Less than 24 days. von MadameFleurie (...ich sitz im Bunker und kann nicht raus.) ================================================================================ Kapitel 2: Kannst du spielen? ----------------------------- „Ich habe die Flaschen neben die Kiste gelegt.“ Mit einem Sprung gleite ich durch die Luke und lande neben Emily auf dem Boden. Sie sieht es nicht gern, wenn ich das mache, denn das Risiko gebrochener Knochen besteht immer. An und für sich kein Problem, aber wie schon erwähnt ist unsere medizinische Beträuung nicht die beste. Das Badezimmer, in dem wir uns befinden, ist von knapp zwei Metern Höhe, bei einer Gesamtfläche von rund sechs Quadratmetern. Darüber liegt unser Raum, der wohl eher eine Art Speicher darstellen soll. Ein schon lange in Vergessenheit geratener Speicher, nur zu erreichen über die Luke in der Badezimmerdecke. Und durch eine stehts abgeschlossene Tür im Waschraum dieses Dachbodens. Soweit ich weiß, nutzte der Hausmeister diesen Ort eins, um Dinge zu verstauen, jetzt aber ist die Tür von innen als auch außen mit einem dicken Schloss versehen. Ungenutzter, den meisten unbekannter Stauraum. „Meinst du wirklich nicht, dass wir die Flaschen schon füllen sollten?“ Emily wirft mir einen wachen Blick zu, aus diesen klaren, blauen Augen, dann verschränkt sie die Arme. Das braune Sweatshirt, welches sie trägt, ist ihr um Nummern zu groß und hängt herab wie ein nasser Sack. Es versteckt aufkeimende, weibliche Formen und lässt sie jünger erscheinen, als sie eigentlich ist. Früher einmal hat es mir gehört, aber ich gab es ihr, als sie vor rund sechs Monaten anfing, in die Höhe zu schießen. Alexander kauft ihr keine Kleidung, Gott bewahre, wenn, dann macht es Mutter. Aber die ist kaum daheim. „Joshua?“ Noch immer antworte ich nicht. Ich starre Luftlöcher, stehe in diesem klinisch reinen Badezimmer und spühre, wie der Hass hochkocht, den ich in den tiefsten Winkeln meines Herzens verstecke. Es ist der einzige Ort in dieser Wohnung, der sauber ist, der einzige Ort, an dem man ohne schlechten Gewissens vom Boden essen könnte. Emily löst die Verschränkung und schiebt die Hände in die Bauchtaschen des Sweatshirts. „Joshua, hörst du mir zu?“, fragt sie erneut und ihre Stimme wird eindringlicher. Man könnte auf den Gedanken kommen, sie sorgt sich um mich, wie ich hier stehe, verloren in Gedanken, eingeschlossen in meiner eigenen kleinen Welt. Es ist niedlich. Meine kleine Schwester und ihr ehrliches Gemüt, ihre offene, naive Art und Weise. Wie sie bei unserem familiären Hintergrund diese Naivität halten konnte, ist mir ganz und gar schleierhaft. Sie ist das absolute Gegenteil ihrer Zwillingsschwester. Ein schwaches, trauriges Lächeln huscht über mein Gesicht als ich aufsehe und den Kopf schüttele. Das schwarze Haar rutscht mir in die Augen und unsanft streiche ich es mir aus dem Gesicht, während ich den Mund öffne, ihr zu antworten. „Nein, Emily.“ Trocken und kratzig liegt meine Stimme im Raum und ich räuspere mich, hole tief Luft und schlucke. Noch immer mustert sie mich, besorgt, ängstlich. Ich liebe sie dafür, aber davon weiß sie nichts. Sagen werde ich es ihr gewiss nicht, und über kleine, liebevolle Gesten hinaus wird mein Verhalten auch niemals gehen. Es wird besser für sie sein, denn meine wahren Gefühle würden sie nur verstören. Dennoch – wie sie dort steht, die Hände tief versunken im Stoff, das lange, braune Haar über ihre Schultern hängend, der knielange Rock und die Unterröcke, die ihre Beine umspielen und einhüllen, tröstet es mich ein wenig. Ihren Kopf hat sie schiefgelegt und mit blauen Augen blickt sie scheinbar direkt in mich hinein. Es lässt mich erschaudern, so nackt fühle ich mich in solchen Momenten, doch der Anblick ist wunderschön. Er ist tragisch und unvergesslich, nahezu schrecklich, denn auch, wenn der locker sitzende Stoff eine Menge kaschiert, kann ich als liebender Bruder deutlich sehen, dass sie viel zu dünn ist. Ein Strich in der Landschaft, genau wie wir alle. Es wird keinen verwundern, wenn ich erwähne, dass Alexander natürlich gut genährt ist. Für den selbstbestimmten König nur das Beste. Denn zu dem hat er sich gemacht, ungelogen. Er ist der König, wir sind der Pöbel und Mutter - Mutter ist die Konkubine, die immer zu springen hat, wenn er es von ihr verlangt. So sieht es in seinem Kopf aus. Die Realität zeichnen ein vollkommen anderes Bild. „Wir haben keine Zeit, Emily. Wir können die Flaschen auch noch füllen, wenn wir auf dem Dachboden sind sind.“ „Und wenn wir kein Wasser mehr haben?“ Angst schleicht sich in ihren Blick und bricht ihn. Schlägt das scharfe, kluge und lebenslustige in ihren Augen mit einem Eispickel heraus. Was übrig bleibt, ist ein verängstigtes, kleines Kind, welches älter tut, als es ist. Viel zu jung ist sie, um solch einen Druck auszuhalten. „Deshalb füllen wir ja das Wasser erst in Flaschen“, antworte ich ihr beruhigend und setze ein falsches Lächeln auf. Es kommt oft genug vor in dieser gottverdammten Wohnung, dass sie uns das Wasser abstellen. Einfach so. Weil das Geld zu knapp ist oder weil Mutter und Alexander es nicht auf die Reihe bekommen haben, das Geld rechtzeitig zu überweisen. „Wir füllen erst die Flaschen, denn sie dienen uns als Reserve. Wir selbst trinken aus dem Wasserhahn. Emily, wir waren schon so oft da oben, das müsstest du doch mittlerweile wissen.