One Night in Tokyo von abgemeldet (oder: Warum man Shinya und Toshiya unbedingt mal in einem Studio einschließen sollte) ================================================================================ Meine Finger gleiten über die Seiten meines E-Basses, nur verschwommen höre ich Kyos Gesang und das Spiel der anderen. Ich bin ganz mit der Musik verschmolzen, sie ist das einzige, was in diesem Moment wichtig ist. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen, ich kenne mein Instrument und kann die Akkorde auch blind greifen. Wie oft haben wir dieses Stück heute schon gespielt… Es ist einer meiner Lieblingssongs. Die Musik ist und war schon immer mein Leben, schon als ich klein war wusste ich, dass sie das Einzige für mich ist. Wenn ich spiele, fühle ich mich ganz anders, besser, es ist ein Gefühl, dass ich nicht beschreiben kann. Aber was ihm wohl am nächsten kommt, ist Freiheit. Ich fühle mich unbeschwert, all meine Sorgen werden mit den einzelnen Tönen fort getragen. Und auch wenn mir hinterher die Finger bluten, und das tun sie oft, das ist es, wofür ich lebe. Während ich spiele, nehme ich keinen Schmerz wahr. Ich wünsche mir oft, ich könnte einfach immer spielen, nie mehr aufhören, diese Momente in denen ich ganz mit der Musik verschmelze, sind die einzigen, in denen nichts mehr eine Rolle spielt. Aber irgendwann sind sie zu Ende, irgendwann ist jeder Song vorbei… Na toll, jetzt werd noch sentimental! Unser Song endet mit einem Gitarrensolo Dies, dann verstummt auch er. Einen Moment lang ist es still, es ist der Moment den wir brauchen, um in die Realität zurückzufinden. Dann… „War super!“, sagt Kaoru während er seine Gitarre in dem davor vorgesehenen Kasten verstaut. Kyo bastelt umständlich sein Mikrofon ab, Shinya zieht eine Plane über die Drums. Den ganzen Tag haben wir hier in unserem Proberaum verbracht und für unsere bevorstehende Tour geprobt. Kaoru treibt uns gnadenlos an, jeder kleinste Akkord muss sitzen, alles muss perfekt aufeinander abgestimmt sein. Und noch machen wir hier und da kleine und meistens ziemlich blöde Fehler, aber die meisten Songs gehen uns problemlos von der Hand. Wir sind eben die Besten, haha. Kaoru schnippt mit den Fingern und winkt uns zu sich. Will der Herr Leader uns die nächste Probestunde mitteilen oder will er nur jemanden, der ihm die Schuhe putzt? Es ist immer dasselbe mit ihm, wenn wir kurz vor einer Tour stehen, mutiert der Gute zum Sklaventreiber. „Die Proben heute waren gut, wirklich gut“, sagt Kaoru ernst. „Aber für die Tour können wir noch besser werden, okay?“ Einstimmiges, aber desinteressiertes Nicken. Wir kennen jede von seinen Predigten auswendig. „Wenn wir unser Bestes geben, ist das gerade ausreichend“, fährt er mit Verkünderstimme fort. „Heute war es fast perfekt, aber der Akkordwechsel bei Yurameki muss schneller kommen, klar Die?“ Die nickt abwesend und fixiert dabei Kyos Mikroständer, der an der Wand lehnt. Echt interessant, so ein Mikrofon. „Gut…“, Kaoru mustert jeden von uns durchdringend und bleibt dann bei Shinya hängen. „Am Anfang von Macabre hat beim zweiten Durchgang ein Ton gefehlt… Vielleicht solltest du dich da ganz besonders konzentrieren?“ Shinya nickt ebenfalls, aber man sieht ihm an, dass er sich Kaorus Worte gleich zu Herzen nimmt, im Gegensatz zu Die. Er mag es nicht, kritisiert zu werden. „Das ist doch nicht so schlimm, kann doch jedem passieren“, höre ich mich sagen. Hab jetzt für Shinya Partei ergriffen? Bin ich eigentlich bescheuert? Wenn er was dazu sagen wollen würde, würde er es bestimmt selbst können. Immerhin hat er einen Mund und funktionsfähige Stimmbänder. „Ja ich weiß“, sagt Kaoru und sieht mich scharf an. „Aber auf dem Konzert wäre etwas derartiges fatal… Deshalb weise ich euch jetzt darauf hin, und nicht, wenn tausend Fans dabei zusehen.“ Hallo? Was haben Sie mit Kaoru gemacht, Sie Sklaventreiber?! „Sicher“, sage ich. „Verstanden, Chef.“ Kaoru funkelt mich wütend an, dann winkt er den anderen und steuert die Tür an. „Wir sollten gehen“, sagt er. „Gib dem Hausmeister den Schlüssel, Die, der schließt nachher ab.“ Damit verlässt er den Proberaum, Die und Kyo folgen. Als ich hoch schaue, stelle ich fest, dass Shinya mich beobachtet. Er lächelt mich kurz an, dann nimmt er seine Drumsticks und geht hinter den anderen her. Als er merkt, dass ich zurück bleibe, dreht er sich wieder um und fragt: „Kommst du, Toshiya?“ Ich zögere kurz, dann schüttele ich den Kopf. „Ich ähm… Ich will noch… Noch mal das Stück spielen.