Less than 24 days. von MadameFleurie (...ich sitz im Bunker und kann nicht raus.) ================================================================================ Kapitel 1: Der Nachmittag ------------------------- Du willst wissen, wo diese Geschichte spielt? Oh glaub mir, das ist nebensächlich. So etwas geschieht tagtäglich, überall auf dieser Welt. Vielleicht sogar an dem Ort, den du dein Zuhause nennst. Du glaubst mir nicht? Das ist mir egal, ich weiß, wie es wirklich ist. Ich habe es gesehen. Gefühlt. Es ist mein Leben. Also tu gefälligst nicht so, als hättest du Ahnung von dem, was du im Begriff bist zu erfahren. Lass mich dir meine Geschichte erzählen, in allen schrecklichen Details. Es wird eine Geschichte sein, die du nicht wieder vergessen wirst. Das verspreche ich dir. Hast du schon einmal gespürt, wie es ist, wenn sich ein Lackschuh in deinen Unterleib bohrt? Es ist unangenehm – ein dumpfes Pochen, welches wellenartig seine Schmerzen verbreitet und einem die Luft zum Atmen nimmt. Einem wird übel, doch man kotzt nur in den seltensten Fällen, knickt in der Regel weg wie ein kaputter Sandsack und bleibt hilflos am Boden liegen. In der Fötusstellung, die Arme um die Beine gelegt. Die meisten fangen schlagartig an zu weinen, aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Irgendwann weiß man, wann man sich fallen zu lassen hat, damit der Schuh sein Ziel nicht so erreicht, wie der tretende es geplant hat. Damit der Schmerz nicht so überwältigend ist, dass man für den Bruchteile einer Sekunde lediglich Sterne tanzen sieht. Trotzdem haut es mich immer wieder von den Beinen. So wie jetzt gerade. Ich liege mit angezogenen Beinen auf dem kalten Boden der ungeheizten Wohnung, beiße mir meine Unterlippe in dem verzweifelten Versuch, keinerlei Laut von mir zu geben, auf. Nach kurzer Zeit schmecke ich den eisernen Geschmack frischen Blutes auf meiner Zunge und öffne schüchtern, beinahe blinzelnd meine Augen. Übelkeit umarmt mich, benebelt mein Hirn und lässt mich erst einige Sekunden matt an die Decke starren, bevor ich mich schwer atmend zur Seite rolle. So bleibe ich liegen, schnappe nach Luft. Soll der Bastard doch machen, was er will. Hauptsache, er lässt von mir ab. Sonst tritt er vielleicht wieder zu. Alexander, mein Vater. Groß gewachsen, schwarze Haare. Durchaus gutaussehend. Früher einmal war ich stolz darauf, ihn meinen Vater zu nennen. Aber das war, bevor er anfing zu trinken. Bevor er anfing uns zu schlagen. Denn wie könnte ich einen Vater lieben, der so oft dafür gesorgt hat, dass ich mit einem blauen Auge in die Schule gehen durfte? Selbst meine Mutter, auch, wenn man sie in diesem Haushalt lediglich bei ihrem Vornamen, Rachel, ruft, behandelt er wie Dreck. Sie ist die einzige, der etwas an uns liegt, die sich nicht damit zufrieden gibt, dass wir eines Tages auf der Straße landen werden, wenn alles weiterhin seinen Weg geht, wie bisher. Meine Mutter würde alles für uns tun. Man sieht es ihr an. Das Leid der letzten Jahre hat ihr Gesicht gezeichnet und sie künstlich altern lassen. Sie ist noch keine vierzig, dennoch wirkt sie um einiges gebrechlicher. Ich weiß nicht, ob die anderen dies bemerken – sie ist kaum zuhause. Gelegentlich schaut sie danach, wie es uns geht, isst etwas oder zieht sich um. Aber dann ist sie wieder unterwegs auf den Straßen meiner Heimatstadt. Dort, wo sie ihr Geld verdient, indem sie Männern für Geld das gibt, was Alexander schon seit Jahren