Dunkelheit von Nochnoi ================================================================================ Kapitel 11: Mäusejagd --------------------- Das nächste Kapitel ^__________^ Ich hoffe, es gefällt euch ^^ Ich selbst bin nicht wirklich zufrieden damit, es ist irgendwie nicht ganz so geworden, wie ich es mir vorgestellt hatte ... Aber ich hoffe, ihr denkt da anders drüber XDDD _________________________________________________________________________ Es war totenstill in der riesigen Villa. Kein Laut drang durch das Haus, welches einst reichen Bürgern gehört hatte, und nun den Vampiren als Unterschlupf diente. Der Morgen war bereits vor mehreren Stunden angebrochen und hatte die Untoten dazu veranlasst, sich in ihre Zimmer zurückzuziehen und sich der wohlverdienten Ruhe hinzugeben. In verdunkelten Räumen hatten sie es sich in edler Bettwäsche gemütlich gemacht und hingen ihren Träumen nach. Nur zwei Vampire hatten noch keine Zeit zum schlafen gefunden. Der eine war rastlos und aufgewühlt, der andere bloß einer derjenigen, die stets gerne aus der Art schlugen und nur das taten, was ihnen beliebte. „Vielleicht solltest du dich was hinlegen“, schlug Gorsco vor. Er sah dem hin- und herlaufendem Sharif schon seit mehreren Minuten wortlos zu, ohne sich zu beklagen. Obwohl die Unruhe des Jüngeren sehr an Gorscos Nerven zehrte, hatte er bis jetzt geschwiegen. „Ich brauche keine Ratschläge“, erwiderte Sharif. „Ich will das alles nur schnell hinter mich bringen. In diesem Land voller Magier gefällt es mir nicht besonders.“ „Das kann ich verstehen“, stimmte Gorsco zu. Auch er war es langsam leid, all diesen Sicherheitswachen und magischen Schutzvorrichtungen auszuweichen und sich ständig im Verborgenen zu halten. Zwar war es für ihn kein Problem, mit den Schatten eins zu werden, aber auf die Dauer wurde das ziemlich lästig. Er sehnte sich geradezu danach, ungehindert durch die Straßen zu schlendern und dummen Mädchen irgendwelchen Quatsch auf die Nase zu binden, damit sie ihm bereitwillig folgten. Seit sie in Mystica waren, hatte er kaum Gelegenheit gehabt, sich diesem kleinen Spielchen hinzugeben. Stattdessen mussten sie ihre Opfer schnell und möglichst ohne Aufsehen töten. Gorsco empfand dies als nicht besonders amüsant. „Lasgo hat mir von einer jungen Magierin erzählt“, meinte Sharif. „Die du letztens im Haus dieses Jyliere getroffen hast. Sie könnte uns vom Nutzen sein.“ Ein Lächeln breitete sich auf Gorscos Lippen aus. Eine wahre Schönheit war sie gewesen, köstlich in jedweder Hinsicht. Gerne erinnerte er sich an ihr hübsches Gesicht und an den verlockenden Geruch ihres Blutes. Eine Trophäe, die er sich noch zu holen gedachte. Ein Mädchen, das er unbedingt haben wollte. „Inwiefern könnte sie uns denn helfen?“, fragte Gorsco. Nun gut, sie war eine Magierin – und zwar eine gar nicht mal so schlechte –, aber war es wirklich deswegen? „Das erklär ich dir später.“ Der dunkelhäutige Mann fuhr sich durchs Haar. „Erst einmal erzählst du mir mehr über den Jungen.“ „Den Jungen?“ „Lasgo hat ihn zwar nur so nebenbei erwähnt, aber es hat meine Aufmerksamkeit erregt.“ Sharifs Augen leuchteten für einen Moment auf. „Ein gewöhnlicher Mensch, der dir einfach so ausweichen kann?“ Gorsco verzog missmutig das Gesicht. An diesen arroganten Kerl wurde er eigentlich nicht gerne erinnert. „Er hatte nur Glück“, entgegnete er. „Nichts weiter.“ „Glück?“ Sharif schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, mein Freund. Das war was ganz anderes.“ Gorsco hob skeptisch eine Augenbraue. Worauf wollte der Typ denn hinaus? „Und was war es?“ Sharif schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln, das Gorsco auf unerklärliche Weise zusammenzucken ließ. Dieser Ägypter war durch und durch seltsam, soviel stand fest. Obwohl so jung, konnte er selbst den Ältesten Angst einjagen. Wirklich beachtlich. „Behalt den Jungen im Augen“, ordnete Sharif an. „Zu gegebener Zeit werden wir uns seiner annehmen.“ „Zu gegebener Zeit?“ Gorsco verstand immer noch nicht, was der Kerl eigentlich wollte. „Was soll das? Der Idiot gehört mir, verstanden? Er hat mich gedemütigt und dafür wird er büßen.“ Sharif warf Gorsco einen ernsten Blick zu. „Das wirst du wohl verschieben müssen. Du krümmst ihm kein Haar, ansonsten werde ich äußerst ungehalten darauf reagieren. Hab ich mich klar ausgedrückt?