück in sein Wohnzimmer.

„Was gibt es denn jetzt?“ fragte er und sah auf Mia hinab, die mit immer noch säuerlicher Miene auf seinem Bett saß.

„Du bist so ein Ochse!“ zischte sie. „Was glaubst du denn, was ist?“

Tony hatte keine Lust auf Ratespielchen und das machte er ihr mit einem Blick klar. In Mias Augen begannen Zornestränen zu schimmern.

„Wie lange kennen wir uns? Seit bestimmt 3 Jahren!“

Tony setzte sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl und suchte den Titel des Tracks, den sie gerade hörten. Attention von Commander Tom.

„Und weiter?“ fragte er müde.

„Und weiter? Wie oft hast du mich mit hübschen Worten eingelullt. Ich hätte jeden Typen haben können an der Schule! Aber ich hab ja immer gedacht, dass du dich irgendwann mal dazu herab lassen würdest mich wirklich zu nehmen!“

„Was jetzt?“ Tony wurde wieder etwas klarer im Kopf. „Ich hab dir immer gesagt, dass du dir einen Freund suchen sollst. Ich hab dich nie an mich gebunden! Was willst du denn?“

„Raffst du das nicht? Ich will endlich eine Beziehung mit dir!“

Tony vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte tief. Auch das noch. Wie hatte er glauben können, dass alles so weiterlaufen würde wie bisher?

„Man, Tony“, tränenerstickte Stimme, ein leichtes Zittern. „Ich liebe dich, ich will keinen anderen Typen. Du bist einfach der Beste. Du bist total hübsch, alle hätten dich gerne …“

„Ja, das ist aber auch alles!“ fiel Tony ihr ins Wort. „Du genießt die Aufmerksamkeit. Oh toll, du vögelst Tony, alle stehen auf Tony, aber du darfst ran oder was?“

Mia sah ihn einen Moment schweigend an. Eine lautlose Träne rollte über ihre Porzellanwange.

„Aber so sollte das doch gar nicht …“, fing sie an. Tony kannte diesen Ton. Es war der, den er immer zu hören bekam, wenn Mia merkte, dass sie sich völlig falsch benahm.

„Du bist doch so eine arrogante Frutte! Dir geht’s gar nicht um mich! Dir geht’s um mein Face und um den Sex, aber nicht um mich!“

Tony war aufgesprungen. Er redete sich in Rage, dabei musste er doch ruhig bleiben und aufhören zu herumzuschreien. Was sollten denn die Nachbarn denken?

„Das stimmt doch gar nicht!“

Mia hatte sich wieder gefasst. Sie war auch aufgestanden und heulte nun und presste ein Taschentuch, das sie irgendwo hervorgefischt hatte, gegen ihr Gesicht.

„Natürlich geht’s mir um dich! Aber du interessierst dich eigentlich gar nicht für mich. Dich interessiert nur Darrin! Tony, können wir nicht endlich zusammen sein?“

„Nein!“ sagte Tony prompt.

Mia wirkte geschockt ob dieser unbeugsamen Abfuhr. Sie heulte nur noch mehr.

„Und warum nicht?“

Tony verschränkte die Arme und starrte auf den Boden zu seinen Füßen.

„Es geht einfach nicht. Es war immer schön mit dir, aber nicht vollkommen. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich … dass ich eben … auf Männer stehe! Ich bin schwul, okay? Ich bin einfach nicht dafür geschaffen mit einer Frau zusammen zu sein. Wenn du nicht gewesen wärst, dann hätte ich vielleicht nie eine angerührt.“

Tony kam gar nicht weiter in seinen Ausführungen. Mia begann haltlos zu schluchzen.

„Du mieser Scheißkerl!“ würgte sie hervor und wischte energisch mehr und mehr Tränen weg. „Du bist ne Tucke! Das ist also dein Problem. Du bist einfach nur ne scheiß Schwuchtel! Du bist so widerlich!“

Sie rannte hinaus in den kleinen Flur und riss die Tür auf. Tony zitterte vor Wut. Da lief sie, seine beste Freundin.

„Du kannst mich mal, du miese Schlampe!“ rief er ihr hinterher, kurz bevor die Tür zuklappte. Mia war fort. Und alle Nachbarn waren jetzt auf dem neuesten Stand der Dinge.
 