nicht mehr von ihr bekommen hat. Es ist ja nicht so, dass ich sie nicht verstehen kann. Keiner würde mit einem Versager wie Alexander freiwillig ins Bett steigen. Jemand, der verzweifelt versucht, sein Leben zu meistern, kann sich nicht jemandem anvertrauen, der die Kontrolle über dieses schon lange zuvor verloren hatte. Das wäre viel zu destruktiv. Einmal wieder bohrt sich der Schuh in mein Fleisch. Das Leder ist stärker, meine Bauchdecke gibt nach, lässt zu, dass meine Organe gequetscht werden. Reflexartig krümme ich mich, presse die Beine an meinen Körper und huste, schlucke gleichzeitig, damit sich nicht innerhalb der nächsten Sekunden mein Mageninhalt auf den ungewischten Boden unserer Wohnung entleert. Es ist so erniedrigend, dass wir das dulden müssen. Und doch könnten wir nichts dagegen tun, dabei wünschen wir uns nichts sehnlicher als das. Vielleicht ist es genau das, was diese Erniedrigung so real macht. Die Tatsache, dass uns die Hände gebunden sind. Die Liebe zueinander bindet uns die Hände zusammen und hindert uns am Handeln. Hätte Alexander vor Jahren nicht seinen Beruf verloren, wäre ohnehin alles anders gekommen. Ein normales, reguliertes Leben mit einem behüteten Zuhause und all den alltäglichen Luxus, den man sich leisten kann, wenn man über Geld verfügt. Aber so ist es nicht. Wir können sehen, wie wir über die Runden kommen, können sehen, wie wir uns zuhause und auf der Straße durchschlagen, von der Schule ganz zu schweigen. Als hätte man mir einen Elektroschock verpasst, biege ich meinen Rücken ins Hohlkreuz und brülle los. Der Tritt traf mich in die Nieren, ungebremst, mit voller Wucht. Zum ersten Mal seit langem beginne ich, vor Schmerzen zu zittern, bunte Sternchen tanzen vor meinen Augen. Ich rufe mir die Personen, für die ich dies alles durchstehe, ins Gedächtnis und atme tief durch. Durchhalten, das ist es, worauf es ankommt. Nicht mehr und nicht weniger – wir haben gelernt, nur für den Moment zu leben. Es geschieht höchst selten, dass ich anfange, zu weinen. Erstens härtet meine Situation ungemein ab. Man ist nicht mehr so sensibel, man hält viel mehr aus. Zweitens wurde ich vor gut einem Monat siebzehn, endlich. Meiner Meinung nach weint ein junger Mann mit siebzehn nicht mehr. Doch nun purzeln mir die Tränen nur so über die Wangen und bemüht, sie zu verstecken, rutsche ich weiter nach hinten, bis ich gegen etwas Festes stoße. Im ersten Moment bin ich fest davon überzeugt, es sei die Zimmerwand, doch als ich ein leises, beinahe lautloses Stöhnen vernehme, verwerfe ich den Gedanken wieder. Wände stöhnen nicht. Es kostet mich einige Mühe, meinen geschundenen Körper aufzurichten, doch als ich es unter Keuchen und Zittern vollbracht habe richte ich meinen Blick auf den Körper, welcher reglos neben mir liegt. Es ist Mary, deren Auge sich langsam rot färbt, gestreichelt, ebenso wie die einige Flecken an ihren Armen, von Alexanders unheilbringender Faust. Später einmal werden diese Flecken blau werden, dann grün und letztendlich werden sie verschwinden. Hämatome. Dinge, die passieren, die stören, aber über die man sich eigentlich keine Gedanken machen braucht, da sich nach ihrem Ableben ohnehin keiner mehr an sie erinnern werden wird. Genau wie sich an die Menschheit keiner mehr erinnern wird. Eines Tages. Sie rührt sich nicht, nicht einmal, als ihr eine der langen blonden Strähnen ins Gesicht rutscht und ihre Nasenspitze kitzelt. Und auch, als aus der