“ Natürlich weiß sie bescheid. Der Ablauf der Dinge ist ihr genauso bekannt wie mir. Aber sie braucht die Bestätigung, den Seelenfrieden, der eintritt, wenn jemand nickt und versichert, dass alles in bester Ordnung ist. Sie braucht jemanden, der ihr als Ansprechpartner und Beschützer gilt. Für diesen Zweck sind in der Regel Eltern gedacht, ich bin lediglich ihr Bruder. Und Mary hat mit Lucy schon genug am Hals. Es ist schon eine merkwürdige Welt in der wir leben, eine Welt, in der wir gehasst werden, weil wir am Leben sind. Verrückt ist eigentlich aber nur die Tatsache, dass all die seelische Pein, die ich zur Zeit durchlaufe, noch Anstoß in meinem Gemüt erregt. In naher Zukunft wird das nicht mehr so sein. In den nächsten Wochen wird mein Ich eine Metamorphose durchlaufen, die sich gewaschen haben wird. Niemand wird mich mehr wiedererkennen, geschweige denn, auf freundschaftlicher Basis etwas mit mir zu tun haben wollen. Normale Menschen gewiss nicht. Ein leises Seufzen entweicht mir, als ich mich umdrehe, um zur Tür zu gehen. Wir sollten Mary und Lucy noch etwas helfen, bevor es so kommt, wie es kommen muss. „Joshua.“ Mit zwei großen Schritten ist Emily bei mir greift zärtlich nach meinem Unterarm. Überrascht wende ich mich um, blicke in ihr Gesicht und verkrampfe innerlich, als ich den Duft ihres Haares wahrnehmen kann. „Wie viele Flaschen haben wir noch mal?“ Einige Sekunden verharre ich, sie still musternd, dann löse ich vorsichtig ihre Finger von meinem Pullover und streiche sanft über ihre Hand. Sie wird garantiert einmal einiges Verändern, wenn sie erwachsen ist, so besorgt und bemüht, wie sie immer ist. Vielleicht wird es sie in die Politik verschlagen, warum auch nicht. Wir brauchen Veränderungen in diesem Land. Willensstarke Personen eignen sich dafür. Noch ist sie aber zu jung. Sie will nicht, dass wir auf den Dachboden müssen, aber das will keiner von uns. Scheinbar jedoch ist sie die Einzigste, die sich noch nicht mit der Tatsache abgefunden hat, dass unsere unfreiwilligen Aufenthalte auf dem Dachboden unausweichlich sind. Wir anderen sind mittlerweile einer gewissen Lethargie verfallen. Alles geht vorüber, wir stehen das durch, keine Panik. Einfach die Augen zusammenkneifen, abwarten, verharren, wie ein verängstigtes Kaninchen und wenn sich die Chance zur Flucht bietet, laufen, so schnell es geht. „Reg dich nicht auf“, flüstere ich lächelnd und streiche ihr über das ebenholzfarbene Haar. „Wir haben zwölf große Flaschen und vier kleine. Das wird uns auch noch ein paar Tage am Leben erhalten, wenn uns das Wasser ausgehen sollte. Bis jetzt sind wir immer heil aus dem Schlamassel herausgekommen, ist es nicht so? Du brauchst dir keine Sorgen machen.“ Schweigend starrt sie mich an und plötzlich erwidert sie mein Lächeln. Sie nickt, ich lasse sie los und erneut greift sie nach meinem Arm. Ich lasse sie gewähren, hauche ihr einen schwachen Kuss auf die Schläfe und verlasse anschließend mit ihr das Badezimmer. Als wir zusammen das schmuddelige kleine Wohnzimmer betreten, sitzen Mary und Lucy auf der Couch in der mitte des Raumes. Ein altes Modell von hässlicher, blauer Farbe, die ihre besten Tage auch schon lange hinter sich hat. Die Gesichter der Mädchen sind niedergeschlagen, beide haben die Hände in den Schoß gelegt. Es herrscht eine gedrückte Stimmung, finster. Dick und schwül, wie kurz vor einem Gewitter und kurzzeitig überkommt mich die schiere Lust, ein Messer zu greifen und sie zu schneiden. Aber etwas anderes schleicht sich in meine Gedanken und bereitet mir Kopfzerbrechen. Sollten Mary und Lucy nicht in der Küche sein, eifrig und beschäftigt damit, Brote und andere, haltbare Nahrungsmittel zu horten, damit wir sie auf dem Dachboden verstauen könnten? Ja, warum zur Hölle sind sie dann nicht bei der Sache? „Du laberst heute wieder eine Scheiße“, zischt Mary und bricht damit das Schweigen. Sie zieht ein Haargummi aus ihrer Rocktasche und bindet damit ihre Haare zusammen. Feine, blonden Haare mit stechenden, grünen Augen. Fixiert sie einen, kann ihr Blick die gleiche Wirkung haben wir Nadelstiche aus purem Eis. Sie ist sehr hübsch und fällt äußerlich komplett aus der Reihe. Ebenso wie in ihrem Inneren. Ihr Charakter entspricht nicht unbedingt dem Idealbild, welches man in der Regel von einem Mädchen hat. Mary ist grob, prügelt sich manchmal, flucht und trinkt, wenn Alexander seine Finger mal wieder nicht bei sich behalten kann. Sie verbringt ihre Freizeit mit Kerlen in unserem Alter, spricht wie einer, bewegt sich wie einer. Aber so erlebe nur ich sie, Lucy und Emily nicht. Lucy und Emily kommen ja auch nicht heraus aus dieser Wohnung. Sie sind ruhig, verschlossen. Haben kaum Freunde und sind sich selbst genug. Mary ist eher ein Geschöpf, deren Seele kein Geschlecht besitzt. War sie eben noch auf der Straße in eine Schlägerei verwickelt, ist sie die treusorgende Cousine, kaum hat sie einen Fuß in unsere Wohnung gesetzt. Jetzt aber hat sie schlechte Laune. „Ach komm, sei still“, knurre ich leise und verschränke vorwurfsvoll die Arme. Einen kühlen Blick werfe ich ihr zu, um zu vertuschen, dass ich mit dieser spontanen Anfeindung absolut überfordert bin. Was soll ich bitte labern? „Was ist los?