13ter August
 

„Das ist wirklich mies“, Darrins Stimme hatte immer noch diesen traurigen Unterton, den Tony sich sehnlich wegwünschte. Aber er wusste, dass die ganze Sache nicht spurlos an Darrin vorbei gehen konnte.

„Ja“, stimmte Tony einsilbig zu. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und stand mit gesenktem Kopf an der Straßenbahnhaltestelle in der Langen Straße. Am Vormittag hatte er sich selbst dazu überredet Darrin anzurufen und sich ein wenig bei ihm auszuheulen. Was auch immer das bringen sollte, denn schließlich ging es Darrin vergleichsweise schlechter. Darrin hatte daraufhin vorgeschlagen, dass sie sich vielleicht ein ruhiges Plätzchen suchen sollten und Tony war spontan auf den Zoo gekommen. Was für eine bescheuerte Idee, aber wenn es um eine gewisse Ruhe ging, dann würden sie die da sicher finden.

„Ach, das regt mich total auf!“ legte Tony los, als die Linie 6 vor ihnen hielt und die beiden Studenten einstiegen. „Wie kann sie so mit mir reden?! Sie tut gerade als wäre ich irgendwie total …“

„Psst“, machte Darrin und schubste Tony sanft auf einen der Doppelsitze.

„Ja, sie tut gerade so, als wärest du total abartig, aber schreie bitte nicht so laut, okay?“

„Ja“, brummte Tony schlecht gelaunt und starrte missmutig aus dem Fenster. So was nannte sich beste Freundin, pha!

„Sie ist einfach nur eifersüchtig“, sagte Darrin und betrachtete Tonys verfinstertes Gesicht.

„Das ist mir so scheißegal“, knurrte Tony.

„Ist es nicht“, sagte Darrin prompt. Tony wandte ihm das Gesicht zu und wollte gerade Luft holen um etwas zu sagen, als ihm die Worte einfach im Hals stecken blieben. Er wollte sich nicht mit Darrin streiten, da hielt er lieber die Klappe.

Keine 20 Minuten später standen sie vor dem kleinen Teich im Zoo und sahen den Enten und ihren Artgenossen beim plantschen zu. Darrin starrte etwas verträumt ins Wasser hinunter, Tony war ins Grübeln verfallen. Er wusste ja selbst nicht, was er wollte. Einerseits war er so wütend auf Mia, andererseits machte es ihn verdammt traurig, sie auf diese Art und Weise verlieren zu müssen.

„Oh man, was soll ich denn jetzt machen?“ murmelte Tony und fuhr sich durch die Haare. Darrin erwachte aus seinen Gedanken und sah seinen Freund von der Seite an.

„Vielleicht solltest du sie erst einmal ein wenig runter kommen lassen und dann einen neuen Versuch starten, mit ihr zu reden, oder nicht?“

Tony nickte und presste die Lippen zusammen. Darrin rückte etwas näher zu ihm herüber und stupste ihn leicht an.

„Hey, komm schon. Das wird wieder. Mia ist doch nicht … gestorben.“

„Schuldigung“, nuschelte Tony und ließ den Kopf hängen.

„Wofür?“

„Dir geht es so schlecht und ich nerve dich mit irgendwelchem belanglosen Scheiß. Du hast Recht. Ich sollte mich nicht so wichtig nehmen.“ Tony schluckte und kniff die Augen fest zusammen um seine Tränen zurückzuhalten. Seit er wieder hier war, lief einfach alles schief. Was machte er nur so grundlegend falsch?

„Das wird schon wieder“, sagte Darrin ruhig. „Ja, das Leben geht schließlich für uns weiter.“

Tony wischte sich übers Gesicht und nickte.

„Und nächste Woche redest du noch mal mit Mia. Sie wird das schon irgendwie verstehen, da bin ich mir ganz sicher.“

Tony nickte wieder und fühlte sich so dankbar. Was hätte er nur ohne Darrin gemacht? Schaudernd atmete er durch und sah auf das glitzernde Wasser des Teiches. Das Licht der Sonne verfing sich in den sanften Wellen. Wenn sogar Darrin daran glaubte, warum sollte die Sonne dann nicht irgendwann wieder für sie beide aufgehen?

