Dunkelheit von Nochnoi ================================================================================ Kapitel 12: Einfluss -------------------- Wie schon zuvor war es ein Kinderspiel, in Te-Kems Palast einzudringen. Selbst mit der Magierin, die ihre Angst offenbar vergessen und wild zu fluchen begonnen hatte, und dem mürrisch dreinblickenden Jungen im Schlepptau war es kein Problem gewesen. „Menschen sind so blind“, war San-juls nüchterner Kommentar dazu gewesen. Er hatte den Wächtern einen abwertenden Blick zugeworfen und verständnislos den Kopf geschüttelt. Nun standen sie wieder dort, wo Sharif bereits ein paar Tage zuvor stundenlang ausgeharrt hatte. Lange hatte er auf diese Tür gestarrt und jegliches Gefühl für Zeit verloren. War wie in Trance gewesen. Nichts hatte ihn wegbewegen können. Nur mit Mühe und Not war es ihm dann irgendwann gelungen, sich umzudrehen. Asrim ... Dort war er, versteckt hinter dieser Eisentür, die die Vampire spöttisch anzugrinsen schien. Schon seit fast einem Jahrhundert trennte sie den großen Untoten von der Außenwelt. Hatte ihn zu einem Geist werden lassen, einer bloßen Erinnerung. Nur wenige Jahre nach Sharifs Verwandlung war Asrim von den Magiern Mysticas überrumpelt worden. Lange hatte man ihn für tot gehalten, niemand hatte gewusst, was eigentlich genau passiert war. Es hatte nur Gerüchte und Mutmaßungen gegeben, mehr nicht. Aber Sharif hatte gespürt, dass sein Schöpfer noch lebte. Irgendwo. Auch das Buch der Zukunft, das nur wenige Zeit danach durch Zufall in ihre Hände gelangt war, hatte ihn in seinem Empfinden bestätigt. Asrim war damals nicht getötet, sondern nur verflucht worden. In einem ewigen Schlaf gefangen. Und es würde wahrlich nicht leicht sein, ihn wieder aufzuwecken. „Und dort ist es?“ Lasgo kräuselte die Stirn und betrachtete die dunkle Eisentür argwöhnisch. „Sieht irgendwie nicht sehr imposant aus.“ Er wollte überzeugend klingen und in den Ohren eines normalen Sterblichen hätte er auch sicherlich so gewirkt. Doch Sharif erkannte sofort, dass der Clanführer log. Seine Stimme zitterte unterschwellig vor Unruhe. Selbst Claire schien dies zu bemerken, zumindest warf sie Lasgo einen wissenden Blick zu. „Diese Barriere ist stark.“ San-jul trat nahe an die magische Absperrung heran und untersuchte sie eingehend. „Du hattest Recht, Sharif. Wir könnten sie niemals durchqueren.“ „Aber hoffentlich kann es meine Süße.“ Gorsco stieß die Magierin, die er die ganze Zeit äußerst grob am Arm gepackt hatte, in Richtung des Schutzwalls. Das Mädchen geriet ins Stolpern, doch Sharif konnte sie noch rechtzeitig abfangen und somit verhindern, dass sie unsanft auf dem harten Steinboden aufkam. Aber anstatt sich artig zu bedanken, weiteten sich Claires Augen vor Angst, als Sharif sie berührte. Schnell wich sie etwas vor ihm zurück. „Ich ... ich soll da durch?“ Unsicher starrte sie auf die Barriere, die leise knisterte. „Aber ...“ „Du bist eine Magierin“, meinte Sharif schulterzuckend. „Ihr habt diese Mauer erschaffen, also müsst ihr auch einen Weg kennen, sie zu durchschreiten.“ Er erwähnte hierbei nicht, was er insgeheim befürchtete. Zwar war es möglich, dass sich die Magier wirklich noch einen Zugang offen gehalten hatten, jedoch nicht zwingend erforderlich. Vielleicht hatten sie es auch für immer und ewig versiegelt, sodass niemand jemals seine Hände auf die Klinke dieser Eisentür würde legen können. Aber dennoch war es einen Versuch wert. Irgendwie mussten sie Asrim schließlich dort heraus bekommen. „Das ist ein ungeheures Maß an Magie“, erwiderte Claire. „Soviel hab ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ich weiß nicht –“ „Ach, hör endlich auf mit den Sprüchen und mach endlich das, wofür wir dich hierher gebracht haben.