Herr der Diebe II von Komorebi (Rückkehr der Jugend) ================================================================================ Kapitel 3: Der kleine Scipio ---------------------------- Kapitel 3: Der kleine Scipio Es war draußen schon dunkel, als Victor nach Hause kam. Erschöpft stellte er seine Tasche neben die Tür und hängte seinen Mantel an den Haken. Er sah, dass Scipio im Sessel eingeschlafen war. Die Tasse war ihm aus der Hand gerollt und der Restkaffee sickerte fröhlich in den Teppich. Victor stieß einen leisen Fluch aus und hob sie auf. Dann rüttelte er Scipio wach. „Was?“ brummte dieser verschlafen. „Mach den Kaffee weg.“ erwiderte Victor und gähnte. „Ich leg mich hin. Ab morgen übernimmst du am besten meinen Fall. Ich bin anscheinend wirklich nicht mehr der Jüngste!“ Mit diesen Worten schlurfte er zu seiner Couch und zog sie aus. „Das sage ich ja!“ grummelte Scipio. Er betrachtete kurz den Kaffeefleck auf dem Boden, dann seufzte er und ging zu seiner Matratze. Der Fleck würde morgen schließlich immer noch da sein. Als Scipio am nächsten Tag die Augen aufschlug, war es draußen noch dunkel. Er hatte etwas Seltsames geträumt und fühlte sich schwindelig. Er hatte geträumt, er säße wieder auf dem Seepferd des Karussells, und es hatte sich immer schneller und schneller gedreht. Scipios Hände fühlten sich steif an, so sehr hatte er sich im Traum an das den hölzernen Rücken des Seepferdes gekrallt. Er gähnte und ging zum Badezimmer, um sich das Gesicht zu waschen. Vielleicht würde es ihm hinterher besser gehen. Victor schnarchte noch immer friedlich in seinem Bett. Scipio war zu sehr in Gedanken versunken, als dass er die neue Änderung in seinem Leben hätte mitbekommen können. Er spritzte sich eine Ladung Wasser ins Gesicht sich im Spiegel. Das Gesicht eines kleinen Jungen blickte ihn an. Scipio rieb sich panisch die Augen und sah noch einmal hin. Sein eigenes Gesicht, kaum älter als vierzehn, mit schulterlangen, pechschwarzen Haaren und vor Schreck aufgerissenen Augen starrte ihm entgegen. „Nein...“ flüsterte er. „Nein, nein, nein...“ Er sah an sich hinunter. Sein Schlafanzug, der eigentlich dreiviertellang sein sollte, hing ihm komplett über die Füße, sodass er beim Laufen auf den Saum trat. Die Ärmel schlabberten ziellos herum und bedeckten seine Kinderhände. Kein einziger Bartstoppel spross in seinem Gesicht. „NEIN!“ Scipio schrie so laut und kräftig, dass Victor fast aus dem Bett fiel und erschrocken ins Badezimmer gestolpert kam. „Was zum...?“ Als er Scipio sah, blieb ihm der Mund offen stehen. „Was zum...“ wiederholte er. „Was...was...“ Er konnte die Panik in Scipios Gesicht sehen. Seine gesamte Sicherheit, alles was er je sein wollte, erwachsen und unabhängig, war mit einem Schlag wieder zerstört worden. Vor ihm stand der Junge von vor einem Jahr, aber er glich nicht dem selbstsicheren Herrn der Diebe, sondern viel eher dem kleinen Herrn Massimo, der zögerlich das Arbeitszimmer seines Vaters betreten und diesem besorgt von seiner Katze erzählt hatte. „Was zum Teufel ist passiert?“ fragte Scipio. „Wie kann das sein?“ Er wandte sich vom Spiegel ab, als ob es ihn wieder erwachsen machen würde, wenn er sein Kinderspiegelbild nicht mehr sah. „Ich weiß es doch nicht.“ antwortete Victor geknickt und fühlte sich ein wenig hilflos, so verloren sah Scipio in seinem viel zu langen Pyjama aus. „Die Geschichten über das Karussell... es muss eine Haken gegeben haben!“ sagte er schließlich. „Vielleicht weiß Ida was darüber. Wir sollten gleich wenn es hell ist...“ „Nein!“ unterbrach Scipio ihn. „Ich will es jetzt sofort wissen! Ich will wissen, warum ich wieder ein Kind bin!“ Victor schaute auf die Uhr. „Es ist vier Uhr morgens, Scipio. Du kannst jetzt niemanden besuchen.“ Scipio biss sich auf die Lippen. „Tagsüber kann ich erst Recht nicht hin.“ murmelte er. „Schon vergessen? Ich gelte als vermisst. Wenn mich jemand auf der Straße erkennt, dann bringen sie mich zurück zu meinem Vater!