Darrin und Tony schlenderten gemächlich durch den Zoo, beobachteten hier eine Mutter, dessen Kind sie systematisch in den Wahnsinn trieb und dort einen Opa, der seinen Enkel in die Geheimnisse der Eisbären einwies. Sie überfielen den Spielplatz und freuten sich bald mehr als kleine Kinder über Schaukeln und Klettergerüste.

„Oh man“, Tony ließ sich lachend auf eine Bank fallen. Das tat so gut. Darrin setzte sich neben ihn, auch er lachte.

„Geistiges Alter?“

„6 ½“, prustete Tony und rang nach Luft. Er ließ seinen Kopf auf Darrins Schoß fallen und legte sich rücklings auf die Bank. Glücklich sah er zu seinem besten Freund hoch und verfing sich in dessen Augen. Meerblau. „England war ne scheiß Idee, oder?“

„Ja, England war ne scheiß Idee, aber das kriegen wir wieder hin.“

Beruhigt schloss Tony die Augen und atmete die sanfte Brise ein, die durch seine Haare strich. Oder waren das Darrins Finger?

„Alles Tucken“, murmelte er schläfrig. „Meinst du wirklich ich bin auch eine?“

„Ich glaube, das musst du selbst wissen, aber ich denke, das musst du nicht so eng sehen. Es gibt zwar nicht ein bisschen schwanger, aber ein bisschen schwul schon.“

Tony drehte den Kopf zur Seite und öffnete die Augen einen Spalt weit. Er sah die kleinen Steinchen auf den abgetretenen Wegen.

„Du meinst, dass ich vielleicht Bi bin?“ fragte er leise.

„Ja, das mein ich“, stimmte Darrin zu.

„Aber ich will nicht mit Mia zusammen sein. Ficken würde ich sie schon.“

„Böser Junge“, Darrin schlug ihn sanft auf die Wange und Tony bemerkte, dass gerade eine Frau mit zwei kleinen Kindern an ihnen vorbeigegangen war. Er musste wieder lachen.

„Vergleich es doch mal“, meinte Darrin. Tony spürte an den Bewegungen seiner Beinmuskeln, dass er sich zurücklehnte. „Wie war es mit Mia und wie mit dem Kerl in England?“

Tony grinste schief.

„Mit Mia war es sehr aktiv. Mit dem Typen halbwegs passiv.“

„Gut das reicht“, sagte Darrin schnell, lachte aber. Tony liebte es ihn lachen zu hören. Er drehte den Kopf wieder und sah zu Darrin hoch. Wenn er jetzt … nein, der Zeitpunkt war nicht gut.

„Was magst du denn lieber?“ fragte Darrin noch immer grinsend. Er legte seine Hand auf Tonys Bauch ab und schaute ihn fragend von oben herab an.

„Läuft da grad wieder ne Mami mit ihren beiden Schätzchen?“ fragte Tony kichernd.

Darrin sah sich um und schüttelte dann mit dem Kopf.

„Ich mag es gefickt zu werden.“

„Du könntest die Betonung von dem Wort nehmen und kein Mensch würde das für einen bösen Satz halten“, Darrin lachte wieder. „Tony, du warst schon immer der passive Typ. Das dir das jetzt erst auffällt.“

„Das hättest du mir ruhig vorher sagen können!“

„Du hast nie danach gefragt“, behauptete Darrin. Seine Hand rutschte etwas tiefer. Tony wusste genau, dass es Absicht war.

„Jetzt bist du dir sicher?“ fragte er und stemmte sich etwas höher. Dabei rutschte Darrins Hand unerwartet tief weiter ab. Der Blick der beiden lief an Tonys Bauch herunter zu seinem Gürtel, an dem jetzt Darrins Hand ruhte.

„Mutig, mutig“, meinte Tony, versuchte seine Stimme nicht zittern zu lassen.

Sie sahen sich an. Grinsten beide. Tony drehte sich ein bisschen und war nun mit Darrins Gesicht auf einer Höhe.

„Weiß ich da was nicht?“ fragte er.

„Worum geht’s?“ fragte Darrin unschuldig. Tony sah sich noch einmal um, niemand in Sicht, und schwang sich dann breitbeinig auf Darrins Schoß.

„Oh Mann, bist du schwer!“ alberte Darrin. Er musste jetzt ein kleines Stück zu Tony aufblicken.

