The Saga of Myst von Midknight ================================================================================ Kapitel 1: Das Buch ------------------- Es war ein grauer Novembertag und Regen prasselte gegen die Scheiben des Busses. Wolfgang, der Busfahrer, ein älterer Herr mit schütterem Haar und Knopfaugen, steuerte sein Gefährt soeben zur Niersteiner Haltestelle, die sich direckt vor der örtlichen Realschule befand. Wolfgang war nun schon den ganzen Morgen entlang im Dienst gewesen und konnte es nun kaum noch erwarten, endlich Mittag zu haben. Der Wagen hielt und die Türen öffneten. Etwas abwesend beobachtete der alte Busfahrer, wie einige Fahrgäste schnatternd ausstiegen und eine kleine Traube an neuen Gästen an seinem Sitz vorbei in den Bus schlenderten. Darunter war zu seiner Überraschung auch ein junges Mädchen. Sie war ihm schon oft bei früheren Fahrten aufgefallen mit diesen traurigen, blauen Augen, die unter dem Pony ihres goldenen Haares hervorlugten, mit diesem fragenden Blick, der nicht von dieser Welt zu stammen schien. Wolfgangs Überraschung über ihre Anwesenheit war damit zu begründen, dass diese noch gar nicht dran war. Es dürfte nun gerade die 2. oder 3. Stunde in der Schule rum sein. Ein Zeitpunkt, zu dem dieses Mädchen eigentlich über ihren Schulbüchern brüten müsste. Auch das bisschen Rötung um ihre Augen und das leichte Zittern in ihrer nun erklingenden, tiefen Stimme bewieß ihm, dass etwas nicht stimmte. "Einmal-nach Oppenheim...bitte...", stammelte sie halblaut und legte einige Münzen auf das kleine Tischchen an Wolfgangs rechter Seite. "Spar dir das....", brummte er als Antwort und drückte ihr das Geld wieder in die Hand zurück, "Na los! Rein mit dir!" "Ich-danke..." Das Mädchen ging nun wie auch die anderern Gäste in den Passagierteil des Busses. Wolfgang beobachtete, wie sie sich auf den vordersten Platz des Busses setzte und einen scheuen Blick durch das Fenster zu ihrer Rechten warf. Die Türen schlossen sich und Wolfgang setzte die Fahrt fort. "Is etwas passiert?", erkundigte er sich nun und beobachtete das Mädchen durch den Rückspiegel, "Scheinst ja total durchn Wind" "Ich...." Sie zögerte kurz. Dann seuftzte sie schwer. "Ich habs einfach nich mehr ausgehalten. Dieses Getrietze, dieses Geläster...und so etwas habe ich einmal Freunde genannt...." Sie biss sich auf die Unterlippe. Offensichtlich eine Eigenart, denn die Lippe war bereits reichlich zerbissen. "Trietzen? Lästern? Du gehörst wohl zu dieser Sorte Menschen, die als Aussenseiter makiert werden, was?" "Ja...dabei läuft es im Moment so gut. Sie sondern sich zwar nach wie vor so gut sie können ab, aber sie haben aufgehört, mich zu mobben.....zumindest die in meiner Klasse...." Wolfgang runzelte die Stirn. "Und warum bläst du dann Trübsal?" "Ich habe Niemanden. Die, die sich einst meine Freunde schimpften, entpuppen sich nun als treulos." "Warum? Was tun sie denn?", fragte Wolfgang weiter. "Sie erzählen solche Dinge über mich, verbreiten überall Lügen über mich. Zerreißen sich das Maul vor Geläster. Ich habe kaum noch die Möglichkeit, Gleichaltrige zu finden, der mit mir eine Freundschaft schließt und mich versteht." "Kann ich mir nich vorstelln. Du wirst doch wohl noch irgendwelche Leute ham! Kumpels.....oder Familie....oder so." "Nein! Meine Familie hat ihre eigenen Sorgen und damit kaum Zeit für mich...hier und da habe ich zwar noch bekannte, doch mit denen verkehre ich haubtsächlich nur Schriftlich." Sie fuhr sich über die Augen. "Und jetzt haben sie mir noch die genommen, die mir am aller Wichtigsten war, diese...." Ihr versagte die Stimme und man konnte nur noch durch die durch ihre Verzweiflung verkrampften Hände erkennen, wie der Satz geendet hätte. "Das ist schlimm....", meinte Wolfgang mitfühlend. Dann schwieg er für eine ganze Weile, da ihm keine weiteren Worte einfielen, welche in diesem Moment