“ Verzweifelt stützte er das Gesicht in seinen Händen. Er hatte sich so gefreut, nie wieder dorthin zurück zu müssen. Und jetzt würde alles zerplatzen, nur weil er aussah, wie er aussah. „Als Kind kann ich doch kein richtiges Leben mehr führen! Ich müsste mich entweder andauernd verstecken, oder einfach aufgeben... aber das werde ich nicht, ganz sicher! Ich werde nicht freiwillig zu meinen Eltern zurückgehen! Da müssen die mich schon an meinen Haaren mitschleifen, soviel steht fest!“ Da war er wieder, der dickköpfige, arrogante Scipio. Ohne ein weiteres Wort marschierte er aus dem Badezimmer, schlüpfte in eine Jeans und ein T-Shirt, die ihm viel zu groß waren und war schon auf dem Weg zur Tür, als Victor ihn zurückrief: „Spinnst du? Du kannst nicht barfuß und im T-Shirt auf die Straße, bei der Kälte!“ Also stieg Scipio noch in seinen Mantel, der ihm fast auf dem Boden schleifte. Schon als Erwachsener war er ihm bis an die Kniekehlen gegangen. Er zog Victors Schuhe an, die waren zwar immer noch zu groß, aber auf jeden Fall kleiner als seine eigenen. „Jetzt zufrieden?“ zischte er Victor zu. Wie eine Vogelscheuche sah er aus mit seinen schlabberigen Sachen. Victor konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, woraufhin ihm Scipio einen eisigen Blick zuwarf. „Nun, du kannst nicht garantieren, dass dich niemand sieht, weißt du. Manche Leute gehen um diese Zeit schon zur Arbeit!“ warf Victor ein. „Es ist noch dunkel draußen!“ erwiderte Scipio trotzig. „Wird schon schief gehen!“ Aber Victor schüttelte den Kopf. Er ging zu seiner alten Holztruhe, die im hinteren Teil des Wohnzimmers stand, und hob ächzend den schweren Deckel hoch. „Ich hab was für dich aufbewahrt!“ schnaufte er. „Eigentlich als Andenken, aber ich glaube, du brauchst sie jetzt wieder!“ Scipio runzelte die Stirn und sah Victor zu, wie er in der alten, muffigen Truhe herumwühlte. „Aha!“ machte Victor plötzlich und zog stolz ein längliches, schwarzes Ding heraus. „Meine Maske!“ rief Scipio erstaunt und nahm sie Victor aus der Hand. Eine schwarze Vogelmaske, wie sie die Ärzte in Venedig früher getragen hatten. Scipio hatte sie benutzt, wenn er der Herr der Diebe gewesen war. Andächtig hielt er sie in den Händen und schwelgte einen Moment lang in Erinnerungen. Dann entfernte er hastig mit dem Ärmel den Staub, band die Haare zu einem Zopf zusammen und schnürte sich das gruselige Ding um. „Tja, Herr der Diebe!“ sagte Victor. „Willkommen zurück!“ Scipio warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und lief zur Tür. Als er über den Saum seiner Jeans stolperte, stieß er einen leisen Fluch aus und krempelte sich die Hose hoch. Dann sprang er in wenigen Sätzen die steile Treppe hinunter und lief in Victors Schuhen, aus denen er fast herausrutschte, nach draußen. Draußen schlug ihm die eisige Kälte entgegen. Nebelschwaden hingen in der Luft und schlängelten sich wie feine, dunstige Gespenster über die Kanäle und Gassen Venedigs. Der Mond hing rund und voll am Himmel, vereinzelt brannten Laternen, das Wasser war ruhig. Scipio verkroch sich tiefer in seinen langen Mantel, hauchte einmal in die Luft und ging langsam zur Feuerleiter, sich immer wieder umblickend. Es schien niemand außer ihm so dumm zu sein, sich um vier Uhr morgens bei diesen Temperaturen aus dem Haus zu wagen. Die metallene Feuerleiter war so kalt, dass Scipio seine Hand erst einmal vor Schreck wieder zurückzog. Wären seine Hände auch nur ein wenig nass gewesen, wären sie mit Sicherheit sofort festgefroren. Er kletterte die Leiter hinauf und zog sich dann auf Victors Dach. Auf den Dächern konnte man sich leichter bewegen, man wurde nicht sofort gesehen und verlor in den kleinen Gassen nicht so schnell den Überblick. Scipio kannte den Weg zu Idas Haus zwar auswendig, doch er fühlte sich in seinem Kinderkörper plötzlich unsicherer als je zuvor, und wollte nur noch schnell und ungesehen ankommen. Der Frost auf den Dächern machte die Sache nicht ganz ungefährlich. Als Scipio nach zehn Minuten schon fünf Mal fast abgerutscht wäre, beschloss er schließlich, sich doch auf dem Boden fortzubewegen, so unbehaglich er sich