„Ich hab dich vermisst, Darrin“, sagte Tony und legte die Arme um den Nacken seines Freundes. Darrin sah etwas abwesend zu ihm hoch. Tonys Gewicht war nicht wirklich unangenehm, es war eher angenehm.

„Sag mal Tony, wie ist das so? Mit nem Typen?“

Auf Tonys Lippen erschien ein subtiles Lächeln.

„Es ist … anders, aber es ist auch irgendwie … gut.“

„Gut …“, murmelte Darrin und starrte auf Tonys T-Shirt.

„Mit wem hast du geschlafen. Du hast mir keinen Namen gesagt. War es dieser William?“

„Nein, Tyler“, sagte Tony langsam, irgendwie schuldbewusst.

„Wie jetzt?“ Darrin sah wieder hoch in Tonys Gesicht. „Dieser Typ, der so aussah wie ich?“

Tony antwortete nicht mehr. Er beugte sich runter und küsste Darrin auf den Mund, doch unerwartet zuckte er zurück und senkte den Blick. Darrin war verwirrt.

„Tut mir Leid“, nuschelte Tony und fuhr sich vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Lippen. Sie schienen zu brennen, verlangten mehr. Tony wollte sich losreißen, aufstehen, von Darrin Abstand nehmen, doch er war unfähig sich zu rühren. Er fühlte einen kleinen Luftzug, eine Hand die sich in seinen Nacken legte und ihn an Darrin heranzog.

„Was ist, willst du warten bis die nächste Mami vorbeikommt?“

Tony brauchte nicht antworten. Natürlich wollte er das nicht. Er wollte nur hier sein, bei Darrin, so nah wie es nur möglich war. Ich liebe dich! Schrie er in Gedanken, brachte doch kein Wort über die Lippen, denn die waren von Darrins versiegelt.

„Ich bin ein Idiot, oder?“ fragte Tony. Darrins warme Hand lag immer noch in seinem Nacken. Sein Blick trübte sich.

„Kein Grund zu heulen. Du bist nicht der einzige Idiot hier, der sich erst ne Frau anlachen musste um festzustellen, dass der eigentliche Traumpartner seit Jahren vor ihm stand.“

„Wirklich?“ Tony wischte sich hastig über die Augen.

„Ja, und jetzt lass uns hier abhauen.“

Tony wollte immer noch heulen. Sollte jetzt alles wieder besser werden? Es war doch zu schön. Würde er Darrin jetzt für sich haben, diesen zerbrochenen Menschen, den er so liebte? Sicher musste doch irgendwas schief gehen. Doch der Moment zog sich hin. Darrin reichte Tony ein Taschentuch, denn er bekam den Tränenfluss nicht unter Kontrolle. Ja, jetzt würde alles besser werden. Mia würde das bestimmt irgendwie verstehen. Sie war doch nie wirklich verklemmt gewesen. Er und Darrin hatten viel falsch gemacht, aber sie würden ihr bestes tun, alles wieder in Ordnung zu bringen.

„Geht es wieder?“ fragte Darrin liebevoll, als Tony sich ein letztes Mal über die Augen tupfte. Die Parallelen, die er noch einen Tag zuvor unerklärlich gefunden hatte, lagen nun hübsch aufgereiht vor ihm. Er hatte Jana nur gefunden und behalten, weil ihm etwas anderes verloren gegangen war. Doch Darrin konnte nicht behaupten, dass er Jana nie geliebt hätte. Aber er hatte es gehasst, dass sie ewig hinterhältig zu Tony gewesen war. Und das, wo die beiden sich doch nur knapp 2 Wochen wirklich gekannt hatten.

„Ja, geht schon“, antwortete Tony. „Wo willst du jetzt hin?“

„Weg von den ganzen Tierchen“, Darrin lächelte und legte Tony einen Arm um die Schultern. „Und dann am besten zu dir, denn immerhin brauchst du eine kleine Pause.“

Tony nickte nur. Er fühlte sich ausgelaugt, doch mit Darrin an seiner Seite war es okay. Und dann klingelte das Telefon. Tony zuckte zusammen, als das Handy in seiner Hosentasche zu vibrieren begann. Darrin sah verwirrt auf ihn hinunter, als er merkte, was los war, begann er zu lachen. Tony grinste schief und fummelte das Handy aus seiner Tasche. Verwirrt blickte er aufs Display.