gepasst hätten. Er lenkte den Bus durch einen Tunnel auf die Haubtstraße. "Bist du jetzt einfach abgehauen?", fragte er nach einer Weile und hob die Brauen. "Ja. Ich hab´s nicht mehr ausgehalten." Sie senkte betrübt den Kopf. "Ich kann....einfach nicht mehr..." "Hey! Das wird schon wieder! Die können doch unmöglich die gesamte Welt gegen dich aufgehetzt haben." Wolfgang versuchte verzweifelt sie irgendwie zu trösten, doch es half wenig. "Ich kann nich mehr.....", murmelte sie nur immer wieder, völlig verstört und enttäuscht von ihren vermeintlichen Freunden. Wolfgang seuftzte schwer. Er hätte dem Mädchen zu gerne irgendwie geholfen, doch er wusste nicht wie. Er konnte nur hoffen, dass sie bald wieder auf die Beine kommen würde. Der Bus hielt später am Oppenheimer Bahnhof und das Mädchen verließ mit einem leisen "Tschüs, Wolfgang." den Bus. Ihr Kopf war gesnkt, ihr Blick glücklos und leer, wie so oft damals, als sie noch das schüchterne, kleine Ding war. Diese Zeiten waren lange rum und sie nun von niemandem mehr abhängig, brauchte keinen mehr, der für sie bestimmte und sie dann doch nur verstieß, ausnutzte und betrog. Doch sie sehnte sich nun noch mehr als damals nach jemanden, der an ihrer Seite blieb, der ihr stets glaubte, ihr zur Seite stand und sie schützte. Aber eine solche Person hatte es nie in ihrem Leben gegeben. Der Wunsch nach jemandem, der sie akzeptierte, so wie sie war schnürte sich wie eine schwere Kette um ihr Herz. Sie schlürfte in Richtung Bahnsteig, da sie noch keine Lust dazu hatte, nach hause zu gehn, wo nun doch niemand auf sie wartete. Die Mutter war mit ihrem schwer kranken Bruder erneut in die Klinik gegangen und ihr älterer Bruder Jonny ebenso, da ihre Mutter sich genauso gut ausserhalb des Hauses zurechtfand, wie ein Kompass auf dem Norpol. Eilig hechtete sie nun über die Überführung, die die beiden Gleise miteinander verband, denn schon wurde der Zug nach Mainz angekündigt. Schnaufend kam das Mädchen gleichzeitig mit dem eintreffenden Zug an Gleis 3 an. Hastig stieg sie ein und setzte sich auf einen freien Platz. Ihr gegenüber und neben ihr saß niemand. Der Zug fuhr an und begann seinen Weg bis zu der Endhaltestelle Mainz Haubtbahnhof. Eine ganze Weile sah das Mädchen abwesend aus dem Fenster, bis sie plötzlich, der Zug hatten Nierstein und Nackenheim bereits hinter sich gelassen, ein Fiepen und Klopfen aus den Gedanken riss. Sie sah verblüfft zu dem kleinen geschlossenen Mülleimer vor ihr, der unter dem Fenster aufgehängt war. Das Geräusch schien von dort zu kommen. Es klang fast wie ein Hilferuf. Das Mädchen zögerte für einen Moment. Doch dann siegte ihre Neugierde über ihre Vorsicht. Langsam öffnete sie den Deckel des Eimers – und sie hätte nicht überraschter gucken können, denn sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Augen trauen konnte, oder ob diese ihr einen Streich spielten. In dem Eimer saß ein kleines Männchen, das mit etwas Klebrigen rang, wohl einem Kaugummi, in dem es sich verfangen hatte. Sie zuckte zurück. Das Männchen ebenfalls, als es das Mädchen bemerkte. „Ein Homunkulus!“, stieß sie hervor, „Hätte nie…gedacht, dass ich je einen sehen würde!“ Und die Überraschung in ihrem Gesicht wandelte sich zu Begeisterung, während die des Homunkulus zu einem verängstigten Blick wurde. „Oh Graus! So ein Mist! Warum muss nur immer mir so etwas passiere?!“, jammerte der kleine und rang verzweifelt mit dem Kaugummi, um endlich frei zu kommen. Dann hielt er abrupt inne. „Sekunde! Wie kann ein Menschenkind wissen, was ich bin? Und wieso habe ich mich nicht aufgelöst?“, fragte er sich nun verdutzt. „Vielleicht weil ich an so etwas glaube?“, beantwortete das Mädchen seine Frage. Der Kleine zuckte bei ihrer Stimme verschreckt zusammen, als hätte er ihre Anwesenheit für einen Moment vergessen. „Aber wie – was? Wie kann das sein?