Platzwunde an ihrer Stirn eine rote Träne über ihre Stirn huscht, bewegt sie sich keinen Millimeter. Doch um ehrlich zu sein bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich nicht bei Bewusstsein ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich tot stellt, nur, damit Alexander endlich von ihr ablässt. Dabei kann sie einem eigentlich nur leid tun. Wären ihre Eltern dabei nicht bei diesem außerordentlich hässlichen Autounfall ums Leben gekommen, würde sie heute vielleicht ein geregeltes Leben führen, doch aufgrund der Umstände war sie bereits mit drei Jahren eine Vollwaise. Mary Miller, das Mädchen, welches mit der aufgeschlagenen Stirn neben mir liest, ist nur unsere Cousine. Mütterlicherseits. Ihr ursprünglicher Name lautete Mary Caldwell, ein Name, bei dem ich im Laufe der Jahre gelernt habe, ihn mit Mut und Schönheit zu verbinden. Auch wenn ich an jenem schicksalhaften Tag, an dem sie zu unserer Familie kam, erst fünf junge Jahre zählte, werde ich nie vergessen, wie ängstlich sie damals noch war. So schüchtern und zerbrechlich. Nichts davon ist mehr übrig, das Rad der Zeit hat diese Attribute mitsamt ihrer Kindheit hinfort gewischt. Geblieben ist lediglich ihre starke, kämpferische Seite, das, was sie heute zu dem macht, was sie ist. Es ist ihr Lebenswille. Doch jetzt verdeckt das blonde Haar ihr puppenhaftes Gesicht, welches, im Gegensatz zu meinem, wenigstens nicht in blutigen Strähnen herunterhängt. Wieder einmal hatte ich mehr abbekommen als sie. Dabei war sie der eigentliche Grund für Alexanders Gewaltausbruch. Es war der abgrundtiefe Hass, den Alexander Mary entgegenbrachte, seit er arbeitslos war und trank. Seit er Zeit hatte, über Gott und die Welt zu grübeln. Seit sich in seinem Kopf scheinbar die Idee eingenistet hatte, dass nur die leiblichen Kinder zu etwas nütze sind. Von diesem Zeitpunkt an hatte Mary keine Chance mehr, sie hatte verloren. Sie ist ja nur seine Nichte. Emily und Lucy, meine Schwestern, die eineiigen Zwillinge, haben kein besseres Los gezogen. 1971, als ich drei Jahre alt war, hatte meine Mutter eine kurze Liebesaffäre mit Alexanders Chef. Nichts besonderes, höchstwahrscheinlich suchte Rachel lediglich etwas, an dem sie sich abreagieren konnte. Die Tatsache jedoch, dass Emily und Lucy ein gutes Dreivierteljahr später zur Welt kamen, ließ Alexander jedoch nie richtig glauben, es handele sich um seine Mädchen. Sie sehen ihm nicht einmal ähnlich, Rachel hat ihnen ihr Aussehen vermacht. Blaue Augen, braunes Haar, schmales Gesicht. Ich bin der einzige aus dieser Familie, der nach ihm kommt und der immer mit ihm verglichen wird. Charakterlich und äußerlich entspräche ich vollkommen meinem väterlichen Ebenbild. In jungen Jahren, versteht sich. Dennoch habe ich diese Anschuldigung immer mit einem aggressiven Unterton abgewiesen. Ich bin kein Monster, welches Hand an seine eigenen Kinder legt und die Nichte im Schlafzimmer aufsucht, wenn es glaubt, keiner bemerke es. So bin ich nicht – und so würde ich auch niemals sein. Ich würde schlimmer werden. Viel schlimmer. Ich würde Alexander um Längen hinter mir lassen und mit meinem Tod in die Geschichte eingehen. Unvergessen und gefürchtet. Unverstanden. Es würde die Gesellschaft sein, die mein Handeln und Tun, geprägt von meiner Vergangenheit, verwirren und erschrecken würde. Die Faszination an fließendem Blut, jämmerlichem Gewimmer und dem leisen, verzweifelten Betteln nach der Mutter. Sie würden nicht