“ „Und das kannst du zu Hause nicht?“ „Doch“, murmele ich. „Aber… Ich will einfach noch mal allein sein.“ „Ach so…“ Höre ich da Enttäuschung in der Stimme? Shinya zögert einen Augenblick, dann wendet er sich ab und geht. „Ciao, bis später!“, ruft er mir noch zu, dann fällt die Tür hinter ihm wieder zu und ich bin allein. Er hat Recht, ich könnte genauso gut zu Hause spielen, aber da ist die Atmosphäre anders und außerdem werde ich ständig von Die belästigt der irgendwas von mir will. Zu Hause fällt es mir schwerer, in meine Musikwelt abzutauchen, es gelingt mir zwar, aber hier ist das was anderes. Ich setze mich auf den Rand des Podestes in der Mitte des Raumes, rücke mir meinen Bass zurecht und beginne langsam mit der Melodie. Ich merke kaum, wie ich vom eigentlichen Stück abweiche und schließlich eine Art Eigenkomposition spiele und dabei leise vor mich hin summe. Die Melodie hat etwas trauriges, sie ist langsam und in Moll-Tönen gehalten. Was jetzt fehlt, sind Gesang und vielleicht Drums im Hintergrund. Shinya… Ich schiele zu dem abgedeckten Schlagzeug hinüber. Er hat mir mal erzählt, dass er sich auch freier fühlt, wenn er spielt, dass er so sämtliche Aggressionen und Stress loswerden kann. Man könnte annehmen, er wäre wie die meisten Drummer, aber Shinya ist anders. Er ist sehr zierlich, fast dünn, und hat schmale Hände mit langen Fingern. Vielleicht würde man ihn, wenn man es nicht weiß, eher an ein Klavier setzen. Aber wer Shinya einmal hinter seinen Drums erlebt hat, weiß, dass er an einem Klavier total verloren wäre. Er liebt sein Instrument und blüht richtig auf, wenn er spielt. Ich versuche ihn mir vorzustellen, ich habe sein Bild immer deutlich vor Augen. Die schulterlangen, momentan rotbraun gefärbten Haare und sein warmer Blick… Ein Blick, ein Lächeln von ihm reicht aus, um mich aus irgendwelchen Löchern zu ziehen, in die ich falle, selbst wenn diese Tiefschläge an ihm liegen. Warum ich mich ausgerechnet in ihn verliebt habe… Ich weiß es nicht. Ich hab ehrlich keine Ahnung. Und er weiß auch nichts davon. Das soll auch so bleiben, denn es würde hundertprozentig Probleme geben, wenn er es wüsste, ob er nun auch was für mich empfindet oder nicht. Beziehungen innerhalb der Band sind tabu, jedenfalls für mich. Andererseits muss ich mir wohl keine Gedanken machen, denn soweit ich weiß, empfindet Shinya für mich nur Freundschaft. Selbst wenn es so wäre, man stelle sich mal ein schwules Pärchen in einer so berühmen Band wir Dir en grey vor, die Fans, vor allem die weiblichen, würden uns alle Gliedmaßen einzeln ausreißen. Und wahrscheinlich würden wir männliche Groupies bekommen und ich glaube dass die schlimmer sein könnten als die weiblichen Exemplare. Es gibt also genug Gründe die dafür sprechen meine Gefühle für Shinya so wie meine sexuelle Orientierung geheim zu halten. Innerhalb der Band wissen sie es, aber außerhalb geht das niemanden was an. Wo wir gerade beim Thema sind… Shinya war, das hat er mir erzählt, auch schon zweimal mit Männern zusammen. Nicht dass ich mir deswegen bessere Chancen ausrechnen würde… Niemals… Aber hey, man weiß ja nie! Toshiya, jetzt ist’s aber gut, ermahne ich mich selbst. Einem Bandkollegen schöne Augen machen… Dabei könnte ich wer weiß wie viele Typen haben, das weiß ich genau. Warum ausgerechnet Shinya? Meine etwas eigenartige Komposition ist aus dem Ruder gelaufen und ich merke plötzlich, dass ich immer wieder denselben Ton spiele. Ich lege den Bass zur Seite und schaue hoch… Und erstarre zu einer Salzsäule. In der Tür steht (ich hätte nicht erstaunter sein können, wenn es der Kaiser von China gewesen wäre) Shinya. Leibhaftig. Wieso ist er noch hier?? Und wie lange steht er schon da?! „Ähm…“, sage ich und kratze mich verlegen am Kopf. „Sehr schön“, meint Shinya mit seiner milden Stimme und ich schmelze dahin. „Aber zum Ende hin etwas eintönig.“ Was will der von mir? Was ist eintönig? „Hä…?“, bringe ich hervor und muss dabei ziemlich dumm aus der Wäsche gucken. Was überfällt der mich hier auch so?? Nicht mal hier hab ich meine Ruhe!! Frechheit. Wenn es Die wäre oder Kyo, die hätte ich längst wieder nach draußen befördert, egal wie. „Na, was du eben gespielt hast“, hilft Shinya mir auf die Sprünge. „War das von dir?“ Ich brauche einen Moment um zu antworten. Normalerweise bin ich durch nichts und niemanden einzuschüchtern und habe auch immer was zum Kontern parat. Nur bei Shinya klappt das nicht! „Äh… ja…“, sage ich endlich. Zwei Wörter, eine deutliche Verbesserung! Ich bin gut. „Wa… Was machst du eigentlich hier?