„Die Polizei?“

Darrin wurde sofort ernst.

„Geh ran!“

Tony gehorchte: „Ja?“

„Herr Wendelin?“

„Ja, ganz genau. Bin dran.“

„Goswin am Apparat. Wo sind Sie? Wir stehen gerade vor Ihrer Wohnung. Es ist wichtig, dass wir uns sofort sprechen. Wir haben ein paar Fragen an Sie.“

„Aber, Herr Goswin, ich habe ein Alibi, Sie und Ihre Kollegen haben doch bereits alles überprüft.“

„Nun ja, das mag im Fall von Frau Jana Harder der Fall sein, aber darum geht es nicht. Ich bitte Sie unverzüglich zum Präsidium zu kommen.“

Tony war verwirrt. Was wollten die nur? Worum ging es, wenn nicht um Jana?

„Meinetwegen kann ich kommen. In einer halben Stunde müsste ich es schaffen. Ist das okay?“

„Sicherlich“, Tony meinte ein leises Seufzen zu hören. „Ich erwarte Sie in einer halben Stunde.“

Tony bestätigte das noch einmal und der Polizist legte auf. Irritiert drückte Tony die kleine Taste, mit dem roten Hörer, auf seinem Handy und sah dann zu Darrin hoch.

„Was gibt es denn?“ fragte der, genauso verwirrt wie Tony.

„Ich habe keine Ahnung, aber es muss irgendetwas passiert sein.“
 

Die Nacht war klar und kühl. Lautlos schlich er über den säuberlich gestutzten Rasen der Nummer 66. Kein Licht brannte mehr. Selbst die Straßenlaternen liefen nur noch im Sparmodus. Jede Zweite brannte leise summend vor sich hin. Er blickte zwischen den Reihenhäusern hin und her. Die Gärten waren klein, sehr klein. Vorsicht war geboten, denn er durfte keine Spuren hinterlassen. War der Boden sehr weich? Würden sie seine Fußabdrücke finden?

Er betastete den Rasen mit seinen Gummihandschuhen. Die Erde war fest und trocken. So wie es sein musste, nach den letzten Tagen Sonne und Wind. Trotzdem würde er nicht unachtsam über den Rasen wandern. Er ließ sich auf alle Viere hinab und kroch vorsichtig Stück für Stück auf die Verandatüren zu. Mit angehaltenem Atem erreichte er diese und drückte leicht dagegen. Sie gab nach. Wunderbar. Sie hatten tatsächlich wieder nicht abgeschlossen. Genau wie er es beobachtet hatte. Unachtsame Idioten. Aber das konnte nur zu seinem Vorteil sein. Er erhob sich von den Knien und betrat leise das Wohnzimmer. Hübsch eingerichtet, sauber und deutsch. Doch sein Interesse daran war ziemlich gering.

War alles ruhig? Schliefen alle? Es sah ganz danach aus. Leise und sorgsam, einen Fuß vor den anderen setzend, schlich er durch das Wohnzimmer, verließ es und schlich die Treppe hinauf zu den Schlafzimmern. Eine knisternde Ruhe begleitete jede seiner Bewegungen. Da war sie, die Tür die er suchte. Noch einmal ging er im Geiste alles durch. Täuschte er sich auch nicht? Nein, kein Zweifel möglich. Er hatte alles genauestens geplant. Es würde nichts schief gehen und der Hieb würde sitzen. Er berührte die Klinke. Sie fühlte sich seltsam an unter den Gummihandschuhen. Er fühlte sich seltsam in seiner sterilen Kleidung, aber er wollte nicht auffliegen und dazu war ihm jedes Mittel recht. Die Tür knarrte nicht. Er seufzte erleichtert, trat in das Zimmer. Ein wenig Licht von der nächsten Straßenlaterne fiel in den Raum. Und dort lag sie, friedlich schlummernd. Stumm wie eine Statue betrachtete er sie einige