“ Gorsco war nicht sonderlich galant, als er die junge Frau Richtung Barriere schubste ... ... und sie mit einem lauten Knall davon abprallte. Für einen kurzen Moment vibrierte der Boden und es wurde dermaßen hell, dass alle Anwesenden die Augen zukneifen mussten. Es schien, als würde die magische Absperrung aufschreien. Claire landete hart auf dem kalten Stein. Sie schürfte sich dabei ihre Hände auf, der Geruch von Blut stieg Sharif sofort in die Nase. Sie bebte am ganzen Körper und schien keine Kraft mehr zu haben, aufzustehen. Als hätte die Schutzmauer ihr sämtliche Energie entzogen. Sich etwas von ihrer Magie geborgt. „Verdammter Mist!“, fluchte Gorsco. Er rieb sich mit schmerzverzerrter Miene seine Augen. „Und was machen wir jetzt? Hat irgendwer noch so eine glorreiche Idee?“ Während Lasgo seinen Untergebenden zur Ruhe maßte und San-jul sich daran machte, die entkräftete Claire wieder auf die Beine zu stellen, war Sharifs Aufmerksamkeit ganz und gar auf Neyo gerichtet. Dieser schien sich nicht daran zu kümmern, dass das Mädchen, mit dem er vor kurzem noch so heftig geflirtet hatte, eigentlich seiner Hilfe und seines Trostes bedurfte. Er schenkte ihr nicht mal einen einzigen Blick. Er war von etwas vollkommen anderen gefesselt. Seine Augen hatten einen ganz merkwürdigen Glanz angenommen. Sharif hatte so etwas zuvor noch nie gesehen und er musste zugeben, dass es ihn über alle Maßen verwirrte. Irgendwas stimmte mit dem Jungen nicht. Es mussten schon höhere Mächte im Spiel sein, wenn er plötzlich vier überaus reizbare Vampire und die hübsche Frau, die ihm augenscheinlich etwas bedeutete, plötzlich gar nicht beachtete. Als würde all das für ihn keine Rolle mehr spielen. Sein Blick war einzig und allein auf die Eisentür gerichtet. Und ein Lächeln zierte seine Lippen. Ein Lächeln, das irgendwie nicht sehr menschlich wirkte. „Asrim ...“, flüsterte er, als er ohne Vorwarnung unvermittelt auf die Barriere zutrat. * * * * * Neyo bemerkte, wie ihn alle Umstehende anstarrten. Überracht. Erstaunt. Irritiert. Die harte Fassade der Vampire war für einen Sekundenbruchteil wie verschwunden, alles Dämonische fiel von ihnen ab. Sie schauten ihn bloß verblüfft an und vergaßen dabei völlig, ihre dunklen Masken aufzubehalten. Neyo musste lächeln. Nun wirkten sie gar nicht mehr furchteinflößend. Sie schienen nur noch normale Menschen zu sein ... so, wie sie es auch wahrscheinlich einst gewesen waren, bevor sie in Untote verwandelt worden waren. Komm zu mir. Schon wieder diese Stimme. Erneut dröhnte sie in seinen Ohren und ließ alles andere unwichtig und nichtig erscheinen. Aber im Gegensatz zu den Stimmen, die Neyo vor gar nicht allzu langer Zeit krank gemacht hatten, war diese ganz anders. Wohltuend, fast schon erfrischend. Verführerisch. Als Neyos Blick zum ersten Mal auf diese Tür gefallen war, war sie plötzlich erklungen. Die anderen schienen sie gar nicht zu hören, nur er selbst konnte ihr lauschen. Und das war auch gut so. Er wollte dieses Erlebnis auf keinen Fall mit irgendjemanden teilen. Sein Unterbewusstsein, das ihn zur Vorsicht mahnte, ignorierte er völlig. Komm zu mir. Erlöse mich. „Asrim ...“, kam es erneut über seine Lippen. Er wusste nicht, wieso er dies sagte, es war fast wie ein Reflex. Er konnte es nicht steuern. Ebenso hatte er keinerlei Kontrolle über seinen Körper, als dieser sich plötzlich unvermittelt auf die Barriere zubewegte. Der rationale Teil in ihm schrie entsetzt auf und drängte ihn, sofort stehenzubleiben, doch es blieb ohne Wirkung. Neyo war viel zu sehr von dieser Stimme gefesselt, als dass er auf irgendwelche Warnungen reagiert hätte. Am Rande bekam er mit, dass dieser Vampir mit Namen Sharif ihm irgendetwas sagen wollte, aber Neyo nahm es nicht zur Kenntnis. Er sah bloß, wie sich die Lippen des Mannes bewegten, nichts weiter. Und es interessierte ihn auch eigentlich herzlich wenig, was dieser Kerl mit ihm zu besprechen hatte. Erlöse mich. Als Neyo schließlich durch die Absperrung trat, spürte er nichts. Weder einen harten Rückstoß, wie es bei Claire der Fall gewesen war, noch