“, stammelte er. „Das ist unmöglich! Die Menschen glauben doch seit über zwei Jahrhunderten nicht mehr an unser Eins.“ „Dann bin ich wohl der lebende Beweis für das Gegenteil.“, meinte das Mädchen und zum ersten Mal an diesem Tag huschte ein Lächeln über ihre Lippen. „So, und jetzt hol dich erstmal da raus.“ Vorsichtig zog das Mädchen den kleinen Mann aus dem Mülleimer und befreite ihn von dem klebrigen Ding. Nun hatte sie auch die Möglichkeit, ihn näher zu betrachten. Der Homunkulus war so klein, dass er in ihre hole Hand passte. Die spindeldürren Glieder steckten in einem schwarzen Frack und einer Nadelstreifenhose. Das Einzig farbige an ihm waren die roten Augen und die knallroten Haare, welche in alle Richtungen abstanden. „Dürfte ich nun erfahren, mit wem ich das Vergnügen habe?“, fragte der Kleine nun und sah neugierig zu ihr auf. Sie setzte ihn sich auf die Hand. „Klar darfst du! Mein Name ist Anna.“ Sie lächelte. „Und wie heißt du?“ „Fliegenbein. Steht`s zu euren Diensten.“, sagte der Homunkulus und machte eine keine Verbeugung. Anna kicherte. „Am Besten kommst du mit mir mit. Hier bleiben kannst du ja wohl kaum.“, meinte sie dann. „Gut.“ Fliegenbein kletterte leichtfüßig an ihrem Arm hoch und machte es sich auf ihrer Schulter bequem. Der Zug war nun fast an seinem Ziel. „Wohin wollen wir eigentlich?“, erkundigte sich Fliegenbein. „In die Bibliothek in Mainz.“, erklärte Anna. „Aha.“ Fliegenbein schien erfreut. Anna konnte es ihm nicht verübeln. Sie liebte Bücher über alles, denn sie bedeuteten für sie Fantasie; eine Welt, in die man sich in schlechten Tagen zurückziehen konnte. Eben das, was sie jetzt so sehr brauchte. Wenig später hielten sie am Mainzer Haubtbahnhof. Anna war seelig, dass während der Fahrt kein Schaffner erschienen war. Es hätte nur noch mehr Probleme gegeben. Sie erklomm nun die Stufen, die vom Bahnsteig zum Zentrum des für Annas Maßstab recht großen Bahnhofes führten. Von dort verließ sie ihn in Richtung Bonifaziusstraße. Fliegenbein hatte sich inzwischen im Kragen ihrer Jacke verschanzt, um nicht von vorbeigehenden Passanten entdeckt zu werden und lugte zwischen dem blonden Haarschleier hindurch. Nach einer kleinen Weile ereichten sie endlich die riesige Mainzer Stadtbibliothek. Für viele war es nur ein einfaches öffentliches Gebäude, für Anna jedoch ein Schloss, welches ihr, wie schon so oft, Schutz und Beistand gewähren würde. Langsam schritt sie durch die große Glastür des Gebäudes und schon stieg ihr jener vertraute Geruch in die Nase. Der Geruch von beschriebenen Seiten; von älteren und von frisch gedruckten Büchern. Sie liebte diesen Geruch. Er hatte etwas warmes und friedliches an sich. Anna schritt nun durch die wie Wände erscheinenden Regalreihen, welche bis zur letzten Lücke mit Büchern voll gestopft waren. Ein schöner Anblick. Eine ganze Weile schritt sie durch die Bücherwalle, hielt hier und da und überflog Bücher, die ihr Interesse erweckten. Manche klemmte sie sich unter den Arm, da sie diese ausleihen wollte. Schließlich blieb sie aprubt vor einem einzelnen Buch stehen, das geschlossen auf einer hüpsch verzierten Komode lag. Es schien ein bereits älteres Exemplar zu sein. Die Seiten waren vom Alter vergilbt und etwas zerflettert. Genauso wie der moosgrüne, etwas verbleichte Umschlag, der sie umhüllte. Myst stand in großen, goldenen Lettern darauf. Anna nahm das Buch hoch. ‚Nicht zum Verleih oder Verkauf gedacht ’, lautete es schwarz auf weiß auf einem kleinen Aufkleber, der auf den hinteren Deckel gepinnt worden war. Enttäuscht sah sie auf den Aufkleber. Dieses Buch war etwas besonderes. Das spürte sie, und während sie leicht abwesend das grüne Buch in ihren Händen wiegte, wurde ihr immer klarer, dass sie ohne dieses Buch unmöglich weg konnte. Das sie nur des Buches wegen hier war und dieses nur auf ihre Hände gewartet hatte – und ehe sie sich versah, war das Buch auch schon in ihrem Schulranzen verschwunden. Zum Glück hatte sie niemand gesehen. Nun tat sie so als wäre nichts geschehen, ging zu dem Tresen am Eingang, hinter dem ein junger Bibliothekar saß, um die anderen Bücher, für die sie sich entschieden hatte auszuleihen. Im Anschluss verließ sie die Bibliothek. Erst als sie draußen war, begann sie zu rennen. Ihr war klar, dass sie gestohlen hatte, doch sie konnte nicht zurück. Erst als sie wieder den Bahnhof erreichte, verlangsamten sich ihre Schritte, bis sie schließlich ganz stehen blieb. „Du meine Güte!