Sekunden lang. Hass brodelte in ihm, auch wenn er sie kaum kannte, aber er hatte seine Ohren überall, er wusste alles und sie würde bereuen und wenn es erst in der Hölle war! Vorsichtig griff er in seine Tasche und zog eine Spritze hervor. Sie war leer. Natürlich, denn das war seine Mordwaffe. Vorsichtig zog er das eingesetzte Plaste - Teil zurück. Füllte den Hohlraum mit Luft. Mehr brauchte er nicht, nur Luft um ihr Blut zum schäumen und ihr Herz zum versagen zu bringen. Er hatte gehört, dass das Opfer unheimliche schmerzen erlitt dabei. Wenn es so war, würde er es gutheißen. Falls nicht … wer konnte schon nachweisen was die Toten fühlten? Er trat näher, beugte sich über sie, bereit für einen eventuellen kleinen Todeskampf. Man musste auf alles gefasst sein. Ihr schwarzes Haar fiel in zarten Wellen über ihr Kissen. Um ihren Hals trug sie noch eine silberne Kette. Der Ansatz ihrer Brüste funkelte bezaubernd unter der Decke hervor. Doch ihm war es egal. Er machte sich nichts daraus. Er wollte sie nur in einem Stadium sehen: tot.

„Goodbye, Honey“, flüsterte er bevor er die Spritze in ihrem Arm rammte und

die Luft in ihre Adern pumpte.
 

„Das ist voll unheimlich“, murmelte Tony, als er mit Darrin auf den Fersen das Polizeirevier betrat. Wenn Goswin wenigstens gesagt hätte worum es ging, aber Tony tappte völlig im Dunkeln. Er hatte keine Ahnung was ihm blühte.

„Wird schon nicht so schlimm. Vielleicht … ist deine Mülltonne explodiert, oder so“, meinte Darrin grinsend und rückte etwas näher zu Tony auf. „Ich denk mal nicht, dass es allzu schlimm wird.“

„Ich hoffe du hast Recht.“ Unsicher blieb Tony vor dem Büro von Richard Goswin stehen. Er sah Darrin noch einmal Trost suchend an. „Bis gleich.“

„Bis gleich, ich warte hier.“

Tony hätte Darrin gern noch einmal geküsst, aber er wusste, dass er sich dann nicht würde trennen können. Hier war einfach nicht der richtige Ort. Er klopfte an die Bürotür und wurde hereingerufen. Richard Goswin saß hinter seinem Schreibtisch, hatte sich zurückgelehnt und starrte etwas missmutig auf

seinen Computermonitor.

„Hallo, da bin ich“, sagte Tony und schloss unsicher die Tür wieder hinter sich.

„20 Minuten“, sagte der Polizist zufrieden. „Guter Schnitt Wendelin. Setzen Sie sich doch bitte.“

Er war aufgestanden und schüttelte Tony die Hand bevor der sich setzte.

„Nun … gut kommen wir zur Sache.“ Unbehaglich setzte sich Richard Goswin zurück an seinen Schreibtisch und musterte Tony kritisch. „Es tut mir Leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Freundin Mia Eich heute früh tot aufgefunden wurde. Wir stehen vor der Tatsache, dass Sie unter dringendem Tatverdacht stehen, deshalb war es für mich unumgänglich Sie sofort hierher zu holen.“

Kurzes Schweigen. In Tonys Kopf begannen die Gedanken umherzuwirbeln wie tausend kleine Tornados. Was hatte er gesagt? Mia? Tot? Hatte er das wirklich gesagt, oder träumte Tony?

„Wie bitte?“ fragte er atemlos. Sein Herz kam merklich ins Rasen. Er konnte das alles noch nicht fassen. Nahm die Worte nur langsam wahr. „Dringender Tatverdacht?“

Der Polizist antwortete nicht. War das eine Bestätigung? Seufzend holte er ein kleines schwarzes Diktiergerät aus einer der unzähligen Schubladen seines Schreibtisches.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne? Das erspart uns eine Menge Zeit.“

Tony nickte wie betäubt. Noch hatte er seine Lage nicht ganz realisiert. Noch kam nicht bei ihm an, dass er Mia verloren hatte. Für immer. So endgültig, wie Darrin Jana verloren hatte.