“, frage ich dann und vermeide es ihn dabei anzusehen. „Ich hab meine Jacke hier vergessen“, Shinya grinst mich an. „Und dann hab ich dich spielen gehört. Du warst total in Gedanken versunken, da wollt ich nicht stören…“ „Und hast zugehört“, beende ich den Satz. Shinya nickt. Es entsteht eine Pause. „Stört es dich, wenn ich bleibe?“, fragt er plötzlich. Was?! Oh bitte, tu mir das nicht an… „Ja… Äh, ich meine nein!“, sage ich sofort und eigentlich kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als von Shinya bei meinem seltsamen Rumgezupfe beobachtet zu werden. „Klar kannst du bleiben!“ Ich bin so ein Idiot. Leicht benebelt beobachte ich, wie Shinya sich mir schräg gegenüber auf einen herumstehenden Stuhl setzt. Ich beschließe ihn gar nicht zu beachten und versuche mich an die Melodie von vorhin zu erinnern. Erst etwas unsicher beginne ich, dann werde ich schneller, lasse mich von den Klängen wieder fort tragen, weg von Shinya. Ich beende mein Stück das keines ist erst, als es mir richtig erscheint und sehe auf. Shinya lächelt verträumt, dann steht er auf und kommt auf mich zu. „Du spielst wunderschön“, sagt er leise. „Ganz anders als wenn wir alle zusammen proben… Ich wusste gar nicht, dass du so… Emotional sein kannst.“ Tja, da sieht man mal, wie gut ihr mich doch alle kennt… „Danke“, murmele ich. „Schreibst du das Stück auf?“, fragt Shinya. Meint der das jetzt ernst?! „Nein“, erwidere ich lachend, „das ist nur so eine Spielerei, nichts besonderes.“ „Dann zeig es wenigstens mal Kaoru!“, beharrt Shinya. Ich schüttele den Kopf. „Das ist nichts für die Öffentlichkeit“, sage ich leise. „Wenn ich alleine hier spiele, dann nur für mich… Um irgendwas zu verarbeiten… Und in dem Moment, in dem ich es spiele, ist es wichtig. Später kann ich es dann als abgeschlossen betrachten. Diese Kompositionen oder Spielereien sind nicht dafür, um vertont zu werden.“ Hallo?! Wieso hab ich das denn jetzt erzählt??? OK, der Einfluss den Shinya auf mich hat, ist definitiv nicht gut! „Schade“, murmelt Shinya, dann kniet er sich vor mich, sieht mich fest an. „Dann spiel’s für mich…“ Mein Herz bleibt einige Takte lang stehen. Shinya kniet vor mir und flüstert mir mit rauchiger Stimme zu, ich solle für ihn spielen… Darf ich mal die Vermutung aufstellen, dass das die schönste Situation meines Lebens ist? Irgendwie will ich nicht. Warum weiß ich nicht. Aber ich verspüre einen Anflug von Angst. Vor einer Blamage? Vor einer Enttäuschung? Aber abschlagen kann ich ihm das doch auch nicht. Mir bleibt also gar nichts anders übrig als ergeben zu nicken und mir meinen Bass wieder zurechtzurücken. Dann klopfe ich mit der Hand auf die freie Stelle neben mich und Shinya setzt sich. Wenn ich je so was wie Verstand hatte, dann hat der sich soeben verflüchtigt. Shinya macht mich nervös wie sonst was und ich fordere ihn natürlich auf, sich neben mich zu setzen. Großartig. Ich hole tief Luft, ehe ich beginne. „Okay“, sage ich leise. „Aber nur für dich.“ Vorsichtig schlage ich den ersten Ton an, wieder klingt es etwas anders als beim zweiten Mal, aber nicht schlecht. Ich schließe die Augen und lasse mich wieder treiben. Shinya unterbricht mich kein einziges Mal, zwischendurch schaue ich einmal kurz zur Seite. Er starrt auf den Boden vor sich und hört einfach nur zu, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen. Wie kann jemand so schön sein… Ich konzentriere mich wieder auf meine Musik und beende das Stück schließlich. Mir ist beim Spielen ganz warm geworden und mein Kopf glüht förmlich. „Danke“, sagt Shinya und hebt den Kopf. „Wofür?“, frage ich und beginne meinen Bass in die Tasche zu schieben. „Dass du’s noch mal gespielt hast. Du wolltest eigentlich nicht, hm?“ Kann der Gedanken lesen? „Äh… Schon gut“, sage ich schnell, dann nehme ich meine Tasche und stehe auf. „Lass uns gehen“, sage ich und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. „Es ist schon acht Uhr durch.“ Wir verlassen den Kellerraum, den wir als Proberaum benutzen und laufen durch die Gänge der Studios Richtung Ausgang. Kein Mensch ist mehr hier und alles ist bereits dunkel, unsere Schritte hallen in den hohen Gängen wieder. Ich bin irgendwie froh, als die Tür vor uns auftaucht. Wie immer bleibt mein Blick kurz an dem Bitte-Drücken-Schild hängen, ich habe schon zu oft versucht die Tür durch Ziehen zu öffnen und bin jedes Mal kläglich gescheitert. Selbstsicher schnappe ich mir die Klinke und will die Tür öffnen, aber was passiert, haut mich fast um: Es passiert… gar nichts. „Shinya…“ Versuchsweise drücke ich noch einmal, dann versuche ich es mit Ziehen. Die Tür bleibt zu. „Toshi“, sagt Shinya kopfschüttelnd und ich ahne, dass er mich gleich auslachen wird. „Die ist abgeschlossen!