“ „Alex ist los“, antwortet sie und sieht mich so wütend an, als sei ich der Erzeuger dieses Problems. „Du sagtest, er sei fort!“ War er das nicht? Ich hatte doch nachgeschaut. „Ist er doch“, erwidere ich, ziehe die Augenbrauen hoch und lehne mich, die Mädchen nicht aus den Augen lassend, gegen den Türrahmen. Meine Güte, ich bin doch nicht von gestern. In allen Zimmern hatte ich nachgeschaut. In keinem war er gewesen, als schloss ich logischerweise daraus, dass er sich nicht in der Wohnung aufhielt. „Er sitzt mit der Bierflasche in der Küche und liest Zeitung. Jedenfalls will er uns das weißmachen. Wenn ich mich nicht verguckt habe, hat er die Seite mit den Witzen aufgeschlagen vor sich liegen gehabt.“ Die Überraschung muss mir ins Gesicht geschrieben stehen. Alexander ist an die zwei Meter groß, breit wie ein Schrank und wiegt seine hundert Kilogramm, den übersieht man nicht einfach. Nein, ihn übersieht man nicht. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, es sei denn, er hat ausnahmsweise einmal den Müll runtergebracht. Ein trockenes Lachen verlässt meine Kehle. Nein, ausgeschlossen. „Scheiße.“ Ich greife mir an die Stirn und fahre durch mein rabenschwarzes Haar. Alexanders ist mit gräulichen Strähnen durchsetzt, was bei mir noch nicht der Fall ist, aber ansonsten hat es exakt den gleichen Farbton und eine identische Beschaffenheit. „Was ist jetzt?“, fragt Lucy und ihre Stimme schwebt leise im Raum. "Was werden wir jetzt tun?" „Nichts ist“, gebe ich zurück und blicke finster hinüber zur Küchentür. Sie ist aus billigem Sperrholz gefertigt, ein kräftiger Tritt und sie geht zu bruch. Die Badezimmertür hingegen ist massiv. Sie musste ausgetauscht werden, nachdem Mary und ich es schafften, sie zu zerstören, als wir wieder einmal ein paar unfreiwillige Stunden auf dem Dachboden verbrachten. Vorher hatten wir die Luke, welche vom Speicher hinunter ins Bad führte, mit einem geklauten Brecheisen aufgebrochen. Wir hatten es vom Hausmeister stibitzt und oben versteckt gehalten. Irgendwie hat er es nie vermisst. Es hat furchtbaren Ärger gegeben und ich konnte zwei Wochen nicht zur Schule, so grün und blau geschlagen hatte Alexander mich an dem darauf folgenden Abend. Es war ein Wunder, dass er mir nichts brach oder dergleichen. Mary hat er ein mal den Finger gebrochen, aber sie durfte nicht ins Krankenhaus. So haben wir herausgefunden, dass Brüche auch ohne ärztliche Überwachung zusammenwachsen. Wir haben ihn geschient, deswegen ist er nicht schief, aber man sieht dennoch deutlich, wo die Bruchstelle einmal gesessen haben muss. „Das es idiotisch ist, das Zeug nach oben zu schleppen, während Alexander in der Küche sitzt und sein Bier trinkt, ist euch denke ich klar. Haben wir noch etwas oben, Mary?“ Sie schüttelt den Kopf und mustert den Aschenbecher, der auf dem Tisch steht. Er ist schwarz und aus Plastik und voller Kippen. Widerlich, schmutzig. Und er stinkt zum Himmel. „Nein, nichts mehr. Als wir das letzte Mal oben waren, haben wir alles aufgebraucht.“ Na, wenn das mal keine positiven Aussichten sind. Lustlos lasse ich mich auf die Couch gleiten und sehe zu dem Fernseher. Er ist kaputt, schon lange hinüber, aber irgendwie hat sich keiner die Mühe gemacht, ihn aus der Wohnung zu schaffen. Seit über einem Jahr schon gibt er keinen Ton mehr von sich. Ich weiß nicht, warum sie das Teil nicht schon längst weggeschmissen haben. Höchstwahrscheinlich hat Alexander es einfach nicht auf die Reihe bekommen, es hinaus zum Sperrmüll zu tragen. Ein wenig später lässt auch Emily sich neben mich plumpsen. Dann kehrt Schweigend ein, denn jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Was kommt jetzt, wie wird es weitergehen? Was hat Alexander mit uns vor? Kommen wir ungeschoren davon? Das sind in der Regel die Fragen, die wir uns jedes Mal wieder stellen, wenn es soweit ist. Und noch etwas kommt hinzu. Alexander sitzt in der Küche und trinkt ein Bier. Das ist ungewöhnlich und beunruhigend zugleich, denn es entspricht nicht unserer Routine. Ein schlechtes Omen. Denn so kann keiner sagen, wie es nun weitergehen wird. Keiner weiß, ob sich die Situation nun in bekannte Bahnen entwickelt, oder einfach in etwas neues umschlägt. Bringt er uns jetzt um? Schmeißt er uns raus? Vielleicht kommt Rachel, unsere Mutter heute auch einfach nach Hause und nimmt uns mit. Nimmt uns fort von hier, auf das wir das arme Stück Dreck, welches sich unser Vater schimpft, nie wiedersehen müssen. Er ist derjenige, dem schon vor langer Zeit die Kontrolle über sein Leben entglitt, und wir sind diejenigen, die das zu spüren bekommen. Denkt er denn wirklich, dass wir freiwillig hier sind? Ich könnte spontan tausend Orte aufzählen, an denen ich mich lieber befünde. Hätten wir die Möglichkeit, hätten wir unsere Sachen gepackt und wären schon längst fort. Aber wir haben die Gelegenheit nicht. Nein, wir haben sie nicht. „Mutti wollte doch nur zur Bank, nicht war, Josh?