„Ich muss sie als Tatverdächtig vernehmen, das heißt, Sie müssen nichts sagen, was Sie belasten könnte und Sie haben das Recht auf einen Anwalt.“

Diese monotonen Anweisungen. Tony begann zu zittern. Sein Körper schien zu flirren. Ihm wurde heiß, dann eiskalt, so dass die Härchen auf seinen Armen sich aufstellten. Das schwarze Ding lag jetzt zwischen Ihnen. Nahm jedes Wort auf und hielt es unwiderruflich fest.

„Nun, Ihre Lage ist nicht besonders gut. Die Nachbarn sagen, dass Sie sich gestern Abend mit Frau Eich gestritten haben. Stimmt das?“

Tony starrte wortlos auf das Diktiergerät. Kältewellen flossen über ihn hinweg.

„Ja“, sagte er heiser.

„Worum ging es in dem Streit?“

Tonys Mund war trocken. Er betrachtete in Trance, wie Richard Goswin eine Akte hervorholte und sie vor sich auf dem Schreibtisch ausbreitete. Die Akte war blau, aber auffällig dick. Irritiert starrte Tony sie an. So dick, war das seine Akte?

„Worum ging es in ihrem Streit, Wendelin?“

Tonys Blick huschte zu ihm hoch. Er wollte ja reden, wollte beteuern, dass er nichts getan hatte, aber er brachte keinen Laut hervor. „Reden Sie mit mir, das macht es um einiges leichter.“

Tony senkte den Blick, starrte auf seine Schuhe. Jetzt langsam drang die ganze Grausamkeit der Sache auf ihn ein. Tot. Mausetot. Einfach weg.

„Es ging um …“, begann er, seine Stimme war kratzig, immer noch heiser. Sein Blick ertrank in den ungeweinten Tränen. „Es ging um uns beide. Es ging darum, dass sie mit mir zusammen sein wollte.“

Richard Goswin nickte. Stutzte dann und blätterte in der Akte.

„Waren Sie und Frau Eich nicht schon ein Paar?“

Tony sah langsam wieder hoch und schüttelte mit dem Kopf. Dann brach es einfach so aus ihm heraus: „Ich bin schwul.“

Einen Moment saßen sie sich in erdrückendem Schweigen gegenüber. Dann fing sich der Polizist wieder, strich etwas in der Akte durch, fügte eine Notiz hinzu und unterschrieb das Ganze.

„So“, sagte er tonlos. „Wir haben Frau Eichs Tagebuch gefunden. Aus dem geht hervor, dass sie beide zusammen waren und das schon bevor Sie ihr Auslandsjahr in England verbracht haben. Genau wie aus ihrem Tagebuch hervorgeht, dass sie sich gestritten haben. Allerdings haben den Streit auch die Nachbarn gehört …“

Wieder zögerte er einen Moment. Schien nachzudenken.

„Sie waren also nicht zusammen?“

Tony schüttelte mit dem Kopf, seine Hände bebten.

„Nein, waren wir nicht. Gestern wollte sie mich … mich dazu bewegen, aber ich habe ihr gesagt, dass ich …“

„Schon klar“, seine Stimme war gefasst und ruhig, Tonys hingegen schien sich jeden Moment überschlagen zu wollen.

„Aber dann erklären Sie mir bitte folgendes: Ich habe hier eine Kopie aus dem Tagebuch von Frau Eich. Es ist das einzige Beweismaterial das wir haben. Hier steht eine … sagen wir sehr intime Nacht mit Ihnen beschrieben. Streiten Sie ab mit ihr Verkehr gehabt zu haben?“

Eine süße Wortwahl. Tony hätte gelächelt, wenn sein Gesicht nicht so versteinert gewesen wäre, als hätte er es längst verlernt.

„Wir hatten Sex. Ja, sehr viel sogar, aber nicht mehr nach meiner Rückkehr. Ich habe meine Neigungen erst in England entdeckt.“

Klang er wirklich plötzlich so kalt wie ein Stein? War seine Stimme wirklich plötzlich frei von allen Emotionen? Der Polizist seufzte, schüttelte verwirrt mit dem Kopf und blätterte dann weiter.

„Herr Goswin?“

„Ja?“

Er blickte über den Rand seiner Lesebrille zu Tony auf.

„Wie ist sie gestorben?“

„Nun“, wieder ein Zögern. „Ich dachte, das könnten Sie uns sagen. Die Ärzte vor Ort meinten jemand hätte ihr Luft injiziert.“

Tony nickte, verstand aber nicht wirklich, was ihm da gesagt wurde. Er beschloss Darrin danach zu fragen, Darrin würde wissen was das hieß.