“ „Das seh ich auch“, murmele ich. „OK, gib mir den Schlüssel.“ „Ich hab keinen. Ich dachte du hast den.“ Woher soll ich einen Schlüssel haben? „Nein. Wie bist du denn dann rein gekommen?“ „Na als ich kam war noch offen…“ Klar. Hätte ich mir ja denken können. „Weißt du nicht mehr…“, sagt Shinya langsam. „Die hat den Schlüssel…“ „… dem Hausmeister gegeben“, beende ich den Satz für ihn. Mein Kopf wird heiß. „Und der hat jetzt von außen abgeschlossen.“ Eine Weile starren wir schweigend die Tür an. „Gibt es noch einen anderen Ausgang?“, fragt Shinya hoffnungsvoll. „Wenn der Hausmeister geglaubt hat, hier sei alles leer, dann hat er auch alles abgeschlossen“, erwidere ich. „Dann sind wir also…“ Shinya spricht den Satz nicht zu Ende, seufzt leise. Eingeschlossen im Studio. Allein. Mit Shinya. Wenn ich Pech habe, die ganze Nacht lang. Eigentlich gar nicht so schlimm. Aber… Fassen wir mal schnell zusammen. Ich bin in Shinya verliebt. Ich bin mit ihm in diesem Haus eingesperrt. Ich weiß nicht, was ich alles rede, wenn ich müde bin und verwirrt. Oder noch kürzer: HOLT MICH SOFORT HIER RAUS!!! „Das ist jetzt nicht wahr…“ Shinya tritt genervt von einem Fuß auf den anderen. „Was ist mit den Fenstern?“ Ich schüttele den Kopf. „Nur die einzelnen Studioräume haben Fenster und die sind alle abgeschlossen.“ Und unser Kellerraum hat nur ein winziges Fenster, durch das wir garantiert durchpassen, füge ich in Gedanken hinzu. „Und… Und was machen wir jetzt?!“ In Shinyas Stimme schwingt Panik mit. Hey ganz ruhig, ich werd dich beschützen vor dem großen bösen Haus… „Ich glaube, wir können nicht viel machen“, resigniere ich. Shinya beginnt unruhig im Gang auf und ab zu gehen und murmelt dabei leise vor sich hin während ich meine Taschen durchsuche in der blassen Hoffnung, einen Schlüssel zu finden. Ich finde sogar einen. Er gehört zum Briefkasten. „Hast du dein Handy dabei?“, fragt Shinya nach einer Weile. „Was ist denn mit deinem?“, erwidere ich und er schüttelt den Kopf. „Da ist kein Geld mehr drauf.“ Ich muss grinsen und ziehe dann mein Handy hervor. Das Display zeigt, dass ich noch einen Akkustrich habe. Wie beruhigend. „Schnell“, sage ich. „Wen soll ich anrufen? Sie sind bestimmt noch nicht zu Hause.“ „Ähm… Kao, ruf Kao an!“, schlägt Shinya vor und ich suche schnell nach seiner Nummer, halte mir das Handy ans Ohr und warte. Es tutet ein paar Mal, dann… Sie sind verbunden mit der Mailbox der Nummer… „Ah, scheiße!“, wütend lege ich auf. „Mailbox. Und? Kyo oder Die?“ Shinya zuckt mit den Schultern. „Kyo nimmt sein Handy zum Proben nie mit…“ Ich nicke kurz und übersehe dabei die Tatsache dass Die der letzte ist, den ich in so einer Situation anrufen würde. Egal, geht jetzt halt nicht anders. Ich tippe seine Nummer ein, das Freizeichen ertönt. Wieder dauert es lange, bis etwas passiert, aber diesmal ist es nicht die Mailbox. „Ja?“ „Die? Ich bin’s, Toshiya, hör mal, wir sind noch im Studio…“ „Ihr seid wo?“ Im Hintergrund ist laute Musik zu hören. Sie sind also was Trinken gegangen. Schön, dass sie uns so sehr vermissen. „Im Studio!“, sage ich laut. „Kannst du…“ Scheiße. Er hat den Schlüssel ja selbst nicht… Und mein Akku geht gleich aus. „Die, zu Hause ist der Ersatzschlüssel! Hol den und schließ hier auf!!“ „Was? Was für ne Schüssel?“ Und der Preis für den verplantesten Vollidioten geht aaaan… Daisuke Andou! „SCHLÜSSEL!!“, schreie ich in mein Handy. „Was soll ich denn mit nem Schlüssel?“, fragt Die verständnislos. „Wir sind hier eingesperrt, im STUDIO!“, rufe ich. „Also brauchen wir einen SCHLÜSSEL, um…“ Ein beunruhigendes Piepsen unterbricht das Gespräch. „DIE, HOL DEN SCHEIßSCHLÜSSEL VON ZU HAUSE!“, schreie ich, denn ich weiß, dass mein Handy gleich ausgeht. „Ich versteh dich nicht!“, schreit Die zurück. „Tut mir Leid Toshi, die Verbindung ist hier total schlecht! Ich ruf nachher zurück!!“ Ein kurzes Klicken. Dann Stille. „Hat er…“ Ich nicke. „Aufgelegt.“ Die, du… Zittere vor meiner Rache!!! Wieso hast du aufgelegt?! Shinya sieht ziemlich entgeistert aus. „Vielleicht haben wir Glück und er ruft noch an, bevor mein Handy ganz aus geht“, sage ich und stecke es wieder in die Tasche. „Sollen wir wieder runter gehen? Hier oben rum zustehen bringt uns auch nicht weiter.