“ Ich nicke schwach. „Ja, wollte sie.“ Aber das liegt nun mittlerweile zwei Stunden zurück. Müsste sie nicht längst wieder daheim sein? In der Küche klingelt das Telefon. Ein altes grünes Teil, noch mit Wählscheibe und schrillem Ton. „Ich denke, sie wird jeden Moment wieder zurück sein. Sie wurde garantiert durch irgendetwas aufgehalten.“ Ein schwaches Lächeln von Emily, doch die anderen bleiben ernst. Sie könnte genauso gut abgehauen sein. Möglicherweise ist ihr schlagartig klar geworden, dass es sich bei uns nur um einen lästigen Klotz am Bein handelt, den es loszuwerden gilt. Es gibt so viele Möglichkeiten, doch spontan fallen mir nur schlechte ein. „Hey.“ Allesamt zucken wir zusammen und drehen uns um. Mein Herz hört einen Moment auf zu schlagen, so groß ist der Adrenalinschub, den mein Körper mir durch die Adern jagt. Es ist, was fü eine Überraschung, unser Vater. Selbstgefällig steht er dort in der Tür, so nah neben mir, dass es mir die Galle in den Hals treibt, das Telefon noch in der Hand und blickt uns an. Das lange Kabel zieht sich durch die komplette Wohnung. In seiner anderen Pranke befindet sich eine halbleere Bierflasche. Oh gottverdammt, ich hasse ihn. Der Anblick dieses Mannes, der sein eigenes Leben nicht mehr in der Hand hat, jagt mir ein halbes dutzend Schauer über den Rücken. Liebend gerne würde ich seufzen, doch die Luft verbleibt mir in den Lungen. Momentan ist es mir unmöglich, mich zu rühren, denn alle Sinne sind bis aufs Äußerste geschärft und angespannt, jederzeit bereit, mir das Signal zur Flucht oder zum Kampf zu vermitteln. Stumm kauern wir auf der Couch und starren Alexander mit großen, offenen Mündern an. Es scheint, als sei er sich der Macht, die er über uns hat, bewusst. Also lacht er nur ein schmieriges, lautes Lachen und fährt sich mit der Hand durch das fettige, schwarze Haar. Anschließend lässt er das Telefon auf den Boden gleiten, wo es scheppernd aufkommt und mit verrutschtem Hörer liegen bleibt. „Ihr werdet jetzt husch in euren kleinen Raum verschwinden“, verkündet er uns dann und verschränkt die Arme, während er uns alle mit eisigem Blick mustert. Dieses Grinsen, welches sich augenblicklich über sein Gesicht zieht, entblößt die geraden, weißen Zähne. Oh ja, wie es scheint, ist er vollkommen von sich selbst überzeugt, doch mir entgehen nicht die dicken Augenringe, welche sein Gesicht zieren. Er mag es nicht, uns Kinder am Hals zu haben, seine Frau liebt er nicht mehr. Eigentlich kümmert er sich nur noch um sich selbst und ich wette, dass er in der Nacht wachliegt und überlegt, wie er sich von uns befreien kann. Er überlegt, wie es möglich ist, seinen Lebensstandart zu steigern, ohne wirklich viel arbeiten zu müssen. Wenn er mit diesem Plan inzwischen so weit ist, wie ich vermute, ist ihm bis jetzt höchstwahrscheinlich noch nichts eingefallen. Gute Vorraussetzungen für so etwas hat er ohnehin nicht, ihm fehlen sämtliche benötigten Mittel. Ihm fehlt Geld, ihm fehlt ein Job, ihm fehlt die Zweitwohnung oder ein Freund, bei dem er wohnen könnte. Genau genommen ist er also genauso gefangen wie wir, etwas, was Alexander und mich ähnlicher erscheinen lässt, als wir es eigentlich sind. Denn etwas trennt uns voneinander. Alex ist erwachsen, er hatte seine Chance und er hat sie verspielt, während ich noch mein ganzes Leben vor mir habe. „Na los, verschwindet“, wiederholt er und seine Miene verdüstert sich zusehends. „Rachel kommt gleich nach Hause, und ihr wollt sie doch nicht stören, wenn sie sich für ihren Beruf fertig macht, oder?“ Lediglich ein leises, missmutiges Brummen entweicht aus meiner Kehle. Ich mag den Beruf nicht, den meine Mutter ausübt, nein, wahrhaftig nicht. Keiner von uns mag ihn, nur Alexander findet es geil. Er hält sie für eine kleine, verachtenswerte Schlampe, die sich einen Dreck darum schert, mit wem sie es treibt. Das sie es nur tut, weil wir das Geld dringent brauchen, entgeht ihm dabei vollkommen. Deshalb – und noch aus einer Menge anderer Gründe - geht sie unserem Vater nach Möglichkeit aus dem Weg. „Können wir nicht einfach auf unsere Zimmer?