“ Gorsco setzte eine trotzige Miene auf. Wie sehr er es doch hasste, herumkommandiert zu werden. „Ja, ja“, meinte er. „Aber würdest du mir wenigstens verraten, warum ich ihn verschonen soll?“ Sharifs darauffolgendes Lächeln war heimtückisch und eiskalt. Erneut überkam Gorsco unwillkürlich ein Frösteln. „Er wird unsere Trumpfkarte sein.“ * * * * * Es herrschte geschäftiges Treiben in der Küche. Marie hatte vor gut einer halben Stunde eine Maus zwischen den Mehlsäcken entdeckt und vor lauter Schreck das ganze Haus zusammengeschrien. Unnötig zu erwähnen, dass in diesem Augenblick unzählige Teller und Gläser zu Bruch gegangen waren, weil die erschrockenen Küchenjungen sie hatten fallen lassen. Nun befand sich fast die ganze Dienerschaft auf der Suche nach diesem kleinen Störenfried. Nach Maries äußerst unfreundlicher Begrüßung war der Nager irgendwo verschwunden und hatte sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Wahrscheinlich war er in irgendein Loch geschlüpft und würde nicht so schnell wieder herauskommen. Doch das minderte den Ehrgeiz des großen Suchtrupps in keiner Weise. Fässer wurden zur Seite gerollt, Möbelstücke verschoben ... im Grunde wurde die ganze Küche auf den Kopf gestellt. Die Jüngsten krauchten auf dem Boden und hielten Ausschau nach winzig kleinen Spuren, während die Größeren sogar auf riesigen Schränken nachschauten, als würden sie tatsächlich glauben, die Maus wäre dort hochgefolgen. „Der ganze Aufstand wegen einer einzelnen Maus.“ Calvio hockte unbeeindruckt auf einem Stuhl und paffte genüsslich an seiner Pfeife. Unter normalen Umständen hätte ihn Gustav sicherlich hart dafür gerügt, doch im Moment befand sich der Koch irgendwo unterhalb des Herdes und hatte noch gar nichts von Calvios Gesetzesübertritt mitbekommen. „Ich glaube, die langweilen sich alle.“ Catherine saß neben ihm, ihre Mundwinkel nach unten verzogen. Diesen ganzen Zirkus fand sie maßlos übertrieben. „Die müssen sich irgendeine Beschäftigung suchen.“ Calvio seufzte. „Du hast wahrscheinlich Recht“, gab er zu. „Seit dieser Einbrecher hier war, sind schon fast drei Wochen vergangen. Nun müssen sie halt Mäuse jagen.“ Catherine schnaubte. Irgendwie war das Ganze absolut lächerlich. Selbst einige Wachen Te-Kems beteiligten sich voller Eifer bei der Suche, durchwühlten Schränke und krochen auf der Erde. Anscheinend hatten sie nichts Besseres zu tun, schon seit längerer Zeit war nichts Ereignisreiches mehr geschehen. „Neyo würde dieser Anblick bestimmt gefallen.“ Calvio grinste breit. „All diese hochtrabenden Männer und Frauen, die auf dem dreckigen Fußboden liegen, um eine kleine Maus zu finden.“ Ja, Neyo hätte dies sicherlich gefallen ... Doch war er schon lange nicht mehr bei ihnen gewesen. Früher hatte er sich tagtäglich in der Küche und im Dienstbotentrakt aufgehalten, inzwischen jedoch ließ er sich nicht mehr blicken. Stattdessen schien er plötzlich die Gesellschaft der Magier zu bevorzugen. Catherine knirschte mit den Zähnen. Dauernd hielt er sich in ihrer Nähe auf. Wich kaum noch von ihrer Seite. Claire ... diese falsche Schlange!! Stets hatte sie allen vorgeheuchelt, dass Neyo ihr nichts bedeuten würde. Dass er in ihren Augen bloß ein schäbiger Straßenköter sei. Nun jedoch verbrachte sie die meiste Zeit mit ihm. Redete geradezu ausgelassen und fröhlich, wie Catherine sie noch niemals in der Gegenwart eines Dieners hatte sprechen sehen. „Du bist eifersüchtig, nicht wahr?“ Calvio betrachtete sie amüsiert. „Tja, Schätzchen, was soll ich dazu sagen? Vergiss Neyo einfach, er war nie für dich bestimmt.“ Catherine hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Was fiel diesem Proll überhaupt ein, ihr Vorschriften machen zu wollen? Nun gut, es stimmte, sie war durch und durch eifersüchtig auf diese süße kleine Magierin, die sich von einen Tag auf den anderen von einem gefühllosen Tyrannen zu einem einigermaßen passablen Menschen verwandelt hatte. Auch ihr Aussehen hatte sich verändert. Früher war sie äußerst bieder und bis oben hin zugeknöpft gewesen, nun aber schien sie in dieser Hinsicht ein wenig lockerer zu werden. Besonders auffällig waren ihre Haare, die sie nun immer offen trug und sie erstaunlicherweise wie eine richtig nettes Mädchen aussehen ließen. Sie wirkte plötzlich nicht mehr wie eine