sonst irgendwas. Als hätte es nie eine magische Schutzmauer gegeben. Als wäre das alles nicht existent. Neyo bemerkte, wie alle Anwesenden fassunglos die Luft einsogen. Offenbar hatte niemand mit solch einer Aktion gerechnet, selbst dieser überhebliche Gorsco wirkte vollkommen verdattert. Die Luft schien immer dünner zu werden, je mehr er sich dieser Tür näherte. Augenscheinlich wirkte sie gewöhnlich, ganz und gar durchschnittlich so wie tausend andere Türen auch, doch man spürte, dass irgendwas nicht mit ihr stimmte. Große Mengen von Magie schien sie durchströmen, sie war ganz und gar erfüllt davon. Selbst Neyo als nichtmagisches Wesen konnte dies fühlen. Vorsichtig streckte er die Hand aus, fuhr mit seinen Finger zögernd über die kalte Klinke. Obwohl er von der Energie, die dieser Tür innewohnte, nicht von den Füßen gerissen wurde, fühlte er sich trotzdem unwohl in seiner Haut. Mit einem Mal war er sich gar nicht mehr so sicher, ob das, was er gerade tat, auch wirklich das Richtige war. Zweifel beschlichen ihn. Er wusste ganz genau, was in dem Zimmer verborgen lag. Sharifs 'Vater', wie es der Vampir so schön formuliert hatte. Ein Untoter, bei dessen Erwähnung Jyliere schon vor Schreck erbleicht war. Ein Monster, das eigentlich nicht wieder freigelassen werden sollte. Wieso also tat er das hier überhaupt? Warum brachte er sich freiwillig in Gefahr? Warum nur? Zweifel sind für Narren. Lasse dich nicht davon blenden. Diese Stimme ... sie war so vertraut. Aus irgendeinem Grund konnte sich Neyo ihr nicht entziehen. Er versuchte es nicht einmal. Als er die Klinke schließlich herunterdrückte und den bis dahin verschlossenen Raum betrat, schlug ihm eine bittere Kälte entgegen, die ihn für einen kurzen Moment wieder zögern ließ. Selbst die schlimmsten Winter Mysticas hatten beileibe noch wärmere Temperaturen gehabt als der Innenraum dieses Verlieses. Neyo war fast schon erstaunt, dass er nicht sofort an Ort und Stelle erfror. Zaghaft ließ er seinen Blick durch den kargen Raum schweifen. Es gab keine einzige Lichtquelle, doch auf seltsame Art und Weise vermochte Neyo, Umrisse zu erkennen. Zwar waren es im Grunde nur Schemen, die er ausmachen konnte, dennoch verblüffte es ihn. Dieser Kerker hatte weder ein Fenster, noch sonst irgendwas, durch das Licht hätte dringen können. Eigentlich hätte es stockdunkel sein müssen. Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des jungen Mannes. Offenbar noch eine übermenschliche Fähigkeit, dachte er bei sich. Obwohl der rationale Teil in ihm dies überhaupt nicht witzig fand, verspürte er dennoch so etwas wie Genugtuung aus den Tiefen seiner Seele. Neyo schaute über die Schulter zurück. Claire und die Vampire standen in einiger Entfernung hinter der magischen Barriere und starrten ihn an. Ihre Gesichter konnte er zwar nicht wirklich ausmachen, doch er spürte förmlich ihre Anspannung. Komm zu mir. Lass mich endlich frei. Neyo richtete seine Aufmerksamkeit wieder ins Innere des Raumes. Sein Blick blieb auf einem großen Gegenstand in der Mitte hängen, der im Grunde die alleinige Einrichtung darstellte. Ansonsten war das kleine Verlies vollkommen leer. Im ersten Moment wirkte es bloß wie eine große Holzkiste, doch bei näherer Betrachtung stellte Neyo fest, dass es sich um einen Sarg handelte. Er hob eine Augenbraue. Ein Sarg ... was für ein Klischee! Neyo trat vorsichtig einige Schritte näher, blieb aber augenblicklich stehen, als er die wahre Natur dieser Holzkiste erkannte. Der Sarg knisterte und knirschte, war geradezu mit Magie überladen. Selbst in der Eisentür und in der Absperrung zusammengenommen hatten nicht soviel Energie gesteckt. Neyo biss sich auf die Unterlippe. Diese Macht war für einen kleinen Menschen wie ihn viel zuviel. Erneut stiegen Zweifel in ihm auf. Doch wie von unsichtbarer Hand gelenkt, setzte er sich wieder in Bewegung und begann, den Sargdeckel zu bearbeiten. Obwohl die