Alice's Return To Wonderland von NamiHeartphilia (- The Nightmare Goes On -) ================================================================================ Kapitel 6: Two queens --------------------- Wenn man alles versucht hat, was bleibt einem dann, außer die Umstände zu akzeptieren? Akzeptieren. Damit leben lernen. Das gehört wohl zum Erwachsenwerden dazu. Einerseits hat man einen realistischen Blick für das Leben und kann somit öfter Schmerz und Enttäuschungen vermeiden. Andererseits verliert man die Fähigkeit zu träumen und zu hoffen, die man als Kind hatte. Aber Träume sind Schäume oder nicht? Hoffnungen führen zu Enttäuschungen. Realistische Einsicht lässt uns nüchtern und kalt erscheinen. Was ist denn nun die richtige Einstellung? Gibt es eine perfekte Bedienungsanleitung fürs Leben? Nein, natürlich nicht. Was wäre das Leben langweilig ohne die vielen Handlungsmöglichkeiten, von denen viele das ultimative Extra beinhalten, mit dem Gesicht im Dreck zu landen. „Wenn ich … also versuchen würde, das Haus durch das Fenster zu verlassen, würde es mich nicht umbringen?“, fragte Alice zaghaft und beäugte das Haus. Sie spielte ernsthaft mit dem Gedanken, es zu versuchen. „Finde es doch selbst heraus.“, lächelte die Kraft und lockte sie in das Haus. Das Treppenhaus war eigenartig, denn es enthielt eindeutig zu viele Treppen, die sich auch noch kreuz und quer durcheinander schlängelten. Schließlich standen sie irgendwann wieder an dem Fenster im vierten Stockwerk. Als Alice heruntersah, meldete sich das flaue Gefühl im Magen, das Höhenangst verkündete. „Worauf wartest du?“ „Was würden sich die Leute nur denken, wenn sie mich so sehen könnten?“, fragte sie laut, während sie auf das Fenstersims kletterte. „Ich bitte dich - die Leute? Das habe ich doch schon vorhin gesagt: es ist vollkommen egal, was die Leute denken. Sie stecken doch alle in ihren Schubladen und meinen, du bräuchtest auch eine! Deswegen versuchen sie dir beizubringen, was normal ist - was du tun darfst und was nicht. Willst du dich wirklich in deinen Möglichkeiten selbst einschränken?“ Auf dem Sims stehend schluckte Alice noch einmal schwer. Springen, oder doch nicht? „Keine Angst. Es wird dir nichts passieren.“, flüsterte die Kraft und wieder sah das Mädchen nach unten. Plötzlich tat es ohne Nachzudenken einfach einen Schritt nach vorne und fiel. Obwohl das Fenster sich in der vierten Etage befand, war die Fallstrecke so lang, dass man meinen könnte, das Fenster befände sich mindestens hundert Stockwerke weiter oben. //Wenn sie gelogen hat, … ist es jetzt sowieso zu spät.//, schoss Alice durch den Kopf und da erblickte sie es – das weiße Kaninchen – ganz unten auf der Erde. Es schleppte eine Art Spiegel herbei und platzierte es böse kichernd direkt unter dem Mädchen. Leider gab es keinen Halt-Knopf für den Fall und Alice befürchtete, in den Spiegel hinein krachen zu müssen, was allerdings nicht geschah, denn sie glitt hindurch, als wäre es nur eine Quecksilberschicht. Auf der anderen Seite des Spiegels landete sie in einem Haufen lila Laubes und rieb sich die nach dem etwas unsanften Aufprall schmerzenden Glieder. Nachdem sie die wirren Haare ein wenig geordnet hatte, blickte sie nach oben und sah einige Meter über sich mitten in der Luft horizontal den Spiegel schweben und in diesem konnte sie die das fies grinsende Kaninchen erkennen. „Wart‘s ab, du Biest. Dir zieh ich noch das Fell über die Ohren.“, fluchte sie leise und kämpfte sich durch das Laub auf einen kleinen Pfad durch. Ringsherum standen die Bäume sehr dicht beieinander und wie man an dem Laub schon gemerkt hatte, waren deren Blätter in verschiedenen Lilatönen gefärbt. Es schien nur diesen einen kleinen Weg zu geben, der sich in Form von rötlicher Erde durch den seltsamen Wald schlängelte. Rechts und links davon wuchsen eigenartige Blumen mit Karo und Kreuzmuster – hier und da ließ sich ein Busch mit Pikbeeren sehen. Wovon es genug gab, waren Pilze: in verschiedenen Größen und Neonfarben schienen sie den Wald zu regieren. Ihr magisches Leuchten zog Alice an und sie verließ den Pfad für kurze Zeit, um die Pilze zu betrachten. Etwas neugierig bückte sie sich ein wenig und hörte plötzliche eine piepsige Stimme: „Du bist aber hässlich!“ Es war ein kleiner, neongelb leuchtender Pilz mit zusammengekniffenen Augen und einem breiten Mund. Dieser hatte sich eben auf solch vorzügliche Weise geäußert, obwohl er nicht gefragt worden war. Anstatt etwas zu entgegnen, zertrat ihn das Mädchen mit voller Wucht. Ein schmatzendes Geräusch folgte, als sie den Fuß wieder hob und verächtlich herunterblickte. „Was gefällt dir denn nicht daran?“, meldete sich ein anderer Pilz mit tiefer Stimme, „Du magst es ja auch nicht, wenn man dich als ‚schön‘ bezeichnet!“ Dieser musste auch daran glauben und so warf der nächste Pilz ein: „Und die Wahrheit verträgst du überhaupt nicht. Du bist doch genauso wie die, die du verachtest!“ „Halt den Mund, du elendiges Stück Schimmel!“ „Dann bist du also hässlich? Oder doch schön?“, fragte ein anderer Pilz. „Ich bin Nichts.“, antwortete sie leise, hielt einen Moment inne und rannte dann los, um diesen widerlichen Geschöpfen und ihren Vorwürfen zu entkommen. Ohne sich umzudrehen folgte sie dem Weg und hoffte endlich aus dem Wald herauszufinden, der sie so bedrückte und der ihr keine Luft ließ, der sie bedrohte und sie vernichten wollte. Schon wieder auf der Flucht. Jedes Mal war es dasselbe. Fliehen, fliehen und noch einmal fliehen. Völlig sinnlos. Welchen Zweck hat die Flucht, wenn man gleichzeitig der Verfolger selbst ist? Keinen. Wie lange dauert diese Flucht? Ewig. Vielleicht würde mit dem Tod irgendwann das Ende ihrer Flucht kommen. Aber andererseits weiß keiner, was nach dem Tod kommt und somit war das auch nicht sicher. Früher dachte sie, sie würde niemals Selbstmord begehen, unter gar keinen Umständen, weil sie nicht schwach sein wollte. Mittlerweile war sie sich nicht mehr so sicher, da die Schwäche sich immer mehr und mehr in ihr zeigte. Spätestens als sie der Kraft begegnet war, konnte sie den Kontrast zwischen ihrer Schwäche und der Tarotkarte spüren. Schwer atmend sah sie sich gezwungen irgendwann das Tempo zu verringern. Ihr Weg führte sie zu einer mächtigen Eiche mit herzförmigen Blättern. Am Fuße des Baumes machte sich eine dickliche Gestalt bemerkbar. Dicklich ist wohl untertrieben. Es war wie eine blau-weiß gestreifte Kugel mit unpassend dürren Extremitäten. Auf dem Kopf trug die Person eine ebenfalls blaue Kappe mit so etwas wie einem Propeller, der aus scharf aussehenden Klingen bestand. Dieser Mensch hatte einen etwas schiefen Mund mit dünnen Lippen, einen leicht verwirrten Blick in den Augen und, wie Alice später auch feststellte, zuckte sein linkes Lid ständig. Dem Äußeren nach zu urteilen, müsste es entweder Tweedle Dee oder Tweedle Dum sein. Mit einem Eimer in der linken und einem Hammer in der rechten Hand machte er ein paar Runden um den Baum und blieb schließlich stehen. Dann setzte er den Eimer ab, holte einen Nagel aus seiner Hosentasche und schließlich etwas Rotes aus dem Eimer. „Was machst du da?“, fragte Alice und näherte sich dem Baum. Der Dicke drehte sich schnell um, als wäre er ertappt worden, und entblößte seine gelben Zähne in einem unschönen, dummen Grinsen: „Alice, was für eine Überraschung! Wir tun nur unsere Arbeit, nicht wahr, Tweedle Dum?“ „Aber sicher, Tweedle Dee!“ Man erwartet an dieser Stelle wohl, dass Tweedle Dees Bruder hinter dem Baumstamm hervorkommt. Dem ist aber leider nicht so, denn Tweedle Dee sprach sowohl die Frage als auch die Antwort selbst aus, was bei dem Mädchen erneut für Verwirrung sorgte: „Was war das denn jetzt?“ „Wo?“ Tweedle Dees Lid zuckte. „Du… ehm… hast gerade mit dir selbst gesprochen.“ „Also ich bitte dich. Ich spreche doch nicht mit mir selbst. Denkst du etwa, ich sei verrückt?“ Der Dicke hob seine Knopfnase etwas beleidigt. „Mein Bruder ist nicht verrückt!“, fügte er dann mit ein wenig veränderter Tonlage hinzu. „Ah… a-alles klar…“ In diesem Moment war sich Alice sicher: Tweedle Dee litt unter einer Persönlichkeitsspaltung. Naja, eigentlich litt er nicht drunter, sondern fand es bestimmt vorzüglich, da er es ja gar nicht registrierte und sich einen Zwillingsbruder einbildete. Da es also nichts bringen würde, wenn sie ihn davon zu überzeugen versuchte, beschloss sie mitzuspielen. „Na dann, bitte ich vielmals um Verzeihung.“, entgegnete sie mit aufgesetztem Lächeln, was ihr Gegenüber im Normalfall eigentlich als sarkastische Äußerung empfinden hätte müssen. „Also, was tust… ich meine, was tut IHR da?“, versuchte Alice es noch mal und wippte mit verschränkten Armen auf ihren Absätzen hin und her, während Tweedle Dee den roten, faustgroßen Fleischklumpen, den er aus dem Eimer geholt hatte, an den Baumstamm nagelte. „Wir müssen diese Herzen hier anbringen.“ Jetzt sah sie es auch. Es waren tatsächlich Herzen, die er mit langen rostigen Nägeln an den Baum hämmerte. Dabei waren es keine süßen Herzen, wie man sie auf den vor Schmalz triefenden Valentinstagskarten findet, sondern die richtigen Organe. Der Prozess war demzufolge etwas unangenehm mit anzusehen, vor allem, weil bei jedem Schlag etwas Blut in das Gesicht des kugeligen Menschen spritzte. „Warum das denn?“, fragte das Mädchen und verzog die Mundwinkel. „Sei nicht so neugierig – hast du vergessen, was mit den Austern passiert ist?“ Wieder zuckte sein Lid. „Nein, das habe ich nicht. Allerdings bezweifle ich, dass ich von einem Walross gegessen werde.“, bemerkte es kühl. „Das ist einfach unsere Arbeit. - Schlag fester zu, Dee. – Nach dem Tod der Herzkönigin haben wir den Auftrag erhalten, diese ganzen Herzen, die in dem Wald gesammelt werden, an diesen Baum zu nageln, weil die Schachkönigin keine Herzen mehr irgendwo duldet und sie alle hierher schaffen lässt. Unter dem Baum ist nämlich die Herzkönigin begraben.“ „Wie… konnte das passieren?“ „Was? Dass die Herzkönigin starb? Weißt du etwa nicht Bescheid? Es gab einen Kampf zwischen den Beiden. – Weißt du noch, Dum? – Oh, ja, was für ein Kampf, Dee.“ „Erzählt mir davon.“, bat Alice, denn sie wollte wirklich gerne erfahren, wie es dazu kommen konnte, dass die grausame, impulsive Königin besiegt worden war. Zwar gingen ihr Dee’s Selbstgespräche ziemlich auf die Nerven, aber sie hatte keine Wahl. „Was meinst du, Dee, erzählen wir es ihr? – Aber klar, Dum.“ Der Dicke unterhielt sich weiterhin mit sich selbst, während die Andere sich im Gras niederließ. Tweedle Dee wischte sich die blutbefleckten Hände an seiner Hose ab, räusperte sich und begann mit krächzender Stimme zu singen: „So früh des Morgens trafen sich zwei Mächte: schwarz und rot. Bald gab es einen bitt‘ren Kampf. Die eine ist nun tot. ‚Mir aus dem Weg, sonst köpf ich dich!‘, der Herzdame das Wort schnitt schwarzen Schachs grausames Weib mit Schärfe ab sofort. ‚Die Macht gehört nicht dir allein!‘, rief es in ihrem Zorn, ‚So hüte deine Zunge jetzt, sonst hast du gleich verlor‘n!‘ Der Herzkönigin Antlitz ward puterrot im Nu. Mit einem Kricketschläger schlug sie verbissen zu. Die Andre wehrte sich zu Recht mit ihrem Zepter rasch. ‚Ist das schon alles?‘, fragte sie, ‚Du wirkst mir etwas lasch.‘ So kämpften sie den ganzen Tag. Am Abend müde dann: die Herzensfrau verzweifelte - sie rief nach ihrem Mann. Dem Tode nah schrie sich nach ihm. Der Ängstliche jedoch kam nicht zu Hilfe seiner Frau - floh in ein dunkles Loch. Geköpft mit ihrem eig'nen Schwert, die Seide voller Blut, rührte sie sich von da nicht mehr und das war wirklich gut. Die Schachkönigin lachte nur. Der Sieg war endlich da. Alleine herrschen konnte sie. Das war auch allen klar. Einsammeln ließ sie jedes Herz, das sich nur fand im Land. Auch ihres hat sie nimmermehr - der Herrschaft bitt'rer Pfand.“ Das Lied war hiermit zu Ende und Dee bekam einen grässlichen Hustenanfall. So war das also. Alice erinnerte sich daran, was Cheshire Cat gesagt hatte: „Herzen. Sie sammelt sie…“ Jetzt war bekannt, wer „sie“ war und warum sie Herzen sammelte. Es schien wie eine Art Belustigung, sämtliche Herzen des Landes an dem Grab der Herzkönigin zu vereinen. Wie grotesk. „Wieso sehe ich denn nur …“, fing das Mädchen an. Es wollte fragen, warum es nicht noch mehr Herzen an dem Baum sah. Plötzlich hörte Alice ein Knarren und richtete ihren Blick sofort auf den Baum, der das Geräusch zu erzeugen schien. Da wurde sie Zeuge, wie der Baum die angebrachten Herzen mit seiner Rinde langsam aufzunehmen schien, bis sie völlig darin verschwanden und nur noch blutige Flecken hinterließen. „… vergesst es.“, beendete Alice ihren Satz. „Man sagt, die Herzkönigin lebe in dem Baum weiter, aber nichts ist jemals sicher, stimmt’s, Dum? – Genau, Dee.“ Er hatte Recht: niemals ist etwas sicher - außer dem Tod. © Nami, 2008 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)