begreifen können, warum dies alles Musik in meinen Ohren auslösen würde. Ich würde ja nicht einmal selbst dazu fähig sein. Eine letzte Ohrfeige, im Vergleich zu den vorrangegangen Schlägen nahezu harmlos, dann kündet mir ein dumpfer Knall von der Wohnzimmertür, die soeben ins Schloss gezogen wurde. Doch auch, wenn der letzte Schlag nahezu harmlos war, hatte ich nicht mehr damit gerechnet. So zucke ich, verschreckt, wie ich bin, zusammen, hebe schützend die Hände und warte, mit angespannten Muskeln, auf die nächste Tracht Prügel. Ich brauche ein wenig, bis ich begreife, dass dort nichts mehr passieren wird. Alexander ist für heute fertig mit uns. Es ist zuende. Seufzend hebe ich den Kopf und betrachte schweigend die Tür, durch die er den das Zimmer verlassen hat, bis sich mein Sichtfeld ohne große Vorankündigung hellrot trübt. Routiniert wische ich mir mit dem Ärmel meines schwarzen Rollkragenpullovers, welcher zur Uniform meiner Schule gehört, über die Augen. „Halt ruhig“, wispert hinter mir eine Stimme und ich drehe mich zu ihr um. Es ist Emily, meine Schwester. Meine Liebe. Auch wenn sie mich anlächelt, als sie mir den alten und dreckigen Verbandskasten unter die Nase hält, so kann ich sehen, dass ihr der Schreck nach wie vor tief in den Knochen sitzt. „Du hast eine Platzwunde an der Stirn, komm, ich mache dir ein Pflaster drauf.“ Meinerseits folgt ein schwaches Nicken und auch, wenn ich mich nicht bewege, kann ich aus den Augenwinkeln vernehmen, dass Mary sich aufrichtet. Langsam, und ohne jede Hast, als hätte sie alle Zeit der Welt. Als wäre sie gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, eine Ohnmacht zu inszenieren, nur, um zu vermeiden, dass sich eine Hand in ihr Haar gräbt und sie an diesem zu Boden schleudert. Verstört sitzt sie nun also auf dem Boden, fährt sich mit der Hand durch das Blond und starrt auf die Holzdielen. Plötzlich jedoch springt sie auf, nimmt den Saum ihres Rockes und wischt die wenigen Sprenkel ihres roten Blutes, welche wohl zu Boden getropft sind, hektisch weg. Die Eliminierung des eben geschehenen. Als Emily mit der Desinfektion meiner Wunde beginnt, beiße ich die Zähne zusammen und gebe einen leisen Schmerzenslaut von mir. Mary kann ich derweil nicht aus den Augen lassen, so hilflos und verloren, wie sie dort sitzt, weicht sie auffällig von ihrem normalen Verhalten ab. Wahrscheinlich jedoch wird sie sich in einer halben Stunde wieder gefangen haben. Emily lächelt noch immer, verkrampft und unglücklich. Sie muss rausgerannt sein, als Alexander noch mit uns beschäftigt war, muss versucht haben, die Gewalt aus ihrem Leben zu verbannen. Ein liebes Mädchen ist sie, und mit ihren dreizehn Jahren schon verdammt selbstständig. Wenig später hat sie meine Wunde versorgt und wendet sich der verletzten Mary zu. Lucy sitzt in der Ecke, die Beine angezogen und sieht ihr dabei zu. Glänzende Spuren auf ihren Wangen, sowie die geröteten Augen schildern jeden Schmerz. Lucy seufzt leise und unterlässt es, zu reagieren, als der Rock hoch rutscht und es mir ermöglicht, einen Blick auf das zu werfen, was darunter liegt. Jedoch wende ich mich lediglich ab – ich bin kein Lustmolch oder sonst ein perverser, welcher es darauf anlegt, seinen Trieben bei allen möglichen Gelegenheiten nachzukommen. Außerdem bin ich den Anblick von Röcken in diesem Haushalt gewohnt. Den so, wie hier in der Bibel gelesen wird, werden hier auch Röcke getragen – nämlich ständig. Das