“ Shinya nickt und wir gehen die Treppe wieder runter in unseren Proberaum, Shinya zieht seine Jacke aus und wirft sie über den Stuhl, setzt sich wieder an den Rand des Podests. „Glaubst, sie holen uns morgen hier raus?“ „Ja, sicher“, sage ich. „Spätestens morgen früh sind wir hier raus. Aber… So wie es aussieht, eben erst morgen früh.“ Shinya starrt versteinert vor sich hin. Zeig bloß keine übersprudelnde Freude! Ich finde die Aussicht, die nächsten zwölf Stunden hier zu verbringen zwar auch nicht grad berauschend und ja, ich könnte mir weiß Gott was Besseres vorstellen, aber… ich sehe eigentlich auch nichts Negatives daran. Ich meine, die ganze Nacht, mit Shinya alleine in einem verlassenen Aufnahmestudio… Klar, es gibt durchaus romantischere Orte. Aber auch mal davon abgesehen, dass ich bei Shinya immer weiche Knie kriege, wirklich Sorgen machen würde ich mir nur, wenn ich mit Die hier wäre. Warum macht Shinya also so ein Gesicht? „Hey…“, sage ich und setze mich neben ihn. „Das ist doch keine Katastrophe! Oder was passt dir an der Sache nicht?“ Shinya schaut mich schief an und zuckt dann die Schultern. „Ach, keine Ahnung… Aber ich… Ich bin müde, ich will nach Hause, mir ist kalt… Und… Heute Abend läuft der nächste Teil von meiner Lieblingsanimeserie und den verpass ich jetzt!“ Ich muss gegen meinen Willen grinsen. „Das wird sicher mal wiederholt“, sage ich tröstend aber Shinya antwortet mir nicht. Nachdem er eine Weile finster auf den Boden gestarrt hat, fängt er aus heiterem Himmel an zu lachen. „Wie blöd kann man eigentlich sein, sich im Proberaum einschließen zu lassen…!“, murmelt er kopfschüttelnd und ich muss ehrlich sagen, ich habe keine Ahnung. Er holt tief Luft. „Und? Was machen wir jetzt bis morgen?“ Ich zucke die Schultern. Was kann man in einem Proberaum ohne Band schon groß anstellen? Ich schaue auf meine Hände und tue so, als würde ich nachdenken. Ich wüsste einiges, was ich gerne mit Shinya tun würde, aber das ist leider, leider völlig unmöglich. Und vor allem nicht ganz jugendfrei. „Sag mal…“, höre ich Shinya sagen, „warum hast du dich eigentlich vorhin für mich eingesetzt?“ Ach du scheiße, war das so auffällig?! Ich muss echt lernen, meine Klappe zu halten. So ein loses Mundwerk bringt nichts als Ärger!!! „Äh… weil…“, stottere ich und spiele nervös an meinen Finger herum. „Das hättest du nicht machen müssen…“, fährt Shinya fort. „Aber du… Du spielst wirklich gut“, entgegne ich. „Oft spielst du mit viel mehr Hingabe als unser lieber Kaoru. Und außerdem mag ich es nicht, wenn er dich kritisiert.“ Shinya schaut mich verwundert an. „Wieso? Er hatte doch Recht.“ Mir doch egal, ob der Recht hat! „Ja, aber…“ Ich unterbreche mich. Ich kann ihm unmöglich sagen, dass ich das nicht mag, weil ich ihn für so gut wie perfekt halte. „Na ja, ist auch egal“, meint Shinya, als er sieht, dass ich selbst keine Ahnung habe. Wieder entsteht eine kurze Pause, dann schaut Shinya mich plötzlich mit leuchtenden Augen an. „Bitte… Spielst du noch mal den einen Song? Oder schreib die Noten auf, nur damit du das nicht vergisst!“ Man, der lässt auch echt nicht locker! „Shinya, ich hab doch schon gesagt, dass…“ „Ach Toshi, biiiitte!“ Das ist unfair!!! Kann man diesem Blick, diesem Kerl irgendwas abschlagen?! Nein, und ich schon gar nicht! Das ist ja schlimmer als Erpressung… Ich will das gar nicht aufschreiben, ich meine, der Song war nicht mal wirklich ein fertiges Lied, nur ein paar dahin gespielte Töne mit einer zweitklassigen Melodie. „Ich weiß nicht…“ „Dann spiel es aber noch mal. Ja?“ Er lächelt verschmitzt und ich würde mich am liebsten selbst ohrfeigen. Dafür, dass ich ihm so verfallen bin, dass ich so abhängig von ihm bin… Irgendwie schafft er es gerade, meinen Willen zu steuern und weiß nicht, ob ich damit so einverstanden bin. Lass. Das. Gefälligst! Widerwillig packe ich meinen Bass wieder aus, überlege kurz. Einen Großteil davon weiß ich gar nicht mehr. So gewinnt der Song hier und da einen dazu, an anderen Stellen lasse ich welche weg. Das Ergebnis aber scheint Shinya nicht minder zu beeindrucken. Er seufzt leise, als ich mein Instrument wieder zu Seite lege. „Kann ich dich was fragen?“, fragt er vorsichtig und ich nicke. „An was hast du vorhin gedacht?“, fährt er fort. „Als ich rein gekommen bin. Als du das sozusagen komponiert hast.