“ Dünn und bittend vernehme ich das Stimmchen meiner Schwester direkt neben mir. Ganz leise stößt sie diese Bitte aus, als müsste sie alles an Mut zusammennehmen, um Alexander gegenüber überhaupt etwas zu sagen. Ich zucke zusammen und hätte ihr am liebsten eine runtergehauen. Sie wiederspricht ihm. Ihm! Sie begeht eine unverzeihliche und absolut tödliche Sünde, die wir höchstwahrscheinlich alle zusammen ausbaden dürfen. Genau genommen bedeutet dies Schutz für Lucy und Emily, blaue Flecken und Prellungen für Mary und mich. Doch entgegen aller Erwarten geschieht nichts. Lediglich ein schwaches Zucken in seinen Augenlidern ist zu vernehmen. Zitternd lasse ich die Luft aus den Lungen entweichen, die ich angespannt dort festgehalten habe. Wir alle hier stehen unter Stress. Ich eventuell etwas mehr als die anderen, wer weiß. Vorsichtshalber entferne ich mich noch ein paar weitere Zentimeter von meinem Vater. „Kommt“, vordere ich meine Geschwister auf und bin kurzzeitig irritiert, wie rau meine Stimme plötzlich wieder klingt. In den letzten zwei Jahren vor meinem Tod würde sie ganz ähnlich klingen. Alt, gebrechlich. Nein. „Josh!“ Lucy klammert sich ängstlich an Mary und starrt uns mit ihren aufgerissenen, eisfarbenen Augen an. Mein Blick wandert zu meiner Cousine. Ein warnender, wachsamer Blick. Sie nickt, während Alexander noch immer in der Tür steht und das Ganze beobachtet. Sein Gesicht ist hart wie Stein und seine Geduld schwindet mit jeder Sekunde, wie Sand, der unaufhaltsam durch eine Sanduhr rast. Früher oder später würde er uns packen und in die Zimmer zerren, ob wir es wollten oder nicht. Das spielte keine Rolle. „Lucy komm.“ Wartend versenke ich meine blassen Hände in der Hosentasche und verberge so das Zittern, welches sich über meine Wirbelsäule hinunter durch meinen ganzen Körper zieht. Ich bin angespannt. Jeder hier ist angespannt. Es sind eine Situationen, die kurz davor steht, zu eskalieren. Jede Bewegung ist von Bedeutung, jedes Wort, jeder Blick. Man fühlt die Bedrohung, die von dem anderen ausgeht, kann sie sehen, riechen, schmecken. Berühren. Sie frisst sich in unsere Seelen hinein und hinterlässt tief sitzende Narben. Sie setzt uns in der Nahrungskette unter den Menschen, denn sie macht uns zu Wesen, die nur an ihr eigenes Überleben denken und denen andere gleichgültig sind. Aber sie macht uns auch zu dem, was wir sind und was wir werden. Lucy rührt sich nicht. Stocksteif presst sie sich an ihre Cousine, doch Emily ist aufgestanden und zu mir gekommen. Ängstlich und unsicher greift sie nach meiner Hand und ich drücke sie sanft. „Lucy, komm.“ Wacklig höre ich mich an, aber nachdrücklich. Es ist nicht so, dass ich Lucy nicht verstehen könnte. Das Mädchen hält es einfach nicht aus, ständig in dieser kleinen Kammer eingesperrt zu sein, ohne zu wissen, wann sie wieder einen Fuß nach draußen setzen darf. Herrgott, sie ist dreizehn Jahre alt und sie weiß noch gar nicht, was das alles soll. Eigentlich sollten unsere Eltern sie noch behüten und verwöhnen, sie sollte Kleidchen tragen und mit ihren Freundinnen im Garten spielen. Nicht das hier, alles, aber nicht das. „Lucy, nun komm schon.“ Mary streicht ihr mit den Fingerspitzen über die Wange und flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie zeigt keine Reaktion. Wie ein Kaninchen verharrt sie in ihrer Starre, während jedoch erste Regungen bei Alexander zu vernehmen sind. Sein Betongesicht löst sich langsam und nimmt wieder Farbe an. Er sieht wütend aus und nimmt einen Schluck, betrachtet uns und schaut finster drein. Das Spiel beginnt. Ein Spiel namens: „Bringt Lucy auf den Dachboden, sonst wird es für dich und diejenigen, die dir am Herzen liegen, sehr unangenehm“. Vorgesehen sind sechzig Sekunden, man hat nur einen Versuch. Dreißig Sekunden sind bereits verstrichen, es gibt keinerlei Joker oder ähnliche Hilfsmittel. Nur eine letzte, zu klärende Frage: Kannst du spielen? Oder kannst du nicht? „Emily“, meine ich nur noch und löse meine Hand von ihren Fingern. Ihren weichen, zarten Fingern, die nur um einige Nuancen brauner sind als meine. Zartes braun, aber immer noch sehr blass. „Geh, wir kommen gleich nach.“ Sie verhält sich so ängstlich und scheu wie ihre Schwester, doch als ich ihr einen drängenden Blick und einen Stoß in die Rippen schenke, geht sie. Die Uhr tickt. Noch zwanzig Sekunden. Fünfzehn Sekunden. Plötzlich geht alles ganz schnell. Ob das hier Routine darstellt? Ganz gewiss nicht. Aber solche Zwischenfälle sind öfter an der Tagesordnung, als man glaubt. Zwei große Schritte benötige ich, um zur Couch zu gelangen. Dort greife ich nach Lucys Handgelenk, ziehe daran, während Mary schiebt. Wir sind grob, achten nicht wirklich darauf, ob es ihr wehtut, oder nicht und sie wird einige blaue Flecken davon zurückbehalten, aber es im Vergleich zu dem, was ihr sonst blüht, ist das eine Lappalie. Gemeinsam zerren wir sie von der Couch, meine Finger fest um ihren Oberarm geschlossen. Drücke ich ihr das Blut ab? Ich packe so fest zu, wie ich kann und Mary tut es mir gleich. Es mag brutal sein, aber wir brauchen die Kraft, denn meine kleine Schwester schreit und fängt an zu weinen. Sie wehrt sich nach Leibeskräften und auch, wenn sie es uns nicht leicht macht, sind wir schnell. Mit beachtlichen Kräften und einfacher Durchführung geht alles von statten, so, dass wir mit einigen Kratzern den Türrahmen erreichen. Die Uhr tickt. Drei, zwei, eins. Null. Wir haben es geschafft. „Hast du sie? Dann zieh! Emily? Verdammt Lucy, nun halte doch still!