mag für den außenstehenden merkwürdig klingen, wenn man jedoch damit aufgewachsen ist, ist es für einen das selbstverständlichste von der Welt. Genau wie die Tatsache, das Emily und Lucy nicht arbeiten gehen werden, wenn sie ihre Schule beenden. Nach der mittleren Reife ist ihre schulische Karriere beendet. Möglicherweise werden sie noch einen Beruf erlernen, wenn es allerdings nach Alexander geht, werden sie schnellstmöglichst verheiratet und aus dem Haus gejagt. Mary wird wahrscheinlich das gleiche Schicksal treffen. Zwar würde sie dagegen ankämpfen, denn sie ist emanzipiert, doch auch sie würde den Kampf verlieren und sich am Ende brav um ihre kleine Schar von Kindern kümmern. So ist Alexander eben. Verdammt konservativ. Schwankend stehe ich auf und winke die helfende Hand meiner Schwester ab, welche sich schon darauf vorbereitet hat, mich zu stützen. „Wo ist er hin?“ Ich sehe mich um, lasse meinen Blick durch den Raum gleiten und schiebe dann langsam die Hände in meine Hosentaschen. Alles ruhig, nichts regt sich. Die Tür zur Küche steht offen – an der Wand kleben noch rotbraune Flecken. Man hat versucht, sie abzuwaschen, Reste sind dennoch geblieben. Von früher. Ich erschaudere und wende scheu meinen Blick ab. Eigentlich interessiert es mich nicht, wo er hin ist. Warum sollte es das auch? Viel mehr als Schmerzen bedeutet mir eine Begegnung mit ihm ohnehin nicht. Es ist ohnehin um einiges bedeutender, ob er noch hier ist. Das ist der eigentliche Grund, warum ich diese Frage frage, aber ich habe sie immer so gestellt und werde sie wohl auch immer so stellen. Wenn er gegangen ist, um sich voll laufen zu lassen, gut. Dann bleibt es hier ruhig. Wenn er… nur auf dem Klo oder dergleichen ist, schlecht. Dann könnte es unter Umständen sein, dass es gleich genauso weitergeht wie bisher. Und das bedeutete unter Umständen weitere blaue Flecken, Schürfwunden und Prellungen. „Soll ich nachschauen?“ Lucy steht auf und zupft die Ärmel ihres T-Shirts zurecht. Sie wirkt so sauber, ihre Kleidung ist rein und makellos. Nicht ein Kratzer ziert ihre Ärmchen oder Beinchen, nicht einen Tropfen Blut hat sie heute vergossen. Nur Tränen. Nur Tränen. Steckten wir nicht in solch einer Situation, hätte ich diesen Umstand ungemein witzig gefunden.. Lucy und Emily, die beiden Unschuldsengel, blendend vor Sauberkeit, während Mary und ich vollkommen verdreckt und erschöpft auf dem Boden kauern. Mary jedoch schüttelt nur mit dem Kopf und quält sich leise keuchend zurück auf die Beine, streicht ihren Rock glatt, kontrolliert den Sitz ihrer Stiefel und verschränkt anschließend, herrisch, wie sie ist, die Arme. „Das wirst du nicht tun“, sagt sie streng und wischt sich mit einem Kopfnicken die Strähnen, welche ihr in die Augen gerutscht sind, aus dem Gesicht. Mary liebt Lucy und Lucy liebt Mary. So ist es immer gewesen, schon seit ich mich zurückerinnern kann. Vermutlich stellt meine liebe Cousine für Lucy wohl so etwas wie einen Mutterersatz dar. Sie haben einander und ich habe Emily. Das reicht jedem in diesem Raum vollkommen. „Ich werde nachsehen“, entscheide ich schließlich und verhindere so wahrscheinlich, dass ein Streit wischen den Mädchen entbrennt. Die Stimmung in diesem Raum ist nicht gut. Sie ist angespannt und still, dick, als könne man sie mit einem Messer in Stücke schneiden. Sie spiegelt die Verzweiflung eines Tieres wieder, welches man in einem Käfig hält und vergisst zu füttern. Stille