“, rief Fliegenbein aus, „ich kann ehrlich gesagt nicht behaupten, dass das gut war.“ „Ich weiß“, seufzte Anna, „aber es ging einfach nicht anders.“ Sie ging gemächlich weiter in Richtung Bahnsteig. Dabei zog sie das Buch hervor und musterte es eingehend. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass von ihm ein magischer Sog ausging, der sie versuchte in die mit Geschichten beschriebenen Seiten hinein zu ziehen. Sie strich über die Buchstaben auf dem Deckel und seuftze. Als Anna etwa eine halbe Stunde später ihr Zuhause betrat, war noch immer niemand dort und es herrschte eine bedrückende Stille. Anna schloss die Haustür hinter sich und pfefferte geistesabwesend ihren Ranzen in die nächste Ecke nachdem sie ihre neu erworbenen Bücher daraus entnommen hatte. Dann ging sie die Treppe hoch ins Wohnzimmer und setzte sich auf eine Couch. Sogar die Schuhe hatte sie vergessen, aus zu ziehen, so vertieft war sie darin das Buch "Myst" zu bestrachten. Nun würde sie endlich die Mögllichkeit haben, es auf zu schlagen und zu lesen. Sie war nun sehr gespannt, was sie in diesem Buch erwartete. Fliegenbein schien diese Spannung mit ihr zu teilen. Nun überkam es Anna wie ein feierlicher Moment. Sie machte es sich auf der Couch bequem, strich langsam über den Buchrücken und schlug dann die erste Seite auf. Nun brauchte sie eine ganze Weile, um das zu verdauen, was sie da sah, denn es war einfach unglaublich. Auf der ersten Seite stand nichts, doch auf der zweiten war ein Bild zu sehen. Ein Bild, das eine sonderbare Instel zeigte, mit einem Laubwald umzogenen, tempelartigen Gebäude. Ein weiteres Bauwerk thronte auf einem Hügel und an einem Anlegesteg am südlichen Ufer der Insel lag in kleines Segelboot vor Anker. Das wäre ja nicht weiter seltsam gewesen. Ein Bild wie jedes andere auch. Doch dem war nicht so, denn dieses Bild bewegte sich. Es machte immer und immer wieder einen Schlenker um die Insel. Eine ganz Weile sagte Anna kein Wort. Sie starrte nur mit geweiteten Augen das sich bewegende Bild an. Dann, ganz langsam, streckte sie die Hand aus um es zu berühren, so, als wolle sie sich davon überzeugen, dass sie nicht träumte. Sachte legte sie die Hand auf die Seite und im selben Moment spürte sie plötzlich um sich herum eine Art starken Sog, welcher vom Buch auszugehen schien. Der Raum um sie wurde von einem schwarzen Nebel verschluckt. Da signalisierte sie erst, dass sie schwebte. Schon immer hatte sie Angst vorm fliegen gehabt. Allein schon wegen der Höhe. Doch nun, wo sie langsam rotierend im Bodenlosen schwebte und ein sanfter Windhauch durch ihr Haar strich, verspührte sie jenes nie gekannte Gefühl, nach welchem sie sich so gesehnt hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich endlich Frei. All die Probleme, die Verzweiflung und Trauer, sie schienen wie weggeblasen, als hätte diese nun aufkommende, wohltuhend kühle Briese sie einfach davongeweht. Es war der glücklichste Moment, den sie jeh verspührt hatte. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder, als wolle sie sich davon überzeugen, dass dies der Wirklichkeit entsprach. Das Gefühl verschwand nicht, wie all die Träume zuvor. Ein Lachen, wie man es noch nie von ihr gehört hatte, verließ nun ihren Mund. Ein Lachen voller Glück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)