“ Ist das extra? Hallo, ich bin nicht scharf darauf eine Olympiamedaille für Fettnäpfchenweitsprung zu kassieren! Soll ich sagen, ich hab an dich gedacht? Und war traurig, weil du meine Liebe nicht erwiderst? Haha, sehr witzig. „Na ja, ich… Ich dachte an jemanden, den ich sehr liebe…“, sage ich vorsichtig und vermeide es dabei ihn anzusehen. Ich glaube, mein Blick würde für sich sprechen. „Aber er… also ich glaube, dass er diese Liebe nicht erwidert…“, füge ich noch hinzu, dann beschließe ich, besser meinen Mund zu halten. Und? Was erwarte ich, Anteilnahme? Trost? Aufmunternde Worte? Jedenfalls nicht das, was kommt. „Oh“, sagt Shinya trocken. Mehr nicht. Irgendwie klingt es enttäuscht, aber was hat er denn gehofft, zu hören? Ja wohl was anderes. Und wieso hab ich das überhaupt gesagt? Ich hätte sagen sollen, ich hab an irgendeinen Scheiß gedacht, meinetwegen an Gummibärchen. Alles, bloß nicht die Wahrheit. „Vielleicht… tut er es ja doch…“, murmelt Shinya jetzt vor sich hin. „Was?“, frage ich aber Shinya ignoriert die Frage. Er bleibt einen Moment lang wie versteinert, dann schüttelt er den Kopf, so als wolle er einen lästigen Gedanken verscheuchen. „Nichts“, sagt er schnell, aber für nichts war es doch schon zu laut gemurmelt. Aber wenn er meint… Wir bleiben auf dem Podest sitzen, beobachten, wie es draußen immer dunkler wird und reden über irgendwelche belanglosen Themen. Eigentlich ist es hier richtig gemütlich… Die Lampe wirft ein leicht dämmriges Licht, die Instrumente stehen herum… Zwar etwas kalt, aber das ist auch schon das größte Problem. „Was ist das?“, fragt Shinya plötzlich, steht auf und geht zum Fenster. Das leichte Klopfen, das vor ein paar Minuten eingesetzt hat, scheint er gar nicht bemerkt zu haben. „Regen“, sage ich. „Hört man hier unten ganz schön laut, nicht?“ Shinya nickt, dann nimmt er seine Jacke von der Stuhllehne und zieht sie sich über. „Ist dir nicht kalt?“, fragt er und mustert mich leicht besorgt. Ich trage nur ein T-Shirt und er hat schon Recht, hier unten ist es mittlerweile ziemlich kalt. Aber das macht mir eigentlich nichts aus. „Geht, aber dir ist kalt, hm?“, frage ich. Shinya reibt sich mit den Händen langsam über die Arme und schaut verträumt aus dem Fenster. Ich werfe ihm meine Jacke zu. „Kannst du gerne noch drüber ziehen“, schlage ich vor. „Zieh du sieh doch an“, meint er und wirft sie mir zurück. „Du frierst doch auch.“ „Das macht nichts“, sage ich, stehe auf und drücke ihm die Jacke wieder in die Hand. „Jetzt zieh sie halt an!“ Shinya schüttelt den Kopf. „Nein, geht schon“, sagt er und schon wechselt meine Jacke erneut den Besitzer. Hab ich dir vielleicht erlaubt, mir zu widersprechen?! „Ich seh doch, dass dir kalt ist“, sage ich. Shinya schüttelt den Kopf, dann grinst er mich an und kommt etwas näher an mich heran, streicht mit dem Zeigefinger langsam meinen Arm entlang. „Dir ist kalt!“, stellt er fest, „Du hast schon ’ne Gänsehaut!“ Na das liegt sicher nicht an der Kälte… „Ähm, egal“, weiche ich aus. „Das macht mir nichts.“ Shinya lacht leise, dann setzt er sich, mit dem Rücken an das Podest gelehnt, auf den Boden, klopft auf den Platz neben sich. „OK“, meint er. „Machen wir Halbe-Halbe!“ Hä? Willst du meine Jacke zerschneiden oder was? „Und wie stellst du dir das vor?“ Ich setze mich wie aufgefordert neben ihn und sofort rutscht er noch näher zu mir, so nah wie möglich. Ich fühle, wie mir sofort sämtliches Blut, das sich in meinem Körper befindet, in den Kopf schießt. Mir wird heiß. Was soll das denn für eine Aktion werden?! Hilfe… Shinya ist inzwischen mit einem Arm in einen Ärmel meiner Jacke geschlüpft und fordert mich jetzt auf, die andere Seite anzuziehen. Dummerweise ist meine Jacke nur für eine Person gemacht und reicht nicht ganz um uns beide herum. „Das geht nicht“, ich ziehe an meiner Jackenseite und das ganze artet darin aus, dass wir beide kichernd das Gleichgewicht verlieren und zur Seite hin umkippen, Shinya landet etwa zur Hälfte auf mir drauf. Als wir endlich aufhören zu lachen, macht Shinya keine Anstalten, aufzustehen, sondern richtet sich nur etwas auf und schaut auf mich herunter. Oh Gott, dieser Blick… Dagegen bin ich nicht immun… „Ähm… kannst du mal… von mir runter gehen?“, frage ich mit kratziger Stimme und Shinya stammelt nur irgendwas von „Ja klar“ und lehnt sich wieder gegen das Podest. „Tut mir Leid“, murmelt er, als mich neben ihn setze. Ich habe meine Jacke jetzt übrigens ganz an. „Wieso, was denn?“, frage ich verwirrt. „Na das eben…“ Ich versteh nicht ganz was er meint. „Schon gut“, sage ich, immerhin ist wirklich nichts passiert, wofür er sich hätte entschuldigen müssen. Er fummelt eine Weile nachdenklich an den Knöpfen seines Blazers herum, ehe er sich plötzlich wieder zu mir umdreht. „Du, ähm… Toshi?