“ Emily ist schon oben, hinter der Luke. Mit beiden Händen hält sie ihre Schwester fest und zieht. Lucy und ich stehen hinter ihr. Wir schieben. Drücken. Es ist beinahe beängstigend, welche Kräfte in einem Menschen frei werden, wenn er etwas absolut nicht will. Nun – Lucy möchte nicht in den Panic Room, ebenso wenig wie wir. Es ändert nichts, sie muss hoch. Wangsläufig prügeln wir sie dorthin. Nach einigem hin und her landet sie mit einem leisen Stöhnen unter dem Dach. Eilig folgen wir ihr, ehe wir die Luke hinter uns schließen. Nun heißt es nur noch warten. Warten darauf, dass Alexander den einzigen passierbaren Ausgang aus diesem Dachboden von außen verschließt. „So, das hätten wir.“ Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen lässt Mary sich in den Berg aus Kissen und Decken fallen, den wir uns über die Jahre hier angehäuft haben. Ein Teil ist gekauft, ein Teil aus der Wohnung und ein wesentlich größerer Teil geklaut. Alle Stoffe sind dabei – viele bunte. Wir waren extra darauf bedacht, nach möglichkeit nur die hellen Stoffe herauszupicken, um diesem trostlosen Raum doch noch etwas warmes einzuflößen. Ein besonderes Augenmerk sind die zwei Steppdecken, welche Emily und Lucy letztes Jahr genäht haben. Zwar mögen sie eher dem Typus eines Stubenhockers entsprechen, jedoch sind sie fingerfertig. Und da Mary und ich schon immer recht geschickt darin waren, hier und da einfach einmal etwas mitgehen zu lassen, hatten sie auch immmer genug Materialien zum Nähen zur Hand. Rot überwiegt. Ganz kuschelig eigentlich. Heute aber nicht. Es ist Januar und unser Atem huscht als weißer Nebel durch die Luft, so kalt ist es hier oben. Wenn man solchen Temperaturen eine längere Zeit lang ausgesetzt ist, gewöhnt man sich daran. Die erste Zeit jedoch ist hart, so dass wir uns in die Überzüge hüllen und uns wärmesuchend mit dem Rücken zueinander in die Mitte des Raumes setzen, ein Punkt, der sich direkt über dem Wohnzimmer befinden muss. So aneinander gekuschelt, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wärme sich im ganzen Raum verbreitet hat. Hoffe ich zumindest, ich erwarte eher das Gegenteil. Lucy weint noch immer. Schuld ist die Klaustrophobie, welche sie über die Jahre hinweg aufgebaut hat. Es muss ein Horrortrip für sie sein, eingesperrt zu sein mit ihrer größten Angst, keine Fluchtmöglichkeit in Sicht. Schließlich lässt Mary sie zu sich unter die Decke, und kurze Zeit später dann ist endlich Ruhe eingekehrt. Es ist eine besondere Art von Schweigen, welches immer über uns kommt, wenn wir hier hoch müssen. Seine Länge variiert, doch meist sind es knapp ein bis zwei Stunden, in denen kaum ein Wort miteinander gewechselt wird. Jeder muss sich immer wieder aufs neue mit der Tatsache außeinandersetzen, hier oben eingesperrt zu sein. Man muss sich mit der Situation abfinden. Warten. Kommt man hier raus? Oder nicht? Wie geht es weiter? Hier oben geht es nicht weiter, denn nichts verändert sich. Es gibt kein Kommen und Gehen, es gibt nur ein Verharren. Hoffen und sich an jeden kleinen Strohhalm klammern, der einen hier rausholen könnte. Mein Blick huscht über die grauen Wände, durchzogen von dünnen, feinen Rissen. Ein baufälliges Mietshaus, eine Absteige ist es, in der wir unser Darsein fristen. Durchfegen sollten wir hier oben auch mal wieder. Überall liegt Mäusekot herum, auf dem Fußboden tummeln sich kleine Staubflocken. Hygienisch stelle ich mir anders vor. „Hat irgendwer die Uhr mitgenommen?“, frage ich schließlich in die Runde und durchbreche damit, wie so oft, die Stille. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier so lautlos gesessen haben und wirklich begabt darin, verstrichene Zeit zu schätzen, war ich noch nie. Zeit zieht sich hier oben oftmals wie Kaugummi, endlos und von zäher Konsistenz. An meinem Rücken spüre ich Mary zusammenzucken. Ist sie etwa eingeschlafen, in solch einer Situation? Ihre Antwort folgt schnell und vernichtet meine Befürchtung. „Ja, sie ist in meiner Rocktasche. Brauchst du sie?“ Ohne eine Uhr ist man hier oben aufgeschmissen. Das Datum vergisst man schnell, ebenso die Anzahl der Tage, die man schon hier oben verbracht hat. Man verliert die Orientierung und spätestens wenn das Essen knapp wird, dreht man durch. Hört man nicht immer wieder von Reisegruppen, die sich in ihrer Not gegenseitig aufgefressen haben? Macht einen die Gier nach dem eigenen Überleben wirklich so skrupellos, dass man nicht davor zurückschreckt diejenigen umzulegen, welche einen am nächsten stehen? Schon viele Philosophen haben sich diese Frage gestellt. Und viele kamen zu dem Schluss, dass die Gier letztendlich dominiert. Wir sind fertig mit den Nerven. Meine kleine Emily sitzt neben mir und starrt auf den Boden. Das Haar ist ihr ins Gesicht gerutscht, aber sie sieht friedfertig aus, ähnelt in ihrer Gestalt einem Engel aus Porzellan. Ich könnte ihr nichts tun, geschweige denn, auf den abstrusen