„Noch eine Frage, Wendelin. Besteht eine tiefere Beziehung zwischen Ihnen und Herr Koblenz?“

Tony nickte.

„Seit etwa 40 Minuten.“

Richard Goswin war nur noch verwirrter. Tony kam sich vor wie eine leere Hülle. Seine Stimme kam von weit, als gehöre sie nicht zu ihm, hätte ihr eigenes Leben.

„Wo waren Sie gestern Nacht zwischen Mitternacht und 2 Uhr?“

Jetzt kamen die Standartfragen.

„Zu Hause, und nein, das kann dieses Mal niemand bestätigen. Ich habe geschlafen, habe gehofft, dass ich mich wieder mit Mia vertragen könnte, dass sie verstehen könnte, dass ich sie trotzdem gern hab. Sehr sogar …“ Die erste Träne rollte über Tonys Wangen. „Ich hätte Ihr nie etwas tun können.“
 

Beta Version 16.08.10



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Laniechan
2009-09-05T17:01:16+00:00 05.09.2009 19:01
Scheiße, jetzt muss ich alles nochmal schreiben *seufz* (hab versehentlich den zurückbutton gedrückt ^^')

Ich musste ganz schön in meinem Gedächtnis kramen, aber hier bekommst du jetzt meine geistreichen Bemerkungen zu deiner Story.

1. Ich hatte sie innerhalb von 3 h durch...und der nächste morgen war im eimer...ein glück hab ich nur schule, aber das wars wert.

2. ich liebe den namen darrin!!!

3. von dir wird ab sofort alles kommentiert durch mich ^^ du bist nämlich zu einer meiner lieblingsautorinnen geworden. ich hab fast alles von dir verschlungen. und mir ist es schleierhaft wie ich deine ffs bisher übersehen konnte.

4. zur story: konnte jana nicht leiden und war froh dass sie es nicht geschafft hat = 1 hindernis weniger (obwohl es ein bisl komisch war den namen zu lesen, meine beste freundin heißt auch so...)

5. finde es total cool, dass die story in rostock spielt

6. mochte mia nicht *blöde tussi* hab ihr von anfang an misstraut

7. jana war nur ein ersatz für tony *überzeugt*

8. bin ich verrückt, weil ich william mochte?

9. england im großen und ganzen, sehr anschaulich, unterhaltsam und nicht zu ausgedehnt (schöner teil des kapis)

10. man bekommt schon ziemlich früh mit, wer der mörder ist/sein könnte, aber das fand ich nicht schlimm

*hat das kapi nochmal im schnelldurchlauf gelesen*

sehr schön, hast du fein gemacht ^^

nein, ehrlich. ich finde es ist eine wirklich tiefgründige story. ich bin ab sofort fan von dir ^^

ich geh gleich mal zum 2. kapi über
Von:  Rees
2007-04-11T22:54:47+00:00 12.04.2007 00:54
das ist ne hammer story. ich weiß ger nicht so was ich dazu sagen soll, aber die geschichte gefält mir. du hast die leute sehr autentisch beschrieben. es ist schade, dass die beiden mädels tot sind. aber ich hab da schon so meine verdacht, wer der mörder sein könnte. die szene, wo der mörder dann auftritt ist auch sehr schön beschrieben. kann einen richtig grusseln, wenn man um diese uhrzeit (kurz vor 1 uhr nachts) ließt und man dann auch noch allein zu hause ist. echt grusselig. ich muss mich immer zu umdrehen und schauen ob jemand hinter mir ist. aber toll. ich werd auch gleich weiter lesen.
Lg Rees
Von:  Kato_chan
2007-01-05T17:46:36+00:00 05.01.2007 18:46
deine ffs sind immer so schön^^ mir gefällt dein schreibstil wirklich sehr. du wirst doch noch weiterschreiben ne?
Von:  Snaked_Lows
2007-01-05T16:28:27+00:00 05.01.2007 17:28
Deine FFs sind der Hammer, ich hoffe du schreibst bald weiter. Es wird doch mehrere Kapitel gegen oder?
Ich glaub ich weiß wer der Mörder ist *g*


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