“ „Hmhm?“ „Ich… Ich find es zwar wirklich nicht grad toll, in einem Studio festzusitzen… Aber es gäbe niemanden, mit dem ich lieber hier wäre.“ Bitte?! „Was…“, stammele ich, unfähig die genaue Bedeutung dieser Wörter zu begreifen. Ich hoffe doch mal sehr, dass niemand erwartet, dass ich das jetzt verstehe. Shinya lächelt mich an, fährt sich kurz durch das glatte Haar. „Überrascht dich das?“ Na ja, um es mal so zu sagen… JA?! „Schon… etwas“, murmele ich vor mich hin. „Aber… ich find’s auch schön, dass du hier bist und nicht… jemand anderes.“ So. Können wir bitte das Thema wechseln? Können wir nicht über was Interessanteres reden, Fortpflanzung von Einzellern vielleicht? Shinya lächelt immer noch, wirkt irgendwie abwesend. „Sag mal…“, höre ich ihn wie von weit entfernt her sagen. „Hast du schon mal daran gedacht…“ Er hebt den Kopf und fängt meinen Blick auf. „Dass die Person für die das Lied war… Dasselbe empfinden könnte?“ Was geht denn jetzt ab? Hilfe, ich will hier weg… Weiß er dass ich ihn gemeint hab? Wenn ja, woher?? Anscheinend kann ich Gefühle ganz schlecht verstecken… Sollte mal einen Crashkurs bei Kyo machen. Der sieht immer aus, als wolle er einen umbringen, wenn man mal eine andere Meinung haben sollte. Auch wenn er so nicht ist, man sieht ihm seine Gefühle nie an. Shinyas Blick brennt in meinen Augen und ich muss blinzeln, aber ich kann auch nicht mehr wegsehen. „Ich hab es gehofft…“, flüstere ich. „Aber ich hab es nie… für möglich gehalten.“ „Da siehst du mal…“, entgegnet Shinya und streicht mit einem Finger über meine Lippen. Ich zucke zusammen und ziehe scharf die Luft ein, auch Shinyas Stimme ist etwas zittrig. „W… Woher weißt du es?“, frage ich endlich. Shinya rückt noch ein Stück näher an mich, legt seine Hand auf meine und sieht mir dabei tief in die Augen. „Du hast gesagt, du spielst es nur für mich…“ Seine Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen, ich kann seinen Atem auf meiner Haut spüren. Ich glaube, noch nie war ich jemandem so nah und gleichzeitig so fern, wie Shinya in diesem Augenblick. „Und das hast du doch“, fragt er im Flüsterton. „Oder nicht?“ Ich nicke leicht und als ich den Kopf hebe, bin ich plötzlich mit meinem Gesicht ganz nah an seinem. Etwas ungeschickt lege ich einen Arm um ihn, fahre mit der Hand durch sein weiches Haar und verweile dann in seinem Nacken. „Ist es…“, stottere ich, „also, willst du…“ Er nickt. Ich ziehe Shinya an mich und im nächsten Moment setzt mein Verstand vollends aus, mein Herz beginnt schneller zu schlagen und heiße Schauer durchrieseln mich. Meine Lippen verschmelzen mit Shinyas, seine Zunge spielt zärtlich mit meiner und in meinem Innern scheint eine Explosion nach der anderen stattzufinden. Der Kuss scheint ewig zu dauern, aber nach dieser Ewigkeit lösen wir uns wieder auseinander, meine Lungen schreien nach Luft. Schwer atmend schaue ich Shinya an, er hat die Augen noch geschlossen, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. „Da siehst du mal, wie man sich irren kann“, sagt Shinya, als er die Augen öffnet und ich erwidere das Lächeln. Er kuschelt sich mit dem Kopf an meine Schulter, ich lege einen Arm um ihn und er tastet sich wieder in meine Hand. „Kaoru wird das gar nicht gefallen“, sagt er nach einer Weile. „Na und?“, entgegne ich. „Der soll sich mal nicht anstellen.“ Shinya grinst mich an. „Ach, auf einmal?“ Bitte was? „Was, wieso auf einmal?“, frage ich empört, während Shinya am Reißverschluss meiner Jacke herumspielt. „Na ja, du hattest doch immer Bedenken… So wegen Beziehungen innerhalb der Band…“ „Woher weißt du das?“ „Idiot“, sagt Shinya lachend. „Das hast du mir mal erzählt!“ Na toll. Damals war ich aber auf keinen Fall schon in ihn verliebt, ich wär ja lebensmüde, ihm das sonst zu erzählen! „Aha“, murmele ich. „Aber es ist mir trotzdem egal.“ „Mir auch“, Shinya lacht immer noch. „Aber vielleicht… Sagen wir es ihm erst… Wenn die Tour vorbei ist?“ Ich nicke. Wer weiß, ob der Sklaventreiber sonst nicht auch noch zum kaltblütigen Killer mutiert. Obwohl… Wir wollen unserem Lieblingsleader ja nichts unterstellen. Shinya befreit sich aus meiner Umarmung und kniet sich vor mich, immer noch grinsend. „Wie wärs, wenn wir das von eben noch mal wiederholen?“, meint er keck und ich kann mich nur wundern. Diese Seite von Shinya kenne ich nicht, normalerweise ist er viel schüchterner. Aber von mir denken auch immer alle ich sei gefühllos und nur auf mich selbst fixiert. In Wirklichkeit bin ich sensibel und, wie inzwischen auch deutlich sein sollte, furchtbar schüchtern. „Gerne“, antworte ich und streichele ihm zärtlich übers Gesicht, „also worauf wartest du noch…?“ ~ Als ich aufwache, scheint die Sonne durch das kleine Fenster in den Proberaum. Shinya liegt neben mir, hat sich seine Jacke wie eine Decke bis ans Gesicht gezogen und schläft. Wie lang wir gestern noch auf waren, kann ich nicht sagen, aber es war wohl etwas später. Die hat sich natürlich nicht mehr gemeldet und anscheinend ist auch Kaoru und Kyo nicht aufgefallen, dass wir nicht da sind. Tolle Kollegen. Die würden doch nicht mal mitkriegen, wenn einer von uns in ihrer Anwesenheit von einem Kreischie entführt werden würde. Ich berühre Shinya leicht am Arm. „Hey“, sage ich. „So langsam solltest du wach werden.“ Shinya gähnt und schaut mich dann etwas irritiert an. Dann scheint er sich zu erinnern, wo wir sind. „Oh man…“, stöhnt er, steht auf und fasst sich an den Nacken. „Was für eine Nacht…“ Er verzieht das Gesicht. „Dieser Scheißboden, mir tut alles weh!“ „So hart ist der Boden nun auch wieder nicht“, sage ich. Shinya lacht gekünstelt. „Haha, du hast mich ja auch die ganze Nacht als Kopfkissen benutzt!“ „Hattest du was dagegen…?“, frage ich unschuldig. Shinya setzt sich wieder neben mich. „Nein“, sagt er. „Aber wenn wir zu Hause sind, kannst du mich erstmal zwei Stunden lang massieren.“ „Aber gerne“, lache ich, dann beugt Shinya sich etwas vor und wir küssen uns. Plötzlich zuckt er zusammen. In meiner Jackentasche vibriert irgendwas. Ich springe auf und suche in der Tasche herum, bis ich endlich die Vibrationsquelle finde: Mein Handy. Und es klingelt. Ein Wunder, dass es die Nacht über durchgehalten hat. „Hallo??“ „Hey, Die hier. Man, wo steckst du denn?“ „Im Studio…“ Vom anderen Ende dröhnt lautes Gelächter. „Im Studio? Scheiße, warum?“ „Ist doch egal“, sage ich. „Könnt ihr uns hier rausholen? Shinya ist auch hier.“ „Ihr seid ja bescheuert!“, johlt Die, dann verspricht er vorbeizukommen, sobald das Frühstück fertig ist. Dann legt er auf. „Er kommt gleich“, sage ich zu Shinya. Dieser lächelt dankbar. „Na endlich“, murmelt er. „Lass uns mal nach oben gehen“, schlägt er vor und wir gehen nach oben und warten im Korridor auf die anderen. Ich merke, dass Shinya extra auf körperlicher Distanz bleibt, damit auch ja niemand was mitbekommt. Wow, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich längst mal mit Shinya hier einschließen lassen. Vielleicht hat er Recht und ich schreib diese Melodie von vorhin doch mal auf. Ein paar Mal hab ich das schon gemacht und bis jetzt ist jedes Mal ein ganz cooler Song dabei raus gekommen. Das überleg ich mir noch mal in Ruhe irgendwann. Anders als erwartet müssen wir wirklich nicht lange auf Die warten. Er sieht uns von weitem und grinst heftig, als er uns die Tür aufschließt. Aufatmend laufen wir nach draußen. „Das ist echt endgeil“, sagt Die lachend. „Im Studio eingeschlossen! Ihr wusstet doch, das der Hausmeister abschließen würde!“ „Ist doch kein Weltuntergang“, erwidere ich. „So schlimm war’s nicht.“ „So? Was habt ihr gemacht, damit euch nicht kalt wurde da unten? Ne schnelle Nummer geschoben?“ Die prustet wieder los. „Nicht direkt“, sagt Shinya und lächelt unauffällig zu mir rüber. Ich schmelze dahin. „Auch egal“, fährt Die fort, der sich inzwischen wieder einigermaßen eingekriegt hat. „Sorry übrigens, dass ich dich gestern nicht verstanden hab“, sagt er. „Wir waren was trinken und haben uns gedacht, ihr seid einfach nach Hause gefahren.“ „Macht nichts…“ Ich mache eine abwehrende Handbewegung. „Spätestens wenn ihr unsere Leichen gefunden hättet, hättet ihr euch schon erinnert.“ Die zuckt mit den Schultern. „Ich will jetzt nach Hause“, sagt er. „Also lasst uns nicht weiter hier rum stehen.“ Er dreht sich um und geht Richtung Parkplatz. Shinya und ich gehen langsam hinterher. Ich kann es irgendwie kaum glauben. Gestern noch war ich zutiefst depressiv wegen Shinya, heute sind wir… zusammen? Und alles nur wegen einer meiner abstrakten Kompositionen. Ich werde es Kaoru mal vorspielen, dann kann Kyo einen Text dazu schreiben und wir haben einen neuen Superhit. Oder wenigstens etwas, dass wir vielleicht mal auf eine Single packen können. Als wir ins Auto steigen, fühle ich mich leicht betäubt. Es ist wirklich erstaunlich, was alles passieren kann, in so einer Nacht in Tokyo. The End Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)