Gedanken kommen, sie zu verspeisen. Leise murrend verscheuche ich die Gedanken an hungrige und mordende Reisegruppen aus dem Kopf und wende mich anderen Dingen zu. Es scheint sich aufgeheizt zu haben, wenn auch nicht viel. Die blassen, weißen Wolken vor unseren Mündern sind jedoch verschwunden. Langsam beruhigen wir uns, haben uns endlich an die Situation gewöhnt. Die Routine kehrt zurück, Mary spielt an Lucys Haaren. Doch die grauen Gedanken, die sich durch meinen Kopf bohren, kann ich einfach nicht vertreiben. Seid jeher bin ich ein ernster Mensch gewesen, ruhig, introvertiert und verschlossen. Als ich in die Pubertät kam, und verstand, dass das, was unser Vater mit uns tat, nicht normal ist, schlug meine Entwicklung einen leichten Bogen. Inzwischen spreche ich schwarzen Humor und Sarkasmus flüssig, mein bissiges Mundwerk ist bekannt und gefürchtet. Außerhalb dieser Wohnung. Lucy und Emily wissen nichts davon. Für sie bin ich der brave große Bruder, der immer für sie da ist, wenn ihnen etwas fehlt. Ohne sie treibe ich mich mit Mary und ein paar anderen Halbstarken in unserem Alter, die ich vorsichtig als meine Freunde bezeichnen darf, auf den Straßen herum. Wir mischen die Gangs aus unserem Viertel auf. Wir prügeln uns und gehen in der Regel als Gewinner hervor. Sind wir zusammen unterwegs, sollte man uns besser in Ruhe lassen, denn wir sind unschlagbar und äußerst agressiv. Es ist eine Zweitwelt, in die wir uns stürzen, um den Greueln, die uns zuhause erwarten, zu entfliehen. Ein Fragment unserer Persönlichkeit, die den Zwillingskindern bisher unbekannt ist, und auch unbekannt bleiben wird. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem sie von alledem erfahren. Wird Emily mich dann noch so selbstverständlich umarmen können? Sie wird mich aus anderen Augen betrachten, dessen bin ich mir sicher. Menschen grenzen schon immer das aus, was nicht in die Gesellschaft passt. Mary und ich gehören zu dieser Abnorm, und auch, wenn Emily mit der neu entstehenden Ablehnung ganz natürlich reagieren würde, so kämen Gefühle in mir hervor, die ich gerne unter Verschluss halten würde. Enttäuschung, Zorn, Hass. Ihr zartes Köpfchen sinkt auf meine Schulter, die Augen sind geschlossen. Sie reißt mich, wie schon so oft, aus meinen Gedanken, doch noch ehe ich mich wieder vollkommen in die Situation eingeordnet habe, beginnt unten jemand zu schreien. Eine englische Frauenstimme, schrill und hysterisch. Es ist unsere Mutter und wir hören alles, verstehen jedes einzelne Wort. Das Haus, in dem wir wohnen, stammt aus den Siebzigern. Die Wände und Decken sind günstig gebaut, dünn und hellhörig. Fast wie Papier. Meine Mutter gerät nur sehr selten in Rage, auch, wenn Alexander sich darauf versteht, aber wenn sie diesen Zustand erst einmal erreicht hat, dann hält sie nichts mehr. Wenn sie dann laut wird, und brüllt, als gäbe es kein morgen mehr, so verstehe ich, dass sie in ihrem Inneren bereits kurz davor steht, vollkommen zu resignieren. Was wir hier wahrnehmen, sind letzte Zuckungen eines sterbenden Willens. Sie hat Alexander schon lange aufgegeben. Ganz anders als wir uns. Fairerweise muss erwähnt werden, dass sie uns nach Leibeskräften eine gute Mutter ist. Früher saß sie jeden Abend in unserem Zimmer und hat uns vorgelesen, aus der Bibel, aus Märchenbüchern. Das tat sie bis vor einem knappen Jahr, dann stoppte sie von der einen auf die nächste Nacht. Lucy und Emily seien mittlerweile zu alt, als das eine Abendgeschichte noch notwendig sei. Und so war es nun an Mary und mir, Lucy und Emily ihre tägliche Dosis Märchen und heile Welt zu verabreichen. Wenn es darum ging, ihnen eine Phantasiewelt ohne jede Gewalt zu bauen, waren wir Könige. Burgfräulein, Gruselgeschichten. Jede mit einem guten Ende. Kein Blut, keine Gewalt und das Böse wurde stets in die Flucht geschlagen. Bis jetzt taten wir alles, was in unserer Macht stand, um ihnen auch nur geringfügig etwas ähnliches wie eine Kindheit zu ermöglichen. Für unser geringes Alter erledigten wir diese Aufgabe relativ gut, aber genau genommen stellten wir nur einen billigen Ersatz dar. „Du dreckiger Mistkerl!“, schallt es durch den Holzboden, leise, doch deutlich zu vernehmen. Wie ich schon erzählte, ist unsere Mutter nur sehr selten sauer, jetzt aber überschlägt sich ihre Stimme fast. Es muss etwas schreckliches geschehen sein, wenn sie so ausrastet. Der Grund für diesen Wutausbruch muss Alexander sein. Und scheinbar hat er große Scheiße gebaut. „Wo zur Hölle ist das Geld, Alexander?!” Während sie sich unten weiter streiten, keimt in mir Hoffnung auf. Und an Marys Gesicht sehe ich, dass es ihr genauso gehen muss. Geld? Sie spricht doch nicht etwa von geheimen, ersparten Summen, die man benötigt, um sich aus dem Staub zu machen? Geld, die Basis einer jeden neuen Existenz. Wenn sie gleich mit Alexander fertig ist, wird sie uns aus dem Dachboden herauslassen, und dann werden wir von hier fortgehen. Dann liefe unser Leben endlich in geregelten Bahnen und alles wäre wunderbar. Schöner könnte es nicht sein. „Meinst du-?