strenge Gouvernante, sondern wie ein hübsches, unschuldiges Ding. Selbst die pubertären Küchenjungen starrten ihr ab und zu hinterher, wenn sie glaubten, unbeobachtet zu sein. Catherine ballte ihre Hände zu Fäusten. Männer!!! Kaum änderte Claire ein wenig ihre Gaderobe, schien wohl jeder zu denken, sie sei nun ein völlig anderer Mensch. Aber da irrten sie gewaltig! Claire war immer noch Claire und so würde es auf ewig bleiben. Sie würde bis zu ihrem Tod eine arrogante, verwöhnte Prinzessin bleiben, die den Dienstboten keines Blickes würdigte. Auch Neyo würde das schon bald erkennen, da war Catherine sich ganz sicher. „Du solltest dir nicht allzu viele Hoffnungen machen“, meinte Calvio in einem belustigten Tonfall. Catherine warf ihm einen giftigen Blick zu. „Ach ja? Kannst du etwa Gedanken lesen?“ Calvio lachte auf. „So in etwa, Süße. Man kann es deinem hübschen Näschen ansehen, worüber du gerade nachgrübelst. Aber das ist vergebliche Liebesmüh, mein Engel. Ich kenne Neyo besser, als er sich vielleicht selber kennt, und ich weiß genau, wie er tickt.“ „Worauf willst du hinaus?“, zischte Catherine. Calvio lächelte verwegen. „Da bahnt sich was zwischen den beiden an. Und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst.“ Catherine zog missbilligend eine Schnute. Schon wieder nervte er sie mit seinen überflüssigen Kommentaren. Als sie gerade darüber nachdachte, ob sie diesem berüchtigten Piratenmörder für seine Dreistigkeiten nicht eine scheuern sollte, bemerkte sie plötzlich, dass alle Aufmerksamkeit auf ihr lastete. Verwirrt starrte sie an all die Gesichter, die sich ihr unvermittelt zugewandt hatten. Jeder einzelne in der Küche starrte sie durchdringend an. Was war denn los? Was wollten die alle von ihr? Plötzlich vernahm sie ein Piepsen. Überrascht schaute sie nach unten und entdeckte die kleine Maus, nach der so eifrig gefahndet wurde. Sie befand sich direkt neben Catherines Füßen und tat sich an einem Brotkrümel gütlich. Die Augen aller Anwesenden leuchteten gierig auf. Man konnte ihnen ansehen, dass jeder von ihnen diese winzige Trophäe für sich beanspruchen wollte. Und sie würden dafür über Leichen gehen. Alles aus den Weg räumen, was sich ihnen entgegenstellte. Oder auch gerade nur vollkommen zufällig in der Nähe war. Catherine schluckte schwer. Oh nein!!! Der Lärm und die Schreie, sie daraufhin in der Küche ausbrachen, waren in der ganzen Villa zu hören. * * * * * Claires Zimmer war kaum noch wiederzuerkennen. Die aquribische Ordnung, auf die sie immer so stolz gewesen war, hatte einem Chaos Platz gemacht, wie man es nur selten sah. Bücher und Schriftrollen, vom Alter bereits vergilbt und brüchig, lagen überall im Raum verstreut und hatten beinahe den ganzen Boden bedeckt. Man wusste kaum noch, wo man seine Füße hintun konnte. „Es ist wirklich faszinierend.“ Claire hockte im Schneidersitz auf ihrem Bett, knabberte an einem Stück Apfel und starrte geradezu hingerissen auf das aufgeschlagene Buch vor sich. „Ich hätte nie gedacht, dass es soviele Informationen über sie gibt.“ Neyo, der gar nicht allzu weit entfernt auf einem Stuhl saß und geradezu schreckliche Angst hatte, sich irgendwie zu bewegen, um zu verhindern, dass er aus Versehen auf eines der kostbaren Schriftstücke drauftrat, hob eine Augenbraue. „Und diese Bücher handeln alle von Vampiren?“ „Mehr oder weniger“, bestätigte Claire weiterhin kauend. „In einigen steht ziemlich viel, in anderen gibt es nur ganz knappe Erwähnungen. Aber es ist interessant zu sehen, wie weit die Legenden über diese Untoten verbreitet sind. Hier, sogar ein Bericht aus den fernen Ländern des Ostens. Faszinierend, nicht wahr?“ „In der Tat“, meinte Neyo, jedoch bei weitem nicht so begeistert. Er starrte nur voller Unbehagen auf all die Werke, als würden sie ihn in der nächsten Sekunde anfallen. „Es wird ziemlich oft das Problem mit dem Sonnenlicht angesprochen“, sagte Claire. „Viele behaupten, dass Vampire einfach verbrennen würden, wenn sie damit in Berührung kämen. Denkst du, das stimmt? Es klingt irgendwie etwas merkwürdig.“ „Von diesen Gerüchten hat Jyliere mir auch schon erzählt“, meinte Neyo. „Aber er hat mir gleich gesagt, dass das bloß ein dummer Aberglaube wäre. Es stimmt zwar, dass Vampire Kreaturen der Nacht sind und am Tage eigentlich nur selten herauskommen, doch das heