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This special night

Wie Motten auf Purpur
von

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A PRIMO AD EXTREMUM

Primum omnium - zuallererst
 

Das Denken ist ein Erfassen der Welt, die Sicht der Welt... Unentbehrlich für jeden einzelnen. Stell dir vor, du dürftest nicht mehr denken, nicht mehr fühlen. Was wäre dann?

Ist es das, was den Menschen ausmacht? Seine äußere Gestalt, die Intelligenz, sein Handeln, seine Unvollkommenheit? Aber was ist Intelligenz? Was ist Menschsein?
 

Egal welches Bild man sich von Menschsein macht, es ist für jeden selbstverständlich, dass er, ob nun von Gott geschaffen oder vom Tierreich kommend, fehlerhaft ist. Auch wenn manche das nicht einsehen.... Nur wenige Geschöpfe sind bereit diese Fehler einzugestehen. Der Mensch ist intelligent und macht Fehler um zu lernen. Intelligenz - das trennt die Dummen von den Klugen will man vielleicht sagen – ist aber jedem Lebewesen gegeben, dem einen genauso wie dem anderen. Es liegt allein an ihnen sie zu ihrem Nutzen zu gebrauchen.

Und der Mensch nutzt nicht einmal die Hälfte seines Gehirns um seine Intelligenz voll auszuschöpfen. Woran das wohl liegen mag...

Zum einen ist er doch nicht anders als das Tier, geleitet von Trieben und Instinkten, unterdrückt diese aber gekonnt und wird somit zu einer höheren Instanz. Zumindest glaubt er das, bis sein Geist ihm eines besseren belehrt. Menschen sind dumm. Sie sind Herdentiere, folgen dem Trott des ‚Alltags’ ohne zu hinterfragen und nehmen alles hin, wie es ihnen gegeben wird... Warum also die Fragen?

Fragen sind sinnlos. Was aber, wenn endlich Menschen begreifen und anfangen zu fragen, wenn sie sich gegen das bestehende System auflehnen und aus dem Rahmen fallen, weil sie denken?
 

Gehen ihre Fragen dann in Luft auf?

Es heißt doch immer „Frage, sonst bleibst du dumm.“, aber es wird zu wenig gefragt. Oder das Falsche. Richtig oder Falsch, das gibt es nicht. Wichtig, unwichtig, was macht das schon. Die Zeit ist begrenzt. Da kümmern einen doch nicht sinnlose Fragen.
 

Sinnlose Fragen...
 

Zwei Wörter, fünf Silben, vierzehn Buchstaben.

Und doch liegen grade in diesen Wörtern riesige Welten. Fragen sind nie sinnlos, solange es einen Grund gibt sie zu fragen.

Aber die Worte der Frage bleiben leer, wenn man sich nicht bewusst ist, dass alles was der Mensch spricht, alles was er für normal hält und alles was er denkt auf einem arbiträrem, also willkürlichem Faktor beruht. Der Sprache und dem Glauben erklären zu können.

Fehlen dir die Worte, kannst du nicht Fragen. Weißt du nicht was du fühlst, kannst du nicht fragen, was du fühlst. Und selbst ein einzelnes Wort kann die Vielfalt eines Wesens, eines Gefühls, eines Gegenstandes oder eines Erlebnisses nicht beschreiben. So erliegen die wenigen Menschen, die fragen, der Sprachlosigkeit und nicht zuletzt auch der Verzweifelung.

Somit ist das Scheitern des Menschen vorherbestimmt, wenn er versucht etwas für ihn Unbekanntes zu erklären. Die Auseinandersetzung eines jeden Einzelnen mit der Welt... Wie viele daran schon gescheitert sind ist bekannt.

Versucht man trotzdem etwas Unbeschreibliches zu definieren, so vergleicht er es mit etwas Bekanntem. Sucht man nach neuen Wegen, nutzt man die Intelligenz.

Das Subjekt ‚Mensch’ stellt beständig Fragen an die Sprache, an sein Bewusstsein und die Umwelt.

Die Erkenntnis der Unfähigkeit zu beschreiben führt zu Desillusion und Resignation... Verkriecht man sich nur weil man endlich begreift, wie minderwertig das Geschöpf doch eigentlich ist? Krank wird es jedoch von allem. Von Alltag und der Leblosigkeit. Von dem Wissen eines von vielen zu sein, aber nicht einzigartig sein zu können und der Entwicklung der Persönlichkeit, einer - im Gegensatz zum Menschsein - einzigartigen Identität.
 

Wie weit reicht also die Sprache und das Sprachverstehen, um eine einzelne Gefühlswelt so zu beschreiben, dass ein Fremder das Problem erkennt, das Selbe empfindet und weiß was es bedeutet? Wie weit reicht die Intelligenz und die Bereitschaft Mensch zu sein um die Identität eines anderen Menschen zu ergründen und sein Leiden zu erkennen...
 

a primo ad extremum - vom Ersten bis zum Äußersten

prologue

Wie viel ist das Leben wert?

Wie viel ist es wirklich wert, wenn man Tag ein Tag aus immer wieder das Gefühl hat alles falsch zu machen?
 

Wenn man immer wieder die Fehler vorgehalten bekommt und sich Bedauern tief in die Seele eines jeden frisst...

Man lebt um geliebt zu werden, Schwachsinn.
 

Was ist aber, wenn die Menschen, die man liebt, einen nicht beachten?

Oder wenn der, der einen liebt, nicht geliebt wird?
 

Man lebt sein Leben wie ein Spiel. Täuschungen, Intrigen und geschicktes Tricksen. Die Maske, die jeder von uns immer wieder auferlegt bekommt, um die scheinbar heile Welt zu bewahren. Ein ewig währendes Theaterstück mit falschen Tränen, bittersüßen Erinnerungen und dem Leben, das sich als größter Verräter überhaupt entpuppt.
 

Wie soll man lieben, wenn man doch weiß, dass es in der Welt so viele Lügen und Boshaftigkeit gibt?
 

Ein Weg führt zur Wahrheit, der andere ins Schicksal…
 

Und immer wieder will man diese süßen Worte in seinen Ohren klingen hören, in der Hoffnung, dass sie irgendwann einmal wahr werden. Die Worte, die dir die Kraft rauben, um zu leben, dich aber in die höchsten Lüfte der Welt heben. Und dennoch.

Alles was bleibt, ist ein ‚Ich weiß.’.
 

Diese Momente in denen man in den Armen des anderen versinken möchte, um nie wieder das Licht des Tages zu leben. Eine Nacht mit dem verbringen, für den das Herz schreit. Und am nächsten Tag wieder die Norm zu leben, die Maske versinnigen und so tun, als sei alles normal. Weil niemand außer dir weiß, was dein Wunschtraum für diesen einen Augenblick war.

Nur eine Nacht, um wieder das Leben zu spüren und zu wissen, dass man noch nicht ganz leblos, orientierungslos und mutlos im Alltag umherdriftet. Ein sicherer Halt für nur einen Bruchteil eines Lebens.

Auf der Suche nach Wahrheit und Geborgenheit. Zielsuchend für die Hand, die dich führt. Wartend, auf die offenen Arme, die dich fangen, wenn du dich am Licht verbrennst. Wie die Motte, die still das Licht desjenigen umflattert, auf der Suche nach dem Höhenrausch, den nur das eine bringen kann...
 

Und ihr glaubt gar nicht, wie viel Wahrheit in diesen Worten stecken kann, wenn man wirklich das sucht, nach dem man seit Jahren so sehnlichst schreit...

I just died in your arms

Ist es nicht seltsam, in welchen Situationen man erkennt, dass man sich total falsch eingeschätzt hat?

Wenn man erkennt, dass man nicht mehr der Mensch ist, für den man sich damals gehalten hat...?

Auch ich war nun in einer solchen Situation.
 

Ich hatte mich zu einem dieser lächerlichen Partyspiele überreden lassen. Und ja, ich hasste diese Spiele mit betrunkenen Halbstarken, die gerade auf solchen Partys, die unmöglichsten Ideen hatten. Gerade jetzt hätte ich mich am liebsten in Luft aufgelöst.

Der Gastgeber, und somit auch Besitzer des Hauses, kniete halb vor mir, drückte mir die Hand auf die Schulter und um uns herum ertönte lautes Grölen. Es war Kai, der bekannteste, beliebteste und bei Frauen am meisten begehrte Schüler. Selbe Schule, selbe Klassen, jedoch vollkommen verschiedene Leistungen...

Er war der Typus Mensch, der alles bekam, nicht sonderlich arbeiten musste, die Art Mensch, dem die Frauen halt bei einer winzigen Handbewegung durchs Haar, schon kreischend zu Füßen fallen.

Ich hasste ihn für seine Beliebtheit, und doch bewunderte ich ihn für den Erfolg. Das gute Aussehen, den Platz als legendärer ‚Cool-Boy’ an der Schule. Rücksichtslos, ohne Skrupel, und dieser Kerl würde alles tun um diesen Platz an der Spitze zu behalten. So wie jetzt! Er tat alles!

Ich wusste noch nicht einmal, warum ich zu dieser Party eingeladen worden war. Weit und breit nur die Beliebtesten und Bekanntesten. Schüler und Schülerinnen.

Und ich: Mitten drin, vermutlich einer der aller Untersten. Vielleicht nur, weil es ab der Zahl erst Rabatt beim Party- oder Pizzaservice gab.

Haltet mich für verrückt, oder gestört, aber wenn man sonst nie etwas mit diesen Leuten zu tun hat und plötzlich sitzt man hier, umringt von allen... Irgendwie suspekt.

„KAI! Ich hasse dich!“, war das einzige was ich in diesem Moment denken konnte, als er seinen Griff um meine Schultern verstärkte und meinen Kiefer gewaltsam auseinander drückte.

Er tat alles um seinen Ruf nicht zu verlieren. Er brachte es in diesem Moment sogar fertig für dieses ‚Spiel’ einen anderen Jungen zu küssen. Allein der Gedanke widerte mich so an, dass ich mir das würgen verkneifen musste, als die Massen um uns noch lauter kreischten und nach ‚mehr’ forderten... Ich hasste ihn sogar umso mehr, als er mir seine Lippen aufdrängte und die Zunge in den Hals schob. Meine Wenigkeit hörte nur noch das Grölen und Kreischen der Mädchen, die alles mit ansahen. Wie gern würde ich lieber mit ihnen tauschen...

Tja und Kai...

Der Mistkerl hatte sichtlich Gefallen daran mich vor allen bloß zu stellen.

Ich hasste ihn!

Als er schließlich noch fester nach meiner Schulter griff, mich zu sich zog, um noch mehr und schlimmer und ekliger und... intensiver ... zu küssen, reichte es mir endgültig!

Meine Hand stieß ihn kraftvoll zurück. Angewidert fuhr ich mit dem Handrücken über den Mund, erhob mich schwungvoll und warf ihm bitterböse Blicke zu. Doch Kai kniete noch immer auf dem Boden, schaute unter den schwarzen Haaren hervor und leckte sich mit einem lasziven Lächeln über die Lippen und Eckzähne. Ein wildes Tier dessen Blutdurst erst geweckt wurde... Kurz darauf wischte auch er mit dem Zeigefinger am Mund und den Lippen entlang, erhob sich ebenfalls und warf den Kopf leicht zur Seite – wieder schrilles Kreischen.

Schrecklich! Einfach schrecklich! Ich schüttelte mich bei dem Gedanken, dass Kai scheinbar Gefallen daran hatte.

Kurzerhand drehte ich mich um, verschwand für eine Zeit aus der Masse. Keine Ahnung warum, aber nach Hause wollte ich nicht. Da war dieser Kerl, der sich Vater nannte. Kein Vater würde seinen Sohn schlagen, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken! „Verfluchter Alkohol!“, kam es mir in den Kopf, als ich selbst wieder einen Becher von undefinierbarem Mischmasch in der Hand hatte.

Mittlerweile saß ich, wie ein Häufchen Elend, auf dem Flur zusammengekauert. Nur selten kam jemand vorbei, meist nur die, die es eilig hatten zur Toilette zu kommen... Aus welchem Grund auch immer. Die Beine angezogen, Arme und Kopf darauf, mit dem auch schon leeren Becher in der Hand. Ich brauchte was, um diesen ekligen Geschmack von seinem Kuss los zu werden. Der Geschmack von irgendeiner alkoholisierten Limo. Süß sauer. Waldmeistergeschmack. Ich stutzte. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie sich der Geschmack so stark eingeprägt hatte. Anfangs hatte ich doch gar nichts geschmeckt.

Verzweifelt fasste ich mir nur an den Kopf. Hatte ich es etwa genau so genossen wie er...? Hatte ich tatsächlich Gefallen daran gehabt, seine Zunge ihm Hals zu spüren!? Ich schauderte stark. Was für ein Schwachsinn. Es schien mir unergründlich, dass mir so was wirklich den Kopf verdrehte.

Ich hasste ihn! Elender Idiot!

Wie vom Unglück anderer magisch angezogen, stand er dann plötzlich vor mir. Den Kopf brauchte ich gar nicht zu heben, allein seine Kleidung war einmalig. Die dunkelblaue Hose, mutwillig zerrissen und mit Fetzen geflickt. Er stand vor der Jammergestalt, die vor ihm geflohen war. Geflohen?! Ja, ich war geflohen... Elender Idiot!

Er kniete vor mir nieder, stützte sich auf meine Schulter. Dabei drückte er meine Arme beiseite, hob meinen Kopf und flüsterte mir mit seiner tiefen Stimme ein nahezu tonloses, leicht gelangweiltes und doch ausdrucksstarkes „Komm!“ ins Ohr...

Ich schüttelte den Kopf, wollte ihn wegstoßen, doch ehe ich mich versah, stand ich auf beiden Beinen, von ihm angehoben, auf dem Gang und wurde von ihm mitgezogen. Mit eiligen Schritten schleifte er mich ans andere Ende des Flures, riss eine Tür weit auf und stieß mich in die Dunkelheit des Zimmers. Als ich mich umdrehte um ihm ein paar fiese Worte an den Kopf zu schmeißen, die mir gerade im Kopf umherschwirrten, hatte er bereits die Tür hinter sich geschlossen und stand nun dicht vor mir. Ich konnte sein leises Atmen, ja fast jeden Luftzug an meinem Ohr vorbei zischen hören. Gerade als ich meinen Mund öffnete um zu sprechen, spürte ich seine Hand an meiner Hüfte und im selben Moment seine fordernden Lippen auf den Meinen. Verwirrt versuchte ich mich aus der Umklammerung zu befreien, vergeblich, denn wie immer war er stärker als ich. Er bekam was er wollte. Immer, egal worum es ging. Dennoch wollte ich ihm diesen Sieg nicht gönnen. Es war schon blamabel genug, dass ich bei diesem Spiel vor ihm geflohen war, das war nun eindeutig zuviel. Er nutzte die Gelegenheit der Verwunderung, strich mit seiner Zunge über meine Lippen. Am liebsten hätte ich ihn gebissen, doch ich wollte mir nicht ausmalen, was passieren würde, wenn ich ihn nun provozieren würde. Je stärker ich versuchte mich zu befreien, desto stärker drückte er seine Hand in mein Kreuz, zwang mich so gewaltsam näher.

Kai! Mittlerweile war es, wenn ich so nachdachte, kein blanker Hass mehr, er war für mich schon mehr als hassenswert.

Verachtung aus tiefstem Herzen.

Er widerte mich förmlich an. Durch jeden Versuch mich zu befreien schien es so, als ob ich seinen Sadismus nur unnötig anstachelte, ihn zu noch mehr hinterhältigen Gedanken zu treiben. Seine Wut, sein Verlangen weiter zu schüren. Seine Augen funkelten in der Dunkelheit des Zimmers. Nur durch ein Fenster hinter mir drang noch Licht von draußen. Straßenlaternen. Er hatte sichtlich Freude an meiner Wut gegen ihn, mein verzogenes, angeekeltes Gesicht, der Körper, der sich in seiner Umklammerung nur noch mehr verkrampfte und vergebens versuchte zu entkommen.

Sein verschlagenes Lächeln ließ mich Böses ahnen, er wich einen Schritt zurück, doch gerade als ich einen Ton sagen wollte, drückte er mir die Hand auf den Mund. Mein Hass gegen ihn kannte schon kein Maß mehr. Was hatte er nur vor? Ihm schien der Rausch mittlerweile jeden gesunden Menschenverstand geraubt zu haben, dass er schon nicht mal mehr wusste, wen er vor sich hatte. Oder: Das alles war für ihn doch nur eine Bestätigung seiner Selbst. Dass er wirklich alles kriegen konnte, selbst mich, einen anderen Jungen. Den vielleicht unbeliebtesten Jungen, den sein Selbstmitleid schon so beeinflusst hatte, dass er an Selbstsicherheit und Stolz alles verloren hatte.

Mit der einen Hand auf meinem Mund beugte er sich leicht herab, schob genussvoll mit der anderen meinen Pullover nach oben, entblößte den blanken Bauch. Von seinem sicheren Blick eingeschüchtert zuckte ich zusammen, spannte weiterhin jeden Muskel in meinem Körper an. Warum stand ich da? Ich hätte auch fliehen können. Oder nicht?

Mein Körper war wie gefesselt. Unsichtbare Drähte, die sich um Hals und Körper gewickelt hatten. Unbemerkt, leise, verschlagen. Wie die Dunkelheit selbst. Oder war es sein besessener und so selbstsicherer Blick, der mich so lähmte? In meinem Hals sammelte sich ein unüberwindbarer Kloß. Ich kam kaum zu Luft, hatte das Gefühl, dass sich alles drehte. Vielleicht die Wirkung dieses Teufelsgemisches, das ich eben noch getrunken hatte.

Seine Lippen fuhren über meine Haut, ließ die Hand von meinem Mund, mit der Sicherheit, dass ich zu verstört war, um etwas zu sagen - wie wahr. Beide Hände an den Hüften, leicht über den eingezogenen Bauch streichelnd, merkte ich seinen warmen, fast heißen Atem über die Haut streichen. Viel zu nah. Mein Kopf lief auf Hochtouren, jedes Mal wenn ich zusammen zuckte, hatte ich das Gefühl, dass duzende Drähte sich in meine Haut sägten und mir zunehmend die Luft abschnürten. Ich riss den Mund auf, rang nach Luft und starrte an die Wand im Dunklen. Mein Körper schreckte nur immer wieder auf, als seine Küsse weiter über meine Haut wanderten, sich leicht im Druck verstärkten und in leichtes Lecken übergingen.

Kai - getrieben von Wut, Ergeiz, Erfolgssucht - unzurechnungsfähig und lebte sein Verlangen aus, an mir...? Mit letzten Funken an Verstand riss ich den Arm herum, drückte mit der Hand seinen Kopf zurück und warf ihm einen bös wollenden, verachtenden Blick zu.

Seine Augen blitzen nur kurz auf, erschrocken ließ ich seinen Haarschopf wieder los, wurde von ihm sofort zurück gestoßen. Meine Kniekehle wurde von der Bettkante gestoßen, ich verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts auf die Matratze. Die Beine noch angewinkelt, beugte sich Kai am Fußende nach vorn, hatte wieder nur dieses Lächeln. Lasziv, verhöhnend und so fesselnd.

Er wandte sich wieder voll und ganz seiner Lust, zog sich an meinen Beinen nach oben, kroch über die Bettkante und hockte sich, die Beine angewinkelt zu beiden Seiten weg, auf meine Beine. Gierig wanderte sein Blick am schmählichen Körper unter ihm entlang, seine Augen weiteten sich und mein verängstigtes, leider unkontrolliertes Zittern stachelte ihn nur zu weiteren Missetaten an. Begeistert musterte er mein Gesicht, starrte mich mit seinen dunklen Augen an. Sein so sicherer Blick bestätigte nur meine Befürchtung, dass er mich nicht gehen lassen wollte. Doch wie krank war dieser Junge? Hatte er nun jeden Funken Vernunft verloren, oder war dies nur eine einmalige Gelegenheit, die er sich selbst zur Bestätigung seiner Macht geben wollte? Zum Beweis, dass er alles, aber auch wirklich alles kriegen konnte... Doch diesen Gedanken konnte ich nicht ertragen - ich wollte ihm auf keinen Fall einen Triumph gönnen, egal was er vorhatte. Ich bäumte mich kurz auf, stemmte mich auf die Unterarme und richtete mich ihm entgegen, auch wenn er weit größer war als ich, so wollte ich mich zumindest nicht kampflos ergeben. Doch was war dieser Kampf eigentlich, den ich gegen ihn nicht verlieren wollte? Ging es um Ehre? Macht? Oder doch nur um Selbstbestätigung...? Vielleicht noch etwas ganz anderes, das er bisher doch ganz verschwiegen hatte... Mein stetiger Hass gegen ihn, war das vielleicht doch nur eine Fassade, für das was ich im Unterbewusstsein für ihn übrig hatte? Aus den Gedanken gerissen von einem befremdenden Gefühl, dass sich in mir breit machte, riss ich die Augen weit auf, erblickte nur wieder Kai, der sich weiter zu mir lehnte, die Hand fest drückend auf die Schulter legte, sich zu mir heran zog und mit dem Gesicht dicht zu mir kam.

Seine weichen Lippen formten die tonlosen, ja fast toten Worte: „Genieße es. Es ist eine einmalige Gelegenheit!“
 

Mein Herzschlag setzte für Sekunden aus - Nein, ich war mir sicher, mein Herz würde an diesem Abend überhaupt nicht mehr schlagen. Ich wusste selbst nicht was los war, aber seine Worte brachten mich zum Zweifeln. Kai hatte es wieder geschafft, nicht nur, dass er die Lehrer in der Schule aus der Fassung brachte, durch Diskussionen, durch das nennen von Aspekten, die bisher keiner gewagt hat auszusprechen. Jetzt hatte er auch mich zum Zweifeln gebracht. Zweifel, einerseits über meinen gesunden Menschenverstand - wenn man es so nennen kann - denn ich wusste noch nicht einmal, wie viel ich bisher getrunken hatte (auch wenn es so viel gar nicht sein konnte), und andererseits ob ich vielleicht doch ein falsches Bild von ihm hatte. Vielleicht hatte er das ja die ganze Zeit geplant. Seine abweisende, kalte und sture Art war die ganze Zeit vielleicht nur Schein gewesen, um gerade in diesem Moment, so wie jetzt, mich so zu überrumpeln, dass er leichtes Spiel hatte. Mir huschte nur ein schwaches aber doch sehr schiefes Lächeln über die Lippen. Der Kerl kannte mittlerweile sogar alle Tricks, um das zu bekommen, was er wollte. Es klingt voreingenommen, wenn ich das so sage, aber wenn man jetzt seinem Lächeln einen Namen geben sollte, so würde ich es mehr oder weniger ein Zeichen seiner Perversitäten nennen, die gerade an diesem Abend in seinem Kopf einen festen Platz neben meinem Namen suchten... Mein Blick war starr in die Dunkelheit vor mir gerichtet, dort wo ich die Tür vermutete kam ein schwacher Lichtstrahl hervor, kaum noch ein Unterschied zur Dunkelheit in diesem Raum. ‚Draußen’, außerhalb dieses furchtbaren Alptraums, war also bereits Ruhe eingekehrt. Vermutlich war ich der Einzige, der noch hier war - unfreiwillig!

Der siegessichere Junge hatte sich nebenbei schon weiter vorgelehnt, dass mein Blick weiter in die Dunkelheit gerichtet war. Ich konnte sein Lächeln jedoch trotzdem spüren, jeden seiner kranken Gedanken förmlich im Raum vernehmen. Mein Körper zuckte, als ich seine Hand an mir bemerkte. Ich biss mir nur auf die Lippen, eigentlich hätte ich ihm nun ein paar trotzige Worte entgegenwerfen können, doch selbst dazu war ich nicht in der Lage. Mein ganzer Körper war wie gelähmt, nicht nur die feinen Schnüre um meinen Hals hatten sich gefestigt, nein, sie hatten sogar unbemerkt den Rest meines Körpers übernommen. Mein Blick verfinsterte sich, aber ich wollte ihm den Augenblick nicht gönnen, in dem ich ihm gegenüber vielleicht, möglicherweise, oder sogar ganz bestimmt, mal wieder die Kontrolle verlor. Klingt einwenig undefiniert, aber ich würde ihm an diesem Abend sicher kein Wort mehr schenken. Er war es mir nicht mehr wert. Eine Chance zur Flucht hatte ich eh nicht. Wenn er sich an mir berauschen wollte, oder woran er dabei auch immer dachte, so sollte er doch wenigstens die Strafe erhalten, dass ich schweigen werde, kein Wort sollte nun mehr meine Lippen übertreten. Und wenn ich mich selbst dazu zwingen musste. Eine Braue hob sich, mein Lächeln spiegelte einwenig meiner neugewonnenen Selbstsicherheit wieder.

Doch Kai, der sich weiter an mich lehnte und mit der Hand schon leicht zurückdrückte, auch wenn ich einfach stur sitzen blieb, hatte kein weniger überzeugtes Gesicht. Seine Augen glänzten vor Begeisterung. In diesem Moment wollte ich gar nicht wissen, woran er dachte. Es hätte mir vermutlich eh wieder alles den Magen umgedreht. Dennoch ratterte es in meinem Kopf weiter. Es breitete sich ein unangenehmer Gedanke in meinem Kopf immer weiter aus... Es war schließlich ein ‚einmaliges’ Ereignis... Oder nicht? Warum dann nicht einmal über die Stränge schlagen, sich der Lust hingeben, am rauschenden Blut in den Adern ertauben, nur noch den Augenblick erleben. Es schien mir plötzlich eine ganz andere Welt zu sein. Kein einfaches Schlafzimmer mehr. Eher ein unausgelebter Traum. Anfangs ein Alptraum, der zunehmend einen fein herben, aber süßen Geschmack annahm. Die Schwelle der Tür war für mich schon kein Reiz mehr zu entkommen. Ich konnte mich eh nicht rühren....

Sollte ich diesen Abend nun auf die eine Art oder die andere erleben?

Und was tat Kai überhaupt!? Auch wenn er sich des T-Shirts entledigt hatte, es sogar achtlos, fast resignierend zu Boden fallen ließ, so verspürte ich keinerlei Bestätigung für meinen Gedanken. ...Noch nicht...

Seine Hände drückten mich diesmal stärker zurück auf die Matratze, er hockte sich fester auf meine Beine. Das eine baumelte noch über die Kante, konnte den Boden grad noch mit den Zehen berühren, das andere angewinkelt, um ihn zurück zu drücken, als er sich über mich lehnte, um den Atem wie einen samtenen Schleier über die Haut streichen zu lassen. Der Gegenüber genoss jeden meiner Versuche ihn auf Distanz zu halten, aber dass war keineswegs meine Absicht. Dennoch funkelte in seinen Augen ein leises Fünkchen seines Amüsements auf, als ich zurückrutsche, jedoch bald hinter mir die Wand bemerken musste. Wieder hatte er diesen Blick, als ob das Tier in ihm dringendst wieder Fressen brauchte. Er kletterte weiter zu mir, warf mir dabei ein verspieltes Lächeln zu, als der Rest seines Gesichts von den Haarsträhnen verdeckt wurde. Vom einfallenden Licht der nahen Straßenlaterne wurden die groben Umrisse seiner Schultern gekennzeichnet, die sich aneinander vorbei schoben, bis ich wieder seinen heißen Atem auf meiner Haut vernahm. Seine weichen Lippen legten sich saugend auf den Hals, ich zog mich weiter zurück, doch keine Chance, seine Hand hielt meine Schulter bei ihm. Nun war es endgültig vorbei. Gierig nach mehr, drückte er weiter seinen Körper an den meinigen, küsste weiter, unangenehm feucht den Hals herab. Was für ein krankes Hirngespinst hatte ihn nur eingenommen...? Ich biss mir wieder auf die Lippe, als Kai, entschlossen, nicht länger mit dem, was er jetzt schon hatte, zufrieden zustellen, mit den schlanken Fingern unter das Shirt fuhr. Seine Hand drückte sachte auf den Bauch, doch bald darauf zeichneten seine Finger jeden Muskel nach. Auch wenn ich den Bauch einzog, bemerkte ich die brennende Hitze, die seine Finger auf mir hinterließen. Jeder Kreis, den er von Gier und Verlangen getrieben auf meine Haut malte, war wie eine brennende Spur eines ungezügelten Willens, danach etwas für ihn bisher unerreichbares zu berühren.... Mich...?
 

Von einem weiteren Gedanken überrumpelt, bemerkte ich nicht einmal, wie er mir das Shirt dann doch über den Kopf zog. Mich beschäftigte allein die Frage, warum er das alles tat... Und, sollte ich mich einmal in meinem Leben hingeben, das Blut in Wallung bringen lassen, den Moment genießen, in dem ich mich selbst verleugnen würde, weil es sich nicht gehört, solche Gedanken zu pflegen? Einmal im Leben dem Trieb nachgeben, etwas Schmutziges zu tun und es dabei in vollen Zügen zu genießen? Aber da wir beide vermutlich eh darüber schweigen würden, warum denn dann nicht? Warum hindert mich mein Verstand daran, mich seiner Wollust hinzugeben...?

Meine Augen fixierten einen imaginären Punkt an der Wand, nur um nicht auf seine Berührungen aufmerksam zu werden. Dennoch konnte ich seine Lippen deutlich spüren. Wie sie langsam den Hals herabfuhren, eindringlich, über die Schulterblätter herab. Mein Körper drückte sich ihm entgegen, sackte mehr und mehr in eine waagerechte Lage, aber mir blieb nichts anderes übrig als mir auf die Lippen zu beißen. Mittlerweile war ich sogar soweit, dass ich sagen würde, dass da was in den Getränken war. Seine Hände strichen die Seite herab, zeichneten die Rippen langsam nach. Der Körper bebte unkontrolliert und meine Zähne rammten sich immer stärker in die Lippen. Selbst als Kai, besessen von seinen kranken Gedanken, die Hände an die Beine legte, provokativ mit der Hand über die Beine strich, wo die Hose die Schenken fast hauteng umspannte. Seine Lippen strichen nebenbei hauchzart den Bauch herab, umspielten den Bauchnabel, bis ihn schließlich etwas störte. Er schnaufte etwas ungehalten. Jeder hätte in dieser Situation gewusst, was das zu bedeuten hatte.

Vermutlich dachte er gerade etwas in der Richtung wie: Welcher Schwachmaat hat eigentlich Hosen mit Knöpfen und Reißverschlüssen erfunden...?

Und wie es nicht anders kommen sollte, strichen die Hände die Hüfte herab, griffen den Hosenbund, öffneten Knopf und Reißverschluss, schoben diese mehr oder weniger gewaltsam die Beine herunter. Mein Kopf bäumte sich kurz auf, erblickte wieder die vom Licht angestrahlte Bestie, die sich wieder an mir berauschen wollte. Ich stemmte mich mit Müh und Not auf die Unterarme, warf in der Dunkelheit böse und ernste Blicke um mich, ohne meine Unterlippe von den Zähnen zu befreien, im Gegenteil. Als der Dunkelhaarige weiter den Bauch nach unten herab küsste, biss ich noch fester zu, bemerkte nur im fiebrigen Wahn dieser Situation, wie er die Hände wieder die Beine entlang streifen ließ, die Lippen weiter über die bloßgelegten Lenden und weiter herab.

Keine Chance...

Meine Zähne bohrten sich in die Unterlippe, bis schließlich ein leichtes Blutrinnsal am Kinn herablief.

Draußen fuhr ein Auto vorbei. Das Rauschen auf der nassen Straße - vom Regen verstreutes Licht erhellte kurz den Raum. Kai blickte auf, etwas unruhig sah er mich an, lächelte aber wieder mit dem schelmischen, fast provokativen Hauch. Seine Augen glänzten und er stutzte. Wieder bewegte er sich an mir herauf, kam wieder nahe mit dem Gesicht an meines, hauchte wieder seinen Atem aufreizend über meinen Hals und den Rest der blanken Haut. Doch diese Glut in seinen Augen flammte wieder auf, er verzog sein Lächeln. Wie schon vorhin leckte er sich wieder über die Eckzähne, lasziv und begehrend drückte er wieder die Lippen auf den Hals, leckte das Blut bis zu Mundwinkel hinauf ab. Ich riss erschrocken die Augen auf, als er ein weiteres mal meinen Kiefer auseinander drücke, mir die Zunge in den Mund schob, wild küsste und mit den Händen weiter über meinen Körper wanderte. Ließ die Hüften hinter sich, schob ein weiteres Mal das letzte bisschen Stoff was mir geblieben war herab, malte mit dem Finger die Lenden entlang, tiefer zum Becken. Verzweifelt versuchte ich nach Luft zu schnappen, bäumte mich wieder auf, fiel jedoch sofort zurück ins Bett.

In meinen Ohren hörte ich das Herz pochen, sah nur wie sich in meinen Augenwinkeln Kais Lippen bewegten und wieder freche Worte formten, doch ich hörte nicht einen einzelnen Ton. Die Dunkelheit drückte weiter auf mich ein, seine Berührungen trieben mich, mit seinem diabolischen Lächeln, in einen noch nachdenklicheren Zustand. Sollte ich mich wirklich nur einmal den so heiß brennenden Streichelein hingeben? Seiner Begierde beugen und seine kranken Phantasien miterleben? Ihm den Moment versüßen, ihm jedoch die Qual bereiten, von mir kein Wort zu hören? Konnte man es denn wirklich Qual, oder etwas der Gleichen nennen? Vielleicht war das auch alles nur ein Alptraum, der aus meiner eigenen Angst quellte, anschwoll um mich schließlich selbst zu stürzen. Niederzustrecken, alles das, woran ich bisher fest geglaubt habe, dass ich dies in Frage stellte... Warum zum Teufel musste man eigentlich soviel nachdenken!? Vor allem in einem solchen Moment.

Er war schuld. Auch wenn ich in der Dunkelheit nichts sehen konnte, war ich mir so sicher wie noch nie, dass dieser Kai wieder in ein breiteres Grinsen verfiel, als ich weder zusammenzuckte noch Anstalten zur Flucht machte, als er Sekunden später seine Hose fallen ließ.

Bald darauf fasste Kai wieder mein Kinn, strich über das Gesicht, mit dem Daumen über die weichen Lippen, auf die ich wieder die Zähne biss, um ja keinen Mucks von mir zu geben. Schwer genug Stillschweigen in einem solchen Zustand zu bewahren, allein seine Gegenwart ließ mich jetzt schwerer atmen. Ich wollte den Mund aufreißen und nach Luft japsen, wie ein elender Fisch auf dem Trockenen. Zum Sterben verurteilt.
 

Der Oberkörper leicht glänzend, vom matten Licht der Straßenlaternen, überzogen von einer Gänsehaut. Unsicher, ob ich nun nachgeben sollte oder nicht, musterte ich ihn weiter. Faszinierend und Abstoßend. Seine Hand ruhte an der Wange, drückte den Kiefer wieder gekonnt auseinander, drängte seine Zunge wieder gierig in den Mund, während auch der letzte Stoff runtergezogen wurde. Seine Hände wanderten weiter, höher, die Innenseite meiner Beine entlang, auch wenn ich innerlich von weiter anschwellenden Schauern durchfahren wurde, wollt ich nicht ein einziges Wort noch nicht mal ein Seufzen von mir geben. Ich holte scharf Luft. Hauchzarte Küsse den Hals und die Schultern herab, bis er inne hielt. Mit einem Ruck hatte er mich an den Armen gepackt, herumgedreht, mit dem Rücken zu ihm. Kai drückte meinen Kopf ins Kissen, strich über die Wirbel, küsste weiter, leckte schließlich über den Nacken, beugte sich weiter vor. Das Herz pochte mir bis zum Hals, ich krampfte die freie Hand im Kissen zusammen, die Luft war stickig und der Atem stockte. Er küsste weiter meinen Rücken entlang, leckte mal über die Wirbel und hinterließ wieder eine feurige Spur Verlangen. Ich krallte mich ins Bettlaken und biss mir weiter auf die Unterlippe, bis ich Blut schmeckte. Jeder Hitzewallung folgte ein Kälteschock, ausgelöst durch seinen Atem, der über meinen Rücken streifte.

Ein Schauer nach dem nächsten durchfuhr meinen Körper, ließ mich ungewollt doch weiter zusammensacken, mein letzter Widerstand, die Kraft sich gegen ihn aufzubäumen, verließ mich, strömte weiter hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Jede weitere seiner Bewegungen ließ mich förmlich weiter abdriften, selbst als ich seine Hände an Stellen spürte, an denen ich sie mir nie erträumt hätte, konnte ich noch lange nicht fassen, dass dies wirklich Realität war. Es wirkte so fern, fern von Verstand, Gesellschaft, Zivilisation. Ordnung, Normen...Gewalt einer Höheren Macht. Konnte das alles denn nun wirklich sein? Gänzlich wünschte ich mir schon mittlerweile solche Berührungen, doch nicht unter solchen Umständen, nicht mit ihm... Oder doch? Mein Verstand drehte sich wieder im Kreis.

Ich schloss die Augen, doch das machte die Situation nicht gerade einfacher, im Gegenteil, selbst mit geschlossenen Augen konnte ich seine Hände deutlich vor mir sehen, wie sie über die blasse Haut strichen, jeden Muskelstrang nachzeichneten und fast künstlerisch, wundersam, obsessiv begeisternde Spuren von scheinbar ewig brennenden Gefühlen hinterließen. Ich hatte mehr das Gefühl wie ein Außenstehender alles mit zu erleben, wie sich Kai an mich drückte, mein Gesicht aus dem Kissen zog und mir einen vielsagenden, düsteren Blick zuwarf. Die Augen halb geschlossen spiegelte er meinen Gesichtsausdruck wieder, doch in seinem lag weitaus mehr Vergnügen. Seine Finger fuhren erneut die Schenkelinnenseite entlang, hinauf, umspielten flüchtig die Erektion. Mir stieg wieder die Hitze in den Kopf. Warum musste er mich so demütigen? Was hatte ich ihm getan, dass er sich am Anblick eines... ja, wehrlosen Mitschülers so ergötzte? Die Hitze in mir, rührte wohl nicht nur auf die Röte in meinem Gesicht, sondern auch den Zustand meines Körpers. Mein Herz und mein Verstand weigerten sich weiter gegen all dies, doch der Körper konnte sich dem was mit ihm geschah nicht so einfach entziehen. Sein Schmunzeln bei all dem war mir nicht entgangen....
 

Ich hasste ihn, ja gerade in diesem Moment wusste ich es mit großer Sicherheit. Hass, Hass musste dieses Gefühl sein, das in mir aufbrannte, mir den Verstand vernebelte und mich so seltsame Dinge denken ließ. Er war einfach nur ein verdammter -

Im selben Augenblick durchfuhr mich ein noch weit aus heftigerer Schmerz als der pochende Kopf und das rasende Herz. Das war nun echt nicht möglich! Ich drückte das Gesicht wieder in das Kissen, riss mir die Hand vor das Gesicht. Kai hatte es tatsächlich getan... In mir stieg weiter die Wut und unter Schmerzen stiegen mir Tränen ins Gesicht. Sie rannen fast eiskalt über die Wangen in das Kissen, das meine Hände krampfhaft umklammerten.

Ich konnte wieder seine Hände auf mir spüren, die mich an noch so empfindlichen Stellen streichelten, doch ich musste standhaft bleiben. Ich wollte... Niemals, niemals hätte ich mir gedacht, dass gerade er diese Art Mensch ist, die tatsächlich Sex mit dem gleichen Geschlecht hatten. Für ihn war es vielleicht reine Routine, wer weiß, wie viele Frauen oder Mädchen er aus der Jahrgangsstufe schon verführt hatte. Doch, dass er sich nun an mir so vergriff...Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde, doch ich fühlte ihn, überall. Seine Finger an meiner Brust, seine Lippen, die sacht über den Hals küssten. Ihn selbst, in mir. Gott, wie grundverdorben musste das nun sein. Aber es hatte etwas sonderbar Süßes. Ein Schmerz der nach der Zeit abklingt und nur noch pures Verlangen hinterlässt.
 

Seine Zunge fuhr eiskalt den Rücken entlang, kühlte die kochendheiße Haut, die vielleicht nur mir so heiß vorkam. Ich wollte am liebsten fliehen, aus dieser aussichtslosen Lage, einfach fort. Fort von den Berührungen, die einen so sinnlich in die Tiefe ziehen, einem die letzte Kraft rauben, die einem jede Regel brechen lässt.

Kai! Was tat er nur? Es war für ihn nur reines Spiel, sein Lächeln, sein siegessicherer Blick, den er wieder in der Schule tragen würde. Er hatte ja keine Ahnung, wie es ist so gedemütigt zu werden. In mir kam jedes Mal ein weiterer abscheulicher Gedanke auf, wenn ich ihn spürte. Seine Hände auf meinem Körper, seine Küsse auf der Haut, alles schien so kalt, angenehm um mich von der aufsteigenden Lust abzulenken.

Sinnliche Küsse, diese ungewohnten Liebkosungen. Nie hätte ich gedacht, dass so etwas gerade von ihm kam. Ein Mensch so abstoßend arrogant und siegessicher und doch so leidenschaftlich zärtlich. Die hauchzarten Brührungen, die mich weiter an die Grenze des Erträglichen trieben.

Wie oft schon hatte ich ihn in den Umkleiden fast entblößt gesehen. Doch ich könnte ihm vermutlich nach all dem nun nicht einmal mehr in die Augen sehen. Seine dunklen Haare durchnässt, der Körper von Schweiß benetzt. Breite Schultern, ansehnliche Statur. Doch was war es, das mich so denken ließ? Der Gedanke, dass er als Junge mich so berührte, wie kein anderer je zuvor, mit mehr Leidenschaft als je erdacht, brachte in mir noch mehr Zweifel auf.

Ich atmete scharf die Luft ein, merkte nur ungern, dass ich von all meinen Gedanken übermannt wurde, eingeholt von dem Gefühl eines so wunderbar bittersüßen Alptraums, der so süße Schmerzen hinterließ. Hartes Schlucken, ich wollte dies alles verdrängen, doch das Bild vor meinen Augen war zu stark. Trieb mich nur weiter dazu, die Augen zu schließen, mit einem frechen Grinsen nur zusammen zu zucken. Meinen Körper durchfuhr ein Schaudern, meine Zähne rammten sich wieder in die Lippen als ich merkte, dass ich dem nich mehr standhalten konnte. Ein weiteres Schmunzeln, als Kai seine Hand von mir nahm, er hatte was er wollte. Zumindest was meine Leistung anging. Gerade jetzt hatte ich das Gefühl in seinen starken Armen zusammenzusacken, dabei hatte sich meine Lage nie verändert. Eine Erleichterung, die trotz des anhaltenden Drucks, das Grinsen auf meinen Lippen hielt.

Weiter krallte ich mich in das Kissen, als ich merkte, dass Kai dem allen ein Ende setzen wollte. Eigentlich war ich heil froh, doch andererseits wollte ein anderer Teil von mir, die so warmen Berührungen nicht missen. Die Vorstellung an das danach, bereitete mir nun mehr Sorgen als mein anfänglicher Angstgedanke.

Seine Haut dicht an meiner, durchfuhr mich schließlich eine vollkommen fremde Wärme, Kai ließ von mir ab. Das Erste was ich danach tat, war wieder Luft zu holen, ich hatte mich nicht getraut auch nur einmal zu atmen, da ich dachte zu zerbersten solange diese Anspannung verharrte, sobald ich versuchte meine Lungen mit Luft zu füllen. Sein Körper fiel neben mir aufs Bett.

Seufzen meinerseits und noch ein weiterer tiefer Atemzug. Ich war froh, dass es vorbei war, doch nun fehlte mir klar etwas. In mir kam wieder die ‚Kälte’ des Alltags auf. Mich überkam ein schwerwiegender Gedanke, dass ich vielleicht doch nicht so hilflos war, wie ich einst dachte. Ich hätte jederzeit fliehen können, wenn ich gewollt hätte. Allein wenn ich es nur gewollt hätte, hätte ich diese Schnüre, die mich an die Dunkelheit banden, hinter mir lassen können...
 

Mein Körper lag mittlerweile wieder entspannt da, auf dem Bauch, noch immer regungslos. In meinem Kopf war dabei alles am arbeiten. Kai lag, die Hände hinterm Kopf verschränkt auf dem Rücken, sah gen Decke, schielte gelegentlich zu mir. Musterte die Schulterpartie, den blanken Rücken, der noch immer von einer Gänsehaut überzogen war.

Ich drehte den Kopf zu ihm, sah ihn an. Sein schwarzes Haar lag wieder über die Augen, wieder leckte er sich über die Lippen. Nichts von alle dem, was ich dachte war richtig.

„Gott, ich hasse dich so!“

Kai lachte laut auf, schwang sich auf, zog die Hosen wieder an und ermöglichte mir noch einen Blick auf den schon so oft gesehenen Rücken.

„Ich hasse dich nicht weniger. Aber, ich glaube, dass wir uns erst dann richtig verstehen werden, wenn wir beide im Angesicht des Todes zu Asche zerfallen. Und du bist schon längst tot.“
 

Seine Worte versetzten mir einen ungeahnten Stoß. Ein Stich ins Herz, nie hätte ich erwartet, dass er je solche Worte sagt. Erst jetzt merkte ich eigentlich, dass ich diesen Rücken viel zu oft mit dem gleichen Gefühl betrachtet habe – Sehnsucht. Viel zu oft hatte ich diesen Rücken betrachtet und mir gewünscht, dass er sich zu mir umdreht. Nun, da ich seine Worte im Kopf immer wieder abspielte, erkannte ich erst, dass er all die Zeit nicht mich wollte.

Nein!

Ich wollte ihn.

Der Hass den ich hegte, war nichts weiter als eine Ausrede, die ich versuchte so gut wie eben möglich für mich zu bewahren, um nicht daran zu zweifeln, was wirklich dahinter stecken könnte.

Kälte überrannte mich, ein nächtliches Ungetüm, ein Gemisch aus Dunkelheit, Schuld und Selbstmitleid. Ich erkannte endlich seine Einstellung zu mir.

Mein Tod, wie er es bezeichnete, war schuld an dieser Fassade, die ich mir jedes Mal aufs Neue errichtete. Ein Trugbild, in dem ich mir vorstellte, jemand anderes zu sein. Ich hatte mich die ganze Zeit nach ihm gesehnt. Seine Worte gaben mir jedoch zu verstehen, dass er sich nicht bereit erklärte für diesen Gedanken zu sterben.
 

Ich fühle keine Schuld, ich werde mich nicht entschuldigen, ich werde nicht länger vor dem Gefühl weglaufen. Ich werde warten.

Warten bis auch er endlich einsieht, dass jene Nacht nicht nur mir dies klar gemacht hat.
 

Ich warte.
 

In jener Nacht ist ein Teil von mir gestorben. Gestorben, um sich dem zu widersetzen was mein Kopf mir einredet. Gestorben, um wieder für ein neues Gefühl Platz zu schaffen.

Ich werde warten, bis auch in ihm dieser Teil endlich gewichen ist, und ihm sein Herz sagt, dass ihn etwas an mich bindet.

Werde mich weiter danach sehnen, nicht länger seinen Rücken zu sehen.

Einmalig, aber dennoch hat in mir eine grundlegende Veränderung stattgefunden.

Seine Worte werde ich nie vergessen, bis ich weiß, dass auch in ihm endlich dieser Teil gestorben ist, der ihn daran hindert, mich anzusehen. Mit diesen Augen, schwarz wie die Nacht selbst, erfüllt von Freude, Erleichterung. Und ich möchte noch einmal diese Augen sehen, die gefüllt von Energie und Lust die Nacht noch einmal mit der Glut von damals durchleben wollen.
 

Auf all dies werde ich warten, bis sich der Wind dreht und auch in ihm etwas stirbt.

Jene Nacht war ganz besonders.

Schnüre aus Zweifeln, die sich messertief ins Fleisch reißen um dir endlich klar machen, dass du dir all das so sehnlich gewünscht hast. Und doch...
 

Du weigerst dich vor dem, wonach du die ganze Zeit so geschrieen hast. Es muss erst etwas sterben, um etwas Neues zuzulassen. Erst dann wird die Nacht wieder zum Tag, der die Sonnenstrahlen mit neuer Hoffnung bringt... Auf eine weitere Nacht, eine bessere, schönere... sinnlichere.

Fairytale gone bad

Alles geht seinen Lauf, man kann nichts daran ändern.
 

Meine Füße schlichen über den weichen glatten Parkettboden, stoppten kurz.

„Reiji~“, hörte ich die vertraut raue Stimme aus dem Zimmer erklingen, an dem ich gerade vorbei gehen wollte.

Kurzerhand blieb ich stehen, klopfte kurz, öffnete die Türe, ohne auf eine Antwort zu warten. Vor mir im Zimmer saß er, vor dem Bett auf dem Boden, die Beine angewinkelt, den Kopf zur Seite gerichtet. Als ich den Jungen so da sitzen sah, verschlug es mir den Atem. Ein unsichtbarer Faden schlang seine Schlaufe um meinen Hals, verschnürte mir Luft und Stimme, drehte sich fleischeinschneidend an mir herab, dass mein Körper kurz erbebte. Sein Gesicht leicht gerötet, die eine Hand auf den Mund gepresst, die andere auf dem Schoß.

Ich blinzelte ein paar Mal, ehe ich wieder den Mund schloss, den ich geöffnet hatte um ihm diese bestimmte Frage zu stellen. Meine Füße drehten auf dem Absatz um, als mein Kopf endlich registrierte, was hier vor sich gegangen war, und beförderten mich rasch wieder aus dem Zimmer.

Mein Verstand wollte nicht wahr haben, was er gerade gesehen hatte, meine Füße flohen vor ihm und trugen mich aus dem Haus, die Straße hinab, aber meine Augen hatten dieses Bild noch klar im Sinn. Als ich schließlich zum Stehen kam, wusste ich, dass mein Gesicht mindestens genauso gerötet sein musste, wie das seinige eben. Warum hatte er das getan...? Warum hab ich meinen Namen gehört? Und vor allem, war es wie ich es dachte?

Ich schüttelte den Kopf, sackte auf eine Parkbank nieder. Klar und deutlich spiegelte sich diese Figur, die von nun an sogar zu meiner Familie gehören sollte, in meinem Gedächtnis wieder. Die zarten dunklen Haare leicht im Gesicht, das Funkeln in den klaren Augen, die roten Wangen. Dann die Hände. Ich hatte noch nicht einmal richtig hingesehen, wusste jedoch was geschah. Dieser Gesichtsausdruck, die Hände. Es konnte nicht sein, und doch war es so Ich hab es gesehen – gesehen wie er... Masturbierte...?

Verzweifelt schlug ich die Arme um den Kopf. Allein bei dem Wort hatte ich das Gefühl, dass er platzen würde. Die Sache mit Kai war keine drei Wochen her und nun schon wieder so etwas schrecklich Peinliches. Und vor allem, war es nicht mein Name, den ich gehört hatte?

Seit dieser einen Nacht hatte ich mich nicht mehr getraut, mich beim Duschen umzusehen. Ich fixierte einen imaginären Punkt an der kalten Fliesenwand, schämte mich für alles und jeden. Selbst das Umziehen vor und nach der Sportstunde fiel mir unbegreiflich schwer. Jedes Mal hatte ich das Gefühl tausend Blicke auf mir zu haben, die an mir zerrten, mich förmlich in Stücke rissen. Mein tiefstes Innerstes ans grelle Licht des Tages holten. Nichts aus meinem Alltag schien mir noch wirklich, alles drückte auf mich ein, wie eine schwere Wolke der Nacht, die unwiderruflich Tag ein Tag aus immer wiederkehrte.

Vor einigen Tagen fragte mich meine Mutter zum zigsten Mal, ob ich mir nicht irgendwann einmal im Leben schon mal einen Bruder gewünscht hätte. Ich hob eine Braue, sie war in letzter Zeit seltsam gewesen. Den Grund dafür erfuhr ich am Wochenende darauf. Sie hatte ihren neuen ‚Lover’ eingeladen. Mein Vater hatte kaum nach der Feier bei Kai keinen Schritt mehr in dieses Haus gesetzt. Sie hatte ihn mit Tränen und Geschrei aus dem Haus gejagt. Anfangs, als sie mir einen Tag zuvor, das erste Mal von dem Neuen erzählt hatte, dachte ich, dass er reich sein musste. Sie kam jedes Mal, wenn sie angeblich länger arbeiten musste, fröhlich grinsend nach Hause, roch nach Wein und hatte dieses melancholisch glückliche Seufzen. Hoffnungslos verknallt, dachte ich mir. Als ich dann erfuhr, dass es Ihr eigener Chef war, den sie als neuen Freund hatte, wurde die Sache kniffliger.

Ihnen die Wahrheit sagen, wenn ich diesen Kerl nicht mögen würde und den Job meiner Mutter riskieren oder schweigen und ins Unglück stürzen. Ich gebe zu, diese Ansicht war übertrieben, als sie damals jedoch noch im selben Atemzug sagte, dass er einen Sohn hat, kaum ein Jahr jünger als ich, horchte ein Teil von mir auf.

Ein anderer Teil dachte sich, wie groß sei denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann, der in einer großen Stadt arbeitet und vermutlich auch wohnte, einen Sohn hatte, den ich kannte und vermutlich nicht mögen würde. Doch auch dies sollte sich als ein größeres Problem darstellen, als es anfangs schien.

Das Wochenende brachte dann die schwerwiegende Erkenntnis.

Ich saß hart schluckend am Tisch, diesen neuen, perfekten und humorvollen Mann vor mir, den meine Mutter sich geangelt hatte. Daneben den Sohn. Jünger als ich, größer als ich, stärker als ich. Schlau, gut gebaut und fast schwarzhaarig. Gefärbte Strähnen, die unpassend zum Hemd wirkten. Er war nicht die Art Mensch, die anständige Klamotten trug - Nein, ganz anders.

Ein unbeholfen unschuldiges Lächeln und ein leises Seufzen, wenn ich meinen zynischen Blick auf ihn richtete und ihn eher böswillig anfunkelte. Sein Vater hatte ihm scheinbar alles erzählt, während meine Mutter mir die ganze Geschichte innerhalb von fünf Minuten am Vortag verklickert hatte. Ich fühlte mich rücklings überwuchert von einer kleinen, obszönen Verschwörung unter den dreien.

Der Junge da, der Sohn von ihrem neuen Lover, der Junge, der nun damals dort am Tisch saß, ging in meine Schule, meine Klasse, war mein bester Schulfreund. Wie groß war noch mal die Welt?! Wie groß war dabei die Wahrscheinlichkeit, die ich mir noch errechnet hatte?

Alles wurde über den Haufen geschmissen. Dieser neue Aspekt des Lebens brachte einiges um mich herum ins schwanken. Yuta, der Junge, der damals dort am Tisch saß und nun eben im Zimmer diese Grauentat vollbracht hatte, war einige Zeit über mein bester Freund gewesen. Seit dem er nun notgedrungen, ja vorerst, zur Familie gehörte, hatte sich zwischen uns ein Spalt aufgetan, kaum merkbar, aber wir sprachen nicht mehr über alles. Morgens am Tisch, schwiegen wir, weil eine solche Situation für uns beide ziemlich ungewollt kam.

Ein Schnaufen kam aus mir, als ich endlich wieder die Lippen öffnete, um tief einzuatmen. So etwas hatte mir auch noch gefehlt. Seit dem mich Kai damals, nun, sagen wir etwas in Sachen ‚Verlangen’ und ‚Hinneigung zum Geschlecht’, in die falsche Richtung gedriftet war, hatte ich ein schreckliches Gefühl, dass mich ständig beschlich. Kein Moment verging, in dem ich nicht irgendwie an diese Worte erinnert wurde...
 

» Aber, ich glaube, dass wir uns erst dann richtig verstehen werden, wenn wir beide im Angesicht des Todes zu Asche zerfallen. Und du bist schon längst tot. «
 

Seine zarten, aber doch so schmerzenden Worte, hatten sich tief in meinen Kopf gebohrt, zehrten sich nach nahrhaften Gedanken, die sich mit der Frage beschäftigten ‚Bin ich nun...’ – Ich hasste dieses Wort - ‚schwul? Oder ist es nur das Verlangen nach Kai?’

Bezog sich dieser Drang auf Kai? Ihn zu sehen, den stählernen Körper vor mir zu sehen, den gewohnten Gang und seine Worte zu hören, all das, was mich im Alltag doch so leise erfreute, mir leichte Schauer über den Körper jagte?

Oder war es so, dass ich dieses Gefühl auch für einen anderen empfinden konnte, einen anderen – Gott, wie ich diesen Gedanken hasste – Mann?

Zerfressen von einem Gedanken, der vom nächsten gefolgt wurde, blieb ich bis spät Nachmittags auf dieser Bank sitzen, grübelte in mich hinein. Mit jedem Mal, in dem wieder dieses Bild in mir auftauchte, huschte ein roter Schimmer über mein Gesicht und meine Nackenhaare stellten sich auf.

Aber warum schämte ich mich so?

Ich war es doch nicht, der es getan hatte. Ich käme auch nie auf die Idee so etwas zu tun... Aber dennoch brachte das alles in mir ein unglaubliches Peingefühl hervor. Es kam mir schlimmer vor als jeder Vortrag vor der Klasse. Selbst wenn man noch so falsch liegen würde und alle lachen würden, wäre mir die Situation tausendmal lieber, als gerade ihn bei so was zu erwischen. War es gerade die Tatsache, dass Yuta meinen Namen genannt hatte, der mich so ‚nervös’ machte? Wenn seine Betonung in meinem Ohr wiederhallte, jagte es mir eiskalte Schauer über den Rücken. Ein Ekeln und doch ein Kitzeln, das mich sehr an damals erinnerte...

Gefasst von noch mehr Unruhe sprang ich wieder von der Parkbank auf, ging langsam wieder zum Haus, versuchte meinen Kopf zu klären und diese Illusion zu vertreiben. Ein Missgeschick, ein Unfall, eine ungünstige Situation... Ja, das dritte war es. Einfach eine verdammt beschissen ungünstige Situation. Ich hätte doch öfter klopfen sollen und auf Antwort warten sollen, ehe ich die Tür aufgemacht hätte.

Aber meine Frage. Ich hatte es wieder vergessen, doch es würde mir morgen wieder in den Sinn kommen. Es war irgendwas von der Schule, das ich fragen wollte... Doch was?

Draußen hatte sich eine schwere Luft gelegt, dicke Wolken schoben sich auf den rötlich gelb gefärbten Abendhimmel und mir graute es ein bisschen vor der Nacht.
 

Kaum hatte ich die Stufen zu meinem Zimmer im ersten Stock hinter mir gelassen, hörte ich, wie sich die Tür hinter mir öffnete, die Tür von Yutas Zimmer.

Ich blieb stehen, meine Füße wollte nicht auf meinen Verstand hören, der ihnen schreiend befahl zu laufen, laufen, weg vor dieser Situation. Doch ich drehte mich um, hatte ein gespieltes Lächeln auf den Lippen. Yuta spiegelte denselben Ausdruck. Eine ganze Weile standen wir da, lächelten, obwohl keiner von uns genau wusste, warum wir eigentlich so grinsten.

Nach kurzer Stille sackten Yutas Mundwinkel in ihre normale Ausgangsposition. Leicht von unten herauf sah er zu mir hin, legte nun mehr einen ernsten, fast besorgt beschämten Blick auf.

Sein Mund öffnete sich, sanfte Worte voll bedauern drangen kaum hörbar hervor.

„Sag mal, du wirst doch ... na ja ‚unseren’ Eltern nichts davon erzählen, Oder?“, machte er und deutete die Anführungsstriche bei ‚unseren’. Schließlich waren sie noch nicht einmal verheiratet.

Unwillkürlich lachte ich. Keine Ahnung warum. Eher weil mir alles zu peinlich war.

„Das Ganze ist mir bestimmt unangenehmer als dir, warum sollte ich dann so was erzählen?“, fragte ich und meine Tonlage wurde ernster. Mein Name, es war mein Name, oder?

Yuta musterte mich. Seine schwarzen Strähnen verdeckten die sonst so starren, klaren Augen. Die üblichen Klamotten hatte er auch schon wieder an. Dunkler Rollkragen, fast schwarze Jeans, Turnschuhe, die schon fast auseinander fielen.

Er lachte Sekunden später.

„Also nicht, dass du da was falsch verstehst~“, machte er, verstummte plötzlich, wurde leiser. „Das war nicht dein Name...“, meinte er, ein roter Schimmer lag über seinem Gesicht. Sein Blick war auf die Wand gerichtet, die seinem Zimmer gegenüber lag. Als er da so am Türrahmen stand, fast lehnte, und mir das sagte, hätte ich schwören können, dass er es so meint. Auch wenn mir die Zweifel immer wieder Löcher in dieses feine Trugbild aus Harmonie und Einklang fraßen, wusste ich, irgendwo ist noch ein Schimmer von Ehrlichkeit und Ruhe in ihm. Mit einem weiteren Lächeln, mehr verzogenem Grinsen und einer gehobenen Braue, ging ich dann zu ihm, legte ihm die Hand auf und sprach ihm ermutigend zu.

„Ja, will ich ja mal hoffen. Wer weiß was sonst noch alles in diesem Ganzen hier geschehen würde...“, noch als ich dies aussprach überrollte mich ein unangenehmer Schauer. Ja was würde noch alles passieren?! Wer bitte hatte schon so viel Pech wie ich in so kurzer Zeit!

Eine grausige Vorstellung. Ich nahm schnell wieder die Hand von seiner Schulter, sah sie aus den Augenwinkeln skeptisch an, als ob ich irgendeine Krankheit an ihr kleben hatte. Genauso schnell fuhr mein Blick aber wieder zu Yuta, der sich mittlerweile von der Wand abgestoßen hatte und nun mir die Hände auf die Schultern legte. Ich hoffte nur, dass er sich gründlich gewaschen hatte und dann hatte ich wieder dieses gespielte, überaus breite Grinsen auf den Lippen, genau wie er.

Er sackte ein, ließ den Kopf hängen, und im selben Augenblick ahnte ich Fürchterliches. Er würde mir vielleicht jetzt doch alles gestehen, ein Schütteln musste ich unterbinden.

„Reiji...“, allein wie er es sagte, bereitete mir schon wieder Kopfzerbrechen, ob er das eben ernst meinte, lauschte aber doch weiter.

„...“, er sah wieder hoch, lachte wieder kurz, diesmal aber natürlicher, „du hättest mal deinen Gesichtsausdruck in dem Moment sehen müssen.“

Erleichtert seufzte ich. „Nein~ darauf kann ich verzichten.“, ich nahm mir seine Hände von den Schultern und drehte mich um, ging ein Stück weiter.

Als ich jedoch zurück sah, stand er wieder mit ernstem, fast nachdenklichem Blick an die Wand gelehnt, in Gedanken versunken. Ja, das war der Yuta, den ich kannte. Großgebaut, nachdenklich, ruhig, mit einer seltsam anziehenden Ausstrahlung.

„Es wird heute Nacht gewittern...“, gab ich leise von mir, drehte mich wieder um und ging auf mein Zimmer. Yuta schlug in dem Moment, als ich diese gewählten Worte genannt hatte, zustimmend die Augen zu. Mir gefiel der Gedanke nicht. Ganz und gar nicht.
 

Und wie ich es gesagt hatte, die Luft lag schwer über den Häusern, dicke schwarze Wolken bahnten sich ihren Weg über den Himmel, verbreiteten noch schrecklichere Gedanken und Gefühle in mir, als ich geahnt hatte. Nach einem Blitzschlag, der das gesamte Zimmer erhellt hatte, drehte ich mich um, sah zur Tür. Es wunderte mich, dass noch nichts geschehen war. Doch ich hatte meine Gedanken noch nicht einmal sortiert, da klopfte es kaum hörbar an der Tür. Warum musste ich auch denken?! Einen Spalt breit öffnete sich diese und eine schmale Gestalt drückte sich hindurch.

Ich rutschte im Bett weiter zur Wand. Mit Rascheln kam er näher. Zischte kurz, kniete sichtbar vor der Bettkante nieder. Es schien wie ein Betteln, ein jammerndes Flehen. Fast erbärmlich wie er da saß, beim nächsten Donnerschlag zusammenzuckte, die Augen zusammenkniff, das mitgebrachte Kopfkissen zusammendrückte.

Keiner der Yuta kannte, hätte auch nur daran gedacht, dass der sonst so stille und schweigsame Junge in solchen Nächten fast vor Angst im Boden versinken wollte. Ein dunkles stilles Loch haben wollte, aus dem er erst wieder herauskommen würde, wenn alles vorbei war. Kurz gesagt: Er hatte verdammt Schiss.

„Reiji, Reiji...?“, er holte zu einer Erklärung Luft, wollte wohl noch etwas zum Nachmittag sagen, doch ehe dies geschah, unterbrach ich ihn.

„Halt keine Reden, leg dich hin.“, brummte ich gelassen.

Mulmig war mir bei dem Ganzen schon, aber das ging schon seit Ewigkeiten so, als er früher mal hier war, hatte ich mich fast vor Lachen nicht halten können, als er mir erklärte, dass er in solchen Gewitternächten lieber sterben würde, als zu schlafen.

Damals hatte er noch die Gelegenheit auf seinen Vater zu warten, bis dieser nach Hause kam, oder blieb an Wochenende mit ihm auf. Nun, da er hier war, sein Vater unten, im Schlafzimmer meiner Mutter, hatte er schlechte Chancen.

Er hätte ja auch so aufbleiben können, doch da würde er schnell wieder panische Angst bekommen.

Seine Erklärungen hatte ich nie verstanden. Wie oft er es auch erzählen mochte, ich fand keinen vernünftigen Grund, der mich zufrieden stimmte. Ich gab mich damit ab, dass er in solchen Nächten immer wieder bettelnd vor dem Bett kniete.

Egal, auch wenn wir uns zum Beispiel gestritten hatten, kam er. Am nächsten Morgen waren wir wieder normale Freunde, Brüder, was auch immer man es nennen sollte. Irgendwie brachten diese Gewitter also auch etwas Gutes.

Auch wenn es mir nicht ganz geheuer war, wenn er so da neben mir lag, dicht an dicht. Er hätte ja die Möglichkeit gehabt, dass zu tun, was Kai getan hatte, wenn er es denn wollte. Wenn es mein Name gewesen wäre... Aber trotzdem, wie kam ich überhaupt auf die Idee, dass er so etwas tun könnte? Yuta, nein, er war der Letzte, dem ich so etwas zutrauen würde. Also, diese Gefühle für – ich musste unwillkürlich laut schlucken, auch wenn ich es nur dachte - das gleiche Geschlecht.

„Es tut mir leid.“, jammerte er förmlich, als es wieder donnerte. Die schwarze Nacht, durchdrungen von peitschendem Regen und donnerndem Schall, war so ziemlich das Einzige, was uns in solche Situationen brachte, wo man wirklich denken konnte, das sind mehr als Freunde.

All diese Gedanken hielten mich wach, ich lauschte nebenbei immer wieder dem Regen, der gegen das Fenster klopfte wie ein dritter Gast. Dann merkte ich ab und an wieder den Körper neben mir zusammenzucken. Wäre es nicht so eine grässliche Welt, wäre er jünger als ich, ja weit jünger, dann hätte ich ihn in den Arm genommen. Ihn getröstet. Ich konnte kaum seinen Atem hören, vermutlich horchte er genauso starr auf mich, wie ich auf ihn. Immer bereit voneinander wegzuspringen, falls einer von uns eine falsche Bewegung machte.

Stille legte sich, entfernt noch wenige Donnerschläge, die das Geräusch des Regens übertönten. Yuta war ruhig, den Rücken zu mir gedreht, fast zusammengekauert, klammerte er sich an das Kissen. Die Decke, die wir uns unweigerlich teilen mussten, da es sonst zu eng gewesen wäre, breitete eine stickige, fast erdrückende Wärme auf mir aus. Unerträglich. Mein Körper wollte strampeln, alles von sich streichen, selbst das unangenehme Gefühl, so eine peinliche Situation erlebt zu haben. Alles, alles sollte weg. Fort, fort. Weg gespült vom Regen. Doch nichts geschah. Ich blieb steifgefroren liegen, wagte es nicht mich zu rühren, da ich fürchten musste, dass auch er sich bewegte.

Ich glaube, dies war mit eine der schlimmsten Nächte, die ich neben ihm verbracht hatte, nicht dass alle schlecht waren. Nein, ganz im Gegenteil, meistens redeten wir, weil auch ich oft nicht schlafen konnte. Doch diesmal war es diese drückende Sprachlosigkeit, die uns beide in die Tiefe zog.

Das Gefühl, ihn zu verlieren, dass er sich durch ein so grässliches Gefühl leiten ließ, dass er so wie Kai sein könnte, all das stimmte mich traurig.

Jahrelang hatte ich mir nichts weiter gewünscht, als diese freundschaftliche Bruderschaft. Sicher hatte ich nie daran gedacht, dass so etwas wirklich je passieren könnte, aber trotzdem, irgendetwas in mir bedauerte alles.
 

Am nächsten Morgen schlug ich die Augen auf. Yuta war schon auf, da er weder neben mir lag, noch in sein eigenes Bett zurückgekehrt war. Unten am Frühstückstisch saßen wir wieder alle vier versammelt, schwiegen uns an. Eine scheinbare Idylle für die älteren und die Nachbarn, aber keiner ahnte auch nur irgendetwas. Nichts von dem, was in mir oder was in Yuta vor sich ging. Keiner wusste etwas. War es besser so, oder sollte man mit allem herausplatzen um diese schwere Last des Wissens von sich zu wälzen?

Es verlief wie sonst auch. Kein Wort kam über unsere Lippen, erst als er und ich auf dem Weg zur Schule waren, brach er die Stille zwischen uns.

„Hast du schon Pläne für die nächste Woche?“

Ich sah ihn etwas verwirrt an, ehe mir endlich klar wurde, was ich vergessen hatte. Meine Augen weiteten sich. Die Frage, die ich ihm gestern noch stellen wollte. Genau dieselbe. Nein, eigentlich war sie präziser.

„Du meinst wegen der Zimmeraufteilung?“

Er nickte kurz. Erleichterung.

Es gab für mich nur zwei Möglichkeiten: Eine schlimmer als die andere.

Einerseits könnte ich in ein Zimmer mit Kai und einem anderen Klassenkameraden gehen. Doch irgendwie grauste es mir vor dem Gedanken. Die andere Wahl wäre ein Doppelzimmer mit Yuta. Was wäre einfacher?

Keines von beiden. Yuta, der nun bekanntermaßen bei mir, oder besser bei ‚uns’, wohnte, war eben so unbeliebt wie ich. Eigentlich ging das nicht... Wir haben damals nur durch Zufall zueinander gefunden, eher aus Zwang. Jeder von uns war nicht grad der Meister in Sachen ‚Gruppenbildung’ und ‚Integration’ in die Klassengemeinde. Also stand ein Einzelner dem anderen gegenüber.

Ein Zimmer mit Kai zu teilen wäre gleich, als ob ich mich mit bloßem blutüberströmtem Körper einem fresssüchtigen Tiger entgegenknien würde. Ich hatte seinen Blick, sein Lächeln, sein schelmisches Lecken vom letzten Mal nicht vergessen. Doch dieses Mal würde es wohl mehr in einer Art Folter enden. Erniedrigt, gepeinigt, um in der Klasse schließlich als totaler Versager dazustehen.

Er hob eine Braue, sah mich an und wartete immer noch auf eine Antwort, während mir ein Angstschauer über den Rücken rann.

„Das is ja wohl klar, dass wir uns ein Zimmer teilen.“, meinte ich. Einerseits war ein Argument, dass er bei einem Gewitter wohl eher ins Klo rennen müsste, als dass er sich bei wem anderes ins Bett schleichen könnte - auch wenn mir bei dem Gedanken schon wieder mulmig wurde. Ein weiterer Punkt für mich war, dass ich immer behauptete Kai zu hassen. Und dem war ich mir auch jetzt noch sicher. Wenn wir miteinander sprachen waren es oft sarkastische und tieftreffende Wortkämpfe, auch wenn ich eigentlich nicht die Art Mensch war, so wirkte ich für alle recht kühl. Aber ich fragte mich immer noch, wie Kai auf die Idee gekommen war, dass dieser Unterton, die übermäßige Freundlichkeit, etwas mit ‚Liebe’ zu tun haben könnte. Wie war er darauf gekommen, dass ich so etwas empfinden könnte, wenn ich es nicht einmal selbst wusste. Ja, ich kann sagen: Ich weiß nicht, wie ich zu meinen Gefühlen stehen soll. Auf der einen Seite wollte ich seine Gegenwart nicht missen und andererseits hasste ich seine Art, seine Arroganz und den Drang zu dominieren.

Blinde Spekulation, männliche Intuition oder doch der Wille etwas zu kontrollieren, zu unterjochen? Mich in der Hand zu haben...? Irgendwas davon muss ihn getrieben haben.

„Vielleicht hast du ja auch deine Meinung geändert wegen dem Vor-...“

Doch ich hob die Hand. „Kein Wort davon!“

Yuta lächelte. Eher verlegen als zufrieden. Aber mir sollte es recht sein.

„Also abgemacht.“, meinte ich noch hinterher und ging weiter. Doch er blieb stehen, sah mir einen Moment nach. Er wirkte nachdenklicher als je zuvor.
 

Nicht einmal zehn Tage danach war es soweit. Wir waren in der Herberge irgendwo mitten in der Pampa abgestiegen. Keiner hatte eine Idee, wo genau wir uns hier befanden und warum sich unsere Lehrer solch einen Ort ausgesucht hatten.

Der Tag war heiß und schwül, die meiste Zeit verbrachten wir draußen, wanderten.

Dann kam der Abend. Über den Bergen hinter uns türmten sich Wolken auf, in tiefstes Purpur gehüllt und leuchtend von der Abendsonne bestrahlt. Wir kamen von einem Spaziergang wieder, als Yuta neben mir stehen blieb. Ich sah gen Himmel, dann zu ihm. Ohne ein weiteres Wort nahm ich seinen Arm und zog ihn ins Haus. Ich hatte jetzt nicht die Geduld, ihn aufzumuntern, denn mir hing der Magen in den Kniekehlen und mich plagte seit einiger Zeit das Bedürfnis, dringend etwas in mich zu stopfen. Dann während des Abendessens fielen die ersten Tropfen.

Auf irgendeine Weise fühlte ich mich vom Schicksal verdammt. Verdammt dazu, jemanden neben mir liegen zu haben, von dem ich nicht mal sicher sein konnte, dass er mich nicht des Nachts überfallen würde. Mein Essen bekam ich kaum noch runter. Was wäre, wenn er doch nur aus Not gelogen hatte und es doch mein Name gewesen war? Doch ich schüttelte mir jeden Zweifel wieder von den Schultern, in dem ich rasch aufstand und in den Aufenthaltsraum ging. Ablenkung war gut.

Yuta hatte ich beim Essen nicht gesehen, seit wir in die Herberge zurückgekommen waren, hatte ich ihn aus den Augen verloren. Doch kaum, dass ich aus dem Raum trat und zu meinem nächsten Ziel gehen wollte, sah ich ihn, den Jungen, den ich eigentlich meiden wollte. Der schwere Gang, die makabere Hose, die dunklen Haare, seine scharfen Augen. Ich beobachtete ihn eine ganze Weile, wie er dort saß, mit seinem Freund sprach und mit fast geschlossenen Augen an einer Zigarette zog. Er wirkte so gelassen, als ob niemand auch nur einen Finger an ihn legen konnte. Unantastbar, so fern und doch so nah, wie in dieser einen Nacht. Der Grund war mir noch immer nicht klar geworden. Ein Mensch so stolz wie er, so sicher, gelassen und fast majestätisch - ja der Vergleich mit einem Tiger war damals schon richtig gewesen – so ein Mensch hat sich mit mir abgegeben. Meinen Körper durchfuhr ein eisiges Schaudern. Ich schlug die Arme um mich und ging hastig weiter, nebenbei haftete sein Blick auf mir. Ich war mir sicher, so sicher wie nie zuvor, dass er mich auf dieser Klassenfahrt mehr beobachten würde, als ich ihn.

Ein grässlicher Gedanke. Ich fühlte mich so gedemütigt dadurch, dass ich von ihm so behandelt worden war. Ganz gleich was auch immer ich für ihn sein werde, so weiß ich umso fester, dass ich der Außenseiter bleiben werde, der ich schon immer war. Niemals würde er sich die Blöße geben etwas Derartiges preiszugeben, ganz im Gegensatz zu dem anderen Punkt, den er vielleicht umso lieber herausposaunen würde. Oder hatte er es bereits gesagt?

Möglich war alles. Dieses Gefühl, mit noch mehr Abstand zu anderen zu leben, das Gefühl von allen Seiten angesehen zu werden und doch gemieden. Hatte er gesagt, was er mir gesagt hatte? Verraten, dass ich mich nicht gegen seine Handlungen gewehrt hatte? Meine verstohlenen Blicke zu ihm hatte ich unterdrückt, versucht mich gänzlich von ihm fern zu halten und dennoch hatte ich das bedrückende Gefühl noch stärker zu ihm zu fliehen. Von ihm angezogen zu werden, wie eine Motte vom Licht, dazu verdammt irgendwann zu verbrennen, weil sie zu naiv war. Dem Licht entgegen? Aber was war mein Licht? Kai war es nicht, zumindest barg er für mich nichts, dass es lohnte sich zu verbrennen. Und wer würde die Motte auffangen, wenn sie sich am Licht verbrannt hat und benommen zu Boden gleitet?
 

Ich saß im Flur, neben mir stand die Tür offen und der prasselnde Regen klatschte auf das Pflaster des Hofes und die Scheiben. Ab und an stieß der Wind den frischen Duft von nassem Graß herein, doch all dies war nebensächlich. Total in Gedanken versunken dachte ich weiter an diese Geschichte. Was wäre wenn...?

Neben mir setzte sich jemand. Es war Yuta, stumm und gelassen wie sonst, doch trotzdem konnte ich die Unruhe in ihm spüren.

Kein Wort drang an meine Ohren, selbst wenn er etwas gesagt hätte, hätte ich es wahrscheinlich nicht gehört. Total vertieft dachte ich wieder an die Begegnung mit Kai. Warum war ich damals eingeladen, warum hat er all das arrangiert? Nur um mir eins auszuwischen, oder steckte doch mehr Wahrheit in dem, was er getan hatte, als er zugab? Wenn er sagt, dass ich ihn förmlich anhimmel, warum tut dann gerade er das, was vielleicht ich hätte tun wollen? Warum sagt er ich liebe ihn, schläft aber mit mir, obwohl er mich angeblich hasst? Alles auch ein Trugbild, so wie das meinige, dass er mit diesen leichten, toten und doch so kraftvollen Worten zusammenstürzen ließ?

All meine Gedankengänge kreuzten sich mit der Erinnerung, die sich immer wieder heimlich meinen Rücken heraufzog, um quer über meinen Körper zu kriechen und mich mit sich in die Dunkelheit, Verzweiflung, Verwirrung zu ziehen.

Eine Hand klatsche auf meine Stirn, die halb von Haarsträhnen verhangen waren und mir vor die Augen fielen. Als ich aufsah, blickte ich in Yutas Gesicht, energisch und leicht erzürnt.

„Du bist gruselig.“

„Was soll das denn nun heißen!?“, brachte ich entrüstet von mir, weitete die Augen.

„So stillschweigend und nachdenklich bist du sonst auch nie. Was ist los?“, fragte er fast besorgt. Doch von mir kam nur ein Kopfschütteln, ich stemmte meinen Körper auf.

„Nur ein bisschen an früher gedacht...“

„An früher~!?“, wiederholte er spöttisch.

„Ja, früher! Als die Welt noch nicht so kompliziert war.“, diesmal drückte ich ihm die Hand auf den Kopf, drückte ihn weiter nach unten, doch er leistete gleich Widerstand, sprang auf und stand neben mir. Mit einem Lächeln ging er vorüber. Und in jenem Moment konnte ich wirklich einmal vergessen, was die letzten Tage geschehen war. Auch wenn es nur für Sekunden war.

Kaum waren wir ein paar Schritte gegangen, stand dieser Junge vor mir. Die schwarzen Augen fast erniedrigend verhöhnend auf mich herab gerichtet, die eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen den glimmenden Stängel der neuen Zigarette haltend. Seine Blicke durchbohrten mich - nein, ich hatte eher das Gefühl, dass er durch mich hindurch sah. Überrascht von den kalten Schauern und der Gänsehaut, ging ich einige Schritte zur Seite, ehe ich einen weiteren Bogen um ihn machte. Seine Augen verfolgten mich, bis ich aus seinem Blickfeld war. Sein einziger Kommentar in jenem Moment war ein abwertendes „Kse.“ Er spuckte es förmlich aus sich heraus, wie eine widerwärtige Erinnerung, etwas Lästiges, dass sich immer wieder an ihn klammerte und ihn zu seinem Bedauern doch immer wieder nach unten zog. Das zusätzliche Gewicht, das einen beim Schwimmen nach unten zog, das Gewicht beim Laufen, das die Beine schwer werden lässt. Das Gewicht, was dir bei einem solch kalten Blick eines Menschen, den du einst bewundert hast, so einen tiefen Stich ins Herz reißt, dass du Angst haben musst, nicht taumelnd zu Boden zu gehen. Schwäche zu zeigen wär in diesem Moment doch an falscher Stelle.

Als ich damals bei diesem Spiel mitgemacht hatte, hatten sich die Mädchen nahezu in Ekstase gekreischt. Etwa, weil sie gern die Stelle wechseln wollten, oder doch, weil die Welt sich nun doch mehr an solchen Geschichten ergötzt?

Jemandem schwach in die Arme zu fallen, wirklich kurz vor den Tränen zu stehen, einmal ein beschämender Moment, in dem man alles vergisst und zu seiner Schwäche steht. Für einen Moment lang sicher gehalten zu werden und ein leises, stummes, schluchzendes "Danke, dass du mich hältst" zu sagen, kann in solchen Momenten wirklich Wunder bewirken. Zumindest kam es mir so vor, denn das war das, was ich mir in jenem Augenblick gewünscht hatte. Doch wer würde mich halten!?
 

„Reiji!“

Ich blickte auf, Yuta wank mich zu sich. Tatsächlich, ich war stehen geblieben, hinter mir war Kai schon verschwunden und ich starrte einfach vor mich hin. Warum machten mich die Ereignisse der letzten Zeit so nachdenklich?

Doch ehe ich mich versah, trugen mich meine Füße weiter, den Flur entlang, dem Jungen vor mir nach. Irgendwie hatte ich das ungute Gefühl, dass dieses Mal etwas anders war, als ich ihm so folgte. Ein unglaublicher Leichtsinn strömte durch mich, wusste, dass es Sommer war, dass es regnete und dass ich es niemals wahrhaben wollte, dass etwas solches noch einmal passieren könnte - die Sache mit Kai.

Ich war an einem Punkt angekommen, an dem man mir das Blaue vom Himmel lügen konnte und ich es trotz meines Zweifels noch dankend, ja sogar freudenstrahlend annehmen würde. Nichts auf der Welt war mehr so wie es einst war. Alles hatte sich gedreht. Ich, ja ich, hatte mich verändert, denn ein Teil von mir wusste nun das Unbewusste. Ein totes Eckchen still in meinem Inneren war nun lichterstrahlt und wucherte bestückt mit geilen Reben. Eigentlich hätte ich ihm danken sollen, dem Jungen, der mir die Augen geöffnet hatte, doch mir bliebt nichts anderes übrig, als zu lächeln. So ging es auch nun weiter. Yuta sah mich weiter hin eindringlich an, etwas schien ihn zu stören. Erst diese kalte, nachdenkliche Seite und schließlich dieses gespielte Lächeln.

Aber ich musste mir alles einreden, um nicht irgendwann an meiner Gedankenflut zu ersticken, alles war so anders, eine ganz andere Welt. All meine Träume drehten sich und verwandelten sich in wilde, eigenständige Handlungen, die mich versuchten zu unterjochen, erdrückten, um mein Wirklichkeitsbild noch weiter zu zerstören. Ein teuflischer Kreis, aus dem ich nicht herausfinden würde, nicht allein, nicht ohne ein Licht, einen Menschen, der mich hält, jemand dem ich mehr als meine Gedanken und mein Herz anvertrauen konnte. All das war nur ein Hauch von dem, was in mir vorging, als ich mit ihm zusammen das Zimmer betrat.

Und trotzdem konnte ich mir nichts vormachen, ich hatte tief in meinem Inneren Gefühle, Bedürfnisse, die ich selbst nicht erkennen wollte. Früher oder später würde ich an diesen unbestimmten schwarzen, schweren Dingen zerbrechen, jeden bisher so grandiosen Schutz fallen lassen müssen, um doch Tränen zu vergießen - Schwach zu werden.

Der weitere Abend verlief ruhig, der Regen wurde kräftiger, und mein Magen drehte sich umso schneller, als mir klar wurde, dass sich hinter den Bergen etwas zusammenbraute, das mich nicht ruhig schlafen lassen würde. Und so war es auch. Kaum waren die letzten Schritte vom Flur verklungen und die grölenden Gelächter verstummt, zuckten die ersten Lichtblitze am schwarzen Wolkenberg am Himmel auf. Ich hatte die ganze Zeit am Fenster gesessen, das Regenspiel am Fenster beobachtet, dem Wind gelauscht, der peitschend neue Wassermengen zu uns herantrieb. Sekundenlang wurde der sonst düstere Raum erhellt. Yuta saß auf seinem Bett, ich konnte ihn aus den Augenwinkeln beobachten und es wunderte mich, dass er trotz der recht laut widerhallenden Donnerschläge so ruhig blieb. Er saß im Schneidersitz auf seinem Bettlaken, die Knie fest mit den Händen umklammert, und seine Augen fixierten mutig die gegenüberliegende Wand.

Wenige Donnerschläge später zuckte er stärker zusammen, hielt die Augen länger geschlossen und zog die Schultern bei jedem weiteren Widerhall noch heftiger nach oben. Er wirkte jämmerlich, ja schwach und kindisch. Doch es hatte etwas Bedauernswertes, ich hatte Mitleid und ich hätte es wirklich nicht gewollt, dass er sich anderen gegenüber so hätte demütigen müssen, wäre ich auf ein anderes Zimmer gegangen.

Mit einem Seufzen richtete ich mich auf, wanderte zum Bett, und legte mich auf die Seite, ich achtete absichtlich nicht auf ihn. Mittlerweile sollte er wissen, dass er sich neben mich legen konnte, wenn er es denn wollte. Und dennoch fragte er jedes Mal an. Wie ein kleines Kind, das sich jedes Mal in das Bett seiner Eltern fliehen will. Doch diese Möglichkeit hatten wir damals beide nicht. Der eine leidet mit dem anderen. Auch dieses Mal hörte ich ihn wieder wispernd meinen Namen sagen. Er hockte vor meiner Bettkante, auch wenn ich den Rücken zu ihm gedreht hatte, wusste ich, dass ihm jedes Mal die Röte ins Gesicht stieg. Es war schon lächerlich, aber andererseits doch verständlich. Hilft man nicht einem Freund, der einen anfleht, ihn aufzunehmen? Auch wenn es noch so komplizierte Momente gibt im Leben, so ist im Herz eines jeden einzelnen doch noch dieser weiche Punkt, der es nicht ertragen kann, einen Menschen so leiden und fürchten zu sehen.

Ich nickte und daraufhin lag er wieder neben mir. Es schien Schicksal zu sein, dass das Wetter mir solche schlechten Streiche spielte. Das Zimmer war stickig, obwohl das Fenster offen stand. Draußen als auch hier herrschte eine drückende warme Luft, gegen die es nichts zu geben schien. Es war warm, nicht nur der Körper neben mir und die schwüle Luft brachten mich dazu, wach zu liegen, sondern auch mein Verstand der sich immer weiter an Erinnerungen und wirren Überlegungen und Erklärungen herauf zog. Alles schien wie ein unendlicher Kreislauf, ein Strick, der sich aus meinem Kopf gezogen hatte, mich nun umschlang und sich immer fester zog. Ich war mein eigener Henker, doch was sollte ich anderes tun, als jedes Bild von damals dreimal umzuwälzen. Niemandem, aber auch niemandem hatte ich ein Wort erzählt. Totales Stillschweigen, auch nachdem Yuta mein unruhiges Verhalten bemerkt hatte und mich fragte - noch bevor er zu uns zog – ob mit mir alles in Ordnung war. Doch Ordnung gab es in meinem Leben zurzeit nicht. Ein einziges Durcheinander. Langsam gingen mir die Erklärungen, ja die Lügen für mich selbst aus, ich kann mir nicht länger etwas vormachen. Immer wieder kommen mir die Fragen in den Kopf. Warum? Wieso? Seit wann? Und vor allem wie lange noch?

Man konnte die Hitze nicht länger ertragen, vielleicht kam es nur mir so vor, den Yuta lag neben mir wie starr gefroren. Also drehte ich mich auf den Rücken, legte mir den Arm über die Augen, versuchte wenigstens so ein wenig Schlaf zu kriegen.

Nicht nur Schweiß und Sorgen waren es, die sich aus mir heraus quälten, mit jedem Atemstoß den ich von mir gab, hatte ich mehr das Gefühl etwas anderes heraufzubeschwören. Etwas viel schlimmeres, was mir noch weit mehr Sorgen und Kummer bereiten würde, als ich eh schon hatte.

Ich horchte kurz auf, als sich Yuta neben mir regte und sich aufrichtete. Den Arm von den Augen genommen, sah ich zu ihm, musterte ihn. Draußen donnerte es nicht mehr, doch ab und an wurde der Raum noch von späten Blitzen erhellt und noch immer prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben. Ein kalter Luftzug kam durch das Fenster herein und schien etwas Leichtes hinfort zu tragen, ein Gefühl, ein Drücken, so dass wir beide leicht aufatmen konnten. Doch etwas anderes wurde hinterlassen. Ein Tausch ist nie ohne Folgen, so kann auch nie ein Gedanke zu Ende gebracht werden, ohne einen anderen als Folge zu haben. Etwas sehr verhängnisvolles.

„Reiji...“, kam es wieder von ihm, diesmal eher ausatmend und ehe ich mich versah, hatte er sich über mich gebeugt, die eine Hand neben meinem Kopf, die andere an meiner Schulter. „Reiji...“

Ehe ich mich versah, konnte ich seinen Atem in meinem Nacken spüren, das Gesicht neben dem meinen und ich riss den Mund auf um nach Luft zu schnappen. Irgendwie hatte ich geahnt, dass so etwas passieren würde. Aber warum musste es gerade jetzt sein? Seine Lippen senkten sich auf die Haut. Kein Augenblick verging, in dem ich nicht vor Schaudern zusammenfuhr. Seine Hand ruhte weiter auf meiner Schulter, um mich gegebenenfalls wieder zurück auf die Matratze zu stemmen, falls nötig. Doch ich war nicht in der Lage mich zu bewegen, geschweige denn zu fliehen. Als er mich so ansah, hatte ich das Gefühl sekundenlang dieses Glimmen in seinen Augen zusehen, dass mich damals so an Kai fesselte. Vollkommen regungslos, starrte ich mit leicht geschlossenen Augen zur Decke, ihn aber noch in den Augenwinkeln, um ihn nicht zu verlieren. Wenn er sich nun so gewand hatte, wie sollte es denn nun noch enden?

Ohne eine Möglichkeit auch nur weiter denken zu können, hatte Yuta in jenem Moment seine Lippen weiter den Körper herab wandern lassen. Sanft und doch so eindringlich. Es war mir unangenehm, aber ich konnte in ihm nur sein Bild sehen. Dies alles ähnelte so dem, was vor ein paar Wochen geschah. Was sollte ich tun? Ihn zurückstoßen, wohlmöglich dabei als Freund und Bruder verlieren, oder ihn ungehindert weiter machen lassen, so dass ich mich später schämen müsste?

So stark ich auch versuchte mich vom Geschehen abzuwenden, immer wieder riss es mich zurück in die Realität. Aber um Gottes Willen, was tat er?

Ich riss mir die Hand vor den Mund, suchte nach Worten, die ihn nicht verletzten. Aber trotzdem konnt ich dem nicht standhalten. Die starken Hände, die mich einerseits hielten und dann doch zu kontrollieren schienen. Es reichte. Das durfte nicht sein. Er machte einen Fehler...

Ich ruckte auf, schnappte nach Luft, als seine Lippen sich auf meine Lenden senkten. Im selben Moment ergriff ich die Möglichkeit. Eine Hand stieß gegen seine Schulter, drückte ihn wieder aufrecht, weg von mir. Mit der anderen richtete ich mich selbst auf. Seine Augen ermatteten, das Funkeln verschwand und ich glaube erst jetzt erkannte er, welche Missetat er begangen hatte.

Eindringlich schüttelte ich den Kopf, kroch aus dem Bett, während er sich auf die Kante setzte. Yuta ließ den Kopf hängen, wieder bemitleidenswert. Aber was hätte ich anderes tun sollen?

Mit dem Rücken zu ihm sah ich kurz aus dem Fenster, dann zur Uhr, ging zur Tür. Eine Dusche wär jetzt gut. Das Handtuch unterm Arm geklemmt, verschwand ich ohne ein Wort aus dem Zimmer. Ich brauchte dringend einen klaren Kopf!

Es war recht früh, aber nicht so früh, dass ich mich unwohl fühlen musste. Im Duschraum kam es mir alles wie eine fremde Welt vor.

Alles schien so falsch. Alles war schief gelaufen. Warum musste Yuta sich so verhalten und warum gerade er?

Beim Duschen konnte ich noch immer diesen Blick aus seinen Augen, dieses Funkeln nicht vergessen. Mich schauderte es und selbst das kalte Wasser konnte nicht die heißen Spuren verwischen, die wieder auf mir aufgebrannt waren. Mir war zum Heulen zumute, mein Körper zitterte, verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass Yuta etwas für mich empfinden konnte. Es war egal, es war eh niemand da, also ließ ich mich auf die Tränen des Bedauerns ein. Ein schöner Traum von Zukunft war vor meinen Augen zerplatzt. Auch wenn ich irgendwo doch eine Vorahnung hatte, seit diesem einen Moment, wo ich ihn gesehen hatte.

Die Hände an den Fliesen, versuchte ich mich zu stützen, doch meine Beine wurden immer schwächer, alles in mir gab auf. War ich es, der den Fehler gemacht hatte, zu glauben, dass dies alles wieder zum Guten gebracht werden könnte? Oder war doch er es oder doch gar Kai...?

Im selben Moment fiel die Tür ins Schloss. Ich blickte zurück und wie sollte es anders sein – dort stand er. Die Dusche ausgedreht, nahm ich das Handtuch links von mir, drehte mich nicht um und achtete nicht weiter auf ihn. Es würde mehr helfen ihn jetzt zu ignorieren.

„Was denn? Hat der kleine Junge etwa schlechte Laune?“, kam es schelmisch grinsen von dem Schwarzhaarigen hinter mir. Keine Antwort. „Na, scheinst mir ja ziemlich stur heute.“ Ich antwortete wieder nicht, wollte aus der Tür nach draußen.

Doch so weit kam ich nicht. Mit einem Ruck hatte Kai meinen Arm genommen, mich zu sich gezogen und vor sich gegen die Wand der Duschen gedrückt.

„Was willst du nun schon wieder?“, fragte ich gereizt, ohne ihn wirklich anzusehen und schielte ihn nur von unten herauf an. Etwas geknickt sah er zurück. Lachte dann aber.

„Was steckt dir quer? Das kennt man ja gar nicht von dir. Schmollst du vielleicht weil du auf das falsche Zimmer gegangen bist?“

„Ach sei still.“, raunte ich, riss meinen Arm aus seiner Hand und versuchte mich an ihm vorbei zu drängen, doch er stieß mich sofort zurück. Seine Augen waren wieder energiegeladen und starr wie immer. Ich wollte gar nicht erst darüber nachdenken, was er wieder ausbrütete. Kaum hatte ich wieder meinen Blick von ihm abgewendet, drückte er mich weiter zurück an die Wand, die eine Hand fuhr an meinen Hinterkopf und zog ihn nach vorn. Er legte seinen Kopf in meine Halsbeuge, hauchte wieder Worte der Erniedrigung.

„Hat etwa dein Bruder dich unanzüglich behandelt...?“

Ich konnte es nicht sehen, aber sein Grinsen konnte er selbst so nicht verbergen. Schadenfroh wie immer.

„Und wenn es so wär~ Wärst du den eifersüchtig?“, stachelte ich ihn auf. Es war ein Reflex. Meine Miene blieb emotionslos und es war mir so was von egal, was er gerade tat. Doch von ihm kam wieder nur ein Lachen.

„Yuta ist dumm. Dumm wie Stroh. Wie sollte man da eifersüchtig sein. Zumal...“, er grinste wieder, doch dieses Mal sah er mir in die Augen „Du dienst nur zur Belustigung. Er ist dumm und du bist so naiv wie kein anderer. Da ist es doch kein Wunder, dass ihr die ganze Zeit zusammenhockt.“

Ich schwieg.

„Lass mich raten, der Junge hat dich überrumpelt und flachgelegt~“, scherzte er förmlich.

Wieder ging mein Blick zu ihm, doch nur flüchtig. „Was wäre wenn?“

„Was wäre wenn?“, wiederholte Kai lächelnd. „Nun, irgendwie müsste man das ja bereinigen. Seine Taten sozusagen abwerten.“, meinte er fast heuchlerisch, lehnte sich wieder vor und legte seine Lippen auf meinen Hals.

Nun geschah es schon wieder... Schon wieder waren seine Hände wie brennende Eisen, strichen aber dennoch federsanft über den Körper. Fast suchend, huschend und doch bewusst was sie taten. Sie suchten wieder nach alten Wunden und den Bandmarken vom letzten Mal.

„Hast du nichts Besseres zu tun?“, fragte ich und verdrehte gespielt die Augen. In diesem Moment konnte ich mir was Besseres vorstellen, als mich nun mit ihm herum zu schlagen.

„Was zum Beispiel?“, meinte er höhnisch, ahnte, dass ich ihn abwimmeln wollte.

Ich lächelte. „Wen anderes flachlegen!“

Kai sah zynisch und leicht verärgert auf. „Als ob sich wer anderes so leicht um den Finger wickeln lassen würde. Und außerdem: du bist heute ziemlich übermütig.“, machte er, drückte meinen Kopf am Kinn herauf und musterte mich. „Du bist doch das Kind, was sich nie wehrt.“ Wie recht er doch hatte, aber ich konnte eh nichts daran ändern, oder doch? „Und eins noch: Yuta sollte besser aufpassen, wann er dich befummelt. Es hinterlässt Spuren.“, er deutete auf die Taille. „Er hat’s nicht getan, richtig?“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. Kai trug nur ein einfaches schwarzes T-Shirt und Shorts. Sein Handtuch lag hinten auf den Waschbecken.

„Willst du vielleicht eine Bestätigung?“, fragte ich nun schnippisch. Langsam wurde mir das ganze zu bunt. Er führte sich auf, als ob ich sein Haustier wäre.

„Keine Bestätigung. Entschädigung, dafür dass du mich versucht hast zu verarschen~“, er trat wieder näher an mich heran, drückte den Kopf wieder nach oben, küsste den Hals erneut. „Außerdem wäre es zu schade, wenn ich mich nicht auch auf dir verewigen darf. Zumindest vorrübergehend~“

Ich zog scharf Luft ein, als seine Hand an meiner Hüfte nach dem Handtuchsaum griff.
 

Er wollte es tatsächlich schon wieder, wie es mir schien. Aber irgendwo fehlte der Zusammenhang. Diesmal schien es nicht um dieses ‚Ich muss mir selbst was beweisen’ zu gehen. Eher war es wie er sagte, er schien sauer, etwas gekränkt. Vielleicht war der Kontakt mit Yuta für ihn wirklich ein Eindringen in sein Territorium.

War ich seit jener Nacht so an ihn gefesselt, dass er dachte ich sei sein „Haustier“?

Wohl kaum, das ging zu weit. Und dennoch schaffte ich es nicht soweit mich zu wehren. Wieder kam es mir so vor, als ob silbrige Drähte sich um meinen Hals wickelten, immer strammer um mich am atmen zu hindern. Ein Schnappen nach Luft war sinnlos. Nebenbei stellte Kai meine Beine auseinander und drückte sich dazwischen. Eine meiner Hände hielt er an die Wand gedrückt, mit der anderen versuchte ich seine Schulter wegzudrücken. Jeder Versuch war vergebens. So schien es mir, weil ich einfach aufgegeben hatte. Entkräftet, mehr überrumpelt, versuchte ich mir einzureden, dass Kai wieder nur eins seiner Spielchen mit mir spielte. Trotzdem hatte ich langsam die Schnauze gestrichen voll.

„Such dir endlich wen anderes, den du verarschen kannst.“, brachte ich erstickt von mir und riss in jenem Moment meine Hände frei und stieß ihn zurück, ging ein paar Schritte von ihm weg. Erst jetzt merkte ich, dass mir das Wasser in den Augen stand. Nicht viel, aber meine Sicht war leicht getrübt.

„Was denn~“, machte Kai, beugte sich verhöhnend zu mir, eine Hand hinterm Rücken, die andere stellte er wieder neben mir an die Wand. „Muss der Kleine jetzt schon heulen, weil er Schiss hat?“

Schiss? Ich hatte das ganze schon einmal durchlebt. Damals hatte es mir, leider in Gottes Namen, gefallen. Ich schob die Lippen übereinander. Sein Kuss schmeckte noch immer nach den Zigaretten von heute Nachmittag. Ein Schlucken. „Du kannst mich kreuzweise.“, ich sah zur Seite, konnte aber aus den Augenwinkeln Kais Lächeln sehen. Er nahm es wieder zu wörtlich, doch ehe er ein weiteres Mal anlegen konnte, huschte ich an ihm vorbei zur Tür und versuchte so ruhig und gelassen wie möglich über den Flur wieder zurück ins Zimmer zu gehen. Mir war bewusst, dass ich immer noch das Handtuch trug, aber etwas anderes hatte ich in diesem Moment nicht mitgenommen. Eigene Dummheit.

Als ich das Zimmer betrat kam mir das erste Mal der Gedanke, dass Yuta für mich nun ein ganz anderer Mensch war. Nicht im Sinne vom Charakter, aber ich sah ihn mit anderen Augen. Die Tür hinter mir fiel ins Schloss, ich seufzte und blieb ein Weilchen an ihr lehnen. Yuta saß auf seinem Bett, an die Wand gelehnt, starrte mit glasigem Blick aus dem Fenster rechts von ihm. Er wusste was er getan hatte. Aus seinen Augen sprach Bedauern und doch ein Funke von Unverständnis für meine Taten. Mir fielen langsam keine Gespinste mehr ein, um mir etwas vorzumachen. Allein die letzten Wochen mit Yuta hatten mir klar gemacht, dass nicht nur ich beziehungsweise Kai mich und sich geändert hatten.

Fragen wollte ich allerdings nicht. Still zog ich mir ein Shirt über und die Shorts. Es war anders. Dieses drückende Gefühl, die peinliche Stille zwischen zwei Menschen. Unerträglich.

„Reiji.“

Vom Bett her sah ich auf.

„...Es war dein Name.“

Mir huschte ein Lächeln über die Lippen. Wenigstens war er in einem solchen Moment noch ehrlich zu mir. Sein Blick war noch immer gen Himmel gerichtet. Seine Augen suchten einen Punkt, den er fixieren konnte. Ein bisschen entfliehen, der Welt entkommen, einfach träumen, dass es besser wird. Aber von nun an wussten wir beide, dass wir diesen Punkt nicht finden konnten. Wir hatten im Leben eine Stelle erreicht, an dem es kein zurück mehr gab. Notgedrungen war alles ans Licht gekommen. Auch wenn ich ihm nie von Kai erzählt hatte, war es höchstwahrscheinlich, dass er früher oder später auch von ihm erfahren würde.

Für den Rest der Klassenfahrt gab es nur noch die Möglichkeit, diesen Vorfall zu verdrängen, ein gespieltes freundschaftliches Verhältnis vorzutäuschen und vorrübergehend alles zu vergessen. Es war als ob man sich selbst belügen würde. Man vergaß, wer man war und versuchte in die Rolle eines Außenstehenden zu schlüpfen, nur um dieses Trugbild zu erhalten. Die Freundschaft, die langsam unterweilen weitergekrochen war. Kaum bemerkbar, bis zu diesem Augenblick in dem man knallhart erfährt, was wirklich vor einem ist. Der Zusammenbruch jeder Fassade. Zu erst die meinige, ausgelöst durch Kai. Und nun hatte ich Yutas Leben verändert. Gezwungen ihn zurückzuweisen. War es falsch? Sicher.

Aber Fehler über Fehler häufen sich zu einem Berg von Selbstmitleid. Ich hatte den Fehler gemacht, mich nie zu wehren, nicht gegen Kai, nicht gegen den Gedanken etwas für ihn zu empfinden, nachdem er mir dies vorgeworfen hatte. Selbst hatte ich mich noch nicht einmal gegen diese Tat von vorhin gewehrt. Doch genauso wenig etwas gegen Yuta getan. ‚Loser sammeln sich um Loser’, hieß es damals, als wir gezwungen waren eine Arbeitsgruppe zu bilden. Er war mir als Freund ans Herz gewachsen, aber ich hatte nie bemerkt oder gedacht, dass er mehr empfinden könnte. Geschweige denn hatte ich überlegt, ob ich etwas für einen von beiden empfand…
 

Selbst jetzt weiß ich, dass ich nicht länger irgendwelche Dinge umgehen kann. Diese Geschichte ist schon weit genug gegangen.
 

Es musste etwas getan werden, denn mein Verstand schrie nach Aufklärung. Lehnte sich gegen mich auf, versuchte mich zu übermannen. Und auch jetzt wollte ich Yuta in dieser wirklich beschissenen Nacht einfach so, wie damals, an meiner Seite haben.

Ich setzte mich neben ihn auf die Bettkante. Auch wenn er mir keinen Blick schenkte, mich nicht ansah, konnte ich umso deutlicher die Gedanken in seinem Kopf gegen ihn klopfen hören.
 

Es gibt Fehler, die kann keiner von uns wieder gut machen.

Es gibt Fehler, die werden jeden von uns tief zu Boden reißen, egal wie glücklich man gerade war.

Es gibt Fehler, die tut man unbewusst, heimlich und doch rollen sie über dich mit ungeahnter Macht, stärker als jeder Alptraum... Stärker als jeder Alptraum, von dem man im Leben je gejagt wurde.
 

Und trotzdem gibt es Menschen, die richten sich wieder auf...

So versuchte ich es auch nun wieder. Mein Warten war vorerst zurückgestellt, jetzt musste man handeln, um das zu bewahren, was einem wichtig ist. Wichtig, so wichtig wie ein Bruder, ein bester Freund, denn man nicht verlieren will.

Jeder Held im Märchen schafft es zu einem Happy End, jeder Bösewicht macht dumme Fehler. Das schöne Märchen von einem besseren Leben, einer vollständigen Familie, einem Bruder, Freund und einem Menschen, auf den man wartet - all das hat sich dem Schlechten zugewandt. Aus traumhaft wird schrecklich. Aus einem Freund wird jemand, der einen ‚liebt’ und aus dem Gehassten, wird plötzlich jemand, der sich scheinbar doch für einen interessiert, vielleicht doch mehr Zuwendung empfindet, als er selbst zugeben möchte.

Bande lösen sich und stricken sich neu. Vielleicht hatte Kai doch irgendwo in sich ein Gefühl der Eifersucht, auch wenn mich dieser Gedanke zurzeit noch zum Lachen brachte.

Später wird sich herausstellen, dass viel mehr dahinter steckt...

Bother

Nichts ist vergebens...
 

„Oh bitte, bitte! Bitte geh mit mir aus. Kai~“

„Kai, bitte lass uns was unternehmen, nur du und ich.“

Der Junge lachte nur vergnügt. Seine schwarzen Haare fielen wieder über die Augen, als er sich beruhigte. Sein Grinsen war wieder übermäßig triumphierend.

Eins musste man ihm lassen, er wusste es, wie er Menschen um sich scharrte.

„Wollt ihr nicht lieber mit dem armen Reiji was unternehmen~?“, höhnte er spöttisch und lehnte sich zufrieden zurück als die Mädchen um ihn die Köpfe schüttelten und tuschelten. „Ich bin sicher, er braucht mal wieder Abwechslung in seinem ‚Nachtleben’“, meinte er und drehte sich zu mir zurück.

Die Klasse war fast leer, die Mädchen waren wieder in der Pause hier her gekommen, um Kai anzuhimmeln. Sie waren mindestens zwei Jahre älter. Doch das schien den Jungen vor mir keines Wegs zu stören. Er musterte mich, wollte mich verletzt sehen, doch ich brachte ihm ein ähnlich sicheres Grinsen entgegen. Sein Höhnen konnte mir seit einiger Zeit nichts mehr anhaben. Gelassen richtete ich mich auf, schob den Stuhl zurück und verließ das Klassenzimmer und Kai, dem nur ein Zucken über die Stirn fuhr. Es ließ mich kalt.

Eigentlich ein Wunder, nachdem was die letzten Monate alles gelaufen war. Doch ich ging unbeirrt weiter. Auf dem Flur hörte ich später Schritte hinter mir. Als ich mich umdrehte sah ich Ami. Ein Mädchen aus unserer Klasse, das zufällig auch im Zimmer war, aber nicht um Kai anzuhimmeln.

Ganz im Gegenteil. Sie war die Art Mädchen, die alle Lehrer zur Weißglut brachte. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die Stiefel wie gewohnt schwarz, die Strümpfe der Uniform provokativ weit nach oben gezogen. Allgemein war sie dieses Rebellenmodel: Provozierend und aufmüpfig. Immer frech und auffallend.

Sie zog sich eins ihrer schwarzen Haare von der Bluse. Und ließ es verachtend zu Boden fallen, kam dann mit einem Blick zurück zur Tür, auf mich zu.

„Er hätte nicht so reden dürfen.“

„Was interessiert dich das?“, meinte ich beiläufig und drehte mich wieder in die Richtung, in die ich gehen wollte.

„Die Schnepfen. Ich schäm mich für die dummen Gänse. Die haben nichts Besseres zu tun, als an Sex zu denken.“, meinte sie, als sie neben mir ging. Die Arme wieder verschränkt, spielte sie mit dem geflochtenen Zopf, der von ihrer Schulter nach vorn fiel.

„Du solltest dich nicht für andere schämen. Kai ist nicht anders, und ich schäm mich ja auch nicht für ihn.“

„Würdest du es, wenn er ein Mädchen anhimmelt?“

„Das macht er nicht. Er ist mehr die Art Kerl, die Leute zu sich durch den Dreck kriechen sehen will.“

Sie lachte. „Kriecher und Schleimer, meinst du? Aber warum hat er es dann gerade auf dich abgesehen?“

Etwas verwirrt sah ich zu ihrer Seite. Hatte sie was mitgekriegt? Hatte Kai wirklich alles raus posaunt? Oder war das nur die ‚weibliche Intuition’...?

„Wie meinst du das?“, versuchte ich mich dumm zu stellen, wurde leicht unruhig.

„Na, er hat in letzter Zeit ziemlich auf dir rumgehackt, meinst du das nicht auch?“, sie blieb stehen, stützte die Hände in die Hüften und sah mich ernst an. Scheinbar war sie einer der Menschen, der die Ungerechtigkeit in diesem Leben entdeckt hatte.

„Und wenn schon. Mich juckt es nicht...“, ich ging mit einem Schulterzucken weiter.

„Aber Yuta. Kai macht ihn schlecht. Ich mein, er ist doch dein bester Freund, also solltet ihr euch mal gegen Kai wenden. Der braucht einen Arschtritt!“, protestierte sie. Ich blieb kurz stehen, sah aus dem Fenster nach draußen auf den Hof. Recht hatte sie ja, trotzdem störte mich etwas.

„Warum interessiert dich das überhaupt plötzlich?“

Sie schwieg eine Weile, mied meinen Blick, bis sie scheinbar die Worte gefunden hatte, die sie krampfhaft suchte. „Weil ihr beide eigentlich nicht so schlecht seit, wie immer alle meinen.“, sie verschränkte wieder die Arme. „Ich hab einige Male sehr lange mit Yuta gesprochen und ich glaube, dass du ihm sehr wichtig bist. Ihr klebt wie Pech und Schwefel zusammen und er hat mir oft erzählt, dass ihm dieser Kai zurzeit echt auf die Nerven geht. Yuta ist ein guter Freund und Yuta’s Freunde sind auch meine Freunde, daher gebe ich dir den guten Rat...“, sie stoppte kurz, deutete drohend mit dem Zeigefinger auf mich und fuhr schließlich energischer fort: „Such dir noch ein paar Leute und wir sprechen mal ein ernstes Wörtchen mit Kai.“

Nach einigem verwunderten Blinzeln von mir, kam Lachen und ich schüttelte den Kopf: „Weißt du, wie lächerlich du dich gerade machst? Soll ich mir vielleicht alle ‚Loser’ dieser Schule suchen und einen Putsch planen? Vergiss es!“, ich ging unbeirrt weiter.

„Reiji, ich kann bald nicht mehr an mich halten...“, brachte sie jammernd von sich und stampfte hinter mir mit dem Fuß auf. Ehrlich gesagt war sie einer der ersten, die sich für so was einsetzen wollten. Irgendwo hatte ich ein bisschen Respekt vor ihr, sie war energisch, kraftgeladen und hatte sicher keine Scheu, Kai die Meinung zu pauken. Dennoch war der Versuch, an seinem Verhalten etwas zu ändern von Anfang an zum scheitern verurteilt.

„Dann tu dir keinen Zwang an...“, meinte ich abwinkend und ging weiter. Ihre letzten Worte verstand ich schon nicht mehr, da die Flure von einem dröhnenden Klingeln durchhallt wurden.
 

Mein Herz wurde schwer, als ich wieder Seite an Seite mit Yuta nach Hause ging und er mich so seltsam musterte.

„Du hast mit Ami gesprochen, oder?“

Ein bejahendes Nicken.

„Was hat sie dir erzählt?“, fragte er neugierig nach, bemühte sich jedoch um Gleichgültigkeit. Er wirkte nervös und angespannt, etwas was ich von ihm nicht als zu oft sah.

„Sie hat mir erzählt, dass du von Kai schlecht gemacht wirst und dass sie will, dass wir uns gegen ihn auflehnen...“, brachte ich gelangweilt hervor. „Das hat aber doch eh alles keinen Sinn.“

„Meinst du...“, er wirkte in Gedanken und sonderlich beunruhigt.

„Ihr seit Freunde, sagte sie.“

Er nickte.

„Nettes Mädchen. Wenigstens nicht so verrückt wie die anderen.“, eigentlich war ich ganz froh, dass sie mich angesprochen hatte. So wusste ich wenigstens, dass sie nicht so dachte, wie einige andere aus der Klasse.

„Magst du sie?“, er drehte seinen Blick zu mir.

„Als Menschen. Nicht mehr als einen anderen. Aber vielleicht ist sie gar nicht so übel.“ Ich redete vor mich her, einfach unbedacht, wie sonst auch, aber in Yuta schienen diese Worte größere Wellen zu schlagen als sonst.

Ein Lächeln huschte über seine Lippen. „Wer weiß...“

Ich versuchte das Lächeln zu erwidern doch wir waren bereits am Haus angekommen und ehe ich mich versah, war Yuta wieder in sein Zimmer verschwunden. Seit der Klassenfahrt war einiges nicht mehr so wie damals.

Wir versuchten beide noch dieses Bild von heiler Freundschaft, einem Zusammenleben als Brüder zu bewahren, weil es eine zu schöne Erinnerung war. Doch statt wieder in diesen Zustand zurückzufallen, drifteten wir immer weiter auseinander. Den Grund dafür weiß ich immer noch nicht.

Entweder war es die Tatsache, dass er jenes von mir wollte, was auch Kai getan hatte, oder ihm war es einfach so peinlich, die Kontrolle verloren zu haben. Doch beides lief auf ein und das Selbe hinaus: Es war dieses Gefühl von Zuneigung, dass alles zerstörte.

Jedes Mal kam ich seufzend in mein Zimmer, vermisste die Debatten mit Yuta über gewisse Themen und die spaßigen Gespräche auf dem Heimweg.

Immer wieder kam mir ein Kloß in den Hals gekrochen wie ein widerwärtiges Grauen, das einem manchmal nachts den Rücken hinaufkriecht. Nur weil ich in dieser wirklich unangenehmen Situation saß. Unwissend, ob Kai nun aus purem Spaß diese Nacht mit mir verbracht hat und frustriert zu wissen, dass mein bester Freund nun seine Freundschaft für Liebe verpfändet hat.

Trotzdem brachte ich es nicht fertig eine Träne zu weinen, wie vor einigen Wochen.

Vermutlich war das der Grund, warum Kai mich so triezte.
 

»Du kannst mich kreuzweise...«
 

Ja, diese Worte waren ihm damals wohl doch wie Wein die Kehle herabgeflossen, seine Augen waren in jenem Moment gefüllt von dieser Glut wie damals. Und doch brachte er es nicht fertig zu sagen, was er dachte, da ich vor ihm geflohen war. Vielleicht war es besser so. Andererseits wollte ich nicht länger vor ihm davon laufen.

Ich hatte in all dieser Zeit nie wirklich versucht mich gegen irgendeine Handlung zu wehren. Weder gegen mein mehr als freundschaftliches Verhältnis zu Yuta, noch gegen Kais Berührungen. Gegen nichts. Mein Körper driftete fast leblos, betäubt vom Leben selbst, auf einem vereisten Boden hin und her. Von einem dünnen Eis zum nächsten. Auf der Suche nach festem Grund, in der Angst doch einzubrechen und mich einem der Elemente hingeben zu müssen. Kai, das kalte Wasser, dass mich immer tiefer sog, oder Yuta, der Boden unter den Füßen, der mich auch ohne Eis zum rutschen brachte...
 

Es war die letzte Woche vor den Ferien. Das war für manche die große Erleichterung nach dem langen Schuljahr, doch mir bereitete es erst recht Bedenken. Ferien hieß tagelang zu Hause, diese gespielte Freude und Glücklichkeit, denn auch wenn wir uns zu einem Ausflug durchringen würden, wären wir immer noch mit diesem Lächeln bestückt, dass versucht diese peinliche Stille zu unterdrücken. Ja, ich sah in dieser Zeit einen großen Feind, mehr als je zuvor. Es war wieder so, dass die Tage endlos schienen, weil man in seinem Zimmer saß, hinter einem - auf der anderen Seite der Wand - saß der Bruder und dachte genau das Gleiche. Solche Zeiten verabscheute ich, und dennoch konnte ich es nicht verhindern, dass Yuta und ich wieder Seite an Seite am letzten Schultag nach Hause gingen. Beide mit geneigtem Kopf. Wie sollte das Leben nun weiter gehen? Immer dieses Verstellen und die Heimlichtuerein? Das würde halt doch kein Mensch auf die Dauer aushalten.
 

„Hör auf dir solche Sorgen zu machen.“

„Ich mach mir keine Sorgen.“

„Tu nicht so, ich kenn das Gesicht. Yuta macht genau das Gleiche.“, ein freundliches Lächeln lag auf ihren Lippen.

Yuta, Yuta, immer zu sprach sie von ihm.

„Ami, sag mir eins: Warum vergleichst du mich immer mit ihm?“, fragte ich sie schließlich im ernsten Ton.

Es war Yutas Idee gewesen, mich mit ihr zu treffen, er meinte vor ein paar Tagen, dass ich mich mit ihr anfreunden sollte. Doch irgendwas lag zwischen den beiden, was ich nicht definieren konnte. Ein feines Band, das ich grundsätzlich als Verschwörung ansah. Dieses Getue, das Gerede, das Auflehnen gegen Kai. All das war mir zuwider. Es war mit Energie und Mut verbunden, beides Eigenschaften, die ich nicht aufbringen wollte...

„Er ist ein Freund, das sagte ich doch schon.“

„Das beantwortet nicht meine Frage!“, ich erhob mich von der Mauer, auf der wir bis eben gesessen hatten und ging den Weg wieder zurück. Wir hatten uns hier im Park getroffen. Keine Ahnung, warum ich mich dazu überreden ließ.

„Du bist so engstirnig, Reiji. Du siehst nichts! Absolut gar nichts.“

Etwas genervt wand ich mich zu ihr um und sah schließlich ihr Gesicht. Die Augen gefüllt mit Unverständnis und gezügeltem Temperament.

„Was soll ich sehen?“

„Das was vor dir liegt. Die Menschen um dich rum!“, sie zögerte. Ein flüchtiger Blick zur Seite, sie konnte mir nicht in die Augen schauen, als sie die darauffolgenden Worte sprach. „Du siehst nicht, wie Kai dein Leben beeinflusst. Du siehst nicht, wie sich andere um dich Sorgen, du siehst nicht, dass Yuta sich den Hintern für dich aufreißt!“

„Hör auf mit Yuta! Was willst du überhaupt.“

Sie Schüttelte den Kopf. „Ich bin zu Yuta gegangen um mit ihm über dich zu sprechen, ich wollte mit dir reden, was über dich wissen. Kai macht dich immer zu nieder, aber ich sehe keinen Grund dafür, was hast du ihm dafür getan...!? Ich hatte einfach Interesse alles zu erfahren.“

„Was zwischen Kai und mir läuft und vorgefallen ist, geht dich gar nichts an.“

„Das weiß ja Yuta noch nicht einmal!“, sie wurde energischer, in ihrer Stimme lag nun mehr Wut als Unverständnis, die zuvor aus ihren Augen sprach.

„Ach, und was zwischen dir und Yuta ist, dass soll ich nicht wissen? Also ich habe keinen Grund dir irgendwas zu erzählen.“, ich drehte mich wieder und ging ein paar Schritte.

„Ich bin zu Yuta gegangen um etwas über dich zu erfahren. Du selbst sprichst ja nicht über dich. Er wollte mir nichts sagen, aber später sind wir halt Freunde geworden. Was willst du nun dagegen tun?“

„Gar nichts, ich hoffe ihr werdet glücklich~“, wank ich ab.

Ami seufzte, kam hinter mir her, fasste mich an der Schulter und zwang mich dazu ihr zuzuhören. „Mein Interesse lag immer nur bei dir. Auch wenn ich oft gegen Yutas Willen nachgebohrt habe um von ihm etwas zu erfahren, weiß ich, wie wichtig du ihm bist. Aber du bist zu dumm, um das zu sehen!“.

Mit einem finsteren Blick nahm ich ihre Hand von meiner Schulter. „Wenn du so interessiert warst, hättest du auch gleich zu mir kommen können.“

„Dann hätte ich euch beiden nur geschadet.“, brachte sie dumpf von sich. Ließ von mir ab und sah zu Boden. „Er mag dich zu sehr, als dass er eine Frau oder Kai noch weiter an dich lassen würde.“

Irgendwie überraschten mich ihre Worte nicht. Ich ließ Ami zurück und ging wieder nach Hause. Das alles hatte nichts gebracht. Jetzt wusste ich nur, dass das Mädchen vernarrt in mich war, sich nebenbei angeblich mit Yuta angefreundet hatte und dass sie der Meinung ist, dass Kai von seinem Thron gestürzt werden musste.

Mir kam es eher so vor, dass sie auf Yuta ein Auge geworfen hatte. Und da war wieder dieser Faktor, der mich zum Grübeln brachte.

Das kleine Hirngespinst was sich jedes Mal aufs Neue einschlich. Eifersucht. Es war mir selbst noch nicht mal geheuer, dass ich nicht wollte, dass sich gerade das Frauenzimmer an Yuta zuschaffen machte. Es war vielleicht ein Beschützerinstinkt. Zumindest versuchte ich mir das einzureden, als ich wieder nach Hause kam und wieder Yuta in der Küche sah. Ein Lächeln von beiden Seiten.

„Wie war’s?“

„Hoffnungslos.“

Er lachte, seit langen mal wieder ein ernstes, fröhliches Lachen. „Warum?“

„Sie ist stur und vernarrt.“, ich ließ mich mit einem Seufzen auf den Stuhl, ihm gegenüber, nieder.

„Sie mag dich nur.“

„Und dann redet sie immer nur von dir.“, wank ich scherzend mit der Hand ab, die Augen geschlossen, das Glas an die Lippen setzend um endlich wieder was zu trinken. Wieder lachte er, faltete bedrückt die Hände auf dem Tisch und starrte auf das Glas vor ihm.

„Sie mag dich wirklich.“, seine Stimme war rau, seine Hände festigten sich um einander und sein Blick blieb am Glas haften.
 

Noch schrecklicher als Ferien waren zwei Wochen ohne Eltern und ein schlechtes Gewissen. Wir verbrachten die meiste Zeit mit sinnlosem Umhergehen und ein paar Kinobesuchen, Videospielen und all solchem Zeug, was man macht, um die Zeit tot zuschlagen, auf Freundschaft zu spielen und doch den anderen irgendwo zu ignorieren. Ignorieren, um dann Nachts, vor Sorgen um ihn, jedes Mal wach zu liegen, weil man sich zu viele Gedanken und Vorwürfe machte.

Aber irgendwann kam Yuta wieder an, still und jammernd. Es regnete nicht, es donnerte nicht. Einfach so. Und ich nahm ihn wieder in mein Bett auf. Wieder schwiegen wir, aber dieses Mal war die Stille, die alt bekannte. Im ersten Moment stieg in mir der Gedanke auf, dass er es wieder versuchen würde, doch eigentlich war Yuta nicht diese Art Mensch. Er bereute es.

Auch wenn ich ihn nicht dabei sah, war ich mir sicher, dass er nachts vor Bedauern im Bett zitterte, so wie die letzten Tage der Klassenfahrt. Auch als es gewitterte kam er nicht zu mir. Er blieb die Nacht über wach, schlief morgens beim Frühstück fast ein und döste in der Mittagssonne um nachts wach zu bleiben.

„Reiji?“

„Hmm.“

Er drehte sich zu mir um, richtete sich leicht auf.

„Es tut mir leid.“

„Dir braucht nichts Leid zu tun.“, meinte ich tonlos.

Der Junge neben mir schwieg eine ganze Weile, bis er den Kopf gegen meinen Rücken und dann auf meine Schulter legte. „Doch, alles.“ Auf seine Worte hin wand ich mich zu ihm um.

„Und warum meinst du, dass dir alles Leid tun müsste?“, kam es gereizt aus mir. Eigentlich war es verständlich aber dann wollte ich wieder nicht, dass sich Yuta so niedergeschlagen mir gegenüber verhielt.

Wieder Schweigen. Dann richtete er sich ganz auf, saß neben mir auf dem Bett und stützte den Kopf in die Hand. „Weil alles den Bach runter geht.“

Ich schüttelte mich. „Gar nichts geht den Bach runter, jetzt leg dich wieder hin.“

Doch Yuta tat nichts, er seufzte nur.

„Hör auf dir solche Sorgen zu machen. Es ist ja nicht so, als ob für mich eine Welt zusammengestürzt wäre...“, versuchte ich ihn aufzuheitern, obwohl ich mir selbst diese Lüge aufzwang. Wieder rührte er sich nicht. Also setzte auch ich mich auf, sah ihn ernst an und musste feststellen, dass sich seine Augen mit einem erschreckenden Glanz gefüllt hatten.

Er sah zu mir. In jenem Augenblick fuhr mir ein Schauer über den Rücken, sekundenlang hatte ich das Bild von Kai vor mir. Als ob er direkt vor mir saß... Unheimlich, ich wich seinem Blick aus und krampfte meine Hände in die Bettdecke. Wie kam ich zu solchen Gedanken?

Doch ehe ich weiter denken konnte, begriff ich erst die Art, wie seine Augen glänzten, es war dasselbe Glänzen wie damals bei Kai. So unterschiedlich waren sie gar nicht. Ich wollte etwas sagen, doch in jenem Moment lehnte sich Yuta nach vorn, drückte meine Hände an die Wand hinter mir, legte seine Lippen auf meinen Hals.

„Es tut mir so leid. So leid.“, brachte er erstickt hervor. „Ich mag dich...“

„Ich weiß...“, kam es dumpf von mir, leicht überrascht schnappte ich nach Luft, da er noch immer meine Hände zurückhielt und seinen Kopf nicht aus meiner Halsbeuge nahm.

„Nein, Ami. Ami meinte sie mag dich, ich war so dumm, naiv... eifersüchtig.“, er hob wieder den Kopf an, sah mir in die Augen und er wirkte sonderlich entschlossen. Dann könnte ich nur noch mein Herz schlagen hören, als er seine Lippen auf die meinen legte. Seltsam, dass ich so ruhig blieb. Aber es lag vermutlich daran, dass ich bereits wusste, was er empfand, auch wenn er es nicht gesagt hatte.

„Yuta, sag es einfach.“, kam es dann von mir, nach dem er von mir abließ, diesmal mied ich seinen Blick jedoch nicht. Er nickte leicht, ließ meine Hände los und legte mir die Arme um den Hals.

„Ja, ja verdammt, ich liebe dich...“, kam es schwer von ihm, den Kopf wieder auf meiner Schulter, die Wörter leicht resignierend in einem Atemzug herausstoßend. Es wirkte so natürlich und doch so falsch. Es war seit Wochen klar, aber es wollte keiner von uns zugeben. Er wusste was ich darüber dachte, schließlich hatte ich ihn eiskalt vor den Kopf gestoßen, als er sich auf der Klassenfahrt nicht halten konnte.

Eigentlich hätte ich mich von ihm drücken müssen, eigentlich hätte ich ihm keine Hoffnung machen dürfen, aber es war mir in jenem Moment einfach egal. Meine Arme legten sich um ihn und ich merkte, wie er zitterte. Jedes Mal von einem leichten Zucken durchfahren wurde und bei jedem neuen Atemzug Angst hatte, dass ich ihn loslasse.
 

Es war mein Name gewesen, den er damals genannt hatte, als ich ihn in dieser peinlichen Situation gesehen hatte. Dennoch blieb ich ruhig. Ich hatte alles geahnt oder gewusst, auch wenn niemand mir etwas gestanden hatte.

Yuta war mir zu wichtig, als dass ich ihn an dieses Gefühl verlieren wollte. Aber es war zu spät. Gerade das war es was mich momentan flauste und mich fast in den Wahnsinn trieb. Zu spät hatte ich gemerkt, was sich zwischen uns aufgebaut hatte. Und Ami war es wahrscheinlich auch bewusst gewesen, als Yuta damals wirklich nichts verraten wollte. Sie wusste was er fühlte. Und Kais Schindereien machten sie nur wütend, nein eher traurig, weil sie wusste, dass Yuta es nicht ertragen konnte.

Wenn er jetzt wüsste, was ich für Kai übrig hatte, was Kai mit mir getan hatte... Wenn er wüsste, dass ich eigentlich nur wehrlos dasaß und jeden tun ließ, was er wollte, würde es ihm das Herz zerreißen...
 

Über die Wochen hatte ich mir einen Ferienjob gesucht. In einem kleinen Bistro in der Nähe. Es war in der Nähe der Schule, viele von den Oberstufenschülern suchten es in den Pausen auf, um dort ein zweites Frühstück zu essen oder einen Kaffee zu kriegen. Aber jetzt wo Ferien waren herrschte geregelter Andrang. Keine Schülermassen, statt dessen ein ruhiges Hin und Her. Friedlich und man hatte genug Zeit zum nachdenken.

Es waren kaum zwei Tage vergangen, da kamen morgens immer wieder bekannte Gesichter in das Bistro. Ich machte mir nichts draus, tat so als ob ich sie nicht kannte und bediente sie höflich. Jeden Tag brachte ich einigen Stammkunden ihre Bestellungen und das Gebäck. Ohne mir etwas Schlechtes zu denken tat ich es auch diesmal, ich sah nicht hoch, lächelte nur wie gewohnt, als ich die Tasse abstellte.

Ein Rascheln, ein amüsiertes Lächeln.

„Du solltest mich mal öfter bedienen, das gefällt mir.“

Verstört blickte ich auf.

Kai. Es war Kai. Er lehnte sich lächelnd in dem Stuhl zurück, hatte die Zeitung zur Seite gelegt und musterte mich nun mit gerunzelter Stirn.

Aus meinem Mund floh ein kleiner Ton und ich verschwand wieder zu Theke.

Danach versuchte ich ihn zu ignorieren, aber was suchte der Kerl hier? Und warum sah er immer wieder zu mir hinüber, wenn ich den nächsten Kunden die bestellte Ware brachte?

Scheinbar war er wieder voll in seinem Element. Über Menschen herzuziehen, sie lächerlich zu machen, sie in peinlichen Situationen zu sehen und sich in Schadenfreude zu suhlen waren seine liebsten Tätigkeiten. Keiner kannte ihn anders. Zumindest ich nicht, schließlich erlebte ich es ständig am eigenen Leib.
 

Stunden später verließ ich das Bistro, machte mich auf den Heimweg, die Hände in den Taschen. Wie gewohnt ging ich die schmale Straße und später durch die Gassen hinter den Wohnblocks, bis ich an einer Straßenecke wieder Kai sah. Nicht mal vier Straßen von zu Hause. Mir war mulmig zumute, aber nicht weil er vielleicht wieder dumme Sprüche reißen würde. Eher, weil er wie ein Geier da stand und nur darauf wartete, dass ich an ihm vorbei ging.

Er drückte eine Zigarette aus, stieß sich von der Wand ab, an der er eben noch gelehnt hatte und warf mir ein Lächeln zu.

„Versuchs das nächste Mal in der Schulkantine, vielleicht hast du dann mehr Glück mit deinen Freunden. Es gibt bestimmt Leute, die sich aus Mitleid mit dir abgeben...“

„Wer zum Beispiel?“, meinte ich abwertend und drehte mich zu ihm, die Hände noch immer in den Hosentaschen.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und sein kalter Blick verschwand.

„Hinterhältige Biester, wie manche Mädchen mit denen du dich in letzter Zeit abgibst.“

„Du meinst Ami? Sag bloß du bist eifersüchtig...“

„Ich? Auf die Schlange? Niemals.“, er winkte mit einer Hand gelangweilt ab. „Ich will nur nicht, dass das Biest mir mein Schäfchen klaut...“

Ich legte die Stirn in Falten. Sein Schäfchen? „War das nicht ein Wolf der Schafe frisst? Und außerdem, es waren Geißlein.“

„Und wenn schon~“, machte er, drehte sich in meine Richtung und musterte mich.

Ein Schaudern lief mir über den Rücken. Sein Schäfchen...!?

Dann legte er mir die Hand auf die Schulter, lehnte sich vor und hauchte mir wieder diese toten, fast emotionslosen Worte ins Ohr, die einen innerlich zerrissen: „Vergiss nicht, wenn ein Wolf einmal Blut geleckt hat, dann giert es ihm nach mehr...“
 

Ein hartes Schlucken, ein nervöses Grinsen. Irgendwo hatte er Recht. Es war eine gelungene Überleitung von jenem Augenblick und mir lief wieder ein eiskalter Schauer über den Rücken. Kurzerhand schüttelte ich mich, drehte langsam den Kopf in die andere Richtung, um mich zum Heimweg auf zu machen. Es war dringend nötig eine kalte Dusche zu nehmen, um diese widerwärtigen Gedanken weg zu spülen.

In dem Moment, in dem ich mich herum drehte ließ Kai seine Hand von meiner Schulter gleiten, verschränkte stur die Arme vor der Brust und setzte wieder einen ernsten Blick auf. „Nimm dich vor dem Weib wirklich in Acht“, meinte er diesmal ohne Scherz, ohne mordlüsternes Süßholzgeraspel und trotzdem blitze in seinen Augen wieder dieses seltsame Funkeln auf.
 

Zu Hause angekommen schnaufte ich erleichtert, ging an Yuta vorbei, der vor dem Sofa auf dem Boden saß und durch die Programme schaltete und duschte. Sehr gründlich. Und trotzdem schauderte es mir danach noch. Zum Glück war Freitag und das Wochenende war für mich die Zeit, wo ich versuchen konnte mit Yuta wieder ins Reine zu kommen. So weit, wie es eben möglich war.

Nach dem Duschen ließ ich mich auf das Sofa hinter Yuta fallen, legte mir den Arm über die Augen und schnaufte noch einmal. Der Junge neben mir sah auf und drehte sich zu mir. Er schaltete den Fernseher aus und lehnte sich zurück.

„Was ist los? Warum so schwermütig?“

„Wenn dir Kai was von Schäfchen und Wölfen erzählt und nebenbei noch eine Schlange die Schafe fressen will... Dann hast du auch so ein komisches Pochen im Kopf.“

„Auch genannt ‚leichte Verwirrung’ bis ‚Kopfschmerzen’.“

„Richtig.“

Yuta lachte, legte den Arm auf das Sofa und legte die Stirn auf den Arm. Eine ganze Weile verbrachten wir wieder mit Schweigen. Unsere neue Art zu kommunizieren.

„Hat er sonst noch etwas gesagt oder gemacht?“

Ich runzelte die Stirn. Warum plötzlich das Interesse? „Nein, er hat mich nur gewarnt, dass ich mich vor Ami in Acht nehmen soll.“

„Stimmt doch auch.“

„Was hast du plötzlich gegen sie!?“, ich drehte den Kopf in seine Richtung und schob den Arm weiter auf die Stirn.

„Sie gibt sich teilweise mit sehr üblen Gestalten ab.“

„Üble Gestalten?“

„Ja. Schlimmer als Kai.“, seine Stimme wurde eindringlicher.

„Viel schlimmer als du können sie ja nicht sein...“

Notgedrungen mussten wir beide schmunzeln.

„Ja, hast Recht. Viel schlimmer nicht, aber gewalttätiger.“

Auf seine Worte hin, richtete ich mich auf. „So so. Du meinst also diese Leute, die mit Kapuzenpullis in dunklen Ecken auf einen lauern, dann auf die Straße springen, dir alte Socken in die Schnauze stopfen und dich zwingen, alte Arztzeitschriften und schlechte Zeitungsartikel über Pediküre zu lesen. Oder nein, warte! Noch schlimmer. Es wird dir alles auf Tonband vorgesprochen~...“

Wieder lachte Yuta. Ich zog seine Besorgnis zwar ins Lächerliche, aber es war es doch wert, um sein bedrücktes Gesicht für einen Moment zu verdrängen.

„Hör auf dir Sorgen zu machen. Das ist alles nur Dummwäscherei.“

„Wenn du das sagst...“, meinte Yuta darauf, erhob sich und lehnte sich über mich, legte mir die Hand auf die Stirn. „Du solltest dem Kerl echt aus dem Weg gehen. Dein Hirn kocht schon fast.“

Kurz huschte ein Lächeln über meine Lippen. Gut, dass er nicht wusste, warum mein Kopf so pochte und mein Hirn ‚kochte’. Dann sah er mich noch eine Weile an, ließ die Hand auf meiner Stirn. Währenddessen hatte ich kurz wieder die Augen zum Nachdenken geschlossen, nahm fast gar nichts mehr wahr und döste leicht weg. Ich wusste nicht, wie lange das so ging, aber nach einiger Zeit riss mich Yuta wieder aus diesem Sekundenschlaf.

„Reiji. Ich mag dich wirklich...“, kam es von ihm erst schwach. Dann: „Ich liebe dich...“, noch etwas leiser.

„Ich weiß.“ Die Augen noch immer geschlossen, merkte ich nur wie seine Lippen über meine Stirn strichen, dann sanft nur bruchteilhaftig die Lippen berührten, um abrupt zu stoppen. Als ich meine Augen öffnete, nahm er ruckartig die Hand von meiner Stirn und setzte sich wieder auf den Boden, den Rücken am Sofa gelehnt. Scheinbar war er noch immer so seltsam zurückhaltend. Besser für mich. Ganz ehrlich: Ich wüsste nicht, was ich hätte tun sollen, wenn er weiter gehen würde, wenn er sich so auf mich stürzen würde, wie Kai in jener Nacht. Aber ich schätzte Yuta nicht als diese Art Mensch ein, absolut nicht. Es wunderte mich schon, dass er den Mut hatte, mich so zu küssen.

Mitleid überkam mich. Einfach so. Keine Ahnung warum, aber ich glaube es war, weil ich Yuta so viele Sorgen bereitete. Unnötige Sorgen. Kurzerhand legte ich ihm von hinten die Arme auf die Schultern, legte meinen Kopf auf seinen, den er eh hängen ließ - wie immer.

Sein Anblick machte mich immer wieder aufs Neue traurig und sog mich förmlich in dieses Gefühl, Bedauern, Schuld und eine Mischung aus Bedenken. Noch immer wusste ich nicht recht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Es war einfach zu kompliziert und mir lag der Junge zu sehr am Herzen, als dass ich ihm wehtun wollte. Egal wie ich es auch drehte, ich kam immer wieder zu diesem Punkt, wo Schweigen zwischen uns trat, egal ob nach einem Lachen, einer ernsthaften Diskussion oder einfach nach dem wir so über andere Themen sprachen, wie Mädchen oder einfach Schule. Diese peinliche Stille, in der man immer darauf horcht, dass der andere endlich die Schlucht überschreitet und zu einem kommt, endlich ein Wort, eine Geste, irgendetwas äußert.
 

Manchmal wünschte ich mir in diesen Momenten einfach, dass das alles nie geschehen wäre, manchmal ließ es mich eiskalt. Ich versuchte alles zu ignorieren. Aber es überrannte mich immer wieder neu und immer stärker.

Und manchmal, manchmal hatte ich das Verlangen ihn an mich zu reißen, in den Armen zu halten, nicht mehr gehen zu lassen, egal was es kostete.
 

Die nächsten Tage verliefen jedes Mal ähnlich: Wir waren allein, wenn ich nach der Arbeit im Bistro nach Hause kam. Yuta war frustriert und las immer öfter in einem Buch, es war selten, dass ich ihn so sah. Zumal er eine Lesebrille tragen musste, wirkte er mir immer fremder und abweisender. Dennoch hatte ich das ungute Gefühl, dass ich, wenn ich so still neben ihm saß beziehungsweise lag - den Arm über den Augen, um ein bisschen Ruhe zu kriegen – mich immer weiter zu ihm gezogen fühlte. Diese Stille war reines Gift. Sie leitete mich dazu darüber nach zu denken, was alles hätte sein können, wenn wir nicht auf Distanz wären. Die lustigen Abende, an denen wir lachend vor dem Fernseher gesessen hatten und uns irgendwelche Filme ansahen. Späße und anderes kitschiges Zeug. Jene Erinnerung brachte mich um den Verstand. Auch wenn Erinnerung mehr Illusion war...

Es war etwa wieder ein paar Tage bevor unsere Eltern von ihrem Urlaub wiederkommen sollten. Da brach scheinbar auch in Yuta dieser unangenehme Gedanke aus. Wenn ich nach Hause kam passierte es immer öfter, dass er mich länger beobachtete. Ich wollte nicht wissen was in seinem Kopf vorging. Es war vermutlich auch besser so.

Als ich einmal nach dem Duschen aus dem Bad kam, das Handtuch wieder um die Hüfte geschlungen, die Wechselwäsche natürlich wieder vergessen, stand Yuta vor mir im Flur. Eigentlich wollte er ein Zimmer weiter die Sachen, die er in der Hand hatte wieder zurückstellen. Meine schlechte Angewohnheit würde mir in jenem Moment vielleicht zum Verhängnis werden, dachte ich und ging den Kopf gesenkt an ihm vorbei. Doch er drehte sich zu mir, seine Blicke, die mich verfolgten. Ein gruseliges Gefühl...
 

Kai war nach einigen Tagen wieder im Bistro gewesen, hatte mich wieder mit irgendwelchem dummen Zeug zugeredet. Diesmal redete er aber nicht mehr von Schäfchen und Wölfen. Er hatte mir immer wieder gesagt, dass die Schürze doch zu schlicht wäre. Seiner Meinung nach, hätte sie pink sein müssen, mit mehr Kitsch und Rüschen wohlmöglich. Er lachte mich förmlich aus und machte sich einen Spaß draus immer wieder zu kommen. Und jedes Mal verdrehte ich die Augen, als er mir nach meinem Feierabend an der Straßenecke sagte, dass ich endlich vernünftig werden sollte. Erwachsen! Zur Besinnung kommen solle... Ständig eine Moralpredigt, dass ich mich damals nicht gewehrt habe und ich selbst schuld sei, dass er mich so triezt.

„Du kannst mich kreuzweise~“, hatte ich wieder einmal zu ihm gesagt.

Doch dieses Mal war er nicht so leicht abzuwimmeln, wie damals im Duschraum auf der Klassenfahrt. Er fasste meine Hand, mit der ich eben noch gelangweilt rumgefuchtelt hatte, zog mich zu sich, drückte die andere Hand gegen meinen Rücken, lächelte wieder sadistisch.

„Diesmal muss ich aber fragen, da ich es mir beim letzten Mal schon verkniffen habe: Wo willst du’s denn?“, er legte sein Gesicht an meins, hauchte wieder gegen meinen Hals. „Hier? Oder doch lieber...“, seine Hand vom Rücken wanderte herum und drückte nun gegen meinen Bauch. „Weißt du, es gibt viel, dass wir beim letzten Mal ausgelassen haben. Wir haben viel nach zu holen~“

„Kein Bedarf.“, meinte ich drehte mich weg, versuchte die Röte aus meinem Gesicht zu schütteln, in dem ich Kai fortdrückte. Warum musste er mich so erniedrigen? Jetzt wo er wusste, dass ich ihn doch ‚etwas’ mochte, quälte er mich mit wachsender Begeisterung, noch lieber und grausamer als zu vor. Die gespielte Nähe, die er mir aufdrückte brachte mich nicht nur in Verlegenheit, sie widerte mich irgendwie an. Ich mochte seine abweisende, gelangweilte Seite, die mir keine Beachtung schenkte. Aber wenn er mich so berührte, kam wieder Abneigung auf. So wie damals.

„Sag bloß du hast schon wen für diese Arbeit.“

„Das sag ich dir doch nicht.“

„So, so... Lass mich raten: Für deinen Bruder würdest du die Schürze tragen, richtig?“, er verschränkte die Arme und grinste triumphierend. Währenddessen war ich schon ein paar Schritte weitergegangen - Sicherheitsabstand.

„Die Schürze gehört gesetzlich verboten! Genauso wie deine Redereien und Annäherungsversuche!“, ich fuchtelte mit den Armen, strich immer wieder an meinem Bauch herab, irgendwie hatte ich wieder das Gefühl, dass etwas überaus Ekeliges an mir klebte.

„Was kann ich dafür, wenn du so empfindlich bist!?“

„Wer ist empfindlich!? Ich doch nicht!“, giftete ich zurück, zeigte ihm die kalte Schulter, ging weiter.

„Denk dran: Je mehr sich das Schäfchen versteckt, desto hungriger wird der Wolf.“, meinte er noch zum Schluss.
 

„Werd Vegetarier!“
 

Wieder kam ich nach Hause, schmiss mich einfach lang aufs Sofa, mit dem Gesicht voran. Yuta saß vor dem Sofa, der Fernseher aus, aber auf dem Tisch lag ein weiteres dickes Buch. Er setzte grad seine Brille ab. Die Gläser waren nicht dick, das Gestell schmal und schlicht. Man bemerkte es kaum und es wirkte natürlich. Kurz gesagt: Es sah nicht schlecht aus, sie stand ihm.

„Böööh...“

„Wieder Schafe?“

„So in etwa.“

„Was hat er diesmal gesagt?“

„Gemacht, mein Lieber, gemacht!“, ich hob und senkte den Zeigefinger, deutete gen Himmel, als ob ich mich - wie ein über eifriger Schüler - melden würde. Den Kopf hob ich erst gar nicht aus dem Kissen, brummte vor mich hin.

Yuta gab mir ein bestätigendes Brummen zurück. Er stand neben mir auf, klopfte mir auf die Schultern.

„Armes Schwein.“

„Schaf!“

„Okay, armes Schaf.“, verbesserte er sich. Seine Stimme klang heiter und ich ließ beruhigt die Schultern hängen. Kurzer Moment der Entspannung. Herzhaftes Seufzen. Scheinbar wollte Yuta keine Einzelheiten hören, besser so. Es war lächerlich und peinlich. Außerdem hätte ich ihm dann noch die Vorgeschichte erzählen müssen. Er ging an mir vorbei, stellte das Buch wieder weg, legte die Brille wieder an ihren Ort. Als er fort war, auch wenn er nur die Treppe hoch gegangen und in sein Zimmer gleich daneben verschwunden war, hatte ich ein Gefühl von Einsamkeit in mir. Schon krankhaft, oder? Aber ich kam einfach nicht davon ab. Ich starrte die Treppe hinauf, bis mir der Schmerz im Nacken saß. Als er dann am Kopf der Treppe erschien, ließ ich schnaufend, erleichtert und befreit vom Schmerz, den Kopf wieder auf Kissen sinken. Yuta setzte sich auf die Sofalehne, schwieg mich wieder an.

„Warum ließt du neuerdings Bücher?“, ich hob wieder den Kopf. Es musste ungefähr der Schmerz sein, den Besucher des Kinos erleiden, wenn sie in der aller ersten Reihe sitzen und versuchen die Leinwand anzustarren ohne einen steifen Hals zu bekommen.

„Bildung, mein Lieber, Bildung.“, amte er mich nach und deutete mit dem genau anderen Zeigefinger nach oben.

Darauf hin musste ich nur lächeln. Ja, eigentlich war es wie immer. Das einzige Problem war nur: das ganze war gespielte Fassade. Traurig aber wahr. Wir versuchten uns gegenseitig zu Täuschen und hielten uns falsche Masken vor.

„Ich denke nicht, dass du noch Bildung brauchst.“, meinte ich dann.

„Man lernt nie aus.“

„Du und lernen. Seit wann das?“

„Eine Laune.“

„Ziemlich schlechte Laune.“

„Ja. Miese Laune.“

„Tu was dagegen.“, brummte ich ließ wieder den Kopf fallen.

Neben mir rührte er sich, stand auf und setzte sich neben mich vor das Sofa.

Wieder Stille.

„Mach was! Mir ist langweilig.“

„Ich denk du bist ausgepowert...“

Dann drehte ich den Kopf zu ihm, verzog meine Miene und legte die Stirn in Falten.

„Wenn ich sag ‚Mach was!’ dann mach doch was und stell nich dumme Gegenfragen. Ich bin schließlich dein Bruder“, klopfte ich frustriert auf das Sofa.

Kurz darauf mussten wir wieder beide nur lächeln, zum laut lachen traute sich keiner von uns.

„Ami hat sich heute mit Kai getroffen.“

„Hast du sie gesehen?“

„Jopp, als ich dich heute Morgen bis zum Bistro begleitet habe, bin ich weiter gegangen, da hab ich die beiden auf dem Rückweg im Park gesehen. Schienen sich gut unterhalten zu haben. Haben sich beide fast kaputt gelacht. Idioten.“

In dem Moment wollte ich ihm eine ernstgemeinte Frage stellen. Eine Frage, die auch mich seit langen beschäftigte.

„Gibt es eigentlich noch Menschen, die du nicht als so minderwertig abstempelst?“, ich versuchte die Frage möglichst neutral zu stellen, schließlich versuchte ich sie mir seit Tagen selbst zu beantworten.

Trotzdem zuckte Yuta leicht zusammen, sah kurz zur Seite und überlegte einiges.

„Ich mein, Freunde haben wir nun wirklich nicht. Liegt das daran, dass wir zu wählerisch sind, oder weil wir wirklich so vom Glück verlassen sind?“

„Ich weiß nicht.“

„Was ist dir denn überhaupt wichtig?“

Wieder Stille. Nebenbei drehte ich mich auf den Rücken. Warum stellte ich ihm die Fragen, die auch mich diese Weile über schon so zerrissen haben?

Dann drehte sich Yuta wieder zu mir, sah ernst zu mir.

„Was mir wichtig ist? Ich weiß es nicht wirklich, aber ich glaube das alles hier ist das einzige woran ich mich momentan klammern kann.“

Während er so sprach drehte ich den Kopf wieder zurück zur Decke, starrte einige Augenblicke nach oben ehe ich wieder fragte. „Das hier?“

„Das Leben mit dir und deiner Mutter. Denke ich.“

„Denkst du...?“, ich wand mich wieder mit dem Kopf zu ihm, runzelte die Stirn und hob eine Braue. Warum konnte er keine klaren Antworten geben? Alles was ich von ihm wollte waren Antworten auf die Fragen, die ich hatte.

Yuta biss sich auf die Lippe, sah kurz zur Uhr, dann wieder zu mir. Dann schüttelte er den Kopf, stand auf, setzte sich auf die Kante des Sofas neben mich, lehnte sich zu mir herunter.
 

„Nur du!“
 

Auch wenn das alles ziemlich kitschig war, stieg mir keines Wegs Scham in den Kopf, kein Bedauern, nichts. Wieder dieses eiskalte, reaktionslose. Wie ich diese Seite hasste. Auch als er sich weiter über mich lehnte, mir die Lippen mit den seinen versiegelte, schloss ich gelassen die Augen und ließ ihn gewähren.

War ich grausam, dass ich ihm Hoffnung machte? War ich brutal, weil ich ihn immer wieder an mich ranließ? Ich war einfach nur dumm und naiv. Wie ein Schaf. Dass ich ihm nichts sagte, war allein schon dumm. Einerseits vielleicht Selbstschutz, dann aber doch ein zu großes Geheimnis, als dass ich es allein auf den Schultern tragen konnte. Trotzdem wollte ich sein Gefühl nicht missen. Seine Wärme und Nähe.

Kai würde mich nun sicher fragen was besser wäre: Von dem flachgelegt zu werden, der einen hasst, den man selbst jedoch mehr als vergöttert. Oder ob es besser ist mit dem zu schlafen, der einen liebt, den man selbst aber nicht liebt.

Eigentlich dieselbe Situation. Vorwärts wie auch Rückwärts bringt es keine Veränderung in der Zwickmühle. Doch ich war ja selbst schuld, also musste ich es auch allein wieder ausbaden.

Sein Kuss war süßlich. Und ich öffnete die Augen, als er wieder abließ. Sein Lächeln darauf war ungewohnt nervös. Dennoch übermannte mich wieder dieses Mitleid, ich fasste hinter seinen Kopf und zog Yuta so zu mir runter, legte seinen Kopf auf meine Schulter. Er versuchte noch etwas zu sagen, doch nichts drang aus seinem Mund an die Luft in diesem Raum.

„Ich weiß...“, entgegnete ich auch ohne etwas gehört zu haben.

Er schloss für eine Zeit die Augen, atmete ruhig und blieb so verharren. Aber war es eigentlich wirklich richtig dem Armen durch das alles Hoffnung zu machen? War es überhaupt Hoffnung? Ehe ich mich versah hatte ich keine Zeit mehr um über diesen Gedanken zu grübeln. Seine Lippen legten sich wieder auf meine Haut, fuhren den Hals herab. Aber immer wieder kam ein leises Bedauern von ihm: „Es tut mir leid, so leid.“

Doch ich fühlte nichts, rein gar nichts. Weder geschockt noch positiv überrascht. Nichts, nur dieses Verlangen ihn zu halten, sein Bedauern in bloßer Stille zu ertränken und wieder den alten Menschen vor mir zu haben.

Doch es blieb bei den einfachen Küssen, dann ließ er wieder von mir ab, schüttelte den Kopf und wir beide schwiegen wieder. Das Wochenende verlief wieder so. Immer wieder küsste er mich, lehnte sich über mich, machte mich immer nervöser mit seinen Blicken. Doch er brach immer wieder ab, als ihm die Luft zu knapp wurde. Immer wieder verführte er einen und dann wieder dieses abrupte Stoppen. Ein Spiel? Wohl kaum, seine Augen waren immer getränkt von Gier und Verlangen, trotzdem war seine Zurückhaltung nur noch mehr ein Grund, dass ich dieses ‚Mitleidsgefühl’ verspürte. Aber war es wirklich Mitleid? Zuneigung und Liebe war doch etwas eindeutig anderes. Auch nicht diese Sucht, die mich zu Kai getrieben hatte. Ja, ich kann es Sucht nennen. Schließlich wollte ich eigentlich immer nur in seiner Nähe sein, seine ignorante, kalte Seite kennen und immer wieder, wenn ich ihn ansah, seinen Rücken sehen. Mehr nicht. Warum Kai sich mit mir so abgab verstand ich noch immer nicht.

Immer wieder aufs Neue kam Yuta in den merkwürdigsten Situationen zu mir, überrumpelte mich, drückte mich an ihn.

Ob nach dem Duschen, dass er mich an die Wand drückte, mir das kalte Wasser mit den Küssen von der Haut stahl. Oder einfach nachts sich plötzlich an mich lehnte, ein Bein über meine Beine legte und still dem Herzschlag horchte.

Warum tat er das alles?

Die letzten Tage war ich nicht mehr ins Bistro gegangen. Mir war seltsam zu mute, es fehlte die Regelmäßigkeit, von Kai genervt zu werden. Zu meinem Pech kam noch dazu, dass Yuta mich fast jeden Tag neu überraschte und mich langsam in den Wahnsinn trieb. Nicht, dass es mir nicht gefiel. Ganz im Gegenteil - Seine zärtlichen Berührungen, dieses Überhäufen mit Gefühlen brachte mich in Verlegenheit und verwirrte mich. Es war das erste Mal, dass ich erlebte, dass mich wirklich jemand so von Herzen ‚liebte’. Etwas in mir sträubte sich aber immer noch dagegen, dieses ganze ‚Liebe’ zu nennen. Ich hasste dieses Wort. Der Grund dafür war mir unklar.

Es endete wirklich so, dass ich irgendwann nach dem Duschen wieder auf Yuta stieß. Warum musste ich immer so regelmäßig aus dem Bad kommen, wenn er die Putzsachen zurückstellte. Oder war das nun seine Taktik mich ganz bescheuert zu machen? Langsam war ich misstrauisch, betrachtete ihn aus den Augenwinkeln, ging ein paar Schritte, ehe ich seine Hand auf meiner Schulter bemerkte.

Er zog mich zu ihm zurück, hielt mich von hinten umarmt, drückte plötzlich seine Lippen auf meinen Nacken. Ein heftiges Schaudern durchfuhr mich. Angestachelt von meiner Reaktion legte er weiter die Hände um mich, strich erst nur den Hals herab, zeichnete dann die Schultern nach. Die eine Hand auf meinem Rücken, die andere strich bereits meinen Arm herab, umfasste meine Hand, die ich verkrampfte.

Er legte mir wieder den Kopf auf die Schulter, fuhr nun mit der Hand, die bis eben auf dem Rücken verharrt hatte wieder nach vorn, streichelte die noch nasse Haut auf dem Bauch.

Ich wollte endlich wissen warum er mich immer wieder so berührte, wenn er doch eh nie auf den Punkt kam. Doch es war immer wieder so, dass ich die ungute Ahnung hatte, dass mir die Hutschnur platzen würde. Irgendwann würde ich nicht mehr an mich halten können. Immer öfter hatte ich ein unangenehmes Drücken in mir selbst, es rauschte in meinen Ohren und ich wollte ihn wieder an mich reißen, ihn fest halten und drücken.

Auch dieses Mal kam es wieder in mir auf. Seine leichten Finger, die über die Haut huschten und mir immer wieder eine Gänsehaut bereiteten. Warum machte er mich so nervös, verrückt und warum ließ ich mir alles gefallen?

Kurzerhand drehte ich mich zu ihm herum, es musste sein, ehe mich der Mut wieder verlassen würde. Meine Hände stemmten ihn zurück, drückten ihn an den Türrahmen des Bads. Ich sah ihn einige Zeit an, näherte mich dann seinem Gesicht. Anfangs war sein Blick zittrig und verunsichert, ein roter Schimmer lag auf seinen Wangen. Seltsam warum hatte er plötzlich Scham, da er es doch zuvor selbst so wollte. Ohne weiter Zeit zu verschwenden, legte ich meine Lippen fordernd auf die seinen, drückte ihn weiter, trat näher an ihn heran, nebenbei tropfte immer wieder Wasser aus meinem Haar. Sekunden später schnappte er nach Luft, brachte erstickt ein Japsen hervor, sah von unten her zu mir, noch immer war sein Gesicht gerötet. Als ich noch einen weiteren Schritt an ihn heran trat, meine Hand auf seine Brust legte und seinen Pullover nach oben schieben wollte, leistete er abrupt Wiederstand.

Sofort ließ ich von ihm ab, was mir nur einen enttäuschten Blick von Yuta brachte. Er sah mich verwundert an, er hatte scheinbar damit gerechnet, dass ich trotzdem weiter mache. Doch das war nicht mein Ziel.

„Wenn du es nicht willst, warum treibst du mich dann immer wieder in den Wahnsinn?“, zischte ich ihm nur noch zu, ehe ich mich umdrehte um in meinem Zimmer zu verschwinden.

Dann herrschte zwischen uns am Samstag ziemliche Ruhe, Distanz und scheinbar war Yuta noch nachdenklicher als zuvor. Wenn ich versuchte mit ihm zu reden, war er oft verwirrt und geistig abwesend. Die Konversationen bestanden aus Brummen, Murren und schlichtem ‚Ja’ oder ‚Nein’. Er kam diese Nacht nicht zu mir ins Zimmer, genauso wenig wie er den Tag zu vorgekommen war. Ich machte mir Vorwürfe ihm so eiskalt die Wahrheit gesagt zu haben. Aber ich bezweifelte, dass es überhaupt die Wahrheit war, da ich sie, wie so oft, selbst nicht wusste. Vielleicht war es Einbildung oder einfach nur ein purer Hormonstau. Er fehlte mir. Auch wenn er die ganze Zeit um mich war, dachte ich, dass er dennoch so weit entfernt war. Ich wollte wieder seinen Körper neben mir haben.
 

Nur Sonntagabend, kurz bevor unsere Eltern am Montagmorgen wieder kommen sollten, brach etwas in ihm zusammen. Er klopfte an meine Zimmertür und öffnete sie zugleich. Ich hatte noch im Bett gesessen, nach draußen gesehen und ihn gar nicht bemerkt. Als ich meinen Blick herum wandte und ihn erblickte war ich überrascht, als er verlegen sein Kissen in der einen Hand halb auf dem Boden schleifen hatte und mit der anderen sich am Kopf kratzte. „Kann ich zu dir kommen?“

Ich nickte nur, legte mich auf den Rücken ins Bett und machte ihm Platz. Reine Routine, aber ich war trotzdem froh, dass er da war. Wir lagen einige Zeit nebeneinander im Bett. Yuta war einfach so zu mir gekommen, obwohl ich so gemein zu ihm war. Beide auf dem Rücken, beide den Blick gen Decke gerichtet, wieder Schweigen. Wie lange sollte das noch so gehen? Wie lange wollte ich mich noch so verhalten, dass ich ihn wohlmöglich jedes Mal aufs Neue verletze, ohne es zu merken?

Neben mir wandte sich Yuta zu mir herum, stützte seinen Kopf in die Hand, seufzte.

„Was meinst du? Wann kommen sie wieder?“

„Sie sagten doch: In der Nacht von Sonntag auf Montag.“, meinte ich, die Augen geschlossen. Eine sinnlose Frage. Was bezweckte er?

„Bald fängt die Schule wieder an.“, meinte er genauso trocken.

„Stimmt...“

„Reiji?“, wieder dieses Wort. Wieder ein Lächeln auf seinen Lippen und ein ungewohnt freudiger Ton.

Zustimmend brummte ich vor mich hin. „Was gibt’s?“

Doch von ihm kam keine Frage, sein Gesicht veränderte sich nur leicht zu einem besorgteren Lächeln, bis er wieder seinen Kopf auf meine Schulter legte, seine Hand unter das Shirt schob und so verharrte.

War es wirklich das was er wollte? Wenn es so war, wie würde er reagieren, wenn ich den Arm um ihn legen würde? Ohne weiter darüber nachzudenken, tat ich es einfach. Neugierde auf seine Reaktion war nicht das Einzige, was mich in jener Nacht dazu trieb so etwas zu tun, viel mehr eine bereits erlebte Situation ungewollt widerzuspiegeln. In der letzten Zeit fehlte etwas um mich. Der Alltag, Kais Triezen, Yutas Nähe. Nach unserer letzten Begegnung dieser Art, hatte ich den Wunsch ihn wirklich zu Berühren. So wie Kai damals. Pure Neugier war es bestimmt nicht. Eher wieder dieser Gefühlsmischmasch aus Mitleid und Bedauern. Vielleicht benannte ich es auch falsch. Vielleicht war genau das ‚Liebe’. Bei dem Gedanken musste ich mich unweigerlich schütteln. Yuta lehnte sich über mich, sah mir ernst in die Augen, ehe er wieder seine Lippen auf die meinen legte. Wieder rührte ich mich nicht, ließ ihn gewähren. Auch als seine Hand das Oberteil weiter nach oben schob, brachte ich nichts aus mir heraus. Seine Küsse und Streichelein wanderten den Hals und Schultern herab, sprangen sacht über den Stoff, auf die Haut, die nun mehr unangenehm warm den Oberkörper umspannte. Mein Blick war immer noch gen Decke gerichtet, meine Hand, die bis vorhin noch hinter meinem Kopf lag, hatte ich reflexiv auf den noch vom Stoff bedeckten Teil meiner Brust gelegt. Was auch immer er vorhatte, etwas in mir hatte keine Kraft um sich dagegen zu wehren. So wie damals. Wirklich anders war es wirklich nicht...

Aber irgendwie kam in mir wieder die Lust auf, ihn zu berühren...
 

» Was ist besser? Von jemanden gevögelt zu werden, der dich hasst, für den du jedoch in Flammen stehst? Oder mit jemandem schlafen, der dich über alles liebt, dem du jedoch nicht mal deine Unterwäsche zum waschen geben würdest...? «
 

Für einen Moment lang klangen diese Worte wie echt, sie hallten in meinem Kopf immer wider. Durchdrangen jeden Fetzen meiner Haut und schafften es in die dunkelsten Winkel meiner Seele. Auf mir lag eine Gänsehaut und als ich wieder die Augen öffnete hatte ich für eine Sekunde wirklich Kais Gesicht vor Augen. Nach dem nächsten verstörten Blinzeln sah ich wieder Yuta.

Er saß auf meinen Beinen, die Decke lag am äußersten Fußende. Seine Hände auf meinem Körper, sein bedrücktes Gesicht zu einem nervösen Lächeln verzogen. Ruckartig setzte ich mich auf, riss ihn zu mir, legte die Arme um ihn.

„Warum? Warum willst du das nur?“

Doch er schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“, brachte er still hervor, lehnte sich gegen mich. Seine Haut war kühl, benetzt von Schweiß, er trug kein T-Shirt mehr. Ein Schaudern durchfuhr ihn, als ich einen Kuss auf seinen Hals legte. Was nur, was bewegte ihn dazu? Warum wollte er das alles, obwohl ich so ein schlechter Mensch zu ihm war?

Er legte seine Hände auf meine Schulter, zog sich leicht nach oben. Als ich in seine Augen sah erkannte ich erst den Schimmer auf seinen Wangen und den Ausdruck der mir alles und doch nichts sagen wollte. Seine Finger strichen die Haarsträhnen aus meinem Gesicht und ich legte meinen Kopf gegen ihn.

Warum...?

Diesmal genoss ich seltsamerweise diese Stille zwischen uns. Ihn in den Armen, seine Haut an der meinen und trotzdem war es ihm und leider auch mir nicht genug. Yuta legte wieder die Arme um meinen Hals, wisperte ein paar leise Worte zu mir und von mir kam nur ein Nicken.

„Bitte.“, er hatte wieder diesen Blick, den ich einfach nicht ertragen konnte. Er tat das nur um mich zu quälen, zumindest dachte ich das.

Wenig später lag Yuta auf dem Rücken, biss sich auf die Lippen, mein Kopf in seiner Halsbeuge. Er hatte die Arme um mich gelegt, mich förmlich darum gebeten mit ihm so weit zu gehen. Er unterdrückte die Stimme in Angst, dass jemand uns hören könnte, wenn unsere Eltern nach Hause kommen würden. Doch es änderte nichts an der Situation. Zwar kam in mir immer mehr der Wille auf ihn zu küssen, meine Hände über seinen Körper streifen zu lassen, dennoch hatte ich ein schlechtes Gewissen.

Und ich tat es ohne Rücksicht auf anderes. Alles, alles was auch Kai damals getan hatte. Es war kein Unterschied. Nur ein Perspektivenwechsel.

Mir war noch immer nicht klar, was dieses Empfinden war. Undefinierbar. Ein ewiges hin und her zwischen diesem Gefühl, was Mütter für ihre Söhne haben mussten, wenn sie sich beim Spielen das Knie aufgeschürft hatten und weinend zu ihnen kamen. Und dem Gefühl von brüderlicher Freundschaft, das Bedauern, dass diese Freundschaft an dieser scheinbar trügerischen Zuneigung und dem vorrübergehendem Verlangen zerbersten könnte. Kurz aufgeflammte Leidenschaft, die ein Leben so drastisch, dramatisch herumreißt und die heile Welt zerstört.

Meinesteils hatte dieses krankhafte Bedürfnis - die Fleischeslust - schon einmal erlebt, aber unter wesendlich anderem Aspekt. Dennoch fühlte ich mich immer tiefer in die Rolle von Kai gesogen. Vielleicht wusste ich nicht was ich tun sollte und nahm deshalb für eine Zeit lang seine Persönlichkeit an, zumindest Teile davon. Kalt und fast emotionslos brachte ich es fertig ihm die Shorts vom Körper zu ziehen und weiter jede Sekunde die verging an damals zu denken. Yuta weckte in jener Situation dieses Verlangen, was auch Kai getrieben haben muss. Ihn dazu gebracht hatte, so wie ich jetzt gerade, so sicher über die angespannte Haut zu küssen, jeden möglichen Muskel mit den Fingern zu umfahren, um den Jungen unter mir in den Wahnsinn zu treiben, sein leises jammern zu hören, den unregelmäßigen Atem, der einem entgegen strömte und der Duft, der von ihm kam. Nebenher wusste ich dennoch welchen Schmerz es mich damals in der Dunkelheit der Regennacht gekostet hatte und es grauste mir davor ihm dies anzutun.

Diesmal war ich es, der es nicht fertig brachte weiter zu gehen, wich im Augenblick der Besinnung zurück und war drauf und dran ihn wieder allein im Zimmer zu lassen, doch mein Körper rührte sich nicht. Über ihn gelehnt verharrte ich eine ganze Zeit, ehe ich es wirklich schaffte mich wieder aufrecht zusetzen.

Seine Blicke verfolgten mich, seine Hände ließen mich gehen. Warum hielt er mich nicht fest? Viel mehr als alles andere hatte ich mir dies nun gewünscht - dass er sich an mich lehnte, seine Arme um mich legte und einfach nur da war. Dieses Leid, dass mich die letzten Tage durchfuhr, dass schlechte Gewissen, als ob wir uns schlimm gestritten hätten und eine Art von brennender Sehnsucht.

Doch auch er setzte sich auf, kam zu mir und lächelte.

Gerade dieses verständnisvolle Lächeln schmerzte mehr als manche Worte die mir Kai schon um die Ohren gehauen hatte. Mein eigener Bruder war wirklich ein besserer Folterer als Kai. Aber Kai war auch selbstquälerisch und sadistisch zu gleich. Er liebte es mich in diesen verzwickten Situationen zu testen, mir immer wieder aufs neue eine Last auf zu erlegen, nur um mich im Moment in dem ich am schwächsten bin aufzufangen. In scheinbarer Freundlichkeit, um mich dann doch wieder heimlich in die Dunkelheit zu führen. Und er hatte Gefallen daran meine Antworten zu hören. Immer wieder redete er mit mir, nur um mit mir zu diskutieren, heimtückische und fiese Bemerkungen, Beleidigungen und Abwertungen zu bekommen. Sein schelmisches Lächeln schwand jedoch nie, da er wusste, dass ich mit jedem Wort, jeder Bemerkung mir nur selbst ein weiteres Stück Last und Sorge auferlegte.
 

Wieder küsste jener Junge in meinen Armen mich, inniger als zu vor. Scheinbar konnte ich ihn einfach nicht von seinem Plan abbringen. Absolut nicht.

„Mach dir keine Sorgen. Achte nicht darauf.“, klangen seine Worte in meinen Ohren wieder, ehe er mich zurückdrückte und den Hals mit der Zunge liebkoste.

Wie tief musste er gesunken sein um so weit gehen zu wollen? Kai hatte mich in jener Nacht zu den selben Gedanken getrieben und doch brachte Yuta mich jetzt dazu, dass ich ihn zu mir hob, ihm sanft über den Rücken strich, mit einem weiteren Kuss seinen Mund versiegelte um seinen möglichen Schmerz zu lindern.

Für uns beide war es seltsam und doch einzigartig. Jeder weiterer Kuss rann mir bitter die Kehle herab, weil mir immer wieder der Schmerz in den Kopf stieg, den ich damals verspürt hatte, als wir in der Nacht vereint diese honigsüße Illusion lebten. Nur für wenige Stunden, wenn es denn so lange war. Dieses Winden in der Dunkelheit, die einem die Luft mit drahtigen Schlingen abdrosselte.

Die zarten Berührungen, das unterdrückte Keuchen, der kalte, nasse Körper, den ich versuchte zu halten, ohne ihn zu zerdrücken. Unbeschreiblich. Und ähnlich erging es auch mir jetzt danach, auch wenn Yuta erschöpft seinen Kopf auf meine Schultern presste und fast schon drohte zu schlafen, fing erst jetzt mein Herz an wie wild zu schlagen. Jetzt wo alles vorbei war, bemerkte ich eigentlich was ich wirklich getan hatte. Wieder überrannte mich mein Verstand. Drückte mich wieder in die Ecke, so dass ich zweifeln musste, ob ich noch lebte, oder doch schon tot war. Wie ein Phönix aus der Asche auferstanden? Von dem Jungen in meinen Armen wieder neu ins Leben gerufen...?

Nichts davon. Mein Herz raste, weil ich zu Kai wollte. Ich sehnte mich nach dem Augenblick in dem ich das fühlen durfte, was Yuta jetzt so glücklich machte. Sein Lächeln, das unregelmäßige Heben und Senken der Brust, einfach das Verspüren der Schwerelosigkeit, Leichtigkeit. Das Sehnen nach diesem Verbotenen, Anstößigen, nach dem Sündigen in der Nacht.

Und doch wollte ich Yuta in meinen Armen nicht missen, ihn für immer bei mir behalten. Mehr noch als Kai in jenem Moment. Keiner von beiden war für mich entbehrlich.
 

Das schwarze Schaf wird selbst zum Wolf, wenn man ihm reines Blut zu trinken gibt...
 

Noch Minuten danach, als Yuta wieder in meinen Armen lag, längst geduscht und neu gekleidet, hatte ich die Ahnung, dass ich ihn in Stücke zerrissen hätte, dass er still im inneren vor Schmerzen und Glück schrie und unzählige Tränen vergoss. Seine Augen waren geschlossen, er schlief und gerade aus Angst, fuhr ich immer wieder mit dem Finger über seine Wange.

Keine seiner Tränen sollte je dieses Lacken mit Salz durchsetzen.

Ja, ich habe mich meinem besten Freund hingegeben und für einen Moment wieder einem fiktivem Tod in die Augen gesehen, für eine Weile vergessen, dass sich die Welt weiterdreht und nur das Leben zwischen uns erlebt.

Und ich wünschte mir, dass ich mich noch mehr darum mühen würde. Wenn es mich auch nur ansatzweise berühren würde. Ich wollte weinen, weinen weil ich nicht wusste, warum mich dieses Erlebnis so kalt ließ...
 

Jetzt weiß ich, dass ich Yuta nicht nur wie ein Tier in Stücke gerissen hätte, wenn ich es ihm damals gestanden hätte, doch auch ohne es ihm zu sagen, macht mich der Hauch von Schuld zu einem der Menschen, die in solch einem leid- und doch glückerfüllten Bruchteil der Zeit, doch lieber gestorben wäre.

Wie oft schon hat mich Kai aufgezogen und mir mit dummen Gerüchten und Bloßstellungen das Leben erschwert. Und es verletzte mich mehr als zu wissen, dass ich meinen eigenen Bruder, meinen besten Freund hintergangen hatte. Falsche Hoffnung gegeben, um dann doch tagsüber wieder die Maske zu tragen, die Zeit um Zeit, Tag um Tag, immer wieder diese scheinbar heile Welt aufrechterhalten sollte. Und doch wollte ich nie einen der Momente daheim hergeben um mit Kai vereint zu sein. Niemals. Es sollten zwei Welten sein. Getrennt voneinander. Und keine von beiden sollte dem anderen je nahe sein um etwas zu erfahren.
 

Ein neues Spiel beginnt und die Masken aufs Neue gewachst um sie glänzend für den neuen Auftritt zu machen. Dieses Spiel um die heile Welt, das tägliche Verdrängen der Tatsachen und die immer wiederkehrenden Erlebnisse des Alltags.

Das Märchen um das schwarze Schaf, die Geschichte um den bösen Wolf und die dummen Geschwister.

Blood

Immer wieder, immer wieder begehe ich diese dummen Fehler...
 

„Idiot, bleib mir bloß vom Hals!“

Hinter mit ertönte großes Gemecker, Beschimpfungen ehe ich bemerkte, wie jemand von hinten gegen mich rempelte und ich das Gleichgewicht verlor.

Im selben Moment purzelte ich mit dem Kopf voran die Treppe hinunter, alles drehte sich und als ich endlich am Fuße der Treppe stoppte, blieb mir nur dieses knackende Geräusch von eben in den Ohren hängen. Als ich meinen Oberkörper wieder aufrecht setzte, und mich an die Wand hinter mich lehnte, um nicht wieder nach hinten zu fallen, hatte ich noch immer das Gefühl durch die Gegend geschleudert zu werden. Yuta machte einen wilden Aufstand, sprang die letzten Stufen zu mir herab, kniete schließlich neben mir und jammerte herzerweichend.

Es war ein Wunder, dass mir so weit nix passiert war, dachte ich, als ich zu der Menge am Treppenfuß schaute, die neugierig herabschaute und erheitert tuschelte.

Als Yuta mich nach oben zog bemerkte ich den wahren Schmerz. Nicht das drehen vor meinen Augen, als ob ich vierundzwanzig Stunden meines Lebens in einer Waschmaschine verbracht hätte, sondern das taube Gefühl in meinen Beinen. Und dem Geräusch eben zu Folge nach war es ein bisschen mehr als nur eine Verstauchung, denn Yuta sackte unter meinem zusätzlichem Gewicht zusammen und ich schaute leicht benebelt durch das Treppenhaus, als ich wieder auf dem Hosenboden saß. Der Junge neben mir starrte mich entsetzt an. Ich fühlte keinen Schmerz, dennoch war mir unwohl zumute, dass dieses Knacken, nichts Gutes verheißen konnte.

Ich sah zurück. „Autsch?“, brachte ich ungläubig zurück als die anderen langsam munter wurden und doch mal ein Lehrer vorbei kam. Später stellte sich heraus, dass ich mehr Glück als Verstand gehabt hatte, denn das einzige was mir vom Treppensturz am neuen Schuljahrsbeginn geblieben war, war der Gips. Ein angebrochenes Schienenbein. Das Knacken war lediglich von dem Kerl gekommen, der mich von oben gerempelt hatte, denn dieser hatte sich in dem Moment einen kräftigen Faustschlag von seinem Gegenspieler eingefangen.
 

Das neue Schuljahr begann also sehr abwechslungsreich für meine Wenigkeit.
 

Kaum war ich nach ein paar Tagen wieder da, zog ich wieder neugierige Blicke auf mich und leider auch die Aufmerksamkeit von Kai. Dieser schien sich köstlich darüber zu freuen, wenn ich versuchte mit dem Klotz am Bein die Treppen hoch zu kommen oder unbeholfen versuchte mir meine Krücken wieder zu beschaffen, wenn sie mir wieder einmal aus den Händen gerissen wurden.

In der ganzen Zeit mit den Krücken hatte ich vermutlich mehr geflucht als im vorherigen Teil meines erbärmlichen Daseins.

„Verdammt noch mal, jetzt gib ihm endlich die Krücken wieder.“, raunte Yuta, der mir wieder mal versuchte zu helfen, als Kai mir nach dem Unterricht wieder aufgelauert hatte.

„Was denn~ Willst du dich etwa jetzt mit mir anlegen?“

„Wenn’s nötig ist!“, er lehnte mich an die Flurwand und krempelte sich die Ärmel weiter hoch. An jenem Schultag fühlte ich mich wie eine Schaufensterpuppe, die man von einem Ort zum nächsten schleppte, immer wieder ansprach, dass ich mich so und so bewegen müsste. Einfach schrecklich.

Ich beobachtete die beiden eine Zeit lang weiter. Kai war noch etwas größer als Yuta. Es war das erste Mal, dass ich die beiden so direkt nebeneinander sah. Unbeholfen versuchte der Kleinere sich die Krücken wieder zu schnappen, die Kai nebenbei schon fast federleicht in der Hand in der Luft herumschwang.

„Na komm schon, mach was. Du willst doch dein heißgeliebtes Brüderchen rächen, oder nicht?“ Doch Yuta schwieg weiter. Mir ging das ganze schon eine Zeit lang gegen den Strich, also schubste ich mich von der Wand ab, streckte fordernd die Hand zu Kai aus.

„Kai! Das Schaf will seine Krücken wieder haben! Jetzt sofort! Oder...“, weiter hatte ich nicht gedacht, irgendwas brauchte ich um ihm zu drohen, ohne mich selbst in Schwierigkeiten zu bringen.

„Oder was!?“, machte Kai verhöhnend und drehte sich zu mir, schubste Yuta zurück, hielt weiter die Krücken in der Hand.

Ein grinsen Huschte mir über die Lippen. „Weißt du, dieser Klumpfuß hat bestimmt einiges an Gewicht, was ich noch einige Zeit mit mir rumschleppen muss. Es wär doch schade, wenn sich plötzlich dieses Gewicht gegen dich auflehnt oder?“

„Oh, jetzt wird das Schäfchen gehässig~ Da muss man ja richtig Mitleid haben“, meinte er tonvoll, drehte sich zu Yuta, dann wieder zu mir. „Dass dir aber auch nichts Besseres einfällt. Erbärmlich. Wenn du jammern würdest würde dir die Rolle des Schäfchens besser stehen.“, er ließ die Krücken belanglos fallen, streckte sich gähnend. „Du solltest deinen Grips ein bisschen mehr anstrengen. Dir würde was Besseres einfallen.“, waren seine Worte, als er den Flur hinunter ging.

„Wie kommt ihr eigentlich auf dieses Schafgerede?“

„Keine Ahnung. Da fing er mit an.“

„Hitsuji -niisan*? Klingt komisch...“

„Hör bloß damit auf! Da läuft es einem ja kalt über den Rücken!“, raunte ich und schauderte, als ich wieder die Krücken in den Händen hielt und mich eigenständig stützen konnte.

„Wegen dem Wort Niisan oder wegen dem Schaf?“, kam es höhnisch von Yuta.

Entgeistert sah ich ihn eine Weile an, ehe ich mich wieder schüttelte. Das war echt gruselig, diese Wortwahl. Unheimlich, wie er das betonte.
 

Es war nicht viel Zeit vergangen und ich hielt es zu Hause wieder nicht aus. Regelmäßig machte ich Spaziergänge und versuchte mir einzureden, dass es nur gut sein kann, da ich mich selbst trainiere mit den Krücken zu laufen. Auch wenn Yuta mir vor Sorgen immer wieder die Ohren voll jammerte, ging ich Tag für Tag die Straße auf und ab und schließlich zum Park ganz in der Nähe. Sicher, jeder Hausarzt würde mich in Stücke reißen, wenn das jemand mitkriegen würde. Aber nach einiger Zeit war mir das so ziemlich egal. Ich machte nach meinem Weg in den Park immer wieder auf derselben Bank eine Pause, atmete tief durch und ließ für einen Moment die Welt an mir vorbei leben.

Erst nach einiger Zeit war mir damals aufgefallen, dass jedes Mal neben mir die gleiche Person saß. Ein junger Mann mittleren Alters, schlank gebaut, aber nicht mager, eher durchtrainiert. Dunkles Haar und eine Brille, zumindest saß er immer mit dem Buch dort, vermutlich eine Lesebrille, ähnlich wie Yuta. Allgemein erinnerte er mich sehr an ihn. Die ruhige Ausstrahlung, die dunkle Kleidung.

Den Drang ihn anzusprechen hatte ich schon länger aber ich konnte mich nicht überwinden. Es wäre unhöflich ihn auf die Brille anzusprechen, ihn weiter so anzustarren wäre auch nicht gut, also verließ ich ihn jedes Mal ohne ein Wort. Tag für Tag. Bis ich mich an jenem Tag wieder auf die Parkbank niedersetzte. Gestresst von Schule, wütend auf Kai, genervt von Yutas Übermenge an Fürsorge, geplagt von der Frage, was da noch alles schief laufen würde. Seit damals war nichts mehr zwischen uns gewesen. Wir hatten wieder diesen Alltagstrott eingenommen und dieses Theaterstück der süßen heilen Welt gespielt. Eine unendliche Geschichte aus Belügen und Betrügen, immer und immer wieder bis zum Erbrechen. Und wahrlich. Langsam wurde mir wirklich schlecht bei meinem Alltag.

„Wie hast du das eigentlich gemacht?“

Erschrocken richtete ich mich auf. Hatte er mich angesprochen?

„Wie?“, meinte ich und sah mich um. Er hatte kein Buch mehr dabei, hatte sich vorgelehnt und den Kopf in die Hand gestützt, den Ellenbogen auf den Knien. Vor ihm kratzen Tauben im Kies, neben ihm eine alte Papiertüte. Ich sah ihn eine Weile verwundert an. Seine Augen waren anders als die von Yuta, viel heller, fast hellgrau. Das Haar viel länger und feiner.

„Wie du den Gips bekommen hast, hab ich gefragt.“, er hatte einen leichten Akzent, sprach aber hervorragend und fließend unsere Sprache, obwohl er keineswegs von hier kam.

„Ah, das. Das war in der Schule, ein Unfall. Treppe runter gerollt.“

„Gerollt? Wohl eher gesprungen oder gestoßen worden.“

„Gestoßen. Aber trotzdem fühlt man sich danach wie frisch aus dem Trockner.“

Er schmunzelte. Sein Lächeln war irgendwie vertraut, dennoch hatte ich ein mulmiges Gefühl mit ihm zu sprechen. Seltsam, auch wenn er so fremd war, hatte ich die gleichen Hemmungen mit ihm zu sprechen, wie bei Yuta. Dabei waren die beiden doch vollkommen unterschiedlich. Langsam litt ich echt unter Paranoia, Wahnsinn oder wie auch immer man es nennen wollte. Professoren würden es ‚pubertäre Verwirrung’ nennen.

Als ich wieder zu ihm sah, war sein Blick auf den Boden vor uns gerichtet. Das Federvieh schien sein Interesse mehr zu wecken als manch andere Frau die vorbei ging. Seine Augen waren fast leer und er wirkte ziemlich vertieft. Ein seltsamer Mensch, dachte ich, bis er wieder das Wort ergriff.

„Ist es nicht sonderbar, dass die Tiere immer wissen wo sie zu Hause sind? Ich mein, kein Mensch weiß, wer er wirklich ist, welchen Platz er in der Welt einnimmt, aber wer denkt heute noch über so etwas nach? Den Tauben ist es egal, Tag für Tag gehen sie ihren Trott, genauso wie die Menschen, kehren ständig nach Hause zurück und trotzdem denken sie nicht, warum sie das eigentlich tun. Warum wurde den Menschen die Fähigkeit zu denken gegeben, was glaubst du?“

Es dauerte eine Weile, bis seine Worte bei mir angekommen waren und es dauerte mindestens doppelt solange um eine Antwort zu finden.

„Ich weiß es nicht.“, brachte ich gebrochen hervor.

„Das wusste ich.“, meinte er lächelnd. Irgendwie war das ganze nur ein Test oder ein Hinterhalt. Scheinbar war etwas viel Bedeutungsvolleres in dieser Frage, was ich nicht herausfiltern konnte. Er stand auf, streckte sich. „Es ist die Fähigkeit herauszufinden was hinter dem Menschen steht, die Möglichkeit sich bewusst zu machen, was richtig und was falsch ist und das Wissen, dass man Fehler macht, egal welchen Weg man geht. Es ist wichtig für die eigene Weltbewältigung und Denken ist das Erfassen der Welt. Unentbehrlich...“

„Und warum haben wir diese ‚Fähigkeit’ nun?“

„Um das Leben zu leben, wie es kommt. Bewusst, dass wir es nicht ändern können, egal welche Fehler man macht, was von anderen hervorgebracht wird, oder was auch immer in naher Zukunft passieren wird.“, meinte er lächelnd.

Angestrengt überlegte ich. Eigentlich hatte er verdammt recht, andererseits fühlte ich mich peinlichst angesprochen, versank in Gedanken und merkte nicht, wie er einige Schritte weiter ging.

„Dein Name.“

Ich schrak auf. Was wollte er von mir? „Reiji.“, antwortete ich schnell, ohne darüber nachzudenken, was es für Folgen haben könnte ihm so einfach meinen Namen preiszugeben.

„Reiji, hmm.“, nickte er. „Kansei.“, meinte er trocken und nickte mir zu.

„Ein seltener Name.“, brummte ich zur Seite, ohne zu merken, dass ich mal wieder laut dachte.

„Stört dich das?“, meinte er, den Blick über die Schulter zu mir gerichtet.

„Keineswegs!“

„Na dann.“, lächelte er und winkte über die Schulter, ging weiter, verschwand. Eine Weile blickte ich ihm noch nach, nahm dann meine Krücken wieder und machte mich auf den Heimweg.
 

„Wo zum Henker hast du gesteckt!?“, kam es rasend vor Wut aus der Küchenecke als ich ins Haus trat und die Tür hinter mir ins Schloss fiel.

„Ich war weg.“

„Was heißt hier weg?!“

„Draußen.“

„Draußen?“

„Ja doch.“, langsam gingen mir diese Gespräche auf den Wecker. Sie bestanden lediglich daraus, dass Yuta alles was ich sagte wiederholte. In einem übermäßig schrillem, neugierig fragendem Ton. Er sprang jedes Mal an die Decke und reagierte völlig unnötig.

„Ich hab dir doch gesagt du sollst dich nicht raus schleichen!“

„Mit dem Krüppelbein kann ich wohl kaum schleichen du Dummkopf!“, raunte ich, ließ mich schnaubend aufs Sofa nieder und verdrehte die Augen.

„Trotzdem hab ich dir gesagt-“

„Hör doch mal endlich auf mich ständig so zu bemuttern! Das geht ja jedem noch so gutmütigsten Menschen auf den Geist.“

Er verstummte abrupt. Als ich ins Haus gekommen war, war er mir bis zum Sofa gefolgt und hatte sich so aufgeregt. Jetzt stand er da, ließ die Arme hängen und sagte nichts mehr. Auf die Stille hin drehte ich mich zu ihm. Sein Blick war seltsam nachdenklich. Eindeutig hatte er das alles falsch verstanden.

„Komm her.“, meinte ich und winkte ihn zu mir.

„Was willst du? Noch mehr meckern, nur weil ich mir Sorgen mache?!“, giftete er, kam nach vorn.

„Komm her, hab ich gesagt!“, machte ich noch einmal und zog an seinem Pulli. Da ich schlecht so aufstehen konnte blieb mir wohl schlecht etwas anderes übrig.

Ich zog ihn weiter zu mir, dass er über mir lehnte.

„Was willst du?“

„Es geht mir gut, wirklich. Du machst dir zu viele Gedanken.“, meinte ich und drückte seine Stirn gegen meine. Sein Blick war immer noch abwesend. „I’m sorry.“

Meine Hand ließ von seinem Hinterkopf ab, wanderte ein Stück am Hals herab, streichte über die Wangen.

„Alright!“, summte er plötzlich überzeugend fröhlich, stand wieder aufrecht und ging wieder zurück. Was war nur in ihn gefahren.?

Ein paar Tage verstrichen wieder fast normal.
 

„Sag mal, Reiji, bist du schwul?“

„WAS?!“

„Bist du schwul?“

Es dauerte, bis ich meinen Blick wieder in Richtung Tür drehen konnte und nach einigen Sekunden wieder blinzelte. Das war einfach zu grausam. Wie konnte man nur!

„Y-YUTA! Was bringst du deiner Nichte für Wörter bei?!“, rief ich ihm zu, als er im Türrahmen stand und nur schelmisch grinste. „Dieses Kind ist sieben und woher soll es dieses Wort sonst gelernt haben?!“

„Das war ich nicht.“, meinte er abstreitend. Er wirkte überzeugt, aber immer noch zierte dieses Grinsen sein Gesicht. Der Junge unterdrückte zwanghaft das Lachen, als ich vom Boden aufstand.

„Man spielt mit dem Kind mit Bauklötzen und es fragt einen, ob man schwul ist...“, ich hielt mir die Stirn, schüttelte den Kopf, schauderte. „Wenn du es nicht warst, wo hat sie es denn dann aufgeschnappt.“

Yuta lächelte nur, zuckte verlegen mit den Schultern und neigte den Kopf gen Küche, in der unsere Eltern mit Yutas Tante saßen.

Wieder hob ich die Braue. „Von ihr?“

Er schüttelte sich. „Dad.“, kam es tonlos.

Wieder schob ich die Hand über mein Gesicht. Von seinem Vater!? Oh Mann, was war das nur für eine Familie. „V-Von deinem Vater?“, wiederholte ich ungläubig. Yuta nickte. Grauen stand mir ins Gesicht geschrieben. Langsam warf ich noch mal einen Blick zu seiner Nichte zurück, dann sah ich ihn wieder an. „Ich will absolut nicht wissen, warum!“, meinte ich und ging in die Küche, etwas trinken.

„Warum bist du so blass, Reiji?“

„Alles okay!“, meinte ich gelassen, als ich in der Küche mit komischen Blicken gemustert wurde. Seine Nichte kannte im Alter von sieben schon dieses grausame Wort und fragt gerade mich, ob ich ‚schwul’ bin. Hatte sich jetzt die Welt wirklich total gegen mich verschworen? Noch immer hasste ich dieses Wort, allein bei dem Gedanken, stellten sich mir die Haare auf und bei dem darauf Folgendem wurde mir noch übler zu mute.

Als ich wieder im Wohnzimmer war, blickte ich kurz Yuta zu. „Ich geh heute Abend weg.“ Von ihm kam nur ein Nicken. Es war überraschend, zumal er die letzten Tage damit verbracht hatte, mich übermäßig zu bemuttern. Jetzt war es fast so, als ob ich ihm egal wäre. Mein Hausarzt hätte mich zwar in Fetzen gerissen, aber ich war seit einigen Tagen nur mit einer Krücke unterwegs. Es war nun schon fünf Wochen her, dass ich gestürzt war, also eigentlich kein Grund zur Besorgnis. Seit Beginn der Schulzeit hatte ich mich regelmäßig mit Kansei unterhalten und ich wollte auch heute wieder zu ihm. Dieser Kerl hatte eine krankhafte Anziehung auf einen. Es war Neugierde, die mich jedes Mal dazu brachte in den Park zu gehen und mich seinen Fragen auszusetzen. Es waren Fragen, die man sich noch nie gestellt hatte. Über alltägliche Dinge.

Warum ist der Himmel blau? Wie kamen die Menschen dazu ihren Haustieren Namen zu geben? Wieso wurde der Mensch mit so vielen Makeln geboren?

Immer wieder brachte er mich zum nachdenken. Es half mir von meinem eigenen Problemen wieder zu denen, der gesamten Menschheit. Ich konnte mein alltägliches Leben in diesen Gesprächen einfach vergessen. Meine eigenen Schwächen verdrängen und mich als einen anderen sehen. Kurz gesagt, dass was andere als pure Dummheit sahen, was sie störte, was sie an diesem Menschen gerade so nervte, war für mich wiederum eine willkommene Wohltat. Ich hatte Vertrauen in ihn, obwohl wir nie mehr als unsere Namen ausgetauscht hatten. Er wusste nichts über mich, ich nicht über ihn und trotzdem hatte man immer wieder das Gefühl, dass er genau über einen Bescheid wusste. Die Fragen gerade so stellte, dass man über sich selbst nachdachte und doch in einer allgemeinen Antwort seinen Eindruck wieder gab. Meine Ehrfurcht vor ihm war etwas sehr seltenes. Zu niemand anderem würde ich sagen, dass ich solch einen Respekt hatte. Es war immer wieder etwas Besonderes.

Als ich im Park auf der Bank wartete, war Kansei noch nicht da. Eine Seltenheit, eigentlich war er immer vor mir dort. Ein Unwohlsein beschlich mich. Und mit der Stille kamen wieder die Schuldgefühle. Sorgen, warum Yuta in letzter Zeit so zurückhaltend war. Mir fehlte seine Nähe, seine lieben Umarmungen, das einfache was wir - nein er - momentan vollkommen unterdrückte. Wenn ich ihn ansah wurde er rot, drehte sich weg, es war offensichtlich dass er etwas verbarg. Aber was war es.

„Du schon hier? Hattest wohl Sehnsucht...“

„So in etwa.“, meinte ich nur, als ich die vertraut raue Stimme hörte.

Er stand schräg neben mir, die Hände in den Taschen, drückte eine Zigarette auf dem Kies aus. „Hast du in der ganzen Zeit eigentlich etwas gelernt?“, fragte er plötzlich überaus trocken.

„Natürlich!“

„Und was wäre das?“, stocherte er nach, legte den Kopf zur Seite und hatte diesen durchdringenden Blick und das triumphierende Lächeln. Es war dasselbe Lächeln, das ich von Kai kannte. Seltsam, aber immer wieder erinnerte mich Kansei an die Menschen in meiner Umgebung, an denen ich fast Tag ein Tag aus vorbei lebte. Ob es nun die gute Laune des Briefträgers war, die manchmal finstere Miene des Hausmeisters, Kais Lächeln, Yutas Nachdenklichkeit, der Sinn für Kleinigkeiten den ich von meiner Mutter kannte. Er war so vertraut und doch irgendwie kalt. Ferner als manch anderer, man wusste nie was in seinem Kopf vor sich ging und seine ganze Erscheinung wirkte, als wenn er niemanden bei sich haben wollte. Auf seine Frage fielen mir nur Dinge aus unseren Gesprächen ein, wie dumm die Menschen waren und alles was wir besprochen hatten.

„Du hast also nichts für dich persönlich gelernt, über dich selbst?“

„Doch!“

„Was?“

Wieder schwieg ich, mir stieg zu viel in den Kopf. Zu viel was ich ihn noch fragen wollte, zu viel was ich selbst von ihm und mir gelernt hatte. Meine Fehler. Aber das wichtigste brachte ich nicht hervor.

„Dann auf ein letztes.“, meinte er und machte mir ein Zeichen, dass ich ihm folgen sollte. Was auch immer er vorhatte, mein Herz machte einen Sprung. Es war Erleichterung, Angst und ein wenig Bedauern. ‚Auf ein letztes’ konnte viel heißen.
 

Er ging voraus auf ein altes Gebäude zu.

„Was meintest du mit ‚auf ein letztes’?“

„Es heißt vieles. Wenn du’s nicht endlich verstehst, dann kann ich dir nicht länger helfen, wenn du es verstehst, ist das zwischen uns vorbei. Ein Ende halt.“

Wieder Schweigen. Er sprach wie immer in Rätseln.

Er drückte wieder einen Rest aus, als er mir ein Zeichen machte, doch die Tür zu öffnen und vor zu gehen.

Von draußen sah es aus, wie ein altes Wohnhaus oder Lagerhaus, es erinnerte mich aber mehr an den Schuppen für die Sportgeräte. Die Fenster waren hochgesetzt. Normalgewachsenen war es unmöglich durch die zudem noch dreckigen Scheiben einen Blick nach innen zu werfen.

Irgendwie lief mir ein Schauer über den Rücken bei dem Gedanken, dass ich mich jetzt schon zu solch alten Gemäuern führen ließ. Nach kurzem Zögern drückte ich aber schon wieder die Klinke nach unten, stieß die Tür auf, die ein wenig klemmte und stand nach ein paar Schritten in einem alten Lagerraum. Rund herum standen Container und alte Behälter, vor mir eine große freie Fläche. Der graue Boden war staubig und ein öliger Geruch stieg einem stechend in die Nase, von oben her rieselte weiter Dreck in das Gebäude und die Dachfenster waren zerstört.

Als ich weiter eintrat schreckte ich ein paar Tauben auf und sie ließen die Federn auf dem Beton. Das ganze hatte etwas schrecklich Hässliches aber dennoch irgendwo etwas Atemberaubendes. Die Größe, die Leere, das Licht, das kegelförmig durch die Dachfenster sank. Der Beton zu den Füßen und der scheinbar verseuchte Sauerstoff in der Luft, die beschmierten Wände, der Windhauch, der durch das Gebäude zog und der schimmernde Schein. Ich wusste nicht mehr, wie lange ich dort stand und einfach durch die Gegend starrte aber irgendwann tauchte wieder Kansei hinter mir auf.

„Weißt du eigentlich was der Unterschied zwischen uns ist?“

„Was meinst du?“

„Was uns zu dem macht, was wir sind und nicht zu irgendwem anderen...“

Auf seine Worte drehte ich mich zu ihm. Das war wirklich wieder ein Rätsel. Ich schwieg lieber, als eine falsche Antwort zu geben.

„Es ist der Charakter, mein Lieber. Der Charakter. Die Identität, die das Denken und Handeln eines jeden nach einem einzigartigen Muster anlegt, so dass der Mensch mit seinen Eigenarten einmalig ist.“, er legte mir eine Hand auf die Schulter und ging um mich herum, langsam bedächtig, ich folgte ihm mit meinen Blicken. Seine Erklärung sollte mir einiges klar machen.

„Du bist zurückhaltend, schüchtern, aber energisch, wenn dir was nicht passt, dann sagst du es auch. Du kannst argumentieren und versuchst Problemen aus dem Weg zu gehen, vermeidest Kontakt mit Konflikten und versuchst einfach alles zu verdrängen. Du bist schwach und einfach naiv. Kurz gesagt: emotional instabil“

Woher wusste er das nur alles, langsam wurde mir mulmig zu mute.

„Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen uns. Du bist nicht in der Lage dich zu wehren und lässt dich zu schnell unterkriegen. Andere, Menschen wie ich, haben da leichtes Spiel, dir zu zeigen, wie hart das Leben wirklich sein kann...“, er blieb hinter mir stehen. Als ich mich zu ihm drehen wollte, stieß er mir ins Kreuz.

„Was zum Teufel willst du eigentlich?“

„Was ich will? Dass du endlich lernst, dass du Hände hast um zu schlagen, dass du Füße hast um zu treten, Worte um zu verletzen. Du bist dumm.“

„Woher willst du das alles wissen!?“

„Wissen, dass du Opfer von einigen Schülern bist, die immer wieder auf dich herabsehen, dass du zu feige bist, dich zu wehren, dass es sogar ein Mitschüler schafft dich zu vögeln?“

Mein Magen drehte sich. Er wusste scheinbar wesendlich mehr, als ich dachte.

„Ich weiß einiges über dich, glaub mir.“, er zündete sich wieder eine Zigarette an, das Ende glimmte in der Dunkelheit kurz auf und er ging ein paar Schritte zurück. „Ein „Schäfchen“ hat er dich genannt. Feige, naiv und einfach unfähig. Schwach!“

„Woher weißt du das alles...?“

„Ich kenne ihn. Kai war mal ein ‚guter Freund’.“, sein Lächeln wurde fast diabolisch, er verschränkte die Arme und lehnte sich an den Stapel hinter ihm. „Ich weiß jedes deiner schmutzigen Geheimnisse, selbst was du mit deinem heißgeliebten Bruder machst. Es gibt wesendlich mehr, was man aus diesen philosophischen Fragen schöpfen kann als du glaubst. Und die Fragen waren speziell auf dich gerichtet, aber du merkst das noch nicht einmal.“

In meinem Hals hatte sich ein unangenehmes Kratzen breitgemacht, ich schaffte es nicht einen Ton hervorzubringen und in mir wuchs die Wut. Wut gegen ihn, dass ich solches Vertrauen in ihn hatte, Wut gegen Kai, dass er solche Menschen kannte.

„Du bist es echt nicht wert, dass man sich mit dir abgibt. Ich verstehe Kai noch immer nicht. Er schien Gefallen an dir zu haben, aber wenn du dich wehren würdest, wäre seine Aufmerksamkeit sicher noch mehr auf dich gerichtet. Und nun willst du sicher wissen, warum ich dich nun so beschuldige. Richtig?“

Ein Nicken, mir blieb ja nichts übrig. Eigentlich hätte ich mich auch umdrehen können und aus der Tür gehen können, ohne weiter auf seine Worte zu hören aber es war mir nicht möglich auch nur einen Muskel weiter zu bewegen. Es war kalt, meine Glieder waren wie gelähmt und in mir zog sich das Selbstmitleid empor. Es kroch über meinen Rücken, Muskel für Muskel schien es an sich zu reißen um mich im Späteren auf die Knie zu zwingen.

„Ich will, dass du dich wehrst, dich wie ein Mensch verhältst, wie ein Tier.“

„Warum mischt du dich dann in mein Leben so ein?“

„Das war noch nicht einmal ich~“, er legte die Hände wie Waagschalen und zuckte mit einem gespielt heiterem Lächeln die Schultern.

„Wer war es dann!?“

„Üble Gestalten. Eine kleine Schlange. Wie Kai es dir sagte, wie Yuta dich gewarnt hat, wie ich es dir jetzt sage.“

„WER?“, wiederholte ich energischer.

„Ami.“, er ließ den Filter fallen.

Wieder blieb mir nichts als Schweigen übrig. Es war ein weit aus unangenehmerer Gestank als Öl. Es war Verrat. Das ganze Gebäude stank danach.

Hinter mir knarrte die Tür und fiel ins Schloss. Zwei junge Männer waren gekommen. Und ich ahnte nichts Gutes.

„Schön, dass man es doch noch geschafft hat.“, kam es von Kansei. Die beiden Männer nickten nur. „Dann viel Vergnügen~“, winkte er mit der Hand ab.

„Was soll das nun?“, fragte ich noch, ehe ich von hinten gegriffen wurde und man mir den Mund mit einem Tuch versiegelte, dass fest hinter meinem Kopf zusammen gebunden wurde.

„Mal überlegen...“, machte er gespielt nachdenklich. „Wie lernt man am besten, wie man sich selbst gegen Fremdeinwirkung wehrt?! Rate doch selbst einmal~“

In jenem Moment wurde mir einiges mehr klar. Warum er mich damals angesprochen hatte, warum er so viel über mich wusste, was mich jetzt erwartete.

Kansei ging weiter zurück, sprang auf einen anderen Stapel von Metallresten und beobachtete das ganze. Kurz darauf wurd ich herum gerissen, ich spürte eine Faust in der Magengegend, anfangs riss ich noch die Augen auf, versuchte zu strampeln, merkte aber dann, dass je mehr ich mich rührte, der Schmerz immer tiefer drang. Bis in die letzten Ecken, fraß sich mein Schuldgefühl, mein Selbstmitleid, dass mich scheinbar noch mehr in die Knie zwang als der Schmerz, den ich in der Gegenwart erfahren musste. Es hatte nach kurzer Zeit keinen Sinn mehr zu treten, von hinten wurde ich fest von dem anderen gehalten und machte keine Anstalten mich loszulassen. Selbst als ich es schaffte ihm auf den Fuß zu treten, dass er mich kurz los ließ, und ich eine Chance hatte zu laufen, trugen mich meine Füße keine zehn Meter weiter, ehe ich am Boden zusammensackte. Weder die jetzige Verfassung noch mein Bein hatten mir dies erlaubt, auch wenn ich mittlerweile keinen Gips mehr hatte, die Krücke brauchte ich noch. Die Hände mittlerweile auch auf dem Rücken zusammengebunden, lag ich mit dem Gesicht im Dreck, versuchte noch Luft zu kriegen, schaffte es jedoch nicht meinen Atem zu regulieren. Vor mir pustete ich Staub in die Luft, der durch die Lichteinstrahlung gelblich funkelte ehe er in der Zugluft wieder herumgewirbelt wurde. Zum ersten Mal im Leben war ich wirklich in Panik. Angst, nackte Angst stand mir im Gesicht, auch wenn ich keinen wirklichen Grund hatte. Doch, einen Grund. Ich war wehrlosausgeliefert. Ich müsste mich doch nur wehren, oder wie war das? Doch wie sollte man sich wehren? Die Kerle waren wie Beton, auf den man einschlug, die merkten nichts, sie lachten nur, als ich am Boden lag und mein Atem erneut den Staub aufwirbelte. Dann merkte ich nur noch ihre Tritte in die Rippen, versuchte mich zusammenzurollen.

„Wie ist es, wenn einem nichts übrig bleibt als zu jammern?!“, fragte einer der beiden, hievte mich hoch, stellte mich aufrecht. Das Gebäude drehte sich, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, als ich die Stimme des anderen hörte, wie er lauthals lachte, Kansei schien sich kaum für das alles hier zu interessieren, man hörte und sah ihn kaum. Kaum war das Lachen verstummt, fing er wieder an mich anzustarren. Er hob seine Faust, ich kniff die Augen zusammen, doch als ich wieder aufsah, hatte er die Faust gesenkt sah über mich hinweg.

„Du willst doch sein schönes Gesicht nicht ruinieren...“, hörte ich Kanseis kraftvolle Stimme über mir erklingen. „Willst du nicht endlich etwas dagegen tun, Reiji?“

Verzweifelt kniff ich die Augen zusammen. Wie gern wünschte ich mir, dass all das sofort endete. Ich wollte etwas tun. Rennen, ja rennen verdammt und schreien.

Wenn Yuta wüsste, was hier vor sich ging, wenn er wüsste, warum dass alles geschah. Ich hätte sein Vertrauen für immer missbraucht. Nie mehr würde er mich in die Arme schließen und dieses Spiel, was bisher zwischen uns alltäglich war, würde zur Realität. Ein Ignorieren und Missachten, die Freundschaft würde an mir zu Grunde gehen. Und das nur weil ich mich auf ihn eingelassen hatte. Kai... Diese Demütigung war schlimmer als jedes Spiel was er bisher mit mir getrieben hatte, schlimmer als manche Streiche von den Mitschülern, schlimmer als alles was ich mir erträumt hatte. Und die Angst stieg weiter. Die Angst davor, dass es vorbei ist und ich zurück nach Hause musste. Der Traum von dieser glücklichen Familie wäre grundlegend zerstört.

„Reiji!“, hörte ich ihn wieder, doch ich schüttelte mit dem Rest Kraft, der mir noch geblieben war, den Kopf. Ich wollte es nicht, ganz und gar nicht. Das Tuch war mittlerweile durchtränkt. Der Geschmack von Blut ließ mich immer wieder aufs Neue würgen. Bei dem Sturz vorhin hatte ich mir auf die Zunge gebissen und die Lippen bluteten eh schon. Der Mann vor mir zückte ein Messer aus dem Hosenbund, es war blank poliert, sauber ohne einen einzigen Kratzer. Wohl behütet für den Augenblick in dem es das erste Mal einem Menschen nach dem Blut gierte. So wie jetzt. Er schmunzelte als ich mein Gesicht weg drehte, wieder versuchte zu laufen, hielt mich der wieder andere fest an den Armen, drehte mich herum, so dass der andere sein Werk vollenden konnte. Anfangs wand er das Messer herum, spielte damit, schleuderte es herum, warf es in die Luft, fing es wieder. Dann betrachtete er es eine Weile, sah dann mich an, lachte.

„Weißt du eigentlich was für ein Glück du hast?“, meinte er, griff nach meiner Kehle, drückte mir die Luft ab und ließ die Klinge an meinem Gesicht entlang streifen. Diesen Spruch musste er auswendig gelernt haben. So wie die beiden aussahen wussten sie die Antwort eh nicht. Erst nur leichtes Streicheln, wie eine Feder, die über Samt gleitet, dann stärker drückend, bis ein kleines Rinnsal an der Schneide herab lief. Dann packte der Mann hinter mir einen Haarschopf, riss meinen Kopf nach hinten. Seltsam, aber ich blieb ruhig, mein Herz klopfte zwar bis zum Hals, dass ich fürchten müsste, dass die alte Lagerhalle unter dem Widerhall erschüttern könnte. Dennoch trieb mich nichts dazu zu schreien oder um mich zu schlagen. Die Glieder meines Körpers hingen viel zu schwer, rissen mich weiter in die Verzweiflung, dass ich überlegen musste, was ich als Erklärung hatte. Viel mehr plagte mich aber die Frage, warum Kansei mich plötzlich derartig prüfte. Nein, kein prüfen. Es war mehr eine Folter, als ein Weg um mir beizubringen, mich zu wehren, mich so zu verhalten, wie es jeder andere tat. Er wollte mich dazu zwingen herzlos zu sein in dem er den Überlebenswillen in mir herauskitzelte. Wieder schnitt das Messer an der Wange herab. Es schmerzte kaum, es war mehr der bittere Nachgeschmack einer von den aufgezwungenen Küssen, die mich, als ich in jener Nacht mit Kai geschlafen hatte, in ähnliche Gefühle stürzten. Ich hatte eine Ahnung, dass ich mich selbst hinterging, schließlich versuchte ich alles zu verdrängen und an später zu denken, an den Zeitpunkt, an dem ich nach Hause kam, Yuta mich ansah und mir ein Lächeln zuwarf.

Nach ein paar weiteren Schlägen und einem fast zerschnittenen Pullover glaubte ich, eine Ewigkeit wäre vergangen, es drang kaum noch Licht durch die Dachfenster und die Luft wurde kalt und feucht. Er machte sich sicher schon Sorgen. Im selben Moment ratterte die Tür auf. Draußen ging die Sonne fast unter, der Himmel färbte sich rot und im Türrahmen hielt jemand sein Handy mit dem Display zu uns.

„’Ich werde deinem Schäfchen zeigen wie man beißt.’ Sag mal, willst du mich verarschen Kansei?!“

Die Stimme, das konnte nur Kai sein. Aber warum musste gerade er es sein, der hier aufkreuzte. Die Prügelspuren waren schon erniedrigend genug und jetzt kam er und wollte mich holen? Wenn es denn so war.

„Was denn? Bist du etwa wütend?“

„Wütend ist gar kein Ausdruck~“, meinte er gelassen, klappte das Handy wieder zusammen und schob es in die Hosentasche. Danach zuckte er mit den Schultern, trat ein. „Was willst du von dem Jungen?“ Sein eben energisches Auftreten und seine Wutgeladenheit waren übermalt oder gar verflogen.

„Das was ich dir gesagt hab. Der Junge soll sich wehren.“

„Kansei! Man kann sich ja auch so gut wehren, wenn man gefesselt und geknebelt von zwei Hobby-Bodyguards verprügelt wird!“, meinte er, verschränkte die Arme vor der Brust. Nebenbei hatte ich mich wieder aufgesetzt, nachdem ich wieder auf den Boden gesackt war, als die beiden Kerle mich losgelassen hatten.

„Pfeif deine dummen Straßenköter zurück und lass den Jungen in Ruhe.“

„Du warst es doch selbst, der sich gewünscht hat, dass er mal ein bisschen mehr Mumm hat und sich wehrt, oder wie du es gesagt hast ‚mal nicht so ein erbärmliches Erscheinungsbild abgibt’. Du wolltest doch, dass er anfängt Mann zu werden.“

„Das war aber nicht auf die Art gewünscht, dass du den Jungen fast zu Tode prügelst...“

Kansei sprang vom Container, ging an Kai vorbei, und warf ihm nur ein paar beiläufig erniedrigende Blicke zu. Die beiden Kerle verschwanden mit Kansei daraufhin schnell wieder aus der Halle. Und als ich meinen Blick wieder herum wand, hatte sich Kai neben mich gehockt und seufzte, löste die Fessel.

Er lehnte sich dann an den Container hinter uns und sah zur Tür.

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich von solchen Menschen fernhalten.“

Daraufhin riss ich mir das Tuch vom Mund.

„Du hast es nie so gesagt. Du hast mich nur vor Ami gewarnt.“

„Dann halt jetzt.“

„Das kotzt mich an.“

„Selbst Schuld.“

„Le-“, doch ich verstummte. Das war nicht der richtige Moment für solche Sprüche, die er mal wieder wörtlich nehmen würde. „Halt’s Maul.“

„Sei still!“, meinte er, nahm mich Huckepack und trug mich aus der Halle.

„Ich kann selbst laufen.“

„Keine zehn Meter, dass wette ich mit dir.“

„Willst du dich lustig machen?!“

„Seh ich so aus?“, brachte er trocken hervor, als wir vor seinem Haus standen.

„Was willst du jetzt noch?“

„Ja, was denkst du denn? Willst du so nach Hause gehen und vor Yuta alles erklären?“

„Seit wann interessiert dich Yuta?“, fragte ich ungläubig.

„Der interessiert mich einen Scheißdreck, aber du siehst einfach nur echt...“

„Verdammt, halt’s Maul!“
 

Im Haus stieß er mich wieder auf das Bett. Alte Erinnerungen kamen hoch. Unangenehm und quälender den je.

„Zieh dich aus.“

„WAS?!“

„Die Klamotten. Du siehst grauenvoll darin aus. Guck doch mal an dir runter.“

Er hatte recht, die Hose war an den Knien durchgescheuert und der Pulli vom Dreck- und Ölgemisch total verfärbt und zerrissen. Ich stand auf, zog mir den Pullover über den Kopf, reichte ihn Kai. Doch dieser hatte mich die ganze Zeit mit ernstem Blick beobachtet, jede Bewegung mit den Augen verfolgt und trat nun Näher. Es war einer dieser Momente, wo ich zu gern wieder die Zeit angehalten hätte, nur um dieses Gefühl zu wahren was in jenem Augenblick in mir wieder aufflammte. Seine Hand, die an meiner entlang strich, mir den Pullover aus der Hand nahm und ihn achtlos fallen ließ. Die Augen, die mich wieder so eindringlich musterten, die Farbe fast schwärzer als die Nacht und diese immense Ausstrahlung, die mich wieder in den Bann zog. Als ich den Mund öffnete um etwas zu sagen, hob er drohend den Finger, drückte meinen Kopf leicht zur Seite, streichelte mit den Fingern über das Schulterblatt, ehe er die Lippen auf die Haut senkte.

Warum, warum gerade jetzt, warum wollte ich gerade jetzt nichts mehr als das? So dicht, so nah und trotzdem immer wieder der Gedanke, dass ich Heim musste. Zurück. Zurück in die Wirklichkeit und jedes noch so schöne Sündenspiel vergessen. Und es ging weiter, seine Hände auf meiner Hüfte, wie er mich zu sich zog, den Hals herauf küsste, bis er seine Lippen auf die meinen legte, leicht das Blut vom Kinn leckte. Und ich? Ich stand nur da und ließ es geschehen, die Augen geschlossen, mit der Hoffnung es würde ewig so gehen. Sekunden später dann wieder seine Lippen auf den meinen, seine Hände, die mich leicht nach hinten drückten, die Beine, die unter dem Druck der Bettkante nachgaben. Das Gewicht der Dämmerung, die wieder auf mir lastete, als sei es all das Gewissen der Menschen, die wissen welche Fehler sie begangen haben. Hin und her gerissen von meinem eigenen Verstand wusste ich nicht ob ich nun doch die Arme um ihn legen sollte und wirklich weinen sollte, so wie ich es mir jetzt wünschte. Ausgenutzt um doch verletzt zu werden, etwas anderes kam für mich als Erklärung für diesen Nachmittag nicht in Frage. Aber es war nicht anders bei mir, oder irrte ich da? Ich war es, der nun wieder in den Armen desjenigen liegt, den er anfangs so hasste und sich doch nun nichts sehnlicher wünscht, als diese innigen Berührungen.

Wie sehr hatte ich mir in letzter Zeit eine einfache Umarmung gewünscht, ein nettes Wort, die vertraute Stimme am Ohr, die einem Resignationen zuflüstert, der Atem auf der Haut, den ich nachts für so kalt und schauderhaft empfand.

Er drückte meinen Leib in das Bettzeug, öffnete die Hose, ohne seine Lippen von mir zu nehmen. Ich wusste nicht was er wirklich dachte, ob sein Blick über mich wanderte, oder ob er es nur aus reiner Gefälligkeit und Trost tat. Um den seelischen oder physischen Schmerz zu lindern. Oder ob er es einfach nötig hatte, oder ob wirklich mehr dahinter steckte, ich wusste es nicht. Alles was ich wusste war, dass mir wieder die Hitze in den Kopf stieg, ich einfach die Arme um ihn schlang und immer wieder nach Luft rang, wenn er sich von mir löste. Wieder dröhnte mein Herz und immer stärker schien es gegen die Brust zu hämmern, in der Hoffnung, dass es Antwort erhielt. Ein leises Wort, dass ich von Yuta immer kannte, das ich aber immer mit dem einfachen ‚Ich weiß’ abtat. Wie gern hätte ich die Worte von ihm gehört, doch diesen Wunschtraum konnte ich ihm nicht aufzwingen. Es wär das Letzte, was er tun würde, und dennoch brach es mir jedes Mal das Herz zu wissen, dass er mich so berührte, nur um der Fleischeslust zuliebe. Weiter verlief es vollkommen anders als beim letzten Mal. Als ich die Augen kurz öffnete wirkte er mehr bedrückt, als so sicher wie beim letzten Mal. Trotz allem war es nicht weniger aufregend, seine Hände, die wieder über den Körper wanderten, fast suchend über die Haut strichen, mich immer wieder hart aufseufzen ließen, nicht um der Schmerzen Willen, eher aus Bedauern. Das Wissen, dass es alles wieder vorbei geht, und nur die Erinnerung bleibt, die Schmerzen von der Prügelei und die süße Erleichterung.

Doch dieses Mal brachte es Kai nicht fertig. Als er über mir lehnte, ich leicht erschöpft, er noch nicht wirklich zufrieden, weil alles was bisher passiert war reine Gier nach nackter Haut war, sah er zur Seite, als ich einen bettelnden Blick zu ihm warf. Er stand auf, nahm die Hose, die auf dem Boden lag mit und verschwand aus dem Zimmer. Ich fragte mich, ob ich etwas Falsches getan hatte, aber mir war nichts bewusst, was hätte falsch sein können. Oder es war ihm zuwider jetzt mit mir - in diesem Zustand - zu schlafen. Er hatte mich berührt, ich hatte reagiert, nicht nur mein Körper war von Schweiß bedeckt, auch er war willig, hielt sich aber zurück. Das einzige was wirklich geschehen war, war in dem Moment wohl, dass ich unter seiner Berührung und dem Rausch meinen Körper gegen ihn gestemmt hatte, seinem Reiz gefolgt war.

Ich hörte nur wie er sich im Bad nebenan die Hände wusch und mir dann darauf aus dem Schrank im Zimmer ein Shirt und eine seiner Hosen zuwarf.

„Geh duschen, du siehst schrecklich aus.“, sein Grinsen dabei war kaum zu übersehen.

„Na danke aber auch...“, kam es tonlos von mir.

Auch durch das Duschen fühlte ich mich wenig erleichtert, was mein Schuldgefühl gegenüber Yuta anging. Und die Hose sprach allein schon für sich: Die üblichen Löcher und Fetzen, die geflickten Stellen am Oberschenkel. Als ich die Hose mit gerunzelter Stirn musterte, warf mir Kai böse Blicke zu.

„Wenn’s dir nicht passt, renn doch in Unterhose. Kommt bestimmt auch gut. Ich geb dir auch den alten Pullifetzen, das ist bestimmt noch besser... Yuta wird’s lieben~“

„Sei bloß still.“

„Geh endlich.“, meinte er. Kai hielt schon eine Weile die Tür offen, als ich in den Flur gekommen war. Scheinbar war er wirklich nicht gut auf mich zu sprechen. Ich ging, wie aufgefordert, durch die Tür, hörte als ich die Stufen herab ging, wie die Haustür ins Schloss fiel und mir war als ob es wirklich irgendwie kälter wurde. Es wurde Herbst.
 

Ohne Krücke stand ich wenig später wieder im Wohnzimmer auf dem Parkettboden vor Yuta. Er sah mich lange an, kam dann auf mich zu, legte die Arme um mich, zuckte zusammen, als ich ihm über den Rücken strich.

„Mach das nie wieder...“

Scheinbar hatte ich ihm wirklich unnötig Sorgen bereitet. Nicken von mir, war alles was übrig blieb, schließlich konnte ich es ihm nicht versprechen, dass so was nicht noch einmal passieren könnte. Als ich ihn wieder ansah, sein Gesicht in die Hände nahm und ihn küssen wollte, drehte er sich von mir. Ein leichter Stich ins Herz. Aber es war verständlich, dass er sauer auf mich war. Also ließ ich von ihm ab, ließ die Arme von ihm, erntete aber nur verwirrte und verunsicherte Blicke von ihm.

Was hätte ich in dem Moment auch noch anderes machen können?

Als Opfer von Kansei konnte ich Yuta schlecht sagen, dass man mich verprügelt hatte, weil ich mit Kai geschlafen hatte und ihn gewähren lassen hatte. Zu unfähig war mich zu entscheiden und fest zu einem Menschen zu stehen oder nicht in der Lage war zu sagen ich will oder ich will nicht. Notgedrungen musste er es aber früher oder später erfahren. Ich konnte nicht immer wieder aufs Neue der Wirklichkeit entfliehen, die Wahrheit verbergen und irgendwann würde jeder alles erfahren. An jenem Abend lag ich wach im Bett, als Yuta an der Tür klopfte. Er kam herein, ohne auf Antwort zu warten, setzte sich auf die Bettkante und verharrte so eine ganze Weile.

„Mein Vater hat mich das damals gefragt. Sie scheint es aufgeschnappt zu haben.“, meinte er verlegen. „Aber woher soll man wissen, dass das Kind vor zwei Jahren schon soviel mitbekommen hat...“

Schweigen.

„Du willst nicht wissen, warum?“

Kopfschütteln.

„Es war kurz nachdem wir uns so angefreundet haben, da hab ich wohl ständig immer nur von dir erzählt und mein Vater schien grad sehr - wie soll man’s nennen? – empfindlich und reizbar zu sein. Da dachte er scheinbar wohl irgendwie falsch...“

„Bist du es denn jetzt nicht?“

Yuta verstumme. „Damals nicht. Und jetzt? Da bin ich mir nicht sicher...“

Den Blick mittlerweile zu ihm gerichtet, sah ich an ihm herab. „Warum bist du momentan so auf Distanz?“

„Ich bin nicht auf Distanz.“

„Warum weichst du dann ständig aus? Du warst es doch, der es damals wollte. Wenn ich dich jetzt in den Arm nehmen will, lässt du mich eiskalt abblitzen.“

Wieder Schweigen und ich richtete mich auf.

„Ich glaub nur, dass durch dieses Getue das nichts ist, wirklich alles kaputt geht.“

„Dann sag es doch, so wie damals.“, meinte ich.

„Das kann ich nicht.“

„Warum?“, wollte ich wissen, lehnte mich dabei an die Wand hinter mir und legte die Decke über die Füße.

„Es tut weh.“, kam es leise von ihm und er drehte sich herum. Wie konnte einem es so schwer fallen, diese Worte zu sagen, zumal er es ständig gesagt hatte, immer und immer wieder?

„Jetzt auf einmal?“

„Schon immer.“

Mir wurde klar, was eigentlich in Yuta vor sich ging. Es war derselbe Gedanke, den auch ich schon immer hatte. Das Bewusstsein, dass man, wenn man sagt, dass man ihn liebt, sich unweigerlich an ihn bindet. Das Wissen, dass man dem einfachen Leben ein Wiedersehen sagen muss, um dem was vor einem ist voll und ganz gerecht zu werden. Sobald man etwas laut ausspricht verändert es sich. Liebe, die aus Freundschaft entflammt, kann nie schmerzender und bedrückender sein, als das Wissen, dass man einen Teil von der Erinnerung immer hinter sich lassen muss. Entscheidet man sich dafür, die Liebe für den anderen zu erwidern, obwohl man sich selbst nicht sicher ist, betrügt man sich und alle anderen. Bleibt man bei Freundschaft, hat man immer wieder diese Worte in den Ohren klingen, die einem gestanden, dass der beste Freund doch mehr als das empfindet. Egal wie man es dreht, der Schmerz bleibt. Und wenn es gegenseitige Liebe ist, geschieht es nicht zu selten, dass alles scheitert, da man die Fehler des Freundes erst mit dem engen zusammen leben so stark offenbart bekommt, dass sie nicht übersehbar sind. Yuta war sich bewusst, dass er nicht lieben wollte, die Nähe aber nicht missen wollte. Um nicht weiter zu lieben, mied er es mich zu küssen. Traurig aber wahr. Es war von Anfang an auf das zugelaufen und keiner kann das Leben ändern. Nur man selbst kann sich seine Fehler eingestehen, so wie ich. Dass ich mich damals von ihm doch reizen lassen hatte, dem Willen für den anderen kurz nachzugeben und mit ihm zu schlafen, bereute ich nicht. Es war nur dieses schattenhafte Süße, das einem zurückblieb und immer wieder aufs Neue verleitete, diesen Moment wiederzuholen.

Die Zeit ist der größte Feind, egal in welchem Moment. Das einzige was der Mensch noch fürchten muss, ist das Alter und die Gebrechlichkeit, sagt man. Doch ich weiß von Kansei, dass es viel mehr gibt, was man bedauern, fürchten und hoffen kann. Die Angst vor Fehlern ist bei vielen Menschen ausschlaggebend für ihr Verhalten und je stärker sie versuchen ihr Leben so zu gestallten, dass es moralisch und perfekt ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einen Menschen zu verletzen, ihn unweigerlich mit sich in die tiefsten Abgründe zu ziehen, die man sich selbst gegraben hat. Der Alltag ist der Schatten, der einen jeden zu dem zwingt, was er am meisten hasst. Sei es nun die wachsende Zuneigung oder die steigende Angst, etwas zu verlieren. Der Mensch ist sich selbst der größte Feind.

Und trotzdem ist jeder Mensch ein Hinterwäldler. Gerissen, tückisch und verschwiegen, jeder lebt sein Leben, ohne auf das zu achten, was ständig um einen ist. Rücksicht? Das habe auch ich nicht genommen, als ich wusste, dass ich eigentlich nie wirklich Liebe für einen von beiden empfunden habe. Es war immer nur pures Verlangen nach dem Unerreichbaren.
 

Ein dummer Traum, der einen dazu verleitet, die Menschen in nächster Nähe wieder zu verletzten, zu betrügen, in dem man sich selbst betrügt, dadurch dass man denkt, man kann das Leben ändern.

Vergebens...

Und immer wieder begehe ich diese Fehler zu denken, dass ich es ändern kann.
 


 

(* Anmerkung: hitsuji = Schaf; niisan = großer Bruder;

Thanks for the memories

Sind es nicht die Fehler, die das Leben lebenswert machen?
 

„Woher hast du die Schrammen im Gesicht? Und sag mir endlich die Wahrheit, deine Lügen sind echt minderwertig schlecht.“

Scheinbar hatte sich Yuta noch immer nicht mit der Erklärung „Bin ins Gebüsch gefallen.“, zufrieden gestellt.

„Du glaubst es doch eh nicht.“

„Sag mir die Wahrheit und ich glaube dir.“

„Ich hab mich geprügelt.“

Er schwieg, fing das Lachen an und setzte sich aus dem Bett auf.

„Was hab ich dir gesagt, du glaubst es nicht.“

„Doch, doch... Es ist nur so, du und dich prügeln? Unvorstellbar.“

Eigentlich war ich ganz froh, dass er es nicht glaubte, so konnte ich weiterhin von der Wahrheit ablenken, zumindest für kurze Zeit.

„Also, es sieht mehr aus, als ob du verprügelt worden bist, als dass du jemanden geschlagen hättest.“

Ich sog scharf die Luft ein, als er mir auf die Schultern klopfte. Seit einiger Zeit hatte ich an der Wand gelehnt, noch immer war mir mulmig zu mute, zu wissen, dass Yuta eigentlich nicht anders über diese Beziehung dachte, als ich. Dennoch brachte es irgendwie Erleichterung und dann doch wieder dieses Gefühl der Vertrautheit, das Wissen, dass er eigentlich doch wirklich wie ein Bruder war. Er dachte, fühlte, meinte oft das Gleiche wie ich. Wie hätte es auch jetzt anders sein können.

„Ja, lach ruhig.“, machte ich enttäuscht und sah aus dem Fenster. Draußen herrschte Dunkelheit, ich wusste nicht, wie lange es noch dauern würde, bis der nächste Tag graute, aber es war ein furchtbares Warten, nebenbei zu glauben, dass der Tag noch schlimmer werden würde, als der gestrige.

Für den Rest der Nacht blieb Yuta ruhig, er schien auf etwas zu warten. Auf den Moment, in dem ich von mir aus alles erzählte, doch es war einfach zu unangenehm, als dass ich ihm alles gestehen könnte. Noch nicht, nicht jetzt.
 

„Na, hat der Junge nun doch keine Krücken mehr?“, drang eine bekannte Stimme an meine Ohren. Yuta stand neben mir, als ich mich umsah und am Tor vor unserem Haus Kansei erblickte. Schlucken, ich wirbelte herum, meinte zum anderen, er könnte schon wieder reingehen, wimmelte ihn ab und ging zielgerade auf Kansei zu.

„Was hast du nun hier verloren?“

„Nicht ich, du! Du hast was verloren.“, meinte er, hielt mir die Krücke hin, die ich am Vorabend noch im Lagerhaus liegen gelassen hatte. Er warf sie mir zu, ohne ein weiteres Wort über gestern zu verlieren.

„Kai war heute nicht in der Schule. Hat er dir den Kopf gewaschen?“

„Keines Wegs. Sag bloß du vermisst ihn jetzt schon?“

„Ich hab dich lediglich etwas gefragt, schließlich scheint ihr euch doch gut zu kennen.“

Er zündete sich wieder eine Zigarette an, schob die Hände in die Hosentasche und zuckte mit den Schultern. „Sagen wir es so, das was damals zwischen uns war, ähnelt eurer Situation.“ Auf meinen Blick hin lächelte er, nahm den Filter zwischen die Finger und meinte nur: „Ich hab Kai zu dem gemacht was er heute ist.“

„Kein Wunder. Du bist auch noch einige Ecken komplizierter und ...“

„Und was?“

Es war seltsam, jetzt wo ich wusste, dass die Ähnlichkeit der beiden wohl darauf beruhte, hatte ich den unwohlen Gedanken, dass ich mich von beiden fernhalten musste, um meinen Frieden zu finden. „Was willst du noch hören?“

„Wie wär’s mit einem ‚Danke’?“

„Dafür, dass du mich verprügelt hast?“

„Ich hab dich nicht angerührt, dein Groll sollte gegen die anderen beiden gehen.“, meinte er, kam ein paar Schritte näher und neigte sich zu mir.

Dieselben sicheren und starren Augen, wie Kai schauten unter der dunklen Mähne hervor, musterten mich von oben bis unten, bis ein diabolisches Lächeln über seine Lippen huschte. Den Filter ließ er zu Boden fallen, legte mir beide Hände auf die Schultern und ein weiteres Funkeln in den Augen bereitete mir ein Unwohlsein. „Du hast verdammtes Glück.“, waren seine Worte, die er mir zischend ins Ohr hauchte und darauf hin an mir vorüberging. Ein Schaudern durchfuhr mich, als ich wieder zur Tür blickte und noch immer Yuta an der Tür stand und auf mich wartete.

„Komm endlich rein.“

Mein Kopf nickte, mein Blick folgte Kansei, doch meine Füße rührten sich kein Stück. Festgefroren in der Zeit, für nur einen Bruchteil, merkte ich wieder wie mein Herz schrie, nach der Dunkelheit und der Stille, in der es von den Händen gehalten wird, nach denen es sich schon so lange sehnt. Doch was brachte es, immer wieder dieses Schreien zu hören. Realität rückte immer wieder etwas ins andere Licht, nichts war von Dauer, selbst der Moment, in dem ich immer wünschte die Zeit würde verharren und stehen bleiben, so erfüllte sie mir doch eh nie wirklich meinen Herzensruf. Mit einem Lächeln drehte ich mich zur Tür, nickte noch einmal. Mit jedem Schritt merkte ich wieder, wie mein Körper zu Boden gezogen wurde, vergebens gegen die Schwerkraft des Alltags ankämpfte, in der sinnlosen Hoffnung, doch gerettet zu werden, die offenen Arme am Grund, die dich fangen.

Drinnen legte ich meine Sachen ab, schnappte mir die Hose und das Shirt, die frisch gewaschen auf meinem Bett lagen und machte mich wieder auf den Weg nach unten. Yuta kam mir am Fuße der Treppe entgegen, sah mich verwundert an.

„Wo willst du nun schon wieder hin?“

„Ich muss dir nachher etwas sagen.“, meinte ich nur sicher, winkte ihn beiseite und fasste mir endlich einen Entschluss. Es lag schließlich an mir, den ersten Schritt zur Besserung zu machen.

„Was ist mit jetzt?!“, rief er noch.

„Später~“
 

Auf dem Weg zu seinem Haus, kam in mir immer wieder der unangenehme Geschmack an jene Nacht hoch, die Bilder, die sich immer wieder vor meinen Augen abspielten. Grausame Vorstellung und ein Schaudern lief mir über den Rücken. Es dauerte einige Zeit, bis ich ungeduldig noch einmal an der Tür klingelte. Doch wieder kam keine Reaktion. Er war kein Mensch der die Schule schwänzt, auch so kannte man ihn nicht krank. Gestern wirkte er noch äußerst gesund, außerdem hatte ich es im Blut, dass er zu Hause war. Kurzerhand sprang ich über die kleine Mauer, hinter der das Grün blühte und stampfte zur Hintertür. Bekannt war mir das lediglich aus einer wagen Erinnerung an diese ‚tolle’ Party. Seltsamerweise fühlte ich mich keineswegs schuldig oder musste mir Gedanken machen, dass ich in jenem Moment vielleicht unhöflich war. Eigentlich war es mir auch so was von egal, schließlich hatte ich einen guten Grund: ich wollte die Sachen wieder geben. Vielleicht auch so einen Teil von mir endlich überwinden, da ich den ganzen Tag schon ein unangenehmes Kribbeln in den Fingern verspürte. Der Drang, diese Angelegenheiten aus dem Weg zu räumen, ein für alle Mal. Zumindest war es einen Versuch wert.

Als ich zur Terrasse kam, sah ich ihn schon. Er saß auf der Bank rechts der Tür, seitlich an die Wand gelehnt, die Beine im Schneidersitz. Im Schoß ein Buch.

„Du liest?“

Sein Blick hob sich langsam, irgendwie wirkte er gekränkt und zugleich einwenig mürrisch. Scheinbar hatte ich ihn gestört. „Was dagegen?“, brummte er, legte das Buch auf die Bank, fuhr mit den Fingern kurz über die so angespannten Augen und seufzte schließlich. „Was hast du hier zu suchen?“

„Du warst nicht in der Schule, also bring ich die Sachen halt auf direktem Weg zu dir.“, ich sah mich ein wenig um. Der Garten wirkte wesendlich gepflegter als beim letzten Mal. Wohlbemerkt, es war auch eine andere Tageszeit.

„Hättest du das nicht wann anders machen können? Oder einfach vor die Tür legen...“, er stand langsam auf, schob die Terrassentür mit dem Fuß auf - die Hände wie sonst in der Hosentasche - und ging hinein.

„Denkst du ernsthaft, dass andere einfach ein gewaschenes Packet Wäsche vor die Tür legen?“, meinte ich, folgte ihm zwangsläufig und runzelte die Stirn.

„Dann wärst du halt der Erste, der so was machen würde.“, kam es tonlos von ihm, hatte einen Becher in der Hand und stand an der Küchentheke.

„Warum warst du nicht in der Schule?“

„Damit mir Menschen wie du nicht dumme Fragen stellen.“

„Hast du noch mit Kansei gesprochen?“

„Nein.“

Ich legte den Stapel Wäsche auf den Tisch im Zimmer, drehte mich um und wollte wieder aus der Tür gehen. „Kansei stand heute vor meiner Tür.“

Ein leichtes Zucken ging durch seine Mimik, ehe er sich wieder seinem Becher widmete. „Na und?“

„Schon gut.“

„Was ist mit deinem Bein?“, fragte er, als ich bereits aus der Tür war.

„Er hat mir die Krücke wieder gebracht, mehr nicht.“

„Das ist nicht die Antwort auf meine Frage.“

„Deine Antwort war auch nicht grad überzeugend.“

„Ich hatte halt einfach mal keine Lust.“, meinte er, stellte den Becher zur Seite und trat um die Theke herum. Seine Einstellung hatte sich schlagartig geändert und mein Magen krampfte sich zusammen, er schien schon böses zu ahnen.

„Ich laufe schon länger wieder so, das solltest du gemerkt haben.“

„Das mein ich nicht.“, meinte er grinsend. „Brauchst du immer noch Yuta, um die Treppen hoch zukriechen?“

Für einen Moment blieb ich still, ehe ich mich herum drehte und ihn misstrauisch musterte. „Du solltest dir endlich mal anhören, wie du sprichst. Macht es dir eigentlich Spaß, andere zu schikanieren?“

„Bei dir besonders.“, kam es trocken von ihm. Mit verschränkten Armen und einem herablassendem Blick stand er im Türrahmen und wartete auf ein Gegenargument.

Es schien ein deutlich ungünstiger Moment zu sein, um ein Danke zu sagen, oder um das von damals zu klären. Dennoch, hatte ich das Gefühl, dass mir das Herz wieder aus der Brust springt.

„Such dir jemand anderen zum spielen.“, kam es von mir und meine Füße trugen mich wieder zur Straße zurück. Dieser Versuch war missglückt, mit ihm offen zu reden. Ich hatte weder erfahren, warum er nicht in der Schule war, noch wusste ich, warum er plötzlich eine solche Stimmungsschwankung durchgemacht hatte.

Zu Hause kam mir Yuta entgegen. Sein Blick sprach Bände.

„Was hat Kai gesagt?“

Ich schüttelte den Kopf. Bisher hatte ich ihm noch nicht einmal gesagt, dass es die Sachen von Kai waren, aber Yuta kannte seine Klamotten und konnte sich auch ahnen, dass so eine makabere Hose nur einem gehören konnte. Trotzdem versuchte ich ungeirrt ein Lächeln zu riskieren. „Denselben Stuss wie immer.“

Er schmunzelte. „Was wolltest du denn nun so wichtiges erzählen?“, fragte er darauf und lehnte sich an seine Zimmertür.

Ein flüchtiger Blick die Treppe runter und dann wieder zu Yuta. Dieser öffnete schon die Tür zum Zimmer, wobei er mal wieder zu ahnen schien, was ich gedacht hatte.

„Es geht um den gestrigen Abend.“, meinte ich trocken, als ich vor seinem Bett hockte, er neben mir. „Ich hab jemanden getroffen, denn ich schon seit ein paar Wochen kenne...“

„Der Kerl von heute Mittag?“, warf er fragend ein.

„Genau. Na ja, jedenfalls endete es nachher so, dass ich von zwei Kerlen mit einem Messer bedroht und verprügelt wurde. Kai war derjenige, der vorbei gekommen ist um mir zu helfen.“

„Warum haben die Idioten dich verprügelt, ich mein, du hast doch keinem was getan.“

„Moralische Besserung. Ich sollte mich ‚wehren’, wie ein ‚Mensch’ reagieren und endlich das Maul aufmachen..“

Seine Augen weiteten sich, seine Stirn runzelte sich, legte sich kurz darauf auch wieder in den ursprünglichen Zustand zurück. „Und dieser Kerl meinte, dass das hilft?“

„Scheinbar ja. Aber eigentlich ist er kein schlechter Kerl. Er hat nur“, ich suchte nach einem passenden Wort „‚andere’ Ansichten, was Leben und Menschen angeht.“

„Wenigstens hat er dir die Krücke wieder gebracht.“, meinte er nachdenklich, aber wenig überzeugt.

„Eigentlich bin ich ihm noch nicht einmal böse-“

„Was ist denn in dich gefahren!?“, quietschte er verstört auf. „Der hätte dich umbringen können!“

„Das war aber nie seine Absicht.“, versuchte ich weiter im ruhigen Ton zu sprechen, um Yuta nicht noch weiter Sorgen zu machen. „Angst hatte ich schon, aber wenn ich an jetzt denke, ist das eigentlich alles vorbei. Zwar sind die Schrammen und Flecke geblieben und nicht mal er hat mich angerührt, seine Schläger waren es. Er hatte ja auch Recht und du weißt gar nicht, was das für ein Gefühl ist...“, meinte ich, fasste mir an die Stirn. Wenn ich jetzt zurück blickte, war es mir eigentlich sogar egal. Schmerzen hatte ich zwar schon noch, schließlich lassen sich solche Schläge und Tritte innerhalb von vierundzwanzig Stunden noch immer deutlich erkennbar auf dem Körper nieder.

„Du hättest mich anrufen sollen!“

„Nein.“

„Und ob, dann würde es dir nicht so schlecht gehen!“

„Dann hätte ich dich da aber mit reingezogen und das ist nun wirklich nicht nötig. Und dabei bleibe ich!“, brachte ich stur hervor und stand im selben Moment auf. Yuta wirkte besorgt und wütend, aber nicht ernsthaft, um an anderen deswegen Rache zu üben. „Was hat Kai gestern denn noch gemacht? Er hat dir neue Klamotten gegeben oder nicht?“

Unangenehm. Langsam wurde Yuta mir echt unheimlich. „Er hat mich nur zu sich nach Hause gebracht, dass ich duschen konnte und neue Klamotten gegeben.“

„Warum, ich mein, du hättest auch so nach Hause kommen können, oder nicht?“

„Du hättest dir nur unnötig noch mehr Sorgen gemacht, meinte er. Daher wollte er, dass ich was anderes anziehe.“

„Seit wann kümmert er sich darum, was ich denke?“, brachte er hervor, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ die Beine lang. Scheinbar war er irgendwie gekränkt und beleidigt. Aber irgendwo war der Anblick auch amüsant.

„Du machst dich lächerlich.“, meinte ich nur lächelnd.

„Und wenn schon.“, schmollte er weiter, aber sein Blick verriet mir, dass in seinem Kopf sich einiges um diese Frage drehte. Er würde es nicht auf der Antwort belassen und Kai selbst fragen. Einer der fatalsten Fehler überhaupt.

„Lass es doch einfach dabei. Ändern kann man es jetzt eh nicht mehr.“

„Du mit deiner Predigt immer. Kein Wunder, dass du immer für den braven Schüler gehalten wirst und so ausgenutzt wirst.“

Schweigen. Wie recht er doch hatte, viel zu sehr, um die Worte wieder aus dem Gedächtnis zu streichen. Trotzdem lächelte ich, als ich ohne ein weiteres Wort das Zimmer wieder verließ.
 

Es sind immer die Worte des nächsten, die einen am meisten verletzten...
 

„Oh Reiji, schön, dass du auch gekommen bist~“, kam mir Kansei mit offenen Armen entgegen, drückte mich an ihn. Ich aber drückte meine Arme gegen ihn, stieß ihn von mir. „Wo ist er?“

„Oh! Dein Bruderherz? Der unterhält sich grad mit Kai darüber, was für ein wundervoller Mensch du doch bist. Wer weiß, vielleicht tuscheln sie ja auch grad über deine erogenen Zonen...“

„Du!!“, zischte ich, schob ihn zur Seite und ging auf die beiden anderen zu, die auf der Bank unter dem Baum saßen.

„Reiji.“, kam es zeitgleich aus beiden Mündern. „Was willst du hier?“

„Es wird Zeit, dass euch der liebe Junge hier gesteht, was hier abgeht.“, zischte Kansei über meine Schulter hinweg zu den anderen, als ich grad den Mund öffnen wollte. Yuta war heute Morgen aus dem Haus gegangen, nachdem wir gestern den kleinen Streit noch immer nicht geklärt hatten. Aber ich wusste, dass sich der Sturkopf selbst von der Lage ein Bild machen wollte. Auf meine Intuition hin sah ich eben die beiden und ihn, wie sie sehr angeregt über etwas diskutierten.

„Na los!“, hörte ich Kansei, der mich zeitgleich nach vorn schubste und sich darauf hin verflüchtigte.

„Das wirst du mir büßen...“, zischte ich bissig. Na das konnte ja was werden.

„Was ist nun? Reiß endlich dein sonst so großes Mundwerk auf.“, bemerkte Kai nach wenigen Augenblicken, war mittlerweile aufgestanden und verfolgte Kansei mit den Augen, wie er wenige Meter weiter die Wege auf und abging.

„Was sollte sein?“, zuckte ich mit den Schultern, schaute zum Himmel und zog nebenbei Yuta am Arm um ihn nach Hause zu schleifen. Dieser schien jedoch keineswegs zum gehen bereit.

„Du hast mir immer noch nicht geantwortet.“, fauchte er zu Kai.

„Tse. Was willst du hören?“

„Die Wahrheit.“

Kai lachte, zertrat seine Zigarette und lächelte zu Kansei, dann zu mir. Sein Gesichtsausdruck wollte mir nicht gefallen und mein Magen verkrampfte sich, als sich seine Lippen wieder bewegten.
 

„Ich hab deinen Bruder flachgelegt.“
 

Das war’s. Ich schlug mir nur noch die Hand vor die Stirn, ließ Yuta los, drehte mich einmal um hundertachtzig Grad und hatte das scheppernde Geräusch in meinen Ohren kaum gehört, als ich schon die schrille Stimme fragen hörte.

„Bitte WAS?!“

„Du wolltest doch die Wahrheit hören~“, meinte er und streckte Yuta die Arme entgegen. „Wir haben wenigstens eins gemeinsam, findest du nicht auch, Yuta...“

Am liebsten hätte ich mich auf den Boden gesetzt und darauf gewartet, dass alles vorbei war, bis die Welt untergegangen wär, bis die Stimmen verstummt wären und ich an meinem Gewissen zerschellt wäre.

„R-Reiji!“

Mit seltsam befremdenden Elan sprang ich auf, warf den beiden auch noch ein Lächeln zu und fragte unschuldig: „Was gibt’s?“

„Sag mir, dass das nicht wahr ist.“, klagte Yuta, wand dabei seinen Blick nicht von mir ab.

„Was denn?“

„Sag mal, hast du Bohnenstroh in den Ohren?“

Mein Kopf schwank hin und her. „Er sagt doch, es ist die Wahrheit.“

„Ich will die Wahrheit von dir hören.“, brachte er entgegen.

„Du kannst dich echt nie mit irgendetwas zufrieden geben. Noch nicht mal glauben kannst du mir. Also wirklich, Yuta. Was bist du doch für ein Mensch.“, zuckte Kai mit den Schultern und schüttelte resignierend den Kopf. „Schade aber auch.“

„Sei still!“, fauchte der andere. „Jetzt sag schon.“, kam es von ihm, wieder an mich gerichtet, die Hände drängend gestikulierend.

Wieder nur Kopfschütteln. „Es ist wahr.“

Sein Körper erschlaffte.

„Wenn ich eins einwerfen darf?“, meldete sich Kai und trat zwischen uns. „ER war betrunken.“, meinte er mit Fingerdeut auf meine Wenigkeit, was mich kurz stutzen ließ.

„Das gibt dir noch lange nicht den Grund ihn zu vergewaltigen.“, warf Yuta ein.

„Wer sprach denn bisher von ‚Vergewaltigung’? Das ist so ein schlimmes Wort. Dabei hat er sich doch scheinbar sehr darüber gefreut. Auch wenn seine Worte etwas anderes sagten.“

„Du bist gestört.“

„Danke, dass du es auch endlich bemerkt hast.“, lächelte er ihm entgegen.

„Auch noch froh drüber?“

„Ach was. Ist ja nicht so, als ob ich mich danach noch öfter an ihm vergriffen hätte... Nicht wahr, Reiji?“, er warf seinen Blick zu mir über die Schulter zurück.

Ein Schaudern lief mir über den Rücken. Das Ganze würde in einem schrecklichen Massaker enden, wenn da nicht bald was passieren würde.

„Wie wär’s wenn wir einfach noch mal von vorne anf-“

„Kommt nicht in Frage!“, kam es von beiden zeitgleich. Doch einen Versuch war es ja wert, ehe ich mir endgültig mein Grab schaufeln konnte.

„Also gut. Ich hab mit Kai geschlafen, bevor du mir gesagt hast, dass du etwas für mich übrig hattest, was sich jedoch nachher doch eh als ‚Missverständnis’ abgetan hat. Du meintest-“

„Missverständnis?“

„Zumindest sagtest du, dass es keine Liebe wär.“

„Ach Gottchen, wie ich diese Streitigkeiten doch liebe, vor allem wenn sie einem so zu Gute kommen.“, seufzte Kai dazwischen, scheinbar wenig begeistert, dass er außen vorblieb. „Es hat für mich keine Bedeutung, dass ich mit ihm geschlafen habe, also warum gehst du jetzt nicht zu deinem heiß geliebten Brüderchen da und zündest zur Versöhnung ein paar Duftkerzen an, ja?“

„Du kannst mich mal.“

„Weißt du, dass hat er auch einmal gesagt, da hab ich-“, brachte Kai entgegen, wendete sich herum, legte den Arm auf meine Schulter und meinte weiter: „Bei ihm würd ich’s vielleicht noch einmal tun, aber du? Nein danke.“

Langsam war es echt zu viel.

„Es reicht.“, meinte ich ruhig, stieß seinen Arm von meiner Schulter und ging ein paar Schritte weiter auf Yuta zu.

„Ich kann mich noch zu gut an die Zeiten erinnern, in denen du dich einen Dreck um Menschen wie ‚uns’ geschert hättest.“, kam es ernst von Yuta.

„Zeiten und Geschmäcker ändern sich. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich so was mal machen würde, geschweige denn, dass Reiji so tief sinken würde und mit dir-“, er verstummte erschrocken. Von beiden Seiten herrschte schlagartig Stille, selbst Kansei sah auf und wunderte sich.

„Na, scheinbar hat Kansei doch mal etwas richtig gemacht.“, brachte Kai etwas gedämpft hervor und biss die Zähne zusammen. Noch immer konnte ich es nicht fassen, eben - als ich wusste was Kai aussprechen wollte - hatte ich ihn tatsächlich geschlagen. Anfangs war ich selbst von mir erschrocken, aber jetzt glaubte ich, dass es das einzig Richtige in dem Moment gewesen war. „Hör dir selbst endlich mal zu, wie du sprichst.“, wiederholte ich die Worte, die ich schon einmal zu ihm gesagt hatte.

„Wird wohl langsam Zeit, was?“, meinte er zwar stolz, doch wesendlich nachdenklicher als zuvor. Ich nickte. „Na dann!“, er drehte sich auf dem Absatz um. „Ich werde mich zu Hause in mein Kämmerlein setzten und noch mal drüber nachdenken.“, als er an Kansei vorbei ging, senkte er betreten den Kopf, blieb kurz stehen um wenige Worte mit ihm zu wechseln, ehe er weiter ging.

Sein Freund wirkte jedoch positiv überrascht, kam mit raschem Schritte zu uns.

„Meine Glückwünsche, Reiji.“, grinste er.

„Verschwinde.“

„Tut mir leid, es wurde mir leider angeboren chronisch nervend für andere zu sein.“, tönte er gehässig und übertrieben betont. „Von daher werden wir uns bestimmt noch öfter über den Weg laufen.“, meinte er, strich mir über den Kopf und verschwand. „Du darfst jetzt nicht mehr zurück.“, waren seine Worte, als er wenig später verschwand. Damit meinte er, dass ich nun eine Entwicklung freigesetzt hatte, die ich nicht mehr stoppen dürfte, wenn ich etwas daraus ziehen wollte, ob nun positive oder negative Erfahrungen.

„Wer denkt der eigentlich, wer er ist?“

„Ein Spinner.“, meinte ich trocken und ging voraus nach Hause.

Ich konnte nur noch beten, dass mir weitere dumme Fragen erspart blieben. Wieder war die schöne Zeit vorbei und ein weiteres Mal würde es auf ein Schauspiel und Trugbild auslaufen. Tag für Tag für Tag.

Wieder wünschte ich mir des Nachts, als ich wieder schlaflos im Bett lag, dass ich einfach die Zeit zurückdrehen könnte und alles von Anfang an ganz anders gelaufen wäre. Aber wieder blieb mir das erspart.

Angesichts der Tatsache, dass die beiden jetzt wussten, dass ich mit beiden geschlafen hatte, fühlte ich mich noch mieser als schon zuvor. Jede Hure hätte bei ihrem Job ein reineres Gewissen als ich, selbst wenn sie zu Hause einen Mann hatte, den sie wahrhaft lieben würde.

Eigentlich wollte ich nichts weiter, als alles wieder ins Reine bringen, aber stattdessen wird es selbstverständlich schlimmer. Und wieder frisst die Dunkelheit an einem, lässt einen später endlich in unruhigen Schlaf fallen und bevor man endlich einen klaren Gedanken fassen konnte, wird man im Dämmerzustand dazu verführt, der Nacht doch die tiefsten Geheimnisse anzuvertrauen.
 

Er schmeckt genau wie du.
 

Wie oft hatte ich mir schon gewünscht, die Zeit zurückzudrehen? Viel zu oft. Viel zu oft waren mir dumme Fehler unterlaufen, viel zu oft dache ich mir, wenn es nicht gewesen wäre. Aber dabei habe ich meinen größten Fehler, den ich begangen habe, nie gesehen. Wie nur, wie konnte es sein, dass man es nicht bemerkt, wo man doch Tag ein Tag aus, daran denkt, wie es wäre, wenn es wirklich so wäre. Ich hätte es mir nie vorstellen können, weil diese gewünschte Situation doch schon längst da war. Doch was von dem was ich fühle, spricht für das was mein Kopf mir sagt?
 

Die nächsten Tage verliefen wie gesagt. Abstand und relatives Stillschweigen. Wir sprachen wieder nur das Nötigste miteinander, selbst Kai sprach in der Schule nicht mit mir. Dafür lief mir Kansei umso öfter, fröhlich grinsend über den Weg. Langsam beschlich mich der Gedanke, dass der Kerl mich verfolgte. Wahnsinnig wirkte er schon immer, aber Besessenheit passte nun wirklich nicht auf ihn. Damals meinte er eigentlich, dass die Aktion in dem Lagerhaus einen Schlussstrich zwischen uns ziehen sollte. Stattdessen war es aber in eine ganz andere Richtung gegangen.

In meinem gesamten Umfeld hatte sich viel mehr verändert als ich je zu träumen wagte und doch hatte ich noch immer das Gefühl, dass ich in der Mitte stand und still zusehen musste, wie alles geschah und ich nichts daran ändern konnte.

Auf ewig zur Untätigkeit verdammt.

Die guten Zeiten waren vorbei. Ich selbst wollte es anfangs nicht glauben...
 

Später die Tage, als ich ins Haus kam, Yuta hinter mir, stillschweigend, wie die restlichen Tage, hatte ich seit langer Zeit wieder den Blick auf meiner Mutter.

Weinend, rote Wangen mit Tränen über dem gesamten Gesicht. In jenem Moment verschlug es mir die Sprache, ich blieb stehen, schluckte drei Mal und wusste nicht mehr, wann ich sie das letzte Mal so gesehen hatte, bis mir eine stichelnde Erinnerung an meinen Vater in den Kopf kam. Damals hatte sie auch so geweint.

Yuta ging an mir vorbei, den Kopf gesenkt. Scheinbar nahm er nichts wahr, wollte es nicht sehen, oder wusste mehr als ich. Doch abgesehen davon ließ ich meine Tasche stehen, ging auf meine Mutter zu, doch sie streckte nur die Hand aus, wies mich zurück, weinte bitterlich in die andere Richtung.

Mein Magen drehte sich und mein Kopf wusste nicht, was ich denken sollte, geschweige denn was ich fühlen sollte. Trauer, Bedrückung, Wut. Vielleicht auch das ängstliche Anklingen, wenn man etwas Böses ahnt.

Abgewiesen von Mutter und Bruder brachte ich die Tasche in mein Zimmer, ließ für einen Moment die Welt hinter mir und spazierte draußen durch die Straßen. Krampfhaft versuchte ich mit allem, was ich wusste, oder was ich ahnen konnte, mir einen Reim auf das Benehmen zu bilden. Doch nichts, rein gar nichts würde passen. Mein Vater war Jahre lang nicht oder selten erschienen, seit ihrer Trennung war er von der Bildfläche verschwunden und fast schon vergessen gewesen. Wenn er jetzt wieder auftauchen würde, würde sie sich sicher nicht so gehen lassen.

Und trotzdem ließ mich dieser Gedanke, dass er wieder da sein könnte, dass er noch lebte, nicht in Ruhe. Was wäre, wenn er sich geändert hat und nun wieder auftauchen würde und erfahren würde, dass sie einen neuen Freund hat? Was würde in seinem Kopf vorgehen, wenn er wüsste, was ich in der Zeit getan hatte, und was würde er hier wollen? Er würde vermutlich mehr als wütend werden, wieder wild irgendwelche Sachen durch die Gegend schmeißen und den nächstbesten, der sich ihm in den Weg stellte windelweich prügeln.
 

„So nachdenklich sieht man dich selten, Schäfchen.“

Ich fuhr hoch, sah vor mir dann plötzlich Kansei stehen, wie er mal wieder grinsend an einer Zigarette zog, fast weißen Rauch auspustete und trotz seines Grinsens so überaus ernst wirkte. Seine Persönlichkeit war mir immer wieder ein Rätsel.

Er trug einen schwarzen Rollkragenpulli, darüber einen gleichfarbigen Mantel. Die Brille war verschwunden. Still setzte ich mich neben ihn auf die Bank und wagte es nicht ein Wort zu sagen, denn ich wusste, dass er zuviel aus meinen Worten heraus hören konnte, als ich je sagen könnte. Es war seltsam. Eigentlich hätte ich ihn meiden müssen, ihn hassen und verachten müssen, doch es war rein gar nichts von diesen Gefühlen.

Wir saßen einige Zeit so still nebeneinander. Der Wind hob ab und an ein paar Blätter vom Boden an, die goldgelb und rötlich vom Herbst bestrichen worden waren. Es war lange her, dass ich die Farben so deutlich, bedächtig und faszinierend beobachtet habe. Lange, zu lange.

„Hast du Angst vor dem Tod?“, fragte er nach einiger Zeit. Seine Augen waren leer, sein Blick starr und fast abwesend zu Boden gerichtet, dieselbe Stelle, die ich bis eben noch fixiert hatte. Eine seltsame Frage. Und obwohl ich nie darüber nachgedacht hatte, kam es von mir genauso plötzlich wie seine Frage.

„Ich denke nicht. Darüber nachgedacht habe ich nie. Aber was macht es schon für einen Sinn-“

„Du siehst im Leben Sinn?“

„Kommt drauf an-“

„Auf was?“

„Wie es verläuft.“

„Scheint nicht so berauschend zu sein.“, meinte er, zuckte mit den Schultern und sah sich um. „Es gibt keinen Sinn. Man lebt um zu sterben, wird vergessen und immer noch machen sich Menschen darüber Gedanken, ob es ein Leben danach gibt.“

„Glaubst du daran?“

„Für mich ist das ‚danach’ eine Stille. Der schönste und schrecklichste Ort zu gleich. Mit den sinnlichsten Momenten, den süßesten Erinnerungen und den bewegensten Augenblicken. Ich kann es nicht beschreiben, aber es ist etwas wonach sich mein müder Leib seit langem sehnt.“

„Kitsch.“

„So was soll’s geben.“, lachte er.

Das kannte man gar nicht von ihm, und doch wirkte er ein bisschen niedergeschlagen, bei den Worten. Nicht nur ich hatte mich verändert, sondern auch die Menschen unmittelbar neben mir. Und eigentlich konnte ich sagen, dass ich ihm nicht böse war. Auch wenn mir anfangs nach Weltuntergang zumute war, so konnte ich jetzt sagen, dass ich zu ihm ein ganz besonderes Band der Freundschaft hatte. Wobei ich jetzt noch nicht sagen konnte, was es war, aber ich war froh, ihn getroffen zu haben. Freundschaft konnte es noch nicht einmal sein. Er verabscheute solche Bindungen.
 

„Der Mensch verbringt zu viel Zeit damit, über unwichtige Dinge nachzudenken. So vergeudet er die Zeit, die ihm zum leben bleibt und seine Worte vor diesem letzten Tag-“

„Und ich wollte noch so viel machen...“, unterbrach ich ihn, sah hinauf zum Himmel, der sich mittlerweile dunkel verfärbte.

„Es wird bald regnen.“, meinte er trocken, ohne seinen Blick vom Boden zu rühren. Kaum hatte er gesprochen, fielen die ersten Tropfen aus den Wolken.

„Na danke. Toller Regenmacher!“, fauchte ich, schlug meinen Kragen hoch, rührte mich aber nicht weiter.

„Du solltest es klären.“

„Du hast gut reden, schließlich bist du derjenige, der es mir eingebrockt hat.“

„Glaub mir, ich hab meine Retourkutsche schon bekommen.“

„Nicht doch.“

„Kai hat mich ausgehorcht und mich in die Mangel genommen.“

„So, so. Dein Lehrling macht sich selbstständig.“

„Irgendwann werden sie alle flügge.“, meinte er zuckte mit den Schultern, erhob sich und zündete sich eine neue Zigarette an.

Ich folgte ihm lautlos, die Schultern angezogen, die Hände in der Tasche. Kansei schien das Wetter nicht zu jucken, ganz im Gegenteil, er wanderte gemächlich hin und her, schlenderte vor mir her. Ohne zu wissen wo er hin wollte, folgte ich ihm. Irgendwie riet mir das mein Verstand. Vielleicht war ich in dem Moment auch einfach von seinem Verständnis abhängig, oder das was er als Verständnis heuchelte.

Wenig später stand er vor seinem Haus, zertrat einen weiteren Rest, schüttelte sich kurz den Mantel und die Haare aus und öffnete das Tor, das zur Haustür führte.

„Ich wusste gar nicht, dass du deinen Vergewaltigern auch nach Hause folgst.“

Erst erschrak ich, bis ich verstand was er meinte. „Irgendwann muss man zurück zum Ort des Geschehens.“

„Das mein ich nicht.“, er öffnete die Tür, trat ein und verschwand hinter einer unsichtbaren Wand. Als die Tür ins Schloss fiel brachte es mir wieder Bilder aus der Erinnerung entgegen. Bilder, an die ich nicht wieder denken wollte, zumal ich sie doch grade eben erst verdrängt hatte. Doch jetzt war es wieder da. Die Szene, wie mein Vater mir die Tür vor der Nase zuschlug, als ich ihn zur Rede stellen wollte.

Ich achtete nicht weiter auf seine Worte und verschwand, auf dem Weg zurück nach Hause machte ich mir wieder die Szenerie klar, die passiert war, als ich das Haus verlassen hatte. Yuta verschwieg mir etwas, ging mir grundsätzlich aus dem Weg und ich glaube, dass meine Mutter das Selbe wusste wie er.

Wie lange würde es dauern, bis ich die Nachricht meiner persönlichen Apokalypse erleben durfte? Als ich ins Haus kam herrschte Totenstille. Niemand war zu hören oder zu sehen, selbst als ich nach oben ging, an Yutas Zimmer vorbei ging und mich selbst erwischte, wie ich stehen blieb und einen Moment lang lauschte, selbst dann war das Haus wie ausgestorben.
 

Die Ruhe vor dem Sturm...

Erst als ich mein Zimmer betrat sah ich Yuta, wie er auf der Fensterbank saß und aus dem Fenster zusah, wie der Regen auf der Straße unten Spuren voll Dreck hinterließ. Jeder wusste, dass nach dem Regen nichts von dem übrig blieb und sich alles wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzte. Egal ob es die Scheiben sind, die des Nachts das Licht im Zimmer streuen, oder ob es die Luft ist, die ein Sommergewitter mit sich brachte. Alles verging, wandelte sich wieder zurück und was übrig bleibt sind nur die Erinnerungen, die Bilder, die sich immer wieder aufs Neue heiß ins Gedächtnis prägen um unaufhaltsam weiter zu schmerzen.

„Es regnet.“

„Ja. Ich war draußen.“

„Was hast du gemacht?“

„In Nostalgie gebadet.“, meinte ich, legte den Mantel über meinen Stuhl und sah mich um, als ob es das erste Mal sei, dass ich dieses Zimmer betrat. Jeden Tag sah ich es mit vollkommen neuen Augen. Dinge, die mir alltäglich schienen, hatten plötzlich eine neue Bedeutung. Nur weil ich endlich wusste, dass das hier, dieser utopische Augenblick mit dem besten Freund, zu Ende gehen wird.

Verdammt, ein anderes Wort passte kaum besser zu meiner jetzigen Situation. Zwischen Freund und Liebe, oder das, was ich als eben diese ab tat. War es das? War es das, was ich wollte? Nicht wirklich. All das hatte ich mir nicht gewünscht.

Alles was ich wollte, war dieser wundervolle Augenblick in Stille, gemeinsam mit den Menschen, die mein Leben einzigartig machten, Yuta, Kansei und sogar Kai. Ohne sie wäre es nicht mehr das Gleiche und jetzt, wo dieser Druck auf einem lastete, wünschte man sich nichts sehnlicher, als die Vergangenheit herbei, die Zeit war wieder der größte Gegner. Jeder Augenblick hing wie schwere Wolken eines Gewitters über einem und erschwerten das Luft holen, das Herz ruhte starrt unter der Lunge, gepresst von der Last, die diese auf es ausübte, um überhaupt den nächsten noch viel schwereren Atemzug zu machen. Und so war jeder weitere Tag eine einzige Tortur, eine Qual aus Selbstgeständnis und bedächtiger Angst eines urplötzlichen Endes.

Und ich wusste dass es so war.

„Alte Zeiten.“, meinte er trocken, schaute weiter aus dem Fenster. „Es ist vorbei. Die schöne Zeit. Der Winter kommt.“

„Und mit dem Winter der Schnee.“, lächelte ich. Wie schön wäre es mit allen zusammen ein gemeinsames Weihnachten zu verbringen, den nächsten Frühling zu erleben und noch einmal von vorn beginnen zu können.

„Das mein ich nicht. Es ist vorbei, verstehst du? Vorbei.“, er drehte sich zu mir. Er wirkte beklommen und bedrückter denn je. „Damit mein ich auch nicht, was mit Kai und Kansei war.“

„Was dann?“, fragte ich wenig interessiert an der Antwort, denn ich wollte nicht, dass es geschah, ich wollte den Augenblick der Wahrheit um jeden Willen verzögern. Doch es war zu spät.

„Deine Mutter hat geweint, weil sie weiß, dass mein Vater geht.“

„Geht?“, ich runzelte die Stirn, gekünstelt und dabei merkte, wie mein Herz trotz des verdrängten Gedanken, dass mein Leben einen weiteren Tiefpunkt erlitt, immer schwerer wurde.

„Er geht. Er wird versetzt, von seinem Job aus. Du weist schon.“, er machte eine belanglose Handbewegung, schien die Zeit verdrängen zu wollen, die an beiden von uns schon sichtbare Spuren hinterlassen hatte. „Wir, werden gehen.“

„Bleib doch hier.“, meinte ich starrsinnig. Das erste Mal, dass ich wirklich an mich selbst denken wollte. Aber jetzt konnte ich eh nichts mehr daran ändern.

„Deine Mutter kann nicht das Sorgerecht übernehmen, also muss ich mit Dad gehen. Die beiden werden schließlich nicht Hals über Kopf heiraten. Und außerdem“, er schluckte, „glaub ich kaum, dass für sie Heirat je in Frage gekommen wär.“

„Du meinst also, sie sind nur aus Gefälligkeit zusammen gewesen, willst du das damit sagen?“

„Anfangs war es vielleicht Liebe, aber hast du sie schon mal beobachtet? Sie sind nicht mehr so wie früher zueinander.“

„Früher. Früher, das klingt bei dir so, als wären es Ewigkeiten.“

„Ewigkeiten? Nein, viel länger.“, hauchte er resignierend gegen das Fenster, stand schließlich auf.

„Dann gehst du mit deinem Dad. Also wieder zu einer neuen Schule, neue Menschen, neue Freunde. Wer weiß, vielleicht findet er ja die Richtige.“

„Tu nicht so.“ Yuta stand nun mitten im Zimmer, die Hände in der Tasche, die Stimme gedämpft und doch mit drohendem Ton zieldirekt an mich gerichtet.

„Dein Vater war doch auch der Grund, warum du her gekommen bist.“

„Willst du jetzt ihm die Schuld geben?“

„Nein!“, ich sah auf. Sein Blick war starr, fast schon emotionslos kalt. Er sah mehr durch mich hindurch. Es war zum Schreien, doch keiner traute sich auch nur einen Laut des Elends von sich zu geben, dass auf uns beiden lastete. Kein Ton von Schwäche rann über die Lippen. Kein Bereuen, keine Zuversicht, kein Gefühl.

„Ich weiß noch nicht, wann wir fahren.“

„Seit wann weißt du davon?“

„Geahnt hatte ich es schon vorher, wissen tu ich es erst seit seinem Anruf gestern Abend.“

„Wo soll’s hingehen?“, ich vermied es in seine Augen zu sehen, ließ den Kopf hängen, während mein Körper auf dem Bett ruhte. Die Welt drehte sich zu schnell, viel zu schnell. Was war aus der Zeit geworden, die wir noch so sinnvoll hätten verbringen können? – Sie war verbrannt, angesichts der angefangenen Spannung zwischen uns, die schon auf der Klassenfahrt zwischen uns gelegen hatte und sich nun allmählich alles nahm.

„Das hat er mir nicht gesagt.“

Es war eine Lüge, ich konnte es in seinen Augen sehen, er sah weg und für einen Augenblick schien sein Herz für einen Moment auszusetzten, denn er zog stärker die Luft ein, als zuvor. Mit einem Schulterzucken stand ich auf, versuchte zu lächeln, schob mir mit der Hand einmal durch die Haare und strich zeitweilig die Gedanken aus meinem Kopf.

„Es wird dir bestimmt besser ergehen.“, meinte ich, unterdrückte jedes Bedauern und die Reue, die mein Herz von innen heraus in meinen Hals quellen ließ.

Yuta musterte mich eine Zeit lang, stand da, nahm die Hände aus den Taschen und drehte sich dann mit dem Kopf weiter zu mir. Nur um mir wieder ein weiteres Mal klar zu machen, dass ich zu viel von der Welt erwartete.

„Wie kannst du in dieser Situation das sagen und dabei lächeln?!“

Er verließ den Raum und mir blieb minutenlang nichts übrig als dazustehen und zu schlucken, seine Worte in den Ohren widerklingen zu hören und mir still immer diese Frage zu stellen.
 

Was hatte ich falsch gemacht?
 

Der beste Freund, der vorrübergehend ein unbestimmtes, ja fast verbotenes Gefühl in mir wach gerufen hatte - derjenige, der mir erst richtig klar gemacht hatte, was dieses Gefühl bedeutete – war da. So greifend nah, für einen Lidschlag der Menschheit, einer der wunderbarsten Menschen. Und nun? Ich glaubte ihn für immer verloren zu haben. Es war nicht mehr das Selbe. Schon seit Wochen waren wir nicht mehr die Freunde, sein Interesse, was ihn dazu getrieben hatte, zu glauben mich zu lieben, war erloschen und ich war mir sicher, dass es besser so war.

Und das, was ich jetzt noch machen konnte war beten. Beten, dass sich etwas zum besseren wendete und mir nicht auch noch meine Erinnerung an ihn raubte, wo ich doch nun wusste, dass es ihn nicht sonderlich berührte zu gehen. Doch irgendwie wusste ich, dass er diese Nacht, selbst bei Regen und Gewitter allein in seinem Zimmer liegen würde. Wach und müde, verzweifelt und zerrissen, eben wie ich. Nur auf der anderen Seite der Wand. Die ganze Zeit hatte ich mich auf die Zukunft besinnt ohne auf das jetzt zu achten. Jetzt wusste ich, dass es zu spät war und ich nichts mehr daran ändern konnte und ihm noch ein falsches Bild von mir in den Kopf gesetzt hatte. Jedes weitere Wort hätte die Situation nur noch weiter verschlimmert.
 

Eigentlich hatten Kai und Yuta mehr gemeinsam als es wirklich auf den ersten Blick klar war. Beide hatten ihren dicken Kopf, der eine aktiv, der andere mehr passiv. Aber beide hinterließen in mir dieses bittere Gefühl, etwas zu vermissen, etwas zu verlieren. Beide waren für mich unentbehrlich und beide wären Menschen gewesen, denen ich mein Leben anvertraut hätte. Nur noch einmal... Ich möchte nur noch einmal diesen wunderbaren Moment mit den beiden erleben.

Draußen regnete es weiter. Doch ich hielt es nicht aus, den Gedanken, dass er direkt an der anderen Wand lehnte und ihm das Selbe durch den Kopf ging machte mich vollkommen wahnsinnig. Im Regen sieht man die Tränen nicht, so heißt es doch. Was ist wenn man es nicht einmal schafft, wegen so etwas zu weinen, obwohl einem der Schrei eines beladen, schweren Herzen in den Ohren klingt und zudem die letzten Worte der Menschen, die man für so wichtig hält, im Kopf trägt?

Ohne zu wissen, wohin ich überhaupt ging erkannte ich mit einem Mal eine dunkle Gestalt auf der Straße, die mir entgegen kam. Ich hob den Kopf, es konnte ja sein, dass mich Kansei ein weiteres Mal verfolgte. Doch als vor mir dann jemand vollkommen unerwartetes stand, schluckte ich ein weiteres Mal hart, ehe mir ein schiefes Lächeln auf die Lippen trat.

„Was suchst du hier?“

„Das Selbe könnt ich dich fragen.“

„Ich nehm’ Reißaus.“

„Sag bloß dein Lover ist dir schon wieder zu dicht aufgerückt.“

„Seit wann redest du von Yuta als ‚Lover’. Für dich war er immer der Loser.“

„Du bist doch nicht anders als er.“

„Loser halten halt zusammen.“, schmunzelte ich. „Aber, du glaubst gar nicht, wie ähnlich ihr euch seid.“

„Ach, und das willst gerade du beurteilen können?“, er betone es übertrieben ironisch um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

„Da hinten ist nichts außer unserem Haus. Andere Leute wirst du da wohl kaum kennen.“

„Vielleicht hatte ich ja auch nichts anderes vor.“, meinte er sehr sicher und überzeugt von dem, was er sagte.

„Was willst du?“

„Was willst du?“, entgegnete er.

Bedächtig schwieg ich und für eine Weile standen wir Seite an Seite stumm an dieser Stelle, jeder das Gesicht zu einer anderen Richtung gewendet und mit mehr Stolz als für diesen Zeitpunkt eigentlich gesund wäre. Der Regen fiel beständig und gleichmäßig und jeder neue Tropfen klang auf der Regenkleidung und der Kapuze wie ein erstickter Schrei von tausend unausgesprochenen Dingen. Gedanken, Gefühle, Erwartungen, Sehnsüchte. Wünsche.

Aber alles was ich mir wünschte noch einmal sagen zu können, ehe es vorbei war, war ein einfacher Dank. Ein einfacher Dank an beide für die zeitweise guten Momente aber auch für die schlechten, die sich umso stärker in das Gedächtnis prägten. Erinnerungen mit Tränen und Lächeln bleiben länger erhalten.

Zu schön, zu kurz mit zu vielen Hoffnungen, die nun zurückfallen in die alten Sehnsüchte nach etwas Unerreichbaren, Unbenennbaren.

Mehr als nur die Bilder dieser einen Nacht schwirrten mir in jenem regennassen Augenblick im Kopf herum. Es war dieser Wunsch die Nähe eines Menschen zu spüren, mehr als je zu vor.

Die Erinnerungen würden bleiben, bis zum utopischen Moment der Ruhe. Doch alles andere wird irgendwann vergehen. Früher oder später und leider war Yuta einer derjenigen, die ich am wenigsten missen wollte.
 

Eine Erinnerung an dich, eine Erinnerung an etwas einzigartiges, etwas absurdes und doch so wichtig Bedeutendes. Wie kann so etwas vergehen? Warum musste die Zeit nur immer gegen einen spielen...
 

Kai sah mich mit seinen dunklen Augen an, sein Blick sprach Bände. Ich ließ den Kopf hängen, lächelte. Was ich wollte? Ich wollte in den Armen eines Menschen liegen, der mich nie hintergeht, mich wie einen Schatz hütet und es nicht wagt etwas zu tun um diesen Schatz gefährden würde. Ich wollte ein ruhiges Leben mit einem perfekten Menschen, der sich für einen aufopfert und nur für mich lebt. Jemanden, dem alles andere egal war und mit dem ich die Zeit zusammen anhalten konnte.

How to save a life

Man hat das Gefühl in jener Nacht einen Teil von sich verloren zu haben und trotzdem kehrt man immer wieder zu seinem Peiniger zurück.
 

Immer und immer wieder.
 

In der Hoffnung, dass er den toten Teil in dir wieder zum Leben erweckt...
 

Ich konnte es nicht glauben. Schon wieder saß ich hier, in diesem verhexten Zimmer, voll peinlicher Erinnerungen an diese überaus unangenehmen Gefühle.

Aber es war besser so, schließlich musste man sich seinen Ängsten stellen, ein Schritt von mir war es ihm zu folgen, als er mich bat, zu ihm zu gehen. Jetzt hatte ich wieder ein schlechtes Gewissen darüber, dass ich ihm gefolgt war.

Schon unangenehm, fast schon unheimlich.

Andere Leute hätten in Nostalgie gebadet, sich vermutlich noch einmal um seinen Hals geworfen, doch mir war durchaus nicht danach zu Mute, ihm jetzt auch noch so entgegen zu kommen und Schwäche zu zeigen.

„Da kommen doch Erinnerungen hoch, meinst du nicht?“, er lächelte. Fast schelmisch und doch mit einem neutral freundlichen Ton. Scheinheiliger. Steinigen sollte man ihn.

„Sei bloß still.“, fauchte ich, nahm auf dem Bett Platz. Bei diesem Licht kam einem der Raum viel harmloser vor, anfangs dachte ich, er würde auch noch das Zimmer seiner Eltern benutzen, aber so war es nicht. Sein Bett war breit, das war alles. Ich schüttelte mir jeglichen weiteren Gedanken aus dem Kopf. „Warum wolltest du, dass ich herkomme?“

Er grinste wieder, diesmal weit aus schiefer und noch sicherer. „Vielleicht besteht ja Wiederholungsbedarf.“

Mit eher skeptischem Blick sah ich ihn eine Weile an. „Das glaubst du wohl selbst nicht.“, meinte ich nach einer Pause.

„Hätt’ ja sein können.“, zuckte er mit den Schultern, hing seinen Mantel an einen Hacken links von mir an der Wand. Noch einmal sah ich mich um. Das Zimmer war fast blau gestrichen. Vielleicht täuschte ich mich, doch es wirkte immer noch zu harmlos, zu ordentlich, zu sauber dafür, dass ein Jugendlicher darin wohnte. Es war zu anständig für Kai. Draußen fiel weiter der Regen still auf den Boden, hinterließ fast gleiche Muster auf der Scheibe wie die Tropfen bei meinem letzten Aufenthalt in diesem Raum. Allein seine Worte klangen wieder in meinen Ohren wieder...
 

»„Ich hasse dich nicht weniger. Aber ich glaube, dass wir uns erst dann richtig verstehen werden, wenn wir beide im Angesicht des Todes zu Asche zerfallen. Und du bist schon längst tot.“«
 

Er sah zu mir. „Dein heiß geliebter Bruder scheint sauer auf dich zu sein, sonst wärst du ja nicht geflüchtet.“

„Er ist nicht sauer.“

„Ach was du nicht sagst. Welche Druckstelle ist es diesmal?“

„Er geht weg.“

Plötzliches Schweigen. Selbst Kai hatte nicht damit gerechnet.

„Weg? Du meinst weg ‚weg’? Also so richtig?“, fragte er unsicher.

Noch einmal warf ich ihm einen scharfen abwertenden Blick zu. „Was sonst!? Wenn ich ‚weg’ sage, meine ich ‚weg’.“

„Wohin?“, kam es aus ihm, wie ein plötzlicher Reflex.

„Sein Vater wird versetzt und er geht mit ihm.“

„Wohin?“, diesmal etwas kräftiger.

„Woher soll ich das wissen.“

„Der Kerl erzählt dir doch sonst immer alles.“, giftete er.

„Er hat mir aber vorhin weder gesagt, warum er mir immer aus dem Weg geht, noch wo er hin geht. Außerdem hab ich mit ihm seit der Sache kaum wieder ein Wort gewechselt.“

Er schwieg wieder. Noch immer stand er an der Wand, den Mantel in der Hand, wobei dieser bereits von der Schwerkraft auf dem Haken gehalten wurde und seiner nicht mehr benötigte. Es schien ihm nicht zu passen, das Yuta wegziehen würde.

„Du solltest es mit ihm klären bevor er geht.“

„Was soll ich ihm denn sagen?“, fuhr ich wieder auf, diesmal sah ich ihn erst gar nicht mehr an.

„Die Wahrheit, so wie er sie von mir verlangt hat.“

„Toll! Echt toll.“, meinte ich und streckte mich. „Soll ich ihm vielleicht sagen, dass ich mit keinem von euch freiwillig geschlafen hab?“, fragte ich zynisch, schielte aus den Augenwinkeln zu ihm, da er sich diesmal durchs Zimmer bewegte.

„Wär eine Möglichkeit, oder nicht?“, meinte er nüchtern und zuckte die Schultern, als er am Fenster stand.

„Ich weiß noch nicht einmal, was die Wahrheit ist, wie soll ich dann bitte anderen diese erzählen?“

„Warum fragst du mich das?“

„Du tust doch so, als wärst du allwissend und der große Experte.“

„Frag doch Kansei.“

„Das Letzte!“

„Ach, jetzt plötzlich willst du nichts mehr mit ihm zu tun haben?“, drehte er sich neugierig zu mir herum, die Augen mit dem festen Willen und die Stirn hochgezogen.

„Er braucht da nicht auch noch mitzumischen.“

„Das hat er doch schon längst getan.“

Langsam wurde mir klar, dass die beiden auch nicht mehr die dicksten Freunde waren. Irgendwie schien sich alles aneinander zu heften, die Probleme des einen wurden auch die des Anderen. Eine Katastrophe – ins Rollen gebracht durch ein dummes Missgeschick. Der sagenhafte ‚Butterfly Effect’.

Jeder von uns wandelte auf einem schmalen Faden. Zwischen dem einen und dem anderen Gedanken. Den Gefühlen von Angst und Schuld.

Der eigentliche Auslöser für unsere Probleme war eigentlich nur mein Verhältnis zu Kai, wobei dies immer zwischen Hass und ersehnter Zuneigung pendelte. Die Gespräche mit ihm gaben mir mein Selbstbewusstsein zurück, weil ich auf seine Fragen und Worte nur schnippisch reagierte. Aber gerade das ließ mich ja immer tiefer in mein Verderben rennen, was nun damit enden würde, dass ich Yuta verlieren würde und wieder allein mit Kai war. Allein mit dem Gedanken, dass ich mich von ihm hatte in die Dunkelheit reißen lassen und dem Wunschtraum von Aufmerksamkeit und Geborgenheit in einem unentdeckten Winkel meines Bewusstseins weiterspinnen konnte. Und wieder kam in mir Reue auf, der bittere Geschmack von beiden, der sich langsam vermengte und schwerer als je zu vor in meinem Magen lag. Jeder von ihnen machte einen Teil von mir aus und es schien, dass sich alles in mir zu irgendeiner Seite ziehen wollte, nur nicht zur gleichen.

Seine Hände stützten sich gegen die Scheibe, die Finger zeichneten die Regentropfen nach, die sich langsam ihren Weg bahnten. Sein Atem prallte gegen das kalte Glas und er seufzte. Warum war ich eigentlich hier, wenn er nur so dastehen wollte.
 

„Es ist zu spät.“, das wusste ich mit Sicherheit.

„So einen Optimismus hätte ich von dir jetzt echt nicht erwartet, Wahnsinn. Echt aufbauend.“, tönte er. „Du bist und bleibst ein Loser.“

„Was musst du doch für einer sein, dass du deine Fehler nie zugibst...“

„Einer der Miesesten.“

„Ich bereue es nicht.“, meinte ich gedämpfter, den Blick weiter zum Boden gerichtet.

„Dann kannst du nur hoffen, dass er dich vergisst.“

„Das wär das Beste.“

Wieder trat Schweigen zwischen uns. Kai sah mich lange an, senkte den Kopf und seufzte erneut. Er trat näher an mich heran, ließ mich nicht aus dem Augen, blieb aber im Licht des Fensters vor mir.

„Zwei schwarze Schafe.“

„Und eins davon kehrt nicht mehr zurück.“

„Bist du eigentlich immer noch so empfindlich?“, zischte er nach einiger Zeit neben mir. Ich zuckte leicht zusammen.

„Was soll die Frage? Hast du nichts Besseres im Kopf?“

„Wozu auch. Und? Antwortest du mir?“

Doch das tat ich eben nicht. Was fiel ihm ein so was gerade jetzt zu fragen? „Hast du nichts Besseres, über das du nachdenken kannst?“

„Wie soll das wohl gehen?“

Mir wurde klar, was er meinte und es war nicht anders als bei mir. Mit jedem Moment der Stille, der zwischen uns trat, kamen die Bilder von damals wieder hoch. Eins nach dem anderen. Schmutziger, stärker, beschämender als zuvor.

„Irgendwo rüber muss man ja reden, oder nicht?“, meinte er.

„Du hast vielleicht Ideen.“

„Wieso? Eigentlich ist es noch nicht mal eine Idee.“

„Idiot.“

Er lächelte. Schief und irgendwie ahnte ich wieder, was in seinen verdrehten Windungen vor sich ging. Und allein bei seinem Blick schlich sich wieder eine unangenehme Gänsehaut über den Rücken nach oben, weiter zum Hals, bis ich in meinem Mund nur noch eine elende Trockenheit bemerkte.

Noch währenddessen hatte sich sein Gesicht kurzweilig verändert, nun kam es mir wieder so vor, als wüsste er genau, was ich dachte, machte sich heimlich darüber lustig und verzehrte sich förmlich nach diesen verstörten Gedanken. Sein Grinsen wurde wieder breiter.

Sicher, dass das nichts Gutes bedeuten konnte, ich wollte gerade aufstehen, als er mich an den Schultern fasste und zurück aufs Bett drückte, sich über mich lehnte und weiter grinste. Im ersten Moment schien es wie purer Wahnsinn, doch dann wusste ich was er vorhatte.

„Ich hasse dich!“, zischte ich, doch er grinste unbeirrt weiter und durch seine Augen huschte für einen Augenblick ein Funke Begeisterung.

„Und wenn schon~“

Alles Weitere war das altbekannte Szenario. Er kam um mich rum, hielt mich dabei weiter auf die Matratze gedrückt und setzte sich auf meine Knie.

„Also? Du hast mir meine Frage noch immer nicht beantwortet.“

„Das müsstest du doch am besten wissen. Prüfen wirst du’s doch eh.“

„Bingo~“

Sein Gesicht näherte sich, doch ich drehte den Kopf zur Seite. Wie konnte er nur? Gerade jetzt. In so einer Situation, wo einem echt etwas Besseres einfallen könnte. Aufmunternde Worte hätte er eh nicht für mich gehabt. Aber, dass er mich jetzt noch so demütigt und mir ‚das’ wieder aufzwingt, war wirklich zu viel.

„Du hältst deine Versprechen eh nicht.“, kam es von mir.

Er richtete sich wieder auf, sah mich an, dachte sichtbar kurz darüber nach. „Wer sagt, dass das damals ein Versprechen war. Ich sagte nur, dass es eine einmalige Gelegenheit ist. Ich hab nicht gesagt, dass es nicht wiederholungsbedürftig ist. Um genau zu sein“, er neigte sich wieder zu mir runter, dämpfte die Stimme und fuhr mit heiserem Ton fort. „Ich hätte nie gedacht, dass du deinen ‚Bruder’ auch so behandeln würdest.“

Das darauf folgende Zittern und auflehnen, gegen seine Hände unterband er schnell wieder, war wieder über sich selbst hinausgewachsen und sicherer denn je.

„Es war nie meine Absicht.“

„Das sagen sie alle.“, lachte er. Weitere Widersprüche waren sinnlos.

Kurz darauf begann er wieder von neuem.

Seine Hand schob langsam den Pullover bei Seite, sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Der Atem dicht auf meiner Haut, beschwor wieder dieses unbegreifliche Gefühl herauf, wie ein bluthungriges Biest vom Geruch eines verletzten Tieres gelockt wird. Schlimmer noch, es war Quälerei, denn er wusste, wie ich mich fühlte, was ich dachte und jeder Gedankengang wurde vor seinen Augen in lesbare Worte gefasst, die nur er zu sehen vermag.

Warum hatte ich mich auch von ihm dazu überreden lassen, zu ihm zu gehen? Ich hätte es wissen, ahnen - ja schon sehen – müssen, wie sich in seinem Blick diese Bilder von damals spiegelten und er nichts anderes noch einmal erleben wollte. Doch diesmal musste man sich die Frage stellen, ob es purer Sadismus oder doch ein weit aus unerwarteteres Gefühl war, dass ihn dazu trieb. Auch früher hatte ich es nicht verstanden. Umso mehr musste ich mir diesmal die Schuld geben, dass ich glaubte, er hätte sich geändert. Und wieder kam die Angst, davor was danach wäre. Ein weiteres schemenhaftes Spiel als wäre nichts gewesen oder ein offenes Bekenntnis? Die Angst vor beidem war groß genug, um mich wieder von den Tatsachen driften zu lassen. Der Tatsache, dass sich seine Hände an meinen Körper legten, ich die Augen geschlossen hatte und wusste, was er tun würde.

Warum war ich mit ihm gegangen? Er hatte sich nicht geändert. Er würde sich nicht ändern und er wird sich nicht ändern. Eben dies ist sein größter Fehler. Wer weiß, vielleicht wollte er einen Trost spenden. Auf seine Art und Weise.

Während mir klar wurde, dass ich Yuta verloren hatte, schien es ihn weiter dazu zu treiben mein bisheriges und restliches Leben weiter zu zerstören. Aber auch gerade er war es, der mich zu diesem Menschen geführt hatte. Wie konnte ein Mensch so viel anrichten und dabei der Mensch bleiben, der er war, während man selbst das Gefühl hatte Tag um Tag aufs Neue ein anderer Mensch zu werden?

Wenn man jedes Mal vor seinem Spiegelbild erschrickt, die Erinnerungen an die Nacht versucht zu verdrängen und noch immer versucht dieses Gefühl der Leere und Unvollkommenheit zu füllen.

Ich schmeckte das bittere Bedauern auf die Menschen zugegangen zu sein, sie kennengelernt zu haben und trotzdem wollte ich es nicht missen von ihm so berührt zu werden. Seine Lippen an meinem Hals, die Hände bereits an den Hüften. Halb abwesend erkannte ich den Pullover auf dem Boden neben dem Bett, seinen daneben. Ich wollte die Arme um ihn legen, ihn an mich ziehen, mich ganz im Rausch dieser Wärme verlieren und endlich meinen Kummer verdrängen. Endgültig. Aber wenn es so weiter gehen würde wie bisher, würden wir wieder so enden, dass jeder von uns seinen Weg geht, so tut, als wär es der Alltag. Und jede verdrängte Sünde wird einen früher oder später stärker überrollen als das Gefühl der Schuld, das gerade jetzt am stärksten in unser aller Brust schlug.

Wenn ich sicher sein könnte, dass zwischen den Küssen auch nur ein Hauch dieser gewünschten Worte liegen würde, hätte ich nichts dagegen auf Ewigkeit hier zu liegen. Wenn ich sicher sein könnte, dass es real war, nicht ein dummer Wunschtraum. Wenn ich sicher sein könnte, dass sich seine Hände wirklich um mich legten und tief in mir meine stärksten Mauern zum erschüttern brachten.

Doch diese Wärme, die von seinen Lippen wieder an mir haften blieb war weit aus schmerzender als die Erkenntnis, dass sich mein Herz wieder gegen mich auflehnte.

Noch immer trug er dieses sichere Lächeln auf den Lippen, seine Hände strichen kalt über die Haut, die vor Überschwang erzitterte. Unbeirrt fuhr er fort ohne auf mich zu achten, keine prüfenden Blicke, wie ich reagierte. Ganz im Gegenteil, er wusste was er zu tun hatte, um mir die Lunge zu leeren. Gerade als ich nach Luft schnappen wollte, strich er mit den Fingern einzelne Haare aus meinem Gesicht, legte mir das erste Mal für heute die Lippen auf die meinen, forderte und zog mit den Händen die Hose von den Beinen. Zeitgleich als er die Hose fallen lies, löste er sich von mir und zog mich an der Schulter aufrecht, dass ich vor ihm saß.

Sein Blick war sicher, sah mich aber unbekannt prüfend an. Den Kopf leicht zur Seite gerichtet, blieb ich sitzen, seine Hände auf meinen Schultern, die mich aufrecht hielten und daran hinderten wieder nach hinten zu fallen. In meinem Kopf folgte wieder ein Begriff dem nächsten, ein Bild dem nächsten. Eine Illusion von dem verdrängten Herzschlag der Vergangenheit.

Warum war ich nur hergekommen? Während ich hier saß, packte er seine Sachen und wenn ich Pech hatte war er nicht einmal mehr zu Hause, wenn ich heim kam.
 

Was für ein sinnloses Unterfangen.
 

Sein Gesicht näherte sich dem meinen, doch diesmal nicht um mich zu küssen, ganz im Gegenteil. Der Schatten in seinen Augen war geschwunden, seine Wolllust gezügelt und sein Blick musterte mich sorgfältig. Seine Hände strichen die Schultern herunter und seine Schläfe drückte sich gegen meine Wange. Er verharrte eine Weile still ehe aus seinem Mund wieder diese unverständlichen Worte erklangen. Ich konnte es spüren, wie er seine Lippen bewegte, doch aus seinem Mund drang kein hörbarer Laut gegen mein Ohr. Und trotzdem jagte es mir eiskalte Schauer über den Körper die mich unkontrolliert zum Zittern brachten. Wie schaffte er das nur immer wieder? Was waren seine Worte, wieso schaffte er es nicht sie zu sagen, warum? Ein so sinnlicher Augenblick, und trotzdem schaffte ich es nicht die Arme um ihn zu legen und ihn zu zwingen diese Worte zu sagen, die ich mir so sehr wünschte. Geschweige denn schaffte ich es, dass er die seinigen wiederholte. Alles was ich gewollt hatte, war ein Bruder. Ein Mensch in meiner Nähe, der mir Wärme in der Nacht und Nähe in der Trauer schenkte. Ein Mensch, den ich durch Yuta gewonnen hatte, den Menschen, den er zu mir geführt hatte, den Menschen, den ich auch durch das alles hier mehr als verloren hatte. Und trotzdem könnte ich ihn nicht retten, selbst wenn ich nicht von Kai umarmt würde, selbst wenn er mir nie einen Kuss gestohlen hätte, selbst dann hätte ich ihn früher oder später wohl doch verloren.

Jeder Moment, jede Sekunde rann wie Sand durch meine Hände, ich konnte das Leben nicht stoppen, die Zeit nicht anhalten, die Menschen, die ich liebte nicht an mich fesseln. Ich konnte auch noch nicht einen von ihnen dazu zwingen irgendetwas für mich zu tun. Und es gab niemanden der den Sand für mich aufhielt. Alles zerfiel. Wegen mir, wegen Kai, wegen Yuta. Und es war sinnlos etwas dagegen zu tun. Auch wenn ich immer der Meinung war, dass man sein Schicksal selbst ändern kann, so weiß ich es doch jetzt besser.

Durch seine Lippen am Hals aufgeschreckt sah ich wieder diese scheinbare Welt vor meinen Augen. Sein makelloser Körper, der sich gegen mich lehnte, sein Rücken, den ich schon so oft gesehen hatte, der nun wie eine einzige Linie vor mir erschien und die Grenze zwischen Traum und Vernichtung bildete. Vernichtung meiner letzten Widerstände und dem letzten klaren Menschenverstand, der sich noch in mir befand.

Beklommen musste ich feststellen, dass sich Kai von seiner Ruhe aus wieder erholt hat und weiter sein Ziel verfolgte. Wieder strichen seine Hände über die Haut, den Rücken herab, legte mich wieder zurück auf das Bett. Seine Strähnen hingen mir ins Gesicht und zum ersten Mal sah ich ihm diesmal direkt in die Augen. Es war ein seltsam sicherer Blick, denn ich zuvor noch nicht gesehen hatte, zumindest nicht so bei ihm. Er legte wieder bekannt die Lippen auf die Schultern, ruhig, eher zurückhaltend, aber es war kaum zu verkennen, was er wollte. Mir blieb wohl nichts anderes übrig. Die Augen, die ich zuvor zur Decke gerichtet hatte, schlossen sich und um mich herum zog sich die Dunkelheit schärfer und gieriger um mich als beim ersten Mal. Jede Berührung drang peinlichst genau in den Verstand, in das Bewusstsein und rief in mir erneut ein Schaudern hervor. Mein Körper verzehrte sich schon viel zu lang nach einer so liebevollen Geste, Berührung und der Nähe eines anderen. Man hörte das Herz schreien und trotzdem wurde es Nacht um Nacht von dem Gedanken des Anstandes getilgt. Jeder Hauch eines Verlangens von dem Kummer des Alltags verschlungen und jeder verstohlene Blick zu einem anderen von dem Argwohn der Gesellschaft guillotiniert. Alles was danach noch übrig war, war der Körper, der sich jeden Tag aufs Neue in denselben Trott des Lebens zurückschwang. Es war das Tier, dass Kansei einmal erwähnte, dass in jedem einzelnen lauert. Und Kai schaffte es jedes Mal diese Triebe in mir hervor zu kitzeln, aber jedes Mal sagte mir mein Verstand, dass es nicht sein durfte. Nichts von dem durfte existieren. Nicht so wie es mein Körper, mein Herz, meine Seele es sich wünschte.

Er war, es war – ja das hier - war meine Möglichkeit dem Leben, den Zwängen und Drängen die Stirn zu bieten, mich der Wallung der Nacht und der Dunkelheit, die ihn umgaben hinzugeben. Mich fallen zu lassen.

Denn er war es, der im Dunkel stand und die Motten sanft auf Purpur bettete und sie in die schönsten Welten führte, die sie kannten. Betäubt vom Licht, erkannten sie so endlich die Schönheit der Schwärze, Einsamkeit, und die wirklich bedeutendste Erkenntnis der Menschen: Die Freiheit der Gedanken, des Herzens und des Willens, solange man sich in der Ruhe zu sich selbst bekennt...
 

Zitternd legte ich die Arme um seinen Hals, als er sich gegen mich lehnte, brachte kaum noch einen Ton hervor und mit rasselndem Atem, musste ich wieder feststellen, wie ich den rasenden Herzschlag in meinen Ohren klingen hörte. Und gegen meine Brust konnte ich sein Herz hämmern spüren, immer in der Angst, dass es ihm jederzeit aus dem Leib springen könnte, hielt ich eine Hand pressend dagegen, immer wieder seinen Küssen ausgesetzt. Den Körper weiter an sich pressend, mit Schmerz und erfreutem Lächeln das Salz von seinen Schultern leckend, verfiel ich weiter in Trance. Darauf wartend, dass sein Gift mich endlich zurücklässt, in der kalten Welt, in der jeder von uns wieder die Rolle des normalen Menschen einnimmt und so tut als wär die Welt vollkommen.

Doch wir beide wussten es besser. Die Welt scheitert an ihrer eigenen Existenz, an der Ignoranz der Menschen und dem ständigen Vorhalten der Moral, Ethik und dem Glauben daran, dass alles was passiert richtig, vorherbestimmt und vor allem gerechtfertigt ist. Wie töricht. Sie glauben, sie könnten einen Menschen durch Aufopferung helfen, schaden sich jedoch selbst und ihren Liebsten. Das was sie Liebe nennen...

Es ist falsch zu glauben, dass jeder Anflug von Zuneigung auch nur im Entferntesten Liebe sein kann. Mein Fehler und auch Yutas. Und ein weiterer war es, dass ich mir nicht klar war, ob auch das hier nur eine scheinbare, liebliche und doch so reizende Begegnung ist, wie man es auch nennen mag. Wie kann es Liebe sein, wenn keiner es wagt es zu sagen? Wie kann es Liebe sein, wenn auch nur einem von beiden noch so viel Hemmung inne wohnt, dass er hin- und hergerissen von der Wirklichkeit ins Nichts driftet.

So wie ich. Kais Inneres war vielleicht ein ähnlich aufgewühlter Ocean. Aber ich wäre zu gern in diesen Tiefen versunken, hätte zu gern die Gründe seiner Seele erkundet um zu Wissen, was er denkt. Um endlich Gewissheit zu erhalten was in ihm vorgeht, was er fühlte, wenn er mich so berührte. Mir blieb es aber versagt auch nur ansatzweise einen Blick in sein Herz zu wehren, Schicksal.

Und wieder vertrauen alle auf Gott. Auf eine höhere Macht, auf Schicksal. Man kann es nicht ändern, man kann es ändern. Was ist nun die wahre Gegebenheit? Man selbst spürt es jeden Tag am eigenen Leib. Es ist die Laune des Windes, der dich wie ein Staubkorn in die Lüfte hebt. Die Hitze der Laterne, die die Motten betäubt und verbrennt. Das Unbewusste und Allgegenwärtige. Alles und nichts.

Wie dies, ein Moment der alles bedeuten kann und doch zum nichts fühlen verleitet. Ein Moment der nichts bedeutet und in dem tausend Eindrücke und Gefühle auf einen einströmen, bis der Körper vor Erregung erzittert und sich dem Nachtwandler mit tränenden Augen hingibt, ihm die Gedanken offenlegt und nur darauf wartet, dass er sie endlich - ja endlich - laut ausspricht.

Doch er sprach nicht, sagte nichts, rein gar nichts. Seine Lippen bewegten sich um lautlose Worte zu formen, die einen noch weiter in die Kraftlosigkeit zerrten.

Wieder sterben, wieder fallen. Sein Körper erschauderte, hielt mich fest in den Armen, kühlte und erhitzte mich, zog mich in die Dunkelheit und stieß mich auf eine abstrakte Ebene von Gleichgültigkeit, wenn ich sein siegessicheres Lächeln sah. Und nebenbei war mir wieder bewusst, dass ich Menschen um mich verlor. Den Freund, den Bruder, den Anfang vom Leben, das Ende vom Leid.

Und so töricht wie der Mensch, versucht man aufs Neue das zu retten was von Gott verdammt wurde. Zum Nichtstun und zur Machtlosigkeit gezwungen sieht man mit an, wie die anderen Motten zu Boden fallen, man selbst noch zögerlich schwirrt und nicht weiß, ob man mehr zu ihnen oder zum Licht gezogen wird. Und während man im Zwiespalt verharrt, stirbt er in der Kälte der Nacht, weil er von niemandem auf Purpur gebettet wird. Denn dieser jemand wärst du! Und du bist nicht da.
 

„Überzeugendes Argument oder nicht?“, zischte er nach einiger Weile. Er saß auf der Bettkante.

Ich schnaufte ins Bett. „Du bist unverbesserlich.“

Er zuckte mit den Schultern. „Man kann sich ändern.“

„Du doch nicht.“

Sein Körper wankte, als er aufstand. „Wenn du wüsstest.“

Wenn ich wüsste, wie ich Leben retten könnte ohne Menschen noch weiter zu verletzten, wenn ich wüsste, wie ich sie retten müsste, ohne ihre zarte Gestalt zu verletzen und sie weiter, erneut zum Licht fliegen würden. Wenn ich nur wüsste, wie ich es machen müsste, würde ich nicht länger ohne Ahnung mit ihm zusammen sein. Nicht länger diese Tortour durchleben, nicht länger in mich hinein jammern.

Ich wäre frei, könnte die um mich schützen und könnte es endlich sagen, ohne mich zu schämen. Diese Worte, die mir irgendwo in meinem Kopf liegen und jedes Mal in diesen Momenten wild aufleuchteten um hervorzuspringen. Aber meine Kehle war gelähmt, nichts von dem in meinem Kopf drang an die Außenwelt. Und der Nachwandler schwieg. Ich wollte Menschen retten, Yuta retten. Ehe er ganz zerbrach. Wenn er es noch nicht war...

Aber mir fehlte der Purpur. Den nur er mir geben kann.

Das Edelste und Sanfteste.

Die Fähigkeit Menschen zu verletzen, ohne dass sie bluten, die Möglichkeit sie in die höchsten Wolken zu heben, ohne auch nur einen Finger zu krümmen. Diese Gabe mit einem einzigen Wort soviel Verwüstung im Inneren eines Einzelnen zu verursachen, dass es an Wunder grenzt, es zu schaffen, diesen Menschen so weit zu bringen, dass er sich das Herz für ihn aus dem Leib reißen würde, ohne dass er auch nur ein Wort sagen müsste.

Und während man denkt, stirbt ein Teil, ein Freund, eine Motte.
 

Wenn ich ihn nur vor dem Leben selbst retten könnte, wär ich mir endlich bewusst, was es heißt wirklich zu lieben.
 

„Das zwischen dir und Kansei ist doch das Gleiche, warum fehlt es dir an Einfühlungsvermögen?“, fragte ich als ich mich aufgerichtet hatte.

„Einfühlungsvermögen?“, lachte er. „Das zwischen mir und ihm war mehr oder weniger ein Missverständnis.“

„Missverständnis. Sag bloß ihr hattet was mit einander...“

Sein Kopf fuhr herum und im selben Moment schmiss er mich mit meinem Pullover ab. „Ich? Mit dem Kerl? Sag mal, leidet dein gesunder Menschenverstand jetzt an deiner anhaltend nervigen Pubertät!? Du spinnst wohl.“

„Was war es dann?“

„Ich hatte Interesse an ihm aber nicht auf die Art.“, sein Blick durchbohrte mich wieder. Ein Herzkranker wäre spätestens jetzt an einem Entfakt gestorben. „Er hat mir einiges erzählt. Eigentlich ist es genauso wie bei dir jetzt. Als er hier her kam hatte ich das Gefühl ihn zu kennen.“

Ich musste lächeln. Er war ihm also auch so in die Falle gegangen.

„Das einzige was mich an ihm gestört hat war seine Kontrolle. Er ist wie ein Puppenmeister. Wenn du dich erst mal mit ihm unterhältst und länger mit ihm in Kontakt bist, hat er dich in der Hand und du bist ihm ausgeliefert.“

„Und das passte dir nicht.“

„Natürlich nicht! Der soll seinen Herrschaftspläne an wem anders ausleben, kleine Kinder oder so vergewaltigen oder die Leute im Altersheim mit seinem Gefasel langweilen.“

„Du wirst bösartig.“

„Und wenn schon. Du müsstest ihn gar nicht erst in Schutz nehmen, schließlich hat er dich doch am meisten in die Scheiße geritten.“

Ich zuckte mit den Schultern. Grund zum böse sein hatte ich aber ich konnte es schlicht und ergreifend einfach nicht. Vermutlich war es zu spät und er hatte auch bei mir schon die Fäden neu gespannt. „Glaubst du an Schicksal?“

Mit einem weiteren bösen Blick wand er sich zu mir, legte den Kopf schief. „Wenn ich nicht wüsste, dass der Kerl dir das Gehirn gewaschen hat, würde ich sagen du bist mal wieder von wem zu hart rangenommen worden...“

Auf seinen Spruch hin schmiss ich das Kissen hinter mir nach ihm. „Zu hart!? Wer vergewaltigt mich hier immer?“

„Ich vergewaltige dich nicht, wenn ich’s tun würde, würdest du wesendlich lauter schreien, stimmt’s?“

Schnaufend erhob ich mich vom Bett, zog mir die restlichen Sachen wieder an und ging an ihm vorbei zur Tür. Doch er stieß die Tür gleich wieder zu, kaum dass ich sie geöffnet hatte.

„Willst du gar nicht wissen, warum ich dich eingeladen habe?“

„Um mich noch weiter zu erniedrigen, als eh schon. Das war doch klar.“

„Wenn es so klar war, warum bist du dann her gekommen, wenn du ‚wusstest’ worum es geht.“

„Weil ich geglaubt habe, dass du dich geändert hast?“

Er lachte, lehnte sich gegen die Tür. Sein Hemd hatte er noch immer nicht wieder an, nur die Hose. Wie bekannt mit den Flicken. „Du bist echt wie ein Schaf. Du hast keine Ahnung wie das Leben wirklich läuft.“

Von mir kam keine Antwort. Was hätte ich auch groß sagen können, da er doch wie immer mal wieder zu siegen schien. „Warum denn nun?“

„Hat es dir nicht gefallen oder warum bist du so zickig?“

„Ich bin nicht zickig, ich hab’s nur eilig.“

„Auf zu deinem Yuta, oder was hast du vor?“

„Andere Vorschläge?“, ich legte den Kopf schief und musterte ihn von unten.“

„Es gibt eh nur zwei Möglichkeiten für euch.“

„Die wären?“, ich schluckte. Eigentlich wusste ich es.
 

„Entweder er bleibt bei dir, du wirst glücklich, hast dein kleines Haustier und lebst glücklich, oder...“

„Oder was?“, fragte ich mit drohendem Unterton.

„Ihr vergesst einander und fangt ein neues Leben an. Yuta ist nicht so an einen festen Charakterzug gebunden wie du.“

„Was soll das den heißen?!“

Er neigte sich zu mir herunter und hatte wieder dieses Grinsen im Gesicht. „Wenn er es braucht sucht er sich den Nächstbesten, darauf kannst du wetten.“, seine Stimme bebte, er freute sich daran, dass ich am Rande der Selbstbeherrschung stand und nicht wusste ob ich ihn schlagen sollte oder vor Wut in Tränen ausbrechen sollte.

Kopfschütteln. „Nein, so ist er nicht.“

„Der Junge ist nur wegen dir so ein Weichei geworden. Er hatte Mitleid mit dir.“

„Bist du denn besser? Wenn du kein Mitleid hast, was soll dann das Ganze?“

„Ich will nur wissen ob du überhaupt in der Lage bist das Leben außerhalb deiner Welt wahr zu nehmen. Aber scheinbar kriegst du das vor lauter Selbstmitleid immer noch nicht hin.“

„Sag mir eins...“, ich senkte den Kopf.

Er brummte.

„Warum hast du mich damals eingeladen, warum jetzt schon wieder und warum tust du das?“

Er stieß sich von der Wand ab, zog sich das Hemd über und wanderte zum Fenster. Draußen war es schon fast Dunkel und die Laternen sprangen an. „Vielleicht will ich dich so vor dem Verderben retten wie du Yuta retten willst.“

„Was sollte ich dich plötzlich so kümmern, dass-“

„Genau das ist dein Fehler. Du gehst immer davon aus, dass ich einem gewissen Muster folge. Du glaubst einfach nicht daran, dass es etwas außerhalb der Welt in der du lebst gibt, das sich deinen Denkvorgängen entgegenstellt.“

Ich schüttelte den Kopf. Er drehte sich wieder zum Fenster.
 

„Bete zu Gott, dass er dich nicht wirklich vergisst.“
 

Mit dem Winter stirbt die Welt und mit dem Frühling wird alles wieder geboren. Bis dahin schläft alles. Vielleicht ist der silberne Glanz, den der Winter bringen wird das Zeichen zum Begräbnis alter Gedanken. Neue Ziele, neue Wünsche, neue Erkenntnisse... Aber bis dahin ist es noch lang.

Noch immer wusste ich nicht, warum ich zu ihm kommen sollte. Mir war nur wieder klar geworden, dass ich diesen Rücken schon lange nicht mehr so betrachtet hatte.

Ich hatte Fehler gemacht. Und diese Fehler führten von einem zum anderen und beide erkannten, dass ich wieder nur vor mich hin driftete ohne Ahnung zu haben, wie ich etwas ändern konnte. Dabei wollte diesen kostbaren Augenblick doch wahren und diese Freundschaft noch einmal neu aufbauen.

Alleine würde es mir allerdings nie gelingen.

Es benötigte eine helfende Hand, um nicht an der Welt zu scheitern.
 

Ich hab Zeit verschwendet, Tränen und Blut vergossen zu wissen, dass es nichts gibt was die Welt anhält. Aber ich will ihn bei mir, ihn halten, ihn für immer bei mir haben wie einen Schatten. Nicht weniger will ich in den Armen von ihm liegen.

Aber nichts von alle dem dringt an die Außenwelt.

Wie gern wünschte ich mir diese Zuneigung von beiden Seiten.

Als ich das Haus verließ hatte ich das Bedürfnis zurück zu gehen, mich hinter ihn an das Fenster zu stellen und ihn weinend zu fragen, ob er dieses Leben so wollte, ob er mich wollte, ob er meine Seele oder meinen Körper wollte.

Aber ich hörte nur, wie mein Herz mit jedem Schlag weiter weinte. Wie es ein weiteres Mal zerbrach und er es nicht hörte. Ich wollte ihn. Und ich wollte den anderen.
 

Und wieder läuft die Zeit davon. Nichts bleibt für die Ewigkeit, nur der Wille sich noch einmal zu verzehren nach der Zuneigung, die beide auf ihre besondere Weise gaben...

Shadow of the Day

Und zurück bleibt nur eine Erinnerung aus Nebel und Staub. Hilf mir, bevor ich vergesse, dass ich Mensch bin...
 

Auf den Straßen sammelte sich eine dichte Nebelwand und als ich durch das Tor auf die Straße trat, sah ich wieder eine alt bekannte Gestalt. Irgendwie hätte ich es mir denken können, dass er hier aufkreuzt.

„Hat das Schäferstündchen denn wenigstens unterhaltsam geendet?“, murrte er und zerdrückte eine Zigarette.

„Was fragst du mich das, geh hin und frag ihn, ob es ihm Spaß gemacht hat.“

„Ich hab dir doch gesagt, es liegt allein bei dir, ob du dich wehrst.“

„Ja ja. Ich weiß.“, wehrte ich mit einer Handbewegung ab und ging an ihm vorüber, wobei sich sein Körper zeitgleich in Bewegung setzte.

„Warst du in der Zwischenzeit zu Hause?“

„Nein. Als ich in unsere Straße einbog stand er ja schon da.“

„Selbst Schuld. Du hättest ihm ja sagen können, dass du was Wichtiges zu erledigen hast.“

„Hätte! Ich hätte, ich kann aber nicht.“

„Außer dir kann niemand das Problem aus dem Weg schaffen. Also hör auf dir wegen der Geschichte in die Hose zu scheißen.“

„Du hast leicht reden. Dir fehlt ja auch so weiter nichts.“, ich blieb auf dem Absatz stehen und warf den Kopf nach hinten. „Dir macht es nur Spaß andere Leute in Schwierigkeiten zu bringen. Dir macht es sichtbares Vergnügen die Menschen zu sehen, wie sie sich die Köpfe aneinander aufreiben und die Fetzen fliegen.“

Er zuckte mit der Schulter, das Lächeln, das er den Weg über getragen hatte, war nun noch breiter geworden. „Es gibt gewisse Dinge die brauchen einen Anstoß.“

„So und du siehst diesen Anstoß darin, dass du die beiden ineinander laufen lässt und reinzufällig ein paar ganz bestimmte Worte fallen lässt?“, jetzt wand ich mich ganz um. „Ganz bestimmte Worte?!“

„Ach was. Du musst endlich lernen mit dem Leben umzugehen. Und jetzt wo es endlich raus ist, kann es dir nur besser gehen. Deine Gewissensbisse werden aufhören.“

„Ja, danke aber auch. Während du mich zu textest verliere ich einen Freund.“

„Denkst du etwa es wäre jetzt auch noch meine Schuld, dass Yutas Vater versetzt wird?“, seine Miene verfinsterte sich und ein drohender Ton legte sich in seiner Stimme nieder. Sein Akzent betonte die aufkommende Wut.

„Nein nicht doch. Es war ja auch nicht deine Schuld, dass das alles überhaupt soweit gekommen ist. Du warst es ja auch nicht, der überhaupt alles ans Licht gebracht hat. Wie sollte ich da auch nur denken, dass du Schuld an irgendetwas hättest?“

„Tut mir Leid, aber ich bin noch kein Gott, um über deine Freunde hinaus auch noch auf deine Eltern zu wirken.“, er verzog das Gesicht, ein gekünstelt schiefes Lächeln klebte nun wieder auf seiner Visage.

„Als Arzt wärst du wesendlich sicherer. Da würde niemand dein Handeln hinterfragen.“

„Die Chance hab ich mir vor Jahren verspielt, tut mir Leid.“, er senkte den Kopf, ging an mir vorbei. Ich sah ihm noch eine Weile nach, bis er plötzlich stehen bleib. „Du bist nicht der einzige, der während der ganzen Sache gewisse Dinge und Menschen verliert und verloren hat. Merk dir das.“
 

Als ich die Tür öffnete und in den Flur kam, hörte ich schon den Fernseher laufen. Ich hing den Mantel und den Schal auf einen Haken und folgte dem Geräusch. Doch als ich neben dem Gerät stand, fand ich niemanden. Die Fernbedienung lag auf dem Tisch vor dem Sofa und es schien niemand da zu sein. Allein eine Tasse dampfender Kaffe verriet, dass noch eben jemand hier war. Kurzerhand schaltete ich das Gerät aus und wartete. Wenig später kam meine Mutter aus dem Bad. Sie hatte Ringe unter den Augen, fuhr sich mit der Hand beklommen durch die Haare und versuchte zu lächeln. Ihr Anblick versetze mir mehr Sorgen als die Tatsache, dass ich innerhalb von Wochen wieder allein sein könnte.

„Du solltest dich hinlegen.“

„Es geht schon.“

Sie hatte sich übergeben. Zu einem Arzt wollte sie nicht, denn der hätte ihr nur gesagt, dass sie psychologische Hilfe braucht.

Meine Familiengeschichte ist nicht grad ruhmvoll. Meine Mutter wurde eine Zeit lang in eine Klinik eingewiesen und in eine Anstalt überwiesen. Nach sieben Monaten hat man sie wieder entlassen, da sich ihr Zustand scheinbar gebessert hatte. Grund dafür war, dass sie sich lediglich in den betreuenden Direktor verschossen hatte. Der Vorgesetzte von Yutas Vater. Nachdem sie jedoch wieder zu Hause war, verflog der Zustand schnell wieder. Mein Vater machte ihr das Leben zur Hölle. Betrunken kam er zu ihr und drängte sie dazu, ihm seinen Lebensunterhalt zu zahlen, obwohl er nüchtern durchaus in der Lage war, selbst zu arbeiten. So musste sie ihren Job machen und hatte zudem einen Halbtagsjob, der ihr half das Geld zu verdienen, dass sie brauchte, um auch noch meinen Vater zu versorgen. Obwohl er sie sitzen gelassen hatte, kam er immer wieder an, bis zu dem Tag, als sie ihn endgültig vor der Tür stehen gelassen hat. Im Regen, der Tag nach der Feier mit Kai. Als er danach noch einmal vorbeiging sah er sie. Mit einem anderen, Hand in Hand.

Eigentlich war er nichts weiter als eine tickende Zeitbombe. Und auch jetzt noch hat sie Angst ihm zu begegnen. Yutas Vater hatte sie kennen gelernt, als sie den Direktor der Anstalt aufsuchen wollte. Sie hatte ihm damals das Versprechen gegeben, sich zu melden, sobald ihr Leben wieder in der richtigen Bahn läuft. Statt ihm fand sie jedoch ihn. Der alte Direktor hatte sich zu der Zeit in eine kleinere Anstalt versetzen lassen.

Und so wie es damals mit ihm lief, wird es jetzt mit Yutas Vater laufen. Meine Mutter fiel in ihre Depressionen zurück und versuchte sich mit Beruhigungsmitteln und Schlaftabletten davon abzubringen, mit den Nebenwirkungen von Übelkeit, Schwindel und was noch alles dazu gehörte.

Die Welt um mich ging zu Grunde und ich stand da, in mitten des Geschehnisses und hatte das Gefühl, als einziger einen Kopf voll unnötiger Gedanken zu haben. Eine zusätzliche, unnötige Last. Aber eine lebensnotwendige Basis, um im Alltag nicht wahnsinnig zu werden. Während andere hektisch durch die Welt rannten, war ich der Mensch, der sich auf dem sinkenden Schiff ein letztes Mal den Sternenhimmel ansah, um zu wissen, dass er niemals so schön war, wie jetzt.

Diese Ruhe hatte ich schon vorher aber auch mit von Kansei übernommen. Auch wenn er ziemlich seltsam war, hatte er doch mehr gute Seiten, als man zu denken pflegt. Meine innere Zerrissenheit konnte ich jedoch noch immer nicht überwinden.
 

Ohne weitere Worte ging ich nach oben, horchte leise, als ich an seinem Zimmer vorbei ging, konnte jedoch wieder nichts hören. Und selbst als ich mein Zimmer betrat, war niemand da. Draußen wurde es allmählich dunkel.

Hinter mir sprang die Tür auf. Und Yuta sah durch den Spalt zu mir rüber. Ich drehte mich zu ihm, er nickte nur und wollte die Tür wieder schließen, ehe er doch inne hielt und hereinkam. Er schloss die Tür hinter sich und versicherte sich noch einmal, dass wirklich außer mir niemand im Raum war.

„Wir fahren morgen Mittag.“

Ein Nicken. Ich hätte nie gedacht, dass es so schnell kommen würde. Mit weichen Knien ging ich zum Bett hinüber und setzte mich auf die Kante, stützte den Kopf in die Hände.

„Ich wünsch dir viel Glück.“, kam es trocken aus seinem Hals. Er blieb stehen und sah mich eine ganze Zeit lang an. Ein erbärmlicher Anblick.

„Macht es dir nichts aus?“

„Ich weiß nicht.“, zischte er. „Ich weiß nicht, was ich denken, fühlen oder sagen soll. Gar nichts.“ In seiner Stimme schwang endlich die Trauer. Seine ersten Sätze schien er auswendig gelernt zu haben, um so wenig Schmerz, wie möglich zu zeigen.

„Gar nichts?“

„Ich weiß es nicht.“

Ich atmete kurz auf, legte die Hände auf die Knie und sah aus dem Fenster.

„Ich hab mit Kansei gesprochen.“

„Und?“, seine Stimme klang tonlos, desinteressiert.

„Er meint, ich sei der einzige, der das Problem beseitigen könnte.“, ich wand den Blick zu ihm herüber. In seinen Augen schimmerte das letzte Licht, dass durch das Fenster drang, doch dann ließ er den Kopf hängen. Er wollte nicht, dass ich ihm in die Augen sah. Ich hätte sehen können, was er dachte...

„Was willst du denn schon machen?“

„Mich für alles entschuldigen.“

„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst.“

„Dafür, dass du dachtest, dass du etwas für mich empfinden musst?“

Er schüttelte den Kopf.

„Dafür, dass du hören musstest, dass ich zuvor schon mit Kai geschlafen habe?“

Er schüttelte den Kopf.

„Dafür, dass du denkst, dass ich mich nicht entschuldigen muss.“

Erneut schüttelte er den Kopf, heftiger als zuvor und ich konnte sehen, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen.

„Dafür das du weinen musst. Und dafür, dass wir uns nie wirklich ausgesprochen haben?“

Er atmete ruhig, ließ den Kopf weiter hängen, so dass ich ihm nicht in die Augen sehen konnte, weinte aber weiter. „Es hat keinen Sinn. Es ist egal. Vorbei, es ist vorbei.“

„Ich weiß.“, ich stand langsam vom Bett auf. Wie oft hatte ich ihm diese Worte schon gesagt? Viel zu oft! „Denkst du denn, dass man etwas hätte ändern können?“ Ich ging weiter auf ihn zu, wollte die Arme um ihn legen, doch er wich zurück.

„Früher oder später wäre es so gekommen.“, er hob wieder den Kopf und diesmal wirkte er durchaus ernst. „Es gibt Dinge, die kann man nicht kontrollieren.“

„Meinst du?“, ich ließ die Hände in meine Hosentaschen gleiten.

„Wenn es Gott gäbe, wüsste er, wie du denkst und würde es absichtlich tun.“

„Das was du Gott nennst, würde ich als Schicksal abstempeln.“

„Du weißt doch eh, was ich meine.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Mehr oder weniger.“

„Dann lass los. Man kann nichts mehr am Geschehenen ändern, man kann nur versuchen es nicht noch schlimmer zu machen.“, er wollte sich gerade umdrehen und die Türklinke nach unten drücken. Warum floh er vor dem Augenblick? Er hätte auch einfach hier bleiben können. Ein letztes mal.

„Hasst du mich für das, was ich getan habe?“

„Wie kann man jemanden für eine so schöne Zeit hassen? Warum sollte ich dich hassen?“

„Ich weiß nicht.“

„Dann red keinen Unsinn.“, er öffnete die Tür.

„Schreibst du Briefe?“

„Tu nicht so, als sei es ein Weltuntergang.“

Mit den Worten verschwand er in seinem Zimmer.

Den Rest des Tages sah ich niemanden mehr. Ich blieb im Zimmer und verweilte in Gedanken. Die Koffer waren mit Sicherheit schon gepackt. So viele Gespräche, so viele gemeinsame Momente und doch schien es viel zu kurz, unfassbar, kaum wahrnehmbar. So zerbrechlich, zart und glänzend, dass man es berühren möchte, aber weiß, dass es sofort zerfällt, wenn der Atem der schwermütigen Erinnerung daran tastet. Ein kurzer Augenblick, ein so schönes Lächeln und der bittere Geschmack des Kusses. So etwas konnte man einfach nicht vergessen. So gute Freundschaft, der Gedanke, dass man liebt, die Täuschung der Gegenliebe. Schmerzhaft und doch zu süß um davon abzulassen. Gott, sende mir deinen Peiniger, denn ich kann nicht ablassen. Ich habe Sünde begangen.
 

Als ich am Morgen erwachte, schrak ich aus dem Bett auf, im Haus war es still. Die Ruhe vor dem Sturm. Es schien noch so, als ob alle schliefen. Instinktiv wusste ich aber, dass im Zimmer neben mir auch jemand so hastig aus dem Schlaf erwacht war, denn eine leichte Erschütterung dröhnte durch die Wand.

Auf dem Flur kam er mir entgegen, hielt sich leicht den Kopf, eins der Augen zugekniffen. Mit Handtuch und neuen Sachen unterm Arm marschierte er in Richtung Badezimmer. Seine Schritte waren geordnet in gerader Linie, er wusste, dass ich ihn beobachtete und wollte sich keine Ausrutscher oder Fehler mehr leisten. Warum muss man immer versuchen, einem anderen etwas vor zu machen? Warum versuchen die Menschen jemand anders zu sein?
 

Unten in der Küche kam er mit wieder entgegen, diesmal geduscht mit leicht nassen Haaren. Verwirrt, dass ich auch schon hier war.

„Guten Morgen.“, sprach ich deutlich, doch ihm schien dies gänzlich zu entgehen, als er sich am Kühlschrank bediente. Er brummte nur vor sich hin. Sein Versuch mich erst zu ignorieren und dann zu vergessen schien wohl noch nicht ganz ausgereift zu sein, denn immer wenn er an mir vorbei ging, sah er nervös aus den Augenwinkeln zu mir.

„Hör endlich auf mich so anzustarren. Ich lös mich nicht einfach in Luft auf!“

„Das weiß ich.“

„Dann hör auf.“, meinte er, als er sich aus dem Schrank ein Glas nahm und erneut zu mir sah.

„Warum?“, ich legte den Kopf schief und sah zur Treppe hoch.

„Weil es mich irritiert.“, knirschte er und drehte sich um. „Es ist kein Weltuntergang.“

„Nein, aber mindestens eine Apokalypse!“

„Das ist das Gleiche.“

„Und wenn schon, klingt dramatischer.“, meinte ich und sprang von der Theke, auf der ich zuvor Platz genommen hatte.

Er verdrehte nur die Augen, verschluckte sich fast, als ich an ihm vorbei ging.
 

„Schlimmer wär’s, wenn du auch noch leugnen würdest.“

Er sah eine Weile auf sein Glas, schluckte dann.
 

Als ich an seinem Zimmer vorbei ging, sah ich die Koffer durch die offene Tür. Scheinbar war es todernst. Und trotzdem konnte ich mich nicht damit abfinden.

Nach dem Duschen machte ich meine Runde draußen. Vor dem Haus war sein Vater am Einräumen von Kartons und Paketen. Als er mich sah, grüßte er gewohnt wie ein Vater. Ich nickte nur und ging in die andere Richtung.

Es war mehr oder weniger gerade hell.

Planlos folgte ich wieder dem Weg, den ich seit Wochen täglich abmarschierte und fand mich irgendwann wieder auf der Straße zum Park wieder. Kaum um die Ecke getreten, rannte ich wieder in diese merkwürdige Person.

„Hilfst du nicht beim packen?“

„Sei einfach still.“, raunte ich und ging weiter. Nebenbei krempelte ich den Kragen des Mantels weiter nach oben und vergrub mich völlig darin.

„Du hast es also noch immer nicht geklärt?“, er ging mittlerweile neben mir und schien nicht die geringsten Anstalten zu machen, sich abwimmeln zu lassen.

„Ich hab mich entschuldigt. Mehr kann ich nicht.“

Kansei lachte. Seine Stimme war heiser und tief, er schien nicht geschlafen zu haben und hatte wieder eine Zigarette im Mundwinkel. Die Tatsache, dass sie nicht brannte, schien ihm entgangen zu sein.

„Du bist lächerlich. Entschuldigen? Dafür, dass ihr miteinander geschlafen habt?“, er lachte noch einmal.

„Was hätte ich anderes sagen sollen?“, diesmal blieb ich ganz stehen, sah ihn an und wartete auf eine ausführliche Antwort.

„Die Wahrheit sagen. Dass du ihn liebst, nicht liebst, lieber mit Kai zusammen bist, weder den einen noch den anderen magst, oder gar jegliches Interesse an Sex verloren hast.“, fuhr er mich nüchtern an. „Das was du denkst, fühlst, weißt.“

„Idiot. Ich sagte doch schon, dass ich es nicht weiß.“

„Ach, sagtest du das?“

„Vor einiger Zeit?!“, ich zog die Schultern hoch. Ich wusste selbst nicht mehr, was ich gesagt hatte oder was nicht. Es war sinnlos noch darüber nachzudenken. In meinem Kopf spielten sich etliche Szenarien ab, da konnte ich mich kaum noch an die Gespräche von den letzten Tagen erinnern.

„Ordne deine Gedanken. Dein letzter Moment ist nicht mehr fern. Er fährt heut Mittag, richtig?“

Nicken.

„Dann hau rein...“, er schob wieder die Hände in die Taschen.

„Ordne lieber dich selbst. Sieh doch mal an dir runter.“

Er blieb stehen, sah zu mir und grinste wieder. „Ich weiß sehr wohl, wie ich zustehe. Glaub mir, es gibt wichtigeres als sich die Zigarette auch noch anzustecken, wenn es schon beruhigend genug ist, sie allein in der Hand oder im Mund zu haben.“, währenddessen nahm er den Stängel und spielte ihn zwischen seinen Fingern hindurch, über die Handrückenknochen, griff mit dem nächsten danach und drehte sie immer wieder. „Ich brauche es nicht, es reicht, um von gewissen Dingen abzulenken.“

Er hatte Recht. Seine Erscheinung irritierte und hatte mich von dem eigentlich wichtigsten Detail abgelenkt, dass er mittlerweile wieder gekonnt in der Hosentasche versteckte.

„Was hast du ausgefressen?“

Sein Lächeln wurde wieder breiter. „Menschlichkeit. Das größte Übel, das einem im Diesseits zum Verhängnis werden kann.“ Bald darauf wand er sich um und mit eilenden Schritten ging er die Straße hinab.

Schon seltsam. Beunruhigend war jedoch, dass ich eindeutig Blut an seinen Händen gesehen hatte. Trockenes fast schwarzes Blut, das noch immer nicht abblätterte. Wie ein Fluch, ein bitterer Fluch der Erkenntnis.

Sollte ich mir vielleicht Sorgen machen?
 

Als ich zum Haus zurückkam, stand Yuta mit verschränkten Armen am Auto. Er sah besorgt aus. Als er mich sah, kam er auf mich zu. Scheinbar war ich doch länger unterwegs geblieben, als ich dachte.

„Du hast vielleicht Nerven.“

„Was denn? Ich will es nur heraus zögern.“

„Wär es dir egal gewesen, wenn wir gefahren wären, ohne leb wohl zu sagen?“

„Gestern meintest du noch, dass es kein Weltuntergang wäre, also wirf mir das nicht vor.“

Im selben Moment hatte ich eine sitzen. Er hatte mich tatsächlich geschlagen. Geschlagen. Und seine Augen füllten sich für andere kaum sichtbar mit Wasser.

„Ist es dir wirklich so egal? Warum weinst du nicht wenigstens?“

„Ich spare die Tränen lieber für den Moment, an dem wir uns wieder sehen.“

Und wieder. Auf dieselbe Wange.

„Wenn dir selbst Tränen zu schade sind- Du weiß nicht mal, wann wir uns wieder sehen und ob überhaupt. Ich will deine Tränen sehen. Ein letztes Mal.“, er wirkte plötzlich wieder vollkommen nüchtern und nun breitete sich in mir ein starkes Unbehagen aus. Der Kloß im Hals wuchs und drohte mich zu ersticken, wenn ich den Mund nicht öffnete um zu schluchzen. Yuta bewegte wieder die Hand. Diesmal jedoch legte er sie sacht auf die Wange und verdeckte damit die Tränen, die ungemerkt aus dem Auge flossen.

Und wieder war die Zeit nicht fassbar, nicht greifbar, nicht anzuhalten. Nichts blieb, nichts verschwand und doch hatte man ein Herz, so schwer wie die Welt selbst. Eine ewige Last, die einen zu erdrücken suchte, obwohl es doch schon so oft gelungen ist sie ungehindert in die Lüfte zu heben. Warum jetzt schon wieder?
 

„Let’s play pretend like it comes naturally?”

„So wie immer. Schon verstanden.“, ich nickte und schlagartig trat ein langes Schweigen zwischen uns.

Als er ins Auto stieg, versank die Welt in einer unglaublichen Trostlosigkeit. Es war irgendwie ein Schaudern und diese grauenhafte Wut so machtlos zu sein. Das Nichtstun zu dem man sich ständig aufs Neue verdammt hat.
 

Die Sonne geht unter, Motten steigen von den Gräsern auf und suchen ihren sicheren Tot, das schimmernde Licht, das als einziges in der Nacht noch für sie scheint. Die Hitze ist nebensächlich, denn sie sterben, weil sie von dem plötzlichen Zusammenprall zwischen Illusion und Realität überrascht wurden und endlich erkennen, wie einsam sie doch sind. Dumm und einsam. Seelenlos bis zum Augenblick in dem sie jemand auffängt.
 

Wenn er denn da wär.

Es war wie fallen. Tiefer, immer tiefer. Auf der Suche nach dem Purpur.
 

Und die Sonne geht wieder unter. Eine neue Nacht wird kommen, in der die Illusion die Macht über das Fleisch ergreift und der Verstand als einziges schwach gegen die Zweifel ankämpft.
 

Manchmal ist eine Entscheidung nicht so leicht. Sich zu entscheiden, ob man liebt, oder nicht. Sich zu entscheiden, ob man lebt oder stirbt, ob man leben will oder einfach weiter träumen will... Eine heile Welt gibt es nur in den Träumen der Menschen. Wenn sie endlich die Realität erkennen, sehen sie wie verdorben sie sind, noch weit entfernt von der so gepriesenen Vollkommenheit.
 

Ich kann immer noch die Hand spüren, die mich geschlagen, getröstet und so zerrissen hat... Noch immer sehe ich Schatten und kann es nicht glauben.
 

Noch immer war es kaum zu glauben, dass er weg war. Nachts lag ich im Bett und horchte, ob sich im Nebenzimmer etwas tat. Doch stattdessen hörte ich immer öfter meine Mutter, wie sie weinend die Treppe hinab ging und ihre Stimme dämpfte.

Jeden Tag aufs Neue war es ein grauenhafter Anblick mit anzusehen, wie sie weinend das Frühstück bereitete, und noch immer nicht beruhigt war, wenn ich das Haus verließ. Warum schaffte nur ich es nicht zu weinen? Warum blieben mir die Tränen erspart, warum nur?

Wenn ich auf die Straße trat wusste ich, dass mich Kansei mal wieder beobachtete. Es geschah mittlerweile nicht grad selten, aber ich hatte nicht wirklich einen Grund zur Besorgnis. Ignorieren würde helfen. Vermutlich erfreute es ihn nur, dass Yuta nun fort war.

In der Schule war es stiller. Kai war für mich irgendwie vom Erdboden verschwunden, denn jedes Mal wenn ich aus Tagträumen erwachte und mich umsah, erkannte ich niemanden. Und sein Schikanieren hatte aufgehört. So plötzlich wie es damals angefangen hatte. Ich sah Kai lediglich auf dem Heimweg, wenn ich nicht grad zu langsam war. Er ging mir aus dem Weg. Vielleicht weil er wusste, dass ich niedergeschlagen war. Oder weil er einfach keinen Grund mehr in dem sah, was er bisher getan hatte. Ich war wieder das Würmchen von damals. Er hatte das Interesse verloren wie ein Kind ein Spielzeug vergisst.

Andererseits schien zwischen allen eine gewisse Spannung zu liegen. Selbst wenn ich Kai sah, war er nicht der, den man kannte. Er war nachdenklich, fast betrübt. Und Kansei hatte sich ebenfalls von ihm zurückgezogen. Es schien, als ob alles nacheinander auseinanderbrach. Ein Glied in der Kette fehlte, das uns bisher auf seltsame Weise zusammengehalten hatte. Ich konnte jedoch nicht sagen, dass Kansei sonderlich viel mit Yuta zu tun hatte, von daher war mir noch immer unklar, was eigentlich wirklich vor sich ging.

Das änderte aber nichts daran, dass immer häufiger so seltsame Schauer mich überkamen, wenn ich wusste, dass ich mal wieder beobachtet wurde. Auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, fühlte ich mich verfolgt. Wie leise schmierige Flüche kroch es jedes Mal über Rücken und Hals und flüsterte stumme Worte in die Ohren, die noch weiter zur Panik verleiteten...
 

Es war kurz vor den nächsten Ferien. Ich hatte noch immer keinen Brief bekommen, geschweige denn eine andere Nachricht. Kein Anruf, kein einziges Wort. Es schien nicht allen so schwer zu fallen, Menschen zu vergessen.

Sinnlos war jedoch das Bedauern, dass ein trostlos grauer Tag dem anderen folgte. Es war Winter, Yuta war nun irgendwo am anderen Ende der Stadt, des Landes oder sonst wo hin gezogen. Was zurück blieb waren ungelebte Träume, Wünsche, Illusionen von einem vollkommenen Leben.

Mit ihm ging das Licht des Sommers, des Herbstes und des Lebens.

Auch wenn die Ruhe ins Leben einkehrte war es wie ein aufbrausendes Getöse um mich herum, die Suche nach einem bekannten Gesicht und einer vertrauten Stimme in einer Masse von Menschen, die allesamt die gleiche Maske trugen.

Alles was mir noch übrig blieb, war der Rückfall zu dem Trott, den ich kurzzeitig zurückgelassen hatte, abgelegt und nur zu kurz die Gegenwart der Realität gesehen. Die Masken, die wir getragen hatten, schützen uns vor uns selbst, aber nicht vor der Außenwelt. Jetzt war es an der Zeit auch diese abzulegen und etwas gegen den Drang des Versteckens und Verstellens zu tun.

Zeit wurde genug vergeudet und dieser Traum, den ich lebte, dass Kai sich bekennen würde, war nur kurzzeitig durch das Leben mit Yuta geschwächt worden und flammte nun umso wilder wieder in mir auf. Der Wunsch von ihm wie ein Mensch behandelt zu werden, dass er mich endlich sah, ernst nahm und als Freund anerkannte. Nicht länger als sinnlosen Zeitvertreib.
 

Ich stand wieder vor seiner Tür. Klingelte, doch niemand öffnete.

Wieder liefen mir Schauer über den Rücken, doch ich klingelte unbeirrt noch einmal. Und siehe da, diesmal öffnete die Tür.

„Was willst du?“

„Reden.“

„Zeitverschwendung.“

„Tratschen?“

„Man zieht nicht über andere her.“, er verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen.

„Mich ausheulen?“

„Vergiss es. Seh ich aus wie ein Taschentuch?!“, er schüttelte den Kopf und drehte sich weg, um die Tür wieder zu schließen.

„Ist dir das Leben so egal, dass es dich kalt lässt, wenn man mit dir reden will?“

„Siehst du nicht, dass ich nicht mit dir reden will?“, fauchte er, wollte die Tür schließen.

„Warum nicht?“, ich hielt die Tür auf.

„Das geht dich nichts an.“

„Sag bloß du hast Liebeskummer.“

„Nein. Aber Besuch, der nicht gern wartet. Wenn du weißt, was ich meine.“, er verdrehte die Augen.

„Na dann.“

Als er die Tür schloss und ich mich umsah, erkannte ich erst jetzt, dass das Fahrrad vor dem Zaun nicht seins sein konnte. Mit Schulternzucken verließ ich das Grundstück und dachte nicht weiter nach. Ich wusste, dass sein ‚Gast’ wohl eine ‚Mädchenbekanntschaft’ war. Um nicht zu sagen, dass er wohl mal wieder eins gefunden hat, dass auf seine Tricks reinfiel.
 

„Er hat dich abblitzen lassen?“

Als ich die Stimme hörte, fuhr ich erschrocken herum. „Du? Was ist nun schon wieder?“

„Nichts, ich bin nur besorgt um den Jungen.“

„Besorgt?“, aus irgendeinem Grund musste ich lachen.

„Hab ich was Falsches gesagt?“, er legte den Kopf schief und wieder holte die Worte in seinem Kopf.

„Nein, nein.“

Sein Blick verfolgte mich und wartete auf eine Antwort. „Was ist dann?“

„Die Tatsache, dass du dich sorgst...“

Er biss sich auf die Lippe, grinste aber danach wieder, altbekannt auf diese bestimmte Art und Weise, die auch nur ansatzweise seinen Gemütszustand spiegelte. „Warum sollte ich mich nicht um ihn sorgen, er ist ein Freund.“

„Du redest immer von Perfektion und Menschsein, aber so etwas wie Mitleid, Sorge oder Liebe, das ist doch das, was du mit ‚Menschsein’ verurteilst. Warum legst du dich dann gerade jetzt in den Zustand, den du am meisten verachtest?“

„Darf nicht auch ich einmal Schwäche zeigen?“

„Schwäche. Ich denke Kai ist ein Freund, keine Schwäche. Und warum solltest du dich gerade um ihn sorgen?“

Er sah mich eine Weile finster an, sah dann zur Seite und schwieg weiter. „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Hölle, die kann man nicht erklären. Weder Gefühlszustände oder noch so sinnliche Weltmomente wie ein schöner Wintertag. Find dich endlich damit ab, dass es unbeantwortete Fragen geben wird, solange es Menschen, Sprache und Kultur gibt.“

„Und das sagst du mir? Wo du doch der bist, der das Ethische und die Moral hinterfragt.“

Scheinbar hatte ich ihn erzürnt, denn ohne ein weiteres Wort drehte er mir den Rücken zu, zündelte mit seinem Feuerzeug und ging. „Schön, dass wenigstens du endlich die Wahrheit siehst. Dann kannst du ja jetzt den anderen die Augen öffnen. Nur zu...“

Der Fehler, den ich begangen hatte, diese Aufforderung ernst zu nehmen, sollte mich später teuer zu stehen bekommen.
 

„Was ist mit dir? Hast du aufgegeben die Menschen zu bekehren?“

„Was? Ich? Ich hab nie versucht irgendwen zu bekehren, geschweige denn zum Bekenntnis zu zwingen.“

Ach was, und was war das damals?, dachte ich so bei mir. Ich war ihm eine Weile gefolgt. Es schien mir nun noch offensichtlicher, dass nicht nur die anderen und ich Veränderungen durchlaufen hatten, sondern auch der sonst so starke Fels in der Brandung hatte sich der rauen See zugewandt. „Nicht? Ich dachte du wolltest den Leuten in deinem Umfeld die Augen öffnen.“

„Das heißt aber nicht, dass ich das immer machen muss, oder ihnen eine Bürde auferlege.“

„Bürde?“

„Ein schlechtes Gewissen. So mein ich das...“

„Das hat jeder.“

„So? Was ist deins?“, er wandte sich rasch zu mir um und wir blieben zeitgleich stehen. Auf seine Frage musste ich aber mit den Schultern zucken.

„Lass mich raten: So oft wie du mir bisher von deinem schlechten Leben, deinen Sorgen und Ängsten um Kai und Yuta und deiner Vorstellung von Harmonie erzählt hast, gehe ich davon aus, dass gerade die Tatsache, dass die beiden von den Verhältnissen Wind gekriegt haben, dich beunruhigen. Richtig? Ach warte - Nein irgendwann hast du mir ja schon mal was davon vorgejault. Verzeihung, den Teil mit der Manipulation durch die Außenwelt hatten wir ja schon irgendwann mal gehört.“

„Ja, und wem hab ich das wohl zu verdanken!?“

„Ach was.“, er drehte sich bescheiden zur Seite. „War mir ein Vergnügen.“

„Warum verfolgst du mich in letzter Zeit?“

„Was? Ist dein Gedächtnis jetzt schon so schlecht!? Ich sagte doch, dass ich mir Sorgen mache.“

„Du lügst.“

„Soll vorkommen.“

„Warum?“

„Es gibt Dinge, die erzähl ich dir doch nicht. Grünschnabel.“

Etwas energischer ging ich nun um ihn herum und fragte noch einmal etwas kräftiger: „Warum?“

Er fing an zu lachen, sein Grinsen wurde weiter. „Du bist naiv. Einfach naiv.“

„So?“

„Kai hat kein Interesse an dir! Ist dir nicht aufgefallen, dass er seit Tagen ein Mädchen hat? Er hat was Neues. Du bist für ihn nur Zeitvertreib.“

„Das weiß ich selbst.“

„Warum stellst du dich ihm dann noch weiter in den Weg?“, kam es mit drohenden Worten aus dem Mund, der eben noch mit dem Lächeln des Teufels geschmückt war.

„Bitte, WAS!?“

„Du bist nutzlos. Einfach nur im Weg. Ein gebrauchtes Spielzeug sozusagen.“

„Wieso beobachtest du mich dann? Sorgen um mich wohl kaum, eher, dass ich was anstelle, um eben das zu ändern. Kann es sein, dass du nur eifersüchtig bist?“

Er lachte lauthals. „Eifersüchtig? Mein lieber Junge, ich leide seit Jahren an chronischer Eifersucht. Ganz besonders gegen Leute, die glücklicher sind als ich. Und du kommst mir dabei lediglich etwas mehr in den Weg als andere. Kennst du das nicht? Das dringende Bedürfnis, den Menschen, die vor Freude lachen und glücklich sind, ihr Glück zu rauben, in der Hoffnung, endlich selbst ein Stück zu finden?“

„Was hab ich dir denn getan, dass du es auch bei mir versucht hast?“

Wieder spiegelte sich ein Lächeln auf den Lippen, diesmal wie gemeißelt. „Das fragst du noch?“, er trat näher an mich heran, neigte sich zu mir herab. „Du bist derjenige, der alles versaut hat. Mein Stückchen Glück hat sich in Luft aufgelöst. Dank dir.“

Schlucken. Ich trat ein paar Schritte zurück. Irgendetwas stimmte nicht. „Was hab ich falsch gemacht?“

„Du stellst immer nur Fragen! Kannst du mal was Neues sagen!? Deine Platte hat einen Sprung. Hör dich doch mal selbst an. Dein Mitleid, Bedauern, Jammern. Du kommst mir hinterhergerannt, in der Hoffnung, ich könnte dich heilen! Du hast Probleme mit der Welterfahrung, wirst durch deine Umwelt manipuliert und denkst ich kann dir helfen.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Tu nicht so unschuldig.“, er trat wieder näher und ging um mich herum, diabolisch, planend, wie ein Tier, dass darauf wartet, dass man eine falsche Bewegung macht. „Du bist doch derjenige, der sich auf Kai eingelassen hast. Du hättest dich wehren können. Aber nein, du lässt ihn gewähren. Die Prügel, die du damals bezogen hast...- Ja! Ich bereue es nicht einmal mehr, weil ich gemerkt hab, wie töricht du doch bist. NICHTS! Rein gar nichts hast du gelernt. Nur immer weiter zerstört und gejammert. Alles was du anfängst endet in einer Katastrophe! Du bringst andere Leute, ihr glückliches Leben, ihre Unschuld und die Pläne anderer in Gefahr!“

„Gefahr!? Wie soll ich bitte gefährlich werden?“

Wieder lachte er. „Deine Gegenwart reicht schon. Wenn du nicht gewesen wärst, hätt’ mir Kai vor Monaten aus der Hand gefressen. Das was Yuta bei dir getan hat!“, sein Blick haftete unerbittlich an mir. Es war dieser Blick der selbst Steine zerspringen ließ. Ich hatte das Gefühl, dass er, wenn er mich so ansah, jeden Gedanken, jedes Bild in meinem Kopf klar lesen konnte - noch stärker als eh schon. Es war peinlich, nicht nur, dass ich seinen Gedankengängen nicht ganz folgen konnte, er schrieb mir jede Schuld auf den Leib, egal was es war, plötzlich hatte ich diese Ahnung, dass er Recht hatte. „Du bist wahnsinnig!“, ich machte weitere Schritte zurück, merkte dann jedoch, dass sich hinter mir eine Mauer in die Höhe erstreckte. Zu spät.

„Wie schön, dass du es auch endlich merkst. Andere Leute haben mich deshalb schon in der Zeitung in der Luft zerrissen. Damals.“, er sah kurz gen Himmel, dann wieder zu mir. „Yuta ist dir doch auch hinterhergerannt, er hat alles für dich getan, jedes Wort von deinen Lippen gelesen. Wie hat es sich angefühlt!?“

„Das war Freundschaft. Nicht die Art Kontrolle, die du über Kai willst.“

„Wollen? Pah! Das ist nicht wollen – Das ist der Wunsch nach Aufmerksamkeit und Wichtigkeit. Aber der Junge ist hochmütig. Auch wenn er flügge ist, hat er noch lange nicht einen Grund dafür, sich so rücksichtslos zu verhalten.“

„Rücksichtslos?!“, langsam sprach er in Rätseln und es fiel mir schwer noch zu folgen.

„Durch dein Erscheinen, mein Junge“, er wand sich zu mir und neigte sich wieder herab, um mit mir auf einer Augenhöhe zu sein, „hast du mir sämtlichen Einfluss auf ihn genommen, weil er gemerkt hat, dass er dich kontrollieren kann. – Ja auch andere. Sein Selbstwertgefühl ist zu stark. Das was ich getan hab, war nicht ‚kontrollieren’.“, er legte die Finger an mein Kinn und drückte meinen Kopf nach oben, dass er mir noch einmal in die Augen blicken konnte. „Er hat mich bewundert. Er ist mir hinterhergerannt, wie du. ‚Angehimmelt’, wär übertrieben. Nur einen Unterschied gibt es: Er hat wesendlich mehr Potential auch nur ansatzweise zu erkennen, wie jämmerlich du und der Rest der Welt ist. Dir ist das ja scheinbar immer noch nicht gelungen, sonst würdest du nicht immer wieder vor meiner Nase aufkreuzen.“

„Schwachsinn! Absoluter Schwachsinn-“

„Weist du überhaupt, was das ist, dass du darüber reden kannst!? Schwachsinn! Du redest von Geistesschwäche, aber ist es nicht gerade das, was uns so stark von einander unterscheidet? Intelligenz, das was dir bisher gefehlt hat um mit der Situation im Leben und mit dem Leben an sich umzugehen. Du krächzt von Schwachsinn. Aber ich glaube, dass ist das, was dich dazu gebracht hat mir so hinterherzurennen. Oder war es Begeisterung?“, sein Gesicht näherte sich und er senkte die Stimme. „Deine Besessenheit erinnert mich an einen alten Freund. Zu schade nur, dass du und Kai mich so sehr an ihn erinnern. Ich wollte ihn eigentlich vergessen.“

Wie Recht er doch hatte. Begeisterung von dem Unergründlichen, von den Fragen, von dem scheinbaren Wissen, dass aber nicht mehr Wissen war, als jeder andere auch hatte. Es war Intelligenz. Die Fähigkeit mit dem Gegebenen gewisse Situationen zu meistern und komplexe Mechanismen des Alltags zu bewältigen. Somit auch das Leben selbst. Diese Ausstrahlung von Standhaftigkeit und dem Unerschütterlichen. Sein Blick war fest, seine Augen stachen hell unter dem fast schwarzen Haaren hervor, sie waren gefärbt, wirkten trotzdem wie seine eigenen. Auf mein Schweigen drückte er mich stärker gegen die Wand, sein Knie drückte gegen meins und er wiederholte sich. „Du bist dumm und so naiv, fast schon verlockend unschuldig.“

„Vielleicht bin ich aber dumm genug, um zu erkennen, dass du nicht mehr ganz bei Verstand bist. Hörst du dir eigentlich selbst beim Reden zu?! Du bist krank!“, langsam wurde mir das Ganze unheimlich und schon eine ganze Weile dachte ich, dass mir gleich die Knie nachgeben. Ich hatte schon mal eine Situation erlebt, in der ich wirklich Angst vor ihm hatte, und nun grenzte es schon wieder fast an diese.

Er drehte sich zur Seite, senkte den Kopf und versank in Melancholie. Seine Worte wurden sanfter, fast summend, singend, doch sein Gesicht war noch immer so nah. Und diese stechenden Augen waren noch immer vor Gefühlswirrwarr am glimmen. „Die schönste Stimme des Menschen ist doch die, die den Wahnsinn aus ihm sprechen lässt. Denn der Wahnsinn zeigt das wahre Ich. Die Unterdrückung und den Ausbruch in die freie Welt. Wahnsinn ist nichts weiter als die Wahrheit. Der Mensch ist ein Geschöpf mit Trieben, Gefühlen und Verlangen, wenn du irgendetwas davon unterdrückst, wirst du zum Tier. Das heißt aber noch lange nicht, dass diese Wesen, die den Wahnsinn freien Lauf lassen, wirklich krank sind. Die Kontrolle, die ich haben wollte war lediglich die Aufmerksamkeit. Das Wissen, dass er immer da ist, wenn ich nach ihm rufe. Nennst du es Wahnsinn, wenn man von der Existenz eines Menschen abhängig ist? Die Ironie ist jedoch: Es ist nicht mal er, sondern der Mensch, den ich in ihm und dir wieder erkenne!“, er drehte sich wieder zu mir. Seine Augen glänzten, sein Leib zitterte vor Aufregung und Wut. „Ironie. Wahnsinn. Was ist das schon. Zeitverschwendung.“

Ich schwieg, trotzdem fiel sein Blick wieder mit geballter und aufzubringender Wut auf mich. Seine Hand glitt auf meine Schulter.

Wieder war seine Stimme so weich, fast ein liebliches Flüstern, das das Herz für einen Moment höher schlagen lässt und man den Atem anhält, weil man fürchtet, dass es jeden Augenblick still steht. „Hat dich das Gefühl machtlos zu sein denn nicht auch in den Wahnsinn getrieben? Die Angst, die du vielleicht gefühlt hast, als er dich genommen hat. Ein aufregendes Kribbeln, nicht wahr?“

Ich schluckte.

„GEH!“, er stieß mich zur Seite weg, ich stolperte und ich tat wie mir befohlen, auch wenn mir die Beine weich geworden waren und mir das Herz fast in der Hose saß.

Das letzte von ihm war ein leises Flüstern, erstickt von heiserer Stimme, die von unsichtbaren Tränen und Schmerz in Zwei gerissen wurde. Das eine war der Mensch der sprach, das andere der verlorene Geist und die unruhige Seele.
 

„God, I’m waiting for my punishment.”
 


 


 

„Öffne deine Augen.“
 

Wie soll man die Augen öffnen, wenn man vom Licht geblendet wird? Man hält schützend die Hände vors Gesicht um nicht zu erblinden. Aber es wär doch einfacher blind zu sein, als das Leid und das Unglück zu sehen. Denn viel zu oft wird das Schlechte noch sichtbarer gemacht, als dass man sich auf das Glück konzentriert.

Der Mensch sucht nach Abwechslung und Leid. Nur um Mitleid zu bekommen. Er sucht nach Schmerz, um andere zu finden, die ihn lindern. Es ist wichtiger, das Unwichtige und Immerwährende zu beachten, als das Kurze und Vergängliche zu bedauern.
 

Öffne deine Augen, sagen sie. Öffnen um zu sehen, was vor einem ist. Nicht der Blick in die Zukunft ist wichtig, sondern der Blick auf das Gegenwärtige.

Wenn es gelingt den Menschen die Augen zu öffnen, ist der Weg zu ihrem Herzen nicht weit.

Und trotzdem kommt man über den Schmerz der Gegenwart und des Vergangenen nicht hinweg. Ein ewiger Fluch, ein wiederholendes Muster aus ein und denselben Gefühlen und Gedanken. Ein Teufelskreis, der nur mit Hilfe von anderen durchbrochen werden kann.

Dadurch, dass man erkennt, wie ein anderer wirklich denkt, kann sich einiges verändern. Die Geschichte eines jeden einzelnen kann das Bild eines jeden verändern. Diese Geschichte macht nicht nur unser Leben aus, sie ist auch unveränderlich und ist zugleich nicht zu verleugnen. Sie ist für jeden von uns einmalig. Wunderbar, traurig und schön. So vieles und doch so wenig, was man gemeinsam haben kann. Alles was es benötigt, um die Wahrheit zu finden, ist ein gutes und zuversichtliches Herz und der richtige Blick.
 

Ich ging zügig zurück nach Hause und merkte erst jetzt, dass die Wand, an die ich eben noch gedrückt worden war, zum alten Lagerhaus gehört hatte, dass mir bereits schon einmal Kummer bereitet hatte. Das war schon mehrere Monate her, aber bei dem Gedanken merkte ich wie mein Bein wieder schwer wurde und sich der Geruch von damals wieder in meine Nase drang. Auf dem Weg musste ich an Kais Haus vorbei. Er stand draußen, blätterte durch ein paar Briefe, die er eben erst aus dem Kasten geholt hatte. Als er aufsah und mich auf der Straße sah, drehte er sich demonstrativ um und war dabei ins Haus zu gehen. Wie ein Reflex beschleunigte mein Körper und ehe ich begriff, stand ich im Türrahmen, hielt die Tür auf und rang nach Luft.

„E-Er dreht durch!“

„Hmm?“, Kai drehte sich um, wenig begeistert. Erst jetzt bemerkte ich, dass er wieder die Brille trug, doch als er sich noch desinteressierter umwand und sie abnahm, mich abwertend musterte und leicht die Lippen zusammen presste und vorschob, brachte es in mir das Bild eines hochmütigen, ja arroganten Oberschulenschülers wieder in den Kopf.

„Kansei dreht durch.“

Sein Blick wurde fester, seine Geistesabwesenheit von eben verflog schlagartig. „Sag mal...“, er drehte sich ganz zu mir, sah noch einmal an mir herab. „Kannst du nicht wenigstens klopfen?“

Etwas entgeistert sah ich ihn an, mein Herzschlag und die Atmung hatten sich wieder normalisiert und jetzt richtete sich mein Körper wieder in eine aufrechte Position. „Was?“

Doch ehe ich begriff, hatte er wieder die Türklinke in der Hand, grinste schelmisch. „Versuchs noch mal.“, er stieß mich leicht zurück und schloss vor mir die Tür.

Das war nun wirklich nicht wahr. Ich klopfte, klingelte, aber er reagierte nicht.

„Was ist nun?“

„Ich bin nicht da, verschwinde.“, kam es von ihm. Er stand hinter der Tür und konnte mich hören.

„Arschloch.“, erzürnt über sein Handeln wandte ich mich wieder um zur Straße. Eigentlich hätte ich es ahnen müssen, dass er nichts davon hören wollte. Obwohl die Freundschaft der beiden nicht mehr so stark war, hielt er noch irgendwie zu ihm.
 

Verständlich.

Oder er wollte es nicht wissen...

Genauso wenig, wie ich es wahr haben wollte, dass Yuta nun irgendwo anders war.

Die Ähnlichkeit des Problems war unverkennbar - beide Seiten wollten ihre Fehler und Schwächen nicht einsehen, keiner gab nach. Der Zusammenprall war vorausbestimmt, katastrophal.
 

Mit einem erleichternden Luftstoß befreite ich mich von den Gedanken.

Wenn er durchdrehen sollte, kann man immer noch irgendwie eingreifen, wenn man nicht selbst zum Opfer fällt und vergeblich auf Hilfe hoffen muss.

Irgendwie musste es doch eine Möglichkeit geben, Kai zu Beweisen, das sein Freund nicht im Recht ist, mit dem was er tut. Aber... was tat er eigentlich?

Ich schüttelte den Kopf. Seine Worte waren angsteinflößend, seine Begeisterung erschreckend, aber er hatte mir weder wirklich ausdrücklich gedroht, noch Gewalt angewendet.

Vielleicht war ich doch noch immer benebelt. Vielleicht hatte mich seine Art ja angesteckt. Zu schnell begeistert, zu schnell obsessiv.

Ein süßes Rauschgift war schon seine Anwesenheit, die jeden in den Bann zog. Nicht nur Sympathie, sondern unterdrückte Triebe ist das Suchtmittel, was einen dazu brachte immer wieder begeistert seinen Worten zu lauschen. Mit Schaudern und Enthusiasmus. Das Duftmittel, dass Insekten in die Falle lockt und nicht mehr los lässt, bis sie im Rausch der Existenz und der Betörung dem Exitus verfallen. Das Schicksal eines jeden Nachtfalters und zu gleich die größte Gefahr.

Eigentlich war diese Obsession ja auch das, was mich dazu gebracht hat Kai zu verfallen, die Sucht nach dem Unerreichbaren, diese Unerreichbarkeit, der Tanz des Todes am Abgrund, immer bereit von ihm geholt zu werden. Die Nähe und dann doch diese Distanz. Die unüberwindbare Mauer aus Ketten von Moral, Gesellschaft, Gewissen und Angst. Nackter Angst. Die Angst, was wäre wenn ich ihm dreist ins Gesicht sagen würde, dass ich es zwar hasse, wie er mich behandelt aber immer wieder aufs neue noch mehr in seine Hände fallen will, wenn er mich berührt.

Ich sah mich um. Noch immer stand ich vor seinem Haus, hatte mich keinen Zentimeter gerührt und bisher nur auf diese Straße gestarrt.

Umdrehen durfte ich nicht, auch wenn ich seinen stechenden Blick im Nacken spürte. Unerträglich und doch so sonderbar aufregend. Die Versuchung wieder zur Tür zu gehen und einfach noch einmal zu klingeln... Um zu betteln.
 

Dabei will ich nur der Einzige sein, der von seinen Händen gehalten wird. Nach einem Kopfschütteln setzte sich mein Körper wie mechanisch in Bewegung und strich erneut die Gedanken von sich.
 

Zurück nach Haus.

Schlafen....

Um danach die Augen wieder zu öffnen, mit dem Wissen, dass sich nichts geändert hat, aber das Leben ein bisschen kürzer geworden ist.
 

Sinnlose Zeitverschwendung.
 

Vielleicht war es wirklich einfach die Nähe am gefährlichen Abgrund, die so betäubend war, der Höhenrausch...

Mad World

Ich sterbe in den Erinnerungen, ich sterbe in seinen Armen, jedes Mal wenn ich auch nur an ihn denke.

Allein das Wissen ist Gift. Und alles scheint auf mein Herz zu horchen um zu hören, wie es schreit, wenn ich wieder die Schatten verdränge.
 

Es gibt kein Morgen nur ein Jetzt. Das Hier und Jetzt ist wichtig um die Zukunft zu verändern.

... Wenn is denn möglich wäre.
 

Schon seltsam. Ein Jahr ist vergangen und ich komme noch immer nicht darüber weg. Es schmerzt zu wissen, dass ich nichts weiter bin als ein Zeitvertreib. Ich schein nicht wichtig zu sein, obwohl er immer wieder zu mir kommt.

Nein – ich komme zu ihm. Jedes Mal zu rück. In diese Falle, die so offensichtlich ist.

Und dennoch liebe ich es jedes Mal aufs Neue meinen Verstand zu verlieren und für Sekunden zu sterben. Süße Tode, bittere Tode. Und jedes danach ist wie davor.

Und so geht es weiter und weiter und weiter.

Und wieder halte ich diesen Zettel in der Hand. So wie letztes Jahr und schüttele nur den Kopf, auf meinen Lippen ein Lächeln. Aber dieses Mal, dieses Mal halte ich den Kopf in die Hand gestützt und kann es noch weniger fassen.

„Ist es denn schon wieder Februar?“, hörte ich mich zischen.

Ja, es war mittlerweile ein Jahr her seit dem ich bei Kai war. Erneut hielt ich eine Einladung in der Hand. Das war nicht war.

Der dünne Karton war genauso wie letztes Jahr. Simpel in weiß. Unpersönlich nur die Zahlen, der Name, die Straße. Es hatte sich also nicht geändert?

Und ob. Er war ein Jahr älter. Wir hatten die ganze Zeit über ein gestörte Beziehung, die mehr oder weniger zwischen Abhängigkeit und Wahnsinn pendelte und wir hatten diese Zeit damit verbracht den anderen zu erniedrigen, zu demütigen, zu verletzen, zu zerreißen...

„Ich geh nicht hin.“

„Warum nicht, du warst doch auch letztes Jahr dort, oder nicht?“

„Wir sind keine Freunde.“

„Aber er schickt doch nicht umsonst eine Einladung.“

Ich schüttelte den Kopf. Wir sind keine Freunde und wir waren es nie.

Sie ließ den Kopf hängen. „Sag Bescheid wenn du trotzdem gehst.“

Vielleicht täuschte ich mich aber meine Mutter freute sich, dass ich eine Einladung bekommen hatte.
 

In seinen Händen sterben? Es klingt lächerlich wenn man es laut ausspricht. Es ist lächerlich und sentimental. Aber etwas zog mich jedes Mal aufs Neue in die Falle und jedes Mal schnappte sie aufs Neue zu. Ich fragte mich nur, was ihm diesmal einfallen würde.

Vor mir stiegen weiße Schwaden in die Luft als ich schnaufte. Erbärmlich. Aber ich rannte ihm echt hinterher.

„So, so, das Bübchen erscheint also auch?!“

Als ich aufsah erblickte ich wieder diese Schauergestalt. Schwarzer Mantel das getönte blonde Haar, diese Augen und dann die Zigarette auf dem Boden.

„Kansei.“

Er schnalzte mit der Zunge. „Etwas freudiger mein Schäfchen. Ihr habt Jahrestag.“, er schob die Hände tiefer in die Taschen seines Mantels und senkte das Gesicht in den Kragen. „Ich hätte nie gedacht, dass du wirklich so naiv bist und tatsächlich kommst.“

„Man muss den Schein wahren“, bemerkte ich mit zur Seite geneigtem Kopf, „schließlich findet man nicht alle Tage so ‚gute’ Freunde.“

Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. „Immer doch.“

Als wir das Haus betraten war es wieder laut und unordentlich. Einige Gesichter kannte ich noch aber es waren eindeutig zu viele Menschen da. Noch immer auf den Stufen vor der Tür warteten wir dass man mal irgendwo eine Gelegenheit finden könnte um ins Haus zu gelangen. Einfach gratulieren und wieder abhauen. Oder besser noch: einfach einmal ‚Hallo’ in den Raum rufen, hört ja eh keiner, und dann wieder verschwinden.

Doch statt ‚Hallo’ kam nur ein gequältes Ächzen aus mir heraus und ich drehte mich um hundertachtzig Grad. Eben als ich die erste Stufe wieder herabgehen wollte packte mich jemand am Kragen.

„Nix da! Wer schon mal auftaucht, muss auch hier bleiben, Schäfchen.“, auf seinem Gesicht hatte sich ein bösartiges Grinsen gemeißelt. Verräter.

Das Ächzen wiederholte sich als ich nach drinnen gezogen wurde. Das darf einfach nicht war sein. Kansei stieß mich systematisch nach vorne. So machte er sich den Weg bis zum Flur frei und sorgte dafür dass sich mein Gesicht bei vielen einprägte.
 

„Na, na, wenn das nich das Sorgenkind ist.“

„Sorgenkind!? Ich dacht ich wär ein Schaf...“

„Ja, ja, gut dass du gekommen bist.“, sein Lächeln hatte etwas Hinterhältiges. Aber auf den nächsten Blick fiel mir mit Unbehagen auf, dass er nahezu im Partnerlook mit meinem Sklaventreiber gekleidet war. Schwarzes Shirt, anständige Hose, das war ein Wunder. Oder eine Katastrophe. Seit wann trug er heile Hosen?

„Starr mich nicht so entsetzt an. Man wird nur einmal ‚fast volljährig’“

„Fast volljährig?“, fragte ich ungläubig und schielte ihn von unten an.

„Ja fast. Noch fehlt einiges. Aber in anderen Ländern wär ich es jetzt schon.“

„Du bist achtzehn und es mangelt dir immer noch an Vernunft um volljährig zu sein.“

Kansei brach in schallendes Gelächter aus. „Wahre Worte!“

„Sei bloß still!“, zischte Kai, wenig amüsiert.

„Calvin!“, tönte es von der anderen Seite

„Cal...vin?“, fragte ich ungläubig. Wer zum Henker war Calvin?

Kai deutete belanglos auf Kansei, der uns nun den Rücken zu wand. Er wirkte sichtlich nervös und versuchte sich im Gedränge zu verstecken. Nichts desto trotz erklang die Stimme noch einmal. Diesmal ernster und der freudig überraschte Ton von eben war gänzlich verklungen. „Bleib stehen!“

Mit dem Rücken noch immer zu uns gewand blieb er stehen, hob die Hände auf Schulterhöhe und gestikulierte seine komplette Unschuld. „Ich bin unbewaffnet!“

Das ganze wurde mir langsam mulmig. Was zum Kuckuck war hier los und wer ist Calvin?! „Eh... Was geht hier ab?!“, fragte ich eher tonlos zu Kai.

Etwas ungläubig sah er zu mir herab, stutze und lachte nur. „Soso unser Prophet hat sich also noch nicht vorgestellt.“

„Vorgestellt!?“

„Ja. Du kennst ihn nur als Kansei.“

Ich sah zu ihm herüber. Er diskutierte ernsthaft mit einem Jungen aus meiner Stufe. Ein Austauschstudent. Aber, er sprach langsamer und mit stärker gebrochenem Akzent.

„Er ist Amerikaner, das weiß ich.“

„D.A.C.”, kam es knapp von Kai.

„Duck?! Wer nennt seinen Sohn schon ‚Ente“

„Nicht duck, DAC.“, Kai seufzte tonvoll. „D-A-C. Genau das ist das Problem. Es versteht hier keiner und wenn man versucht den vollen Namen auszusprechen ist das fast unmöglich ohne Fehler. Deswegen ist er für uns einfach Kansei.“

„Und Calvin?“

„Das C.“

„Der Rest?“

Er sah mich wieder ungläubig an. „Frag lieber nicht...“

„Der Austauschstudent, wie heißt der?“

„Tristan. Er ist mehr oder weniger mit ihm hier hergekommen.“

Kopfschütteln. „Mann, kompliziert.“

Kai klopfte mir auf die Schulter und machte eine Kopfbewegung in die andere Richtung. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass wir echt Freunde waren. Für einem Moment.

In der Küche drückte er mir einen Becher in die Hand. Der Geruch. „Nicht schon wieder...“

„Stell dich nicht so an. Es wirkt Wunder...“

Wunder? Vielleicht für ihn. Missmutig ging ich wieder zurück. Mittlerweile erkannte man in der Masse doch noch Wege und Bahnen, die zu wichtigen Orten führten. Dem Sofa. Hinsetzen. Abwarten und dann wieder gehen. Zwei Stunden vielleicht. Ich sah auf die Uhr. Warten war gut. Aber das wichtigste war, dass ich weder dieses Gebräu trank, noch irgendwie auch nur ansatzweise wieder den Weg zu seinem Zimmer fand. Das hatte ich mir fest vorgenommen.
 

Man hat eindeutig das Gefühl fehl am Platz zu sein, wenn man wieder erkennt dass die Menschen um einen aus den oberen Klassen stammen, oder gar nicht mehr zu Schule gingen. Wenn sie Freundinnen oder Freunde mit sich brachten, tanzten oder betrunken waren. Gelächter, Gekreische, übertönte Musik.

Wenn man nüchtern ist, nimmt man das alles noch anders wahr. Aber komischerweise stand immer wieder ein neuer Becher vor mir auf dem kleinen Tisch. Kaum hatte ich einen Schluck getan, kam irgendeiner und schüttete nach. Ein Teil eines Verschwörungsplans. Als ich mich wieder umsah erblickte ich Kansei, nein Calvin oder wie auch immer er nun hieß, in dem Sessel in der Ecke des Raumes. Neben ihm stand dieser Tristan, der sich halb zu ihm herablehnte und irgendwas erzählte. Das ging schon eine ganze Weile so. Ich verstand zwar kein Wort, aber allein wie er die Lippen formte, ob er nun Englisch sprach oder Japanisch, es sah äußerst vulgär aus. Und er lachte. Sein Hemd hob sich komplett von dem des anderen ab - schneeweiß. Seine Haare waren kurz, fielen aber in unregelmäßigen Fransen über die Stirn und reichten noch fast bis auf die Schultern. Er hatte seine Haarfarbe behalten und schien auch weiter kein Problem mit der Auffälligkeit von dem rötlich Braunen zu haben.

Es sah mir gar nicht ähnlich, dass ich einen Menschen so gründlich musterte, aber es war plötzlich zwanghaft. Seine Statur wirkte ungewohnt schmählich und wie er da stand und sich herabbeugte und ins Hohlkreuz ging. Er flirtete mit ihm!

Erschüttert drehte ich den Kopf von dem Szenario ab, trank wieder einen Schluck von dem was man mir vorhin aufgetischt hatte. Was war das für ein Service? Vor mir auf dem Sofa saß ein betrunkenes Mädchen, kaum älter als ich. Wenn ihre Mutter sie so gesehen hätte wäre die vermutlich in Tränen aus Entsetzen und Abscheu ausgebrochen. Sie küsste einen älteren Schüler – nicht weiter schlimm – ihr Aufzug neigte jedoch dazu, einen zu denken lassen dass sie sich freiwillig nachts auf die Straße stellen würde und nur so danach schrie entführt und vergewaltigt zu werden.

Abgewandt von Szenario wanderte mein Blick wieder zu Kansei. Er stützte den Kopf mit der Hand. Beide Ellenbogen ruhten auf den Armlehnen, die Beine überschlagen.

Sein Körper lehnte in einer unbeschreiblich entspannten aber gravitätischen Art in dem Ledersessel. Die schwarzen Sachen, ein offener Kragen, die dunkelblonden Strähnen, die am Ansatz fast pechschwarz waren. Dann sein Blick, eher glasig als scharf wie sonst. Wie so oft langweilte ihn die Welt.

Und wenn man ihn so sah, könnte man meinen, dass er wie ein Herr nur auf den entscheidenden Augenblick wartet um den Untergang zu verkünden. Ein gelangweilter, nicht nobilitierter Aristokrat. Er war nicht nur ein ‚Prophet’ – nein – er wirkte in einer überfüllten Umgebung in seiner entspannten Haltung und diesem Kerl neben sich wie ein Engel der Apokalypse, der von seinem Leibeigenen abgöttisch verehrt wird. Ja, Tristan machte wirklich den Eindruck, als wäre er blind gehorsam, wenn es darauf ankam.

Einen Moment später überfuhr mich ein eiskalter Schauer. Die ganze Zeit über war ihm sehr wohl aufgefallen, dass ich ihn anstarrte. Jetzt warf er mir indirekt einen kühlen aber scharfen Blick zu, lächelte nebenbei und seine Augen wanderten von seinem Gesprächspartner zu mir. Wie auf der Flucht sprang ich auf und marschierte um das Sofa herum. Zwei Stunden hin oder her. Eine halbe Stunde muss reichen. Im selben Moment ging Kai an mir vorbei und packte am Kragen. „Nix da!“, er drückte mich zurück auf meinen Platz. „Du musst dich noch ein bisschen gedulden.“

Gedulden!? Was sollte das nun wieder? Ich hatte keineswegs vor heute – nicht auch nur im Geringsten! „Ich gehe!“, protestierte ich und stand wieder auf. Doch er hatte seine Hand wieder auf meine Schulter gelegt und mich wieder geplatzt.

„Du bleibst.“

Mit was für einer Sicherheit er das so sagen konnte. Herrischer Mistkerl, was heckte er bloß wieder aus...

Ich biss mir auf die Zunge und starrte auf die Tischplatte vor mir. Das musste einfach lächerlich wirken. Jetzt hatte er wieder einen Punkt gefunden mit dem er mich aufziehen konnte. Aber warum juckte mich das überhaupt so!? Vermutlich irritierte es mich einfach, dass Kansei mit diesem Tristan befreundet war.

Befreundet? Nein. Er hatte selbst einmal gesagt, dass er keine Freundschaften eingeht, zumal er gegen jede Art von menschlicher Beziehung etwas hat. Sie hindern ihn an seiner „Freiheit.“

„Freiheit?“

Mir stockte der Atem. „Was?“

„Nicht ‚Was?’“

Meine Wenigkeit schüttelte den Kopf.

Er lachte. Vulgär. Einfach vulgär. Selbst aus nächster Nähe, auch wenn er betrunken war. „Du scheinst ja wirklich zu viel nach zu denken.“

Ich legte die Stirn in Falten. „Zu viel, wer sagt das?“

„Unwichtig. Worüber hast du nachgedacht? Über deine Freiheit?“

„Was? Nein!“

„’Was?, was?, WAS?’, kannst du auch noch irgendwas anderes sagen?“, er beugte sich zu mir runter und sah mich an. Blaue Augen, er lächelte. Er ging ins Hohlkreuz!

„N-Natürlich!“

„So, wie heißt du?“

„Das geht dich, mein Lieber, einen feuchten Dreck an, wie er heißt.“, hinter Tristan stand Kai, eine Zigarette im Mundwinkel. Er tippte ihm auf die Schulter und gab ihm mit einer Handbewegung zu verschwinden, dass er einen ‚Abgang’ machen sollte.

Zum ersten Mal war ich ihm dankbar, dass er zur rechten Zeit am rechten Ort war. Ich sprang auf. „Ich gehe!“

„Du bleibst!“, wieder packte er mich. „Wenn du jetzt gehst verpasst du das Beste. Schließlich ist er nicht umsonst gekommen.“ Kai deutete auf den Jungen hinter sich.
 

Yuta!
 

Ich schluckte hart, was war das nun wieder? Ein Wunder oder ein Zufall, oder doch ein abgekartetes Spiel. Skeptisch schielte ich zu Kai.

„Was siehst du mich so an? Freust du dich nicht?“, er zuckte mit den Schultern, bewegte seine Lippen vorsichtig, damit die Zigarette nicht zu Boden fiel.

Natürlich freute ich mich. Schließlich hatte ich ihn so lange nicht gesehen. Mit einem flüchtigen Kopfschütteln drehte ich mich wieder zu Yuta, nahm seinen Arm und zerrte ihn mit nach draußen. Wir mussten reden. Dringend.

„Zieh nicht so!“

„Beklag dich nicht. Du bist doch selbst Schuld.“, als wir auf die Straße traten ließ ich seinen Arm los und sah mit ernstem Blick zu ihm. „Warum hast du dich all die Zeit nicht gemeldet?“

„Keine Zeit.“, er wich meinem Blick aus und zuckte kaum merklich mit der linken Schulter.

„Du kannst mir nicht weis machen, dass du in über neun Wochen nicht einmal die Gelegenheit hattest diese verfluchten SMS zu lesen, oder auch nur zu antworten.“

Er schwieg.

Was war los, warum war er jetzt hier, nach knapp drei Monaten spurlosem Verschwinden? Und vor allem, warum kreuzte er gerade auf Kais Feier wieder vor mir auf? Mein Blick haftete immer noch an ihm, ich musterte ihn und wollte Antworten. Wenn es nötig war würde ich ihn noch weiter ansehen, bis er mir meine Fragen, die ich ihm still mit den Augen sendete, beantworte. Etwas hatte sich geändert. Seine Ausstrahlung war nicht mehr die Gleiche. Man bekam das Gefühl, als würde ein dunkler Schleier über ihm liegen. Er wirkte hagerer als sonst, zumindest größer, seine Arme wirkten länger. Aber vielleicht machte das auch nur die Jacke die er trug, die nun absolut nicht zu seinem Stil von damals passte.

Er senkte den Kopf. „Du weißt doch das mein Vater der Leiter einer Anstalt ist. Er hat sich damals versetzen lassen. Ich musste mitkommen.“, er ging ein paar Schritte weiter und setzte sich vor die kleine Mauer, die den Garten vor dem Haus abzäunte.

„Du hättest doch bleiben können.“

Er lachte auf.

„Das wäre wahrscheinlich kaum das Problem gewesen. Ehrlich gesagt...“, er senkte die Stimme und nun schwoll in seinen Worten unbekannter Ton mit, „...glaube ich eher, dass er weiß, dass wir damals uns nicht wie Brüder verhalten haben.“

Nun gesellte auch ich mich neben ihn. Er schob mit dem Zeigefinger einen Stein vor sich her.

„Er hat dich damals gefragt, das hattest du ja erzählt.“

„Mein Vater verbietet mir jeglichen weiteren Kontakt mit dir und deiner Mutter.“

„Aber-“, meinte Stimme hob sich unweigerlich.

„Es geht um seine Ehre. Irgendwann soll ich in seine Fußstapfen treten – auch wenn ich es nicht will – aber das ist schlecht für sein Image.“

„Warum bist du dann hier?“

„Kai hat mich eingeladen. Gegen ihn hat mein Vater auch nichts. Er kennt seine Mutter, sie waren zusammen in der Schule. Alte Zeiten und so.“

Mir blieb nicht anderes übrig als zu schweigen.

„Kai meinte, es wäre eine gute Idee.“

Gute Idee? Das war nur eine Metapher für ‚heimtückischer Plan’. Wer weiß schon, was er als Entgeld für diese Wohltat haben will.

„Hast du mir sonst noch etwas zu sagen?“

„Was soll den der Ton?“, er sah mich an und irgendwas an ihm wirkte kratzbürstig, scheinbar hatte ich den wunden Punkt gefunden.

„Nun?“, ich wartete.

„Nein.“, er sah wieder weg.

Seufzen. Er verheimlichte mir etwas. Draußen war es dunkel und kalt, aus meinem Mund stießen weiße Schwaden und die glimmenden Stängel der Jungs ein paar Meter weiter wirkten wie verirrte Glühwürmchen im Schlund des Ungetüms, dass selbst Menschen zum erzittern brachte. „Ich geh nach Hause.“, meinte ich beiläufig, erhob mich und strich mir den Dreck von den Sachen. Neben einer Laterne auf der anderen Straßenseite bemerkte ich Tristan, seine kratzige etwas raue Stimme kam noch kräftiger zur Geltung, wenn er mit Kansei - nein er hieß ja DAC – redete. In meinem Kopf kamen nur Bruchteile von dem was sie sprachen an, aber es schien um alte Zeiten zu gehen. Wieder hatte Tristan diesen gewissen Blick und lehnte an der Laterne, als ob er nur auf ein falsches Wort von seinem Freund wartete um über ihn herzufallen. Er lehnte sich vor und schien nun mehr zu flüstern, ging wieder in diese Position, dass er den Rücken durchbog und mit einer Hand in der Hüfte zu dem anderen sprach. Mit einem Kopfschütteln versuchte ich das Bild aus den Kopf zu drängen und ging ein paar Schritte, ehe mich Yuta an dem Ende meines Ärmels packte.

„Wie geht’s deiner mum?“

„Wie soll’s ihr schon gehen, sie heult sich in den Schlaf und steht wieder unter Antidepressiva.“, ich zuckte mit der Schulter, zog langsam meinen Arm frei und drehte mich wieder zum gehen. „Das wird schon wieder.“, auch wenn ich wusste dass es eine dreiste Lüge war, hatte ich es für einen Moment fast geglaubt. Geglaubt, dass alles wieder gut wird.

„Er hat eine Neue.“

„Schön für euch.“

„Ich mag sie nicht.“, er kam mir nach. Langsam und vorsichtig. Wie ein scheues Tier, dass dem Menschen folgt, der es füttert.

„Sag es ihm doch.“

„Er hört nicht auf mich.“, seine Stimme war dumpf, er hielt sich die Hände vor den Mund um sie zu wärmen.

„Du bist ihm gegenüber zu unterwürfig.“

Es kam keine Antwort. Den Weg nach Hause über drehte ich mich dennoch nicht um. Entweder folgte er mir weiter oder er verschwand wieder wie er gekommen war. Vielleicht war es auch besser so, auch wenn ich es die ersten Wochen bedauert habe was geschehen war und ich mir nichts sehnlicher wünschte als Yuta als Freund an meiner Seite zu haben. Denn jetzt hatte ich das Gefühl ihn genauso vergessen zu haben wie er mich. Jetzt wo ich ihn vor mir gehabt hatte und ihn endlich nach so langer Zeit wieder gesehen hatte, war er für mich eine plötzlich ganz andere Person. Jemand fremdes.

Als ich die Tür öffnete fasste mir Yuta auf die Schulter. Mein Kopf senkte sich automatisch und nickte. Drinnen war es dunkel, still. Wenn sie ihn sehen würde, würde sie sicher nur noch mehr weinen, also marschierte ich nach dem Türschließen schnell durch das Zimmer, die Treppe hinauf ins Zimmer, dicht gefolgt von Yuta.

Fast hätte ich geglaubt, dass er sich in der Dunkelheit umgesehen hat und versucht hatte alte Erinnerungen ausfindig zu machen, die wirr durch diese Welt schwirrten. Als die Tür hinter uns in Schloss fiel atmete ich auf und öffnete das Fenster. Es war ein klarer fast voller Mond, der von einzelnen Wolkenfetzen verschlungen wurde. Irgendwie war ich erleichtert. „Was hast du deinem Vater gesagt?“

„Dass ich bei Kai bleibe und am Morgen wieder zurück fahre.“

„Mit dem Zug?“

Ein bejahendes Brummen, dann ein Rascheln. Als ich mich umdrehte, hatte er sich aufs Bett geschmissen und legte die Arme über das Gesicht.

„Schon seltsam, nicht wahr.“

Seltsam. Abgesehen von der Tatsache, dass der Mensch mit dem du deine Jugend verbringen wolltest und als Freund an deiner Seite behalten wolltest, plötzlich zu einem Objekt der Begierde wurde und schließlich eine schwere Last, dass man allein bei dem Gedanken an ihn schon denkt in etwas Unbeschreiblichen zu ertrinken. Es ist seltsam komisch, dass der Mensch mit dem man lachen kann dich auch gleichzeitig zum weinen bringen kann. Der Mensch, der dir Freude bereitet, dich auch in tiefste Trauer stürzen kann. Und der Mensch, der dir die Weite gezeigt hat, zugleich der Mensch ist, der dich in einen Käfig sperren kann aus dem es kein Entrinnen gibt. All das in einer einzelnen Person. Ein Mensch in dessen Armen du schmelzen wolltest, sterben. So sterben wie du das erste mal gestorben bist. Nur um auf einem sanften Grund zu landen und zu merken, dass du doch lebst. Mehr als je zu vor. „Ja, seltsam.“

Ich hörte ihn schlucken.

„Ich hab ein Mädchen kennen gelernt.“

„So?“

„Wir mögen uns.“

Ein Mensch, der dir Liebe und Wärme gegeben hat, kann dir genauso gut dein Herz zerschmettern und im nächsten Moment in die Kälte der Nacht stoßen, ohne einen für dich je triftigen Grund zu haben. Einfach so.

„Schön.“

Dann sah er auf als er meine Worte hörte, sah mich misstrauisch an. „Schön?“

„Ja, wieso nicht.“, mein Körper lehnte an der Wand zum Fenster.

Yuta schwieg eine Weile, ehe er wieder tief durchatmete. „Kann ich heute hier bleiben.“

Mein Kopf nickte automatisch. Eigentlich hätte ich ihn aus dem Haus jagen müssen, verstoßen und endgültig vergessen müssen. Erst verschwindet er, meldet sich nicht und taucht dann wieder bei einem Menschen auf, den er nicht leiden kann – zu mindest dachte ich das immer – und erzählt einem dann, dass er sich in ein Mädchen verliebt hatte. Der Junge, der früher auch einmal mir gegenüber von Liebe gesprochen hat. Es passte nicht zu ihm.
 

Eine Frage schoss mir durch den Kopf, die in diesem Moment gänzlich unpassend war. Aber trotzdem beantwortet werden wollte.

Was war das Ziel? Das Ziel eines jeden einzelnen von uns.

Die Menschen rennen wirr durcheinander und leben aneinander vorbei. Manche finden sich, manche suchen sich, manche verlieren sich. Manche haben einander nie getroffen. Aber dennoch: Was ist der Sinn, was ist das Ziel?

Sagt mir, was das Ziel der Menschen, ja der Welt ist und warum sich die Zeit nicht stoppen lässt. Sagt mir, warum sich die Welt weiter dreht, wenn sie für einen selbst schon aufgehört hat zu existieren...
 

Ähnlich hätte ich es auf ihn beziehen müssen. Warum kam er gerade jetzt wieder zu mir, gerade jetzt. Mein Körper setzte sich wieder in Bewegung und ich ging zu ihm ans Bett, nahm ihm den Arm vom Gesicht und sah ihm in die Augen.

„Was willst du noch hier?“

Wieder schluckte er. Seine Augen waren glasig, er wollte weinen. Aber ich würde ihn nicht lassen. Zu seinem Abschied hat er von mir Tränen verlangt. Jetzt ist er hier und es gibt keinen Grund zu weinen. Er hat am wenigsten zu bedauern.

„Es ist alles so sinnlos.“

„Was ist sinnlos?“

„Alles, egal was ich mache.“

Schweigend sah ich ihn weiter an, er zog seinen Arm zurück und drehte sich zur Seite.

„Nichts von dem was ich tue erfüllt mich mit irgendeinem Gefühl. Nichts. Alles ist tot.“

„Tot?“

„Jedes Mal wen ich morgens aufstehe hab ich das Gefühl, dass etwas fehlt. Aber, ich kann nicht sagen was es ist. Ich hasse die Menschen plötzlich und ich versuche bei ihr Trost zu finden, weil ich glaube, dass sie mich versteht, so wie du.“

„Genau das ist dein Fehler.“

Nach einigem Schweigen antwortete er mit gedämpften Worten: „Aber ich kann es nicht lassen.“

Es wird wieder so laufen, so laufen wie ich es erlebt habe. Bis er sich selbst eingesteht, dass die Liebe, die er geglaubt hat zu finden nie da war. Ich konnte nur für ihn hoffen, dass er es früh genug merkte.
 

Ich möchte mit dir eine Straße begehen, die noch nie zuvor von jemand anderem beschritten worden ist. Nimm meine Hand und höre was ich dir zu sagen habe.
 

In der Nacht lagen wir wieder Rücken an Rücken, horchten auf den anderen und atmeten leise. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er wusste was ich dachte, denn dann durchfuhr ihn ein Schauer. Jedes Mal wenn ich kurz vor dem einschlafen war, holte mich etwas wieder zurück in die Wirklichkeit, eine Art Alarm, der mich wach halten sollte, damit dies die längste aber auch schmerzhafteste Erinnerung an ihn war. Vielleicht auch die letzte...
 

Es gibt kein Morgen, achte nur auf jetzt. Sieh mich an und lausche, denn was ich sage sollst du nie vergessen.
 

Am nächsten Morgen öffnete ich bewusst nicht die Augen, als er aufstand und gehen wollte. Erst als er sich zu mir beugte und ich seinen Atem kurz auf meiner Haut spüren konnte, wollte ich ihn an mich reißen und nie mehr gehen lassen, aber mein Körper rührte sich nicht. Yuta schien nicht zu weinen, war aber schweren Gemüts. Er würde vermutlich erst Tränen vergießen wenn er im Morgengrauen die Straße wieder zurück zum Bahnhof ging. Leise, um seinem Stolz vorzugaukeln, dass es okay ist zu weinen, wenn es keiner sieht.

Aber ich wusste es trotzdem.

Mit dem Geräusch der Tür öffnete ich die Augen, schloss sie jedoch gleich wieder um tief durch zu atmen.

Es war wirklich besser so. Oder nicht?

Trotz alledem reichten mir Yutas Erklärungen nicht. Kai sollte mir Rede und Antwort stehen. Auch wenn ich damit riskierten sollte, dass ich in die Höhle des Löwen gerate.
 


 

[to be continued]

Breath Me

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (53)
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Von:  Picco-der-Teufel
2009-12-08T15:43:18+00:00 08.12.2009 16:43
*schmacht* achja ^^ was soll ich dazu sagen?????
oo Super *applaus*

Dein Schreibstil unterscheidet sich erheblich von den, die ich bisher gelesen habe. Ich mag ihn, weil er so anders ist und sich um alles kümmert, was einen so bedrückt, was man wissen möchte ^^
Von: abgemeldet
2009-08-16T12:03:28+00:00 16.08.2009 14:03
wann geht es weiter Dx
Von: abgemeldet
2009-01-27T20:13:44+00:00 27.01.2009 21:13
mega gut. <3
Ich mag deinen schreibstil und diese Fanfic ist einfach der Hammer ^.^
Mach weiter so! Ich freu mich schon tierisch wies weiter geht.
Ich hoffe das alles endet wie ichs mir wuensche <:
Wobei ich mir nicht ganz sicher bin.. wie ichs gerne haette.. das gaebe es mehrere optionen lmao
Von: abgemeldet
2008-12-21T22:48:44+00:00 21.12.2008 23:48
uuuuuuuuh man *-------* <3
das nenn ich maln weihnachts geschenk x] !
super kapitel; ich freu mich schon so wenn's weiter geht.. *-*
< suechtling XD
ich bin ja mal echt gespannt was aus denen wird oo oder was dahinter steckt, bzw was kai denkt oO
und von kansei will man auch bald wieder was lesen *-* !!
freu mich schon, weiter so *---* <3

Frohe Weihnachten <3333
Von: abgemeldet
2008-10-20T22:06:39+00:00 21.10.2008 00:06
awwww *-*
endlich weiter x] -treuer fan- XD
ich hoffe es kommt nochmal viel kaili & kansei *-* <3
ich steh auf das kapitel O,O ich find die ganze sache mysterioes XD ahaha. <3
Von: abgemeldet
2008-09-12T23:36:18+00:00 13.09.2008 01:36
Total gute geschichte <3
Ich freu mich wens weiter geht. Kai und Kansei sind ja meine persönlichen favoriten. Reiji ist auch ziemlich cool. ^^
Mach weiter so, super geworden, klasse schreibstil!
Von: abgemeldet
2008-07-26T23:55:54+00:00 27.07.2008 01:55
ich hab das ganze ueberarbeitete teil neu gespeichert und morgen werd ichs lesen <3
Von:  Sherry_16
2008-04-26T19:04:23+00:00 26.04.2008 21:04
ich seh das erst etz grad??
OO
wieso is die ff abgebrochen??? >.<
Von: abgemeldet
2008-04-09T16:52:00+00:00 09.04.2008 18:52
hammer story =) eben alles gelesen.
gefällt mir gut und dein schreibstil is super.
wann gehts weiter?
Von: abgemeldet
2008-03-01T23:51:45+00:00 02.03.2008 00:51
Geiles kapitel. Interessant.
Junkkapi wird bestimmt auch geil.
Ich freu mich auf jeden fall immer wenns weitergeht ._.
ja hat lang gedauert ._. xD
Vorschlag bezueglich lyrics usw. : Makeshift Romeo - Dream <3




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