dabei auch fühlte. Immer wieder blickte er sich um, doch es war niemand da. Die Casa Spavento lag groß und fast verlassen da, als Scipio ankam. In keinem der Fenster brannte Licht und die Mauer war nun, da er wieder ein Kind war, ein beinahe unüberwindbares Hindernis. Es war fast wie an dem Abend, an dem er alleine hier eingebrochen war, um an den Flügel zu kommen. In der Hektik hatte er diesmal allerdings vergessen, ein Seil mitzunehmen. Scipio tastete sich an der dunklen Mauer entlang, bis er einige herausstehende Ziegel entdeckte, an denen er zur Not heraufklettern könnte, jedoch nicht in Victors Schuhen. Er dachte gerade daran, sie auszuziehen, als er hinter sich eine Stimme hörte. „Dürfte ich erfahren, was du hier um diese Zeit machst?“ Scipio zuckte zusammen und drehte sich nicht um. Die Maske war möglicherweise nicht genug Schutz. Er kannte diese Stimme nicht. „Ich...“ stammelte er. „Sie verstehen das falsch! Signora Spavento kennt mich und...“ „Soso!“ sagte die fremde Stimme. Sie war hoch und schnarrend, doch es war eindeutig ein Mann. „Ich entwickle mich langsam wirklich zum Verbrecherjäger.“ seufzte er. Scipio drehte sich langsam um, die Neugierde war nun zu groß. Es war der Mann, der mit seinem Vater beim STELLA gestanden hatte. „Ich bin kein Verbrecher!“ protestierte Scipio. Er wusste nicht, wer der Mann war, doch anscheinend stand er geschäftlich in Verbindung mit seinem Vater, und das STELLA hing auch mit drin, also war er ein Feind. „Ich bin mehrmals in der Woche hier. Ich bin mit den Kindern befreundet, die hier wohnen!“ Der Mann lachte kurz auf. „Signora Spavento hat keine Kinder!“ „Jetzt schon. Sie hat drei Waisenkinder bei sich aufgenommen!“ Der Mann runzelte die Stirn. „Du kannst wirklich gut lügen, kleiner Dieb. Ich glaube, ich nehme dich mal mit zum Polizeirevier, damit die deine Eltern über die nächtlichen Ausflüge ihres Sohnes benachrichtigen können!“ Scipio riss vor Schreck die Augen auf. Alles, nur das nicht! Er versuchte sich zu befreien, doch der Mann hatte seinen Arm gepackt und hielt ihn fest. Seinen Plan, unbemerkt in das Haus zu kommen, warf er in seiner Panik über den Haufen und hämmerte mit seiner freien Hand immer wieder an Idas Tor. „Hey, was wird das denn?“ rief der Mann überrascht. Im Haus gingen Lichter an. Giuseppe Armendola hatte einiges erwartet, aber nicht, dass ein kleiner Einbrecher freiwillig die Hausherrin weckte. Im Garten waren Schritte zu hören, dann öffnete jemand das Tor, und Ida stand vor ihnen, im Morgenmantel und mit ihrem alten Gewehr in den Händen. „Bitte nicht schießen, Signora!“ rief ein kleiner, dicker Mann, den Ida nicht kannte. Dann fiel ihr Blick auf Scipio und sie ließ vor Schreck das Gewehr fallen. „Was ist denn hier los?“ Ihre Stimme klang so erstickt, als hätte sie einen Geist gesehen. „Es tut mir furchtbar Leid!“ piepste der kleine Mann. „Ich habe diesen Jungen hier vor Ihrem Haus aufgegriffen, er wollte gerade einen Weg suchen, über die Mauer zu steigen und...“ Idas Blick haftete immer noch an Scipio. „Es...es ist alle in Ordnung, Signor!“ sagte sie zu Giuseppe Armendola. „Ich kenne diesen Jungen!“ Glaube ich jedenfalls, fügte sie in Gedanken hinzu. „Oh...nun...dann entschuldigen Sie bitte!“ Der Mann trat einen Schritt zurück, nickte Ida zu, warf noch einen verwirrten Blick auf Scipio und ging weiter. Ein Junge, der nachts in ein Haus einbrechen will, obwohl er mit den Kindern der Hausherrin befreundet ist...und diese verliert vor Schreck ihr Gewehr, als sie ihn sieht. Dann stammelt sie etwas, von wegen sie kenne den Jungen und schickt mich weg. Und die ganze Zeit starrt sie ihn an, als wäre er jemand, der soeben von den Toten auferstanden ist. Giuseppe konnte sich beim besten Willen keinen Reim auf diese nächtlichen Ereignisse machen. Dass seine Schlaflosigkeit und seine Vorliebe für nächtliche Spaziergänge ihm einen solchen Zwischenfall bescheren würden, daran hätte er nicht gedacht, als er vor einer halben Stunde die Haustür hinter sich zugezogen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)