“, fragt meine Cousine leise flüsternd und ich nicke zur Antwort. Emily ist eingeschlafen, ihr Kopf lehnt immer noch sanft an meiner Schulter. Von dem ganzen Trubel, der aus der Decke zu uns heraufschallt, scheint sie nichts mitzubekommen. Ihre blassrosa Lippen stehen einen Spalt offen und entblößen im schwachen Licht ihre Zähne. Sie sind weiß, wenn auch nicht ganz gerade. Aber was ist schon von Natur aus perfekt? Der Streit, der in dem Raum unter uns entbrannt ist, führt sich fort wie von selbst. Beleidigungen fallen. Anschuldigungen. Drohungen. Mary und ich lauschen gebannt, wenn auch ein wenig ängstlich, obwohl dies alles nichts neues für uns ist. Lucy scheint noch immer nicht wirklich wieder zu registrieren, was mit ihr und ihrer Umwelt geschieht. Sie braucht immer ein wenig länger, um sich mit der Situation abzufinden. Unten scheppert etwas. Geschirr? In mir keimt der Verdacht auf, dass sie nun dazu übergegangen sind, sich mit Gegenständen zu bewerfen. Nicht, dass es mich wirklich wundern würde, wenn diese beiden Personen aufeinandertreffen, ist wirklich alles möglich. Aber so weit sind sie dann doch noch nicht gegangen. Jedenfalls nicht in unserer Anwesenheit. Besorgt schaue ich zur Seite und sehe Emily ins Gesicht, doch sie schläft nach wie vor. Ich möchte nicht, dass sie solche Szenen mitbekommt, und so bin ich froh, dass sie sich ein wenig ausruht. SIe hat es bitter nötig. Vielleicht fühlt sie sich gerade sogar sicher, an meiner Schulter, an meiner Seite, wenn ich versuche, ihr so gut es geht Geborgenheit zu vermitteln. „Ich will die Scheidung, Alexander!“ Einige kurze Sekunden bleibt der Ausruf in der Luft stehen, dann bleibt mir der Atem weg und meine Augen weiten sich. Mary und ich tauschen unsichere, ungläubige Blicke. Sie hat es gesagt! Sie hat es tatsächlich gesagt! Sie wird sich scheiden lassen und uns mitnehmen. Auf in eine neue und bessere Zukunft. Weg von hier, an einen anderen Ort als diesen. Wir haben Glück. Nach so langer Zeit haben wir endlich mal wieder Glück. Unten verstummt das Gebrüll und nun kann ich meinen eigenen Atem rasseln hören. Er zittert und strotzt nur so vor Adrenalin. „…Josh, hast du gehört? Es wird alles gut werden!“, flüstert Mary aufgeregt, gar heiser und schlingt die Arme um die Beine, löst diese Haltung wieder und rutscht letztendlich auf ihren Knien zu mir hinüber. Ihre Augen glitzern, klar und eisfarben, wie sie sind und auf ihren Lippen liegt ein freches, gewinnendes Grinsen. Die Lebensfreude, welche sie so oft in ihrer gelassenen Art versteckt, bricht hervor und lässt die Sonnenstrahlen, welche durch das einzige Fenster hereinfallen, nahezu blass erscheinen. „Ja“, antworte ich atemlos und wir fangen beide an zu kichern, freuen uns und verstummen schlagartig, als von unten ein lauter Knall ertönt. Emily wird schlagartig aus ihren Träumen gerissen, der Kopf zuckt von meiner Schulter fort und auch Lucy scheint in unsere Welt zurückgekehrt zu sein. Verwirrt fängt sie sich an zu rühren, blickt sich im Raum um. Fragezeichen in ihren Augen deuten an, dass sie nicht versteht, was der Lärm zu bedeuten haben mag. „Was war das?“ Emily reibt sich mit dem Handrücken die Augen, während ihr einige der braunen Strähnen ins Gesicht rutschen. Ich streiche sie ihr mit den Fingerspitzen fort und lächele schwach. Was da unten los ist? Nicht viel, nüchtern betrachtet. Ein lauter Streit, als die Situation sich zuspitzte, erfolgte ein ohrenbetäubender Knall. Anschließend war es ruhig. Auch wenn in mir eine Ahnung keimt, wobei es sich bei dem Geräusch gehandelt haben könnte, beschwichtige ich die Kleine. Mary werfe ich einen Blick zu. Er spricht Bände. „Es wird nichts sein.“ Meine Cousine lächelt ebenfalls, versucht, irgendwie beruhigend rüberzukommen, aber ihre Miene wirkt gequält. Letztendlich vergräbt sie ihre Hände in den Taschen ihres überknielangen, karierten Rockes und blickt schweigend zu Boden. Wir denken beide an den Schrank, der unten im Wohnzimmer steht. Er enthält eine Schrotflinte. ___________________________________________ Juhu, es ist vollbracht x_x das zweite Kapitel ist fertig. Hab ja knapp nen Monat dran rumgeschrieben, weil ich einfach zu wenig Zeit hab XD wenn ich an meine alten FF's denke... 30 Seiten in 2, 3 Monaten... damals ging das noch ratzfatz, aber wenn ich mir sie jetzt nochmal durchlese - oh gott XD so furchtbar x3~~ Na ja... die Geschichte hier kommt ja langsam in Gang, auch wenn es höchstwahrscheinlich noch ein paar Kapitel dauert, bis wir richtig drin sind. Das Kapitel sollte eigentlich noch länger werden, aber ich habs in zwei unterteilt, weil ich dachte, dass 9 Seiten für die Mexxschen Leser genug sind >D~ und ich endlich mal wieder was hochladen kann ^^ Well done, man liest sich Johnny ___________________________________________________ Soah, da bin ich nochmal (1 1/2 Jahre später XD) Korrigierte Fassung, hier ändert sich nix mehr It's Done! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)