konzentrierte Magie über ihn herfiel wie ein wildgewordener Bienenschwarm, konnte er nicht zurückweichen. Der Bann, der ihn gefangenhielt und manipulierte, verhinderte es. Der Deckel schien zwar nur locker auf dem Kasten zu liegen, rührte sich jedoch keinen Zentimeter. Neyo mobilisierte alle ihm zur Verfügung stehende Kräfte, was sich jedoch als ziemlich schwierig erwies. Die fremde Energie durchfuhr seinen Körper, zerrte an seinen Muskeln und machte ihn schwach. Er biss zwar die Zähne zusammen, doch auch das konnte ihm nicht darüber hinweghelfen, dass er eher früher als später genauso zurückgestoßen werden würde wie Claire. Entkräftet und schlapp. Aber aufgeben kam für ihn nicht infrage. In seinem Inneren regte sich etwas, das Neyo zuvor noch nie verspürt hatte. Es klang fast wie das Brüllen eines Raubtieres. Eine hungrige Bestie, die nur darauf wartete, freigelassen zu werden. Neyo bemerkte fast zu spät, dass es ihm gelungen war, den Deckel ein wenig zu bewegen. Es war zwar nur ein kleines Stück, aber dies schien offenbar mehr als ausreichend zu sein. Denn mit einemmal schwang der Sargdeckel wie von Geisterhand zur Seite und landete polternd auf dem harten Steinboden. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Nichts rührte sich. Neyo hielt die Luft an und wich zaghaft einen Schritt zurück. Eine unsichtbare Macht hielt ihn zwar weiterhin an diesen Ort gebunden, doch er besaß wenigstens noch genug Geistesgegenwart, um vor dem schwarzen Nebel, der aus dem Sarg waberte, zurückzutreten. Wie ein lebendes Wesen schlängelte sich dieser dicht über den Boden und ließ den eh schon eisigen Raum um ein paar Grad kälter werden. Neyo klapperten unwillkürlich die Zähne, hastig umschlang er seinen Oberkörper, um es zumindest ein bisschen wärmer zu haben. Als er jedoch das Schauspiel beobachtete, das sich vor seinen Augen abspielte, wich auch der letzte Rest Wärme aus seinem Körper. Als Neyo zum ersten Mal von Asrim gehört hatte, hatte er sich so einiges unter diesen Kerl vorgestellt. Ständig hatte er an eine noch bösartigere Ausgabe von Gorsco denken müssen. An etwas durch und durch Dunkles. Doch niemand hätte ihn darauf vorbereiten können! Auf einen Mann mit einer solch starken Aura, dass es Neyo die Sprache verschlug. Dass ihm gleichzeitig heiß und kalt wurde. Neyo schluckte schwer. Selbst seine erste Begegnung mit Gorsco hatte ihn nicht dermaßen aus dem Konzept gebracht, wie es nun der Fall war. Für einen kurzen Moment wusste er nicht einmal, wo oben und unten war. Alles wirkte verzerrt und irreal. Niemals im Leben hätte Neyo es für möglich gehalten, je einem Mann gegenüberzustehen, der solch einen Einfluss auf ihn ausüben könnte. Er vermochte nicht mehr klar zu denken, seine Aufmerksamkeit war einzig und allein auf die finstere Gestalt gerichtet, die dort im Sarg lag. Er konnte zwar nur die Umrisse erkennen, doch mehr war im Grunde auch nicht nötig. Man spürte die Macht dieses Mannes in jeder einzelnen Faser des Körpers. Als würde sie durch den Raum strömen und jede Person befallen, der sie habhaft wurde. Wie eine schreckliche Krankheit. Doch aus irgendeinem Grund verspürte Neyo keinerlei Angst. Er war zwar unsicher und auch ein wenig fassungslos, aber so etwas wie Panik stieg nicht in ihm hoch. Stattdessen fühlte er sich sogar auf seltsame Art und Weise mit diesem Vampir verbunden. So verrückt ihm das Ganze auch erscheinen mochte, es war nun mal so. Er konnte nichts dagegen tun. Asrim erhob sich mit solch einer Geschmeidigkeit aus dem Sarg, dass man hätte denken können, er hätte nur einen kleinen Mittagsschlaf hinter sich. Seine Bewegungen nahm man kaum wahr, er war im Grunde wie ein einziger fließender Schatten. Der schwarze Nebel wich vor dem großen Untoten zurück. Als wäre er erleichtert, endlich dem Sarg und der fragwürdigen Gesellschaft Asrims entkommen zu können. Ein dämonisches Lächeln zierte Asrims Lippen, welches Neyo trotz des schlechten Lichts bestens erkennen konnte. „Es freut mich, dir endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, Neyo.