Verzweiflung, Ohnmacht. Wir können uns nicht helfen, sondern sitzen fest. Wir sind den Launen unseres Besitzers ausgeliefert, müssen damit leben, oder gehen daran zu Grunde. Das ist mein Ernst. Was würde schon aus uns werden, wenn wir wegliefen? Noch weniger, als wenn wir hier blieben. Hier haben wir wenigstens ein Dach über dem Kopf, etwas zu Essen. Wir können zur Schule und ich habe hier den Sitz meines einzigen Hobbys, etwas, was mich über die Jahre am Leben erhalten hat. Mein Klavier. Nachdem Alexander seinen Job verlor hatte dies zur Folge, dass wir nicht mehr länger fähig waren, den Klavierunterricht zu finanzieren. Ich musste also ein paar Jahre für mich spielen, ohne Möglichkeiten der technischen Korrektur. Dann wechselte ich von der Mittelschule auf die Oberschule und hatte Glück, denn deren Schwerpunkte liegen im sprachlichen und musikalischen Bereich. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich den Unterricht wieder aufnehmen, denn er wird vom Staat finanziert. Und, ganz, ohne arrogant klingen zu wollen – ich bin wirklich gut. „Ich gehe“, wiederhole ich mit weitaus gefestigterer Stimme und blicke entschlossen in die bleichen Gesichter um mich herum. „Ich bin älter und stärker als ihr. Und schneller auch.“ Das ich erschöpft und verletzt bin, lasse ich unter den Tisch fallen, denn selbst in diesem Zustand bin ich noch stärker als meine Schwestern, schwach und dreizehnjährig, wie sie sind. Damit ist die Diskussion für mich erledigt und ich beginne, die Wohnung systematisch nach Alexander zu durchforsten In unseren Zimmern ist er nicht. Im Schlafzimmer auch nicht, genau wie in den Bädern und in der Toilette. In der Küche befindet er sich auch nicht. Die Luft scheint rein zu sein. „Alles sauber.“ Im Wohnzimmer hat sich keiner bewegt, als ich es erneut betrete. Alle stehen noch an ihrem alten Platz, nur Lucy hat sich gerührt und ist zu Mary gehuscht, welche einen Arm um sie gelegt hat und ihr beruhigend über den Kopf streicht. Es hat sich nichts verändert – das Entsetzen und die Angst hängt nach wie vor bleischwer in der Luft und raubt einem den Atem. „Bist du dir sicher?“, fragt meine Cousine dann und bindet ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz. Sie fragt das nur, damit sich die Kleinen beruhigen, denn wie gewöhnlich werde ich diese Frage mit einem klaren Ja beantworten. Die Schwestern wissen nichts davon, aber beinahe alle Konversationen, die Mary und ich in ihrer Gegenwart miteinander führen, alle Konversationen, die inzwischen einem regelrechten Ritual gleichen, sind lediglich Taktik, um sie nicht in Panik geraten zu lassen. Sind Mary und ich unter uns, gehen wir vollkommen anders miteinander um. Zwar sind wir dann immer noch fest entschlossen, all das hier durchzustehen. Die Situation betrachten wir jedoch um einiges realistischer. „Ja, ich bin mir sicher. Emily, Lucy, beruhigt euch bitte, wir müssen das so abhandeln wie jedes Mal, wenn Alexander durchdreht. Wir haben nicht viel Zeit.“ Routine. Wir haben diese Aktion schon so oft durchgezogen, dass wir inzwischen im Schlaf wissen, was zu tun ist, wenn der Ernstfall eintritt. Wenn Alexander mal wieder die Beherrschung über sich verliert und wir schnell handeln müssen, wenn wir innerhalb der nächsten Tage nicht ohne Essen dastehen möchten. „Haben wir noch Brote oder Brötchen?“ Mary nickt, lässt Lucy los und verschränkt die Arme vor dem Brustkorb, ehe sie ihr aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick zuwirft und mir dann ihre volle Aufmerksamkeit schenkt. „Ein paar gefrorene in der Tiefkühltruhe, aber die sollten reichen. Bis Alexander merkt, dass sie weg sind, sind mindestens vier Tage rum.“ Die Zeit reichte also aus. „Gut.“ Ich nicke zufrieden und kann gleichzeitig spüren, wie sich eine tiefe Leere in meinem Brustkorb festsetzt. Beinahe augenblicklich schwindet jede Motivation aus mir. Ich möchte nicht in den Raum. Nein, auf gar keinen Fall. „Du wirst zusammen mit Lucy und Emily die Brote nach oben schaffen“, meine ich dann an Mary gewandt und bin schon auf dem Weg zur Tür. „Ich suche Flaschen zusammen und bringe sie euch. Beeilung.“ Die bleichen Gesichter vor mir nicken gehorsam, dann setzen sie sich schwerfällig in Bewegung. Der Schock der vergangenen Minuten sitzt noch immer tief, doch in wenigen Stunden wird sich ihr Befinden wieder normalisiert haben. Sie werden mir nicht widersprechen, so viel steht fest. Für eine führende Person wie mich empfinden sie in solchen Situation nichts anderes als pure Dankbarkeit. Der kleine Dachboden über unserer Wohnung, welcher lediglich „Der Raum“ genannt wird, ist nicht sonderlich groß. Höchstens fünfundzwanzig Quadratmeter, geteilt in zwei Räume, von denen einer mit einer Toilette und einem Waschbecken versehen ist. Der andere Raum, in dem wir unsere meiste Zeit verbringen, wenn wir dort oben sind, ist größer. Durch eine im Boden eingelassene Luke, so winzig, dass wir uns nur mit Mühe hindurchquetschen können, erreicht man normalerweise das darunter liegende Badezimmer. Sind wir jedoch im Raum, ist dies nicht möglich, denn Alexander bringt dann ein Vorhängeschloss an der Luke an. Dann sind wir dort oben gefangen und auf seine Gnade angewiesen. Ausblick schenkt uns lediglich ein kleines Fenster, welches aus Plexiglas gefertigt ist und sich nicht öffnen lässt. Wir wissen nicht, woher dieser Raum kommt und wer ihn gefertigt hat. Auch, zu welchem Zweck er diente, ist uns nicht bekannt. Jedenfalls ist er nicht auf den Bauplänen verzeichnet, und als Alexander den Vermieter einmal indirekt darauf ansprach, zeigte dieser keine Zeichen, dass er von diesem Gefängnis etwas wusste. So war es ebenfalls ein Zufall, dass Alexander ihn fand, kurz nachdem wir hier eingezogen waren. Er wollte lediglich eine Glühbirne im Badezimmer auswechseln, da fiel ihm zufällig die Luke beinahe auf den Kopf. Sie besiegelte unser Schicksal. Damals. Als Alexander diesen Raum fand, erinnerte er lediglich an ein Loch unter dem Dach. Inzwischen jedoch haben wir es fertig gebracht, einige Decken und Kissen hierhin zu bringen. Auch eine alte Kühltruhe befindet sich hier, einige Bücher, Bilderbücher, Blöcke und Stifte. Egal, was wir in die Finger bekamen, wir schleppten es hierhin, denn addiert man die vergangenen Jahre, haben wir hier eine Menge Zeit unfreiwillig verbracht. Immer, wenn Alexander sauer auf uns ist, sperrt er uns dort oben ein. In der Regel an Wochenenden, damit er sich nicht zwei vollständige Tage mit uns herumschlagen muss. Als ich die Kiste mit Flaschen im Badezimmer absetze, schweift mein Blick im Gehen die Luke. Es jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich daran denke, dass wir gleich wieder nach oben müssen. Der Januar 1986 ist so bitterkalt. +++++++++++++++++++++++++++++++++++ Darf ich vorstellen? Die Buchfassung von Bloody Sunday. Endlich... endlich hab ich sie fertig xD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)