“ Diese Stimme ...! Im Grunde hätte es Neyo nicht überraschen sollen, dass es dieselbe war, die ihn in dieses Zimmer gelockt hatte. Wie auch immer dieser Vampir es angestellt hatte, er hatte sich irgendwie in Neyos Kopf geschlichen und ihm Befehle erteilt, denen sich der junge Mann nicht hatte verweigern können. „Du ... du kennst meinen Namen?“ Neyo war wirklich verblüfft, dass er überhaupt noch sprechen können. Eigentlich hatte er angenommen, der große Schreck und die klirrende Kälte hätten seine Stimmbänder abgeschnürt. „Ich weiß alles über dich, mein Junge.“ Asrims Stimme war eisig und gleichzeitig schmeichelnd. Wie schaffte der Kerl das nur? Neyo kniff seine Augen zusammen und versuchte, noch mehr von dem Vampir auszumachen als nur sein von Zähnen gespicktes Lächeln. Doch unglücklicherweise vermochte er rein gar nichts zu erkennen, obwohl Asrim fast unmittelbar vor ihm stand. Einzig seine Augen leuchteten dumpf, ansonsten aber blieb er Teil der Dunkelheit. Neyo fröstelte es. Offenbar schien dies eine weitere Eigenschaft der Vampire zu sein, auch Gorsco war mit der Finsternis eins gewesen. Anscheinend konnten sich Untote in den Schatten bewegen, wie es ihnen beliebte. „Ich bin dir überaus dankbar, dass du mich aus diesem dreckigen Loch befreit hast“, fuhr Asrim fort. „Dafür hast du eine Belohnung verdient.“ Neyo schluckte. Er wollte lieber gar nicht wissen, wie diese 'Belohnung' aussah. „Doch dazu werden wir noch später Gelegenheit haben, mein kleiner Freund“, meinte der Vampir. „Deine Zeit wird kommen, das verspreche ich dir.“ Neyo versuchte, seinen Körper dazu zu zwingen, hastig das Weite zu suchen. Er flehte seine Beine geradezu an, sich endlich in Bewegung zu setzen und zu flüchten. Doch nichts geschah. Er blieb stehen wie festgewurzelt. Neyo malte sich bereits die schlimmsten Szenarien aus. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Asrim ihm den Hals umdrehte, ihm das Blut aussaugte und ihn in Stücke riss. Und das alles auch noch kurz hintereinander. Kurzum: Neyo hatte mit seinem Leben bereits abgeschlossen. Aber merkwürdigerweise spürte er immer noch keine Angst. „Du fragst dich bestimmt, wie ich es geschafft habe, dich dazu zu bringen, zu mir zu kommen, nicht wahr?“ Asrims Lächeln wurde breiter. Neyo brachte nur ein kraftloses Nicken zustande, zu mehr war er gar nicht mehr fähig. Der Vampir trat noch einen Schritt näher auf ihn zu. Neyo verkrampfte sich unweigerlich, sich der Anwesenheit dieses lebenden Toten plötzlich überdeutlich bewusst. Und zu seiner eigenen Überraschung war es ihm bei weitem nicht so unangenehm, wie es ihm eigentlich hätte sein sollen. „Frag dich lieber, warum es dir nicht gelungen ist, dich dagegen zu wehren.“ Und mit diesen Worten verschwand der Schatten so unerwartet, dass Neyo erschrocken aufkeuchte. Wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte es ihn nie gegeben. Selbst dieser merkwürdige schwarze Dunst war mit einemmal weg. Neyo warf einen Blick zurück und bemerkte, dass auch die anderen Vampire nicht mehr da waren. Nur Claire hockte dort auf dem Boden, etwas perplex, aber augenscheinlich unverletzt. Neyo gestattete sich einen erleichterten Seufzer. Die Gefahr war offenbar gebannt, anscheinend war es diesen Untoten wirklich nur darum gegangen, Asrim zu befreien. Auf eine kleine Zwischenmahlzeit zur Feier des Tages hatten sie glücklicherweise verzichtet. Allerdings fühlte sich Neyo alles andere als wohl. Zwar war dieser schreckliche Druck nach Asrims Verschwinden von ihm abgefallen, doch er war überzeugt, dass die ganze Sache noch nicht ausgestanden war. Asrim würde zurückkehren, soviel stand fest. Immerhin wollte er sich noch bei Neyo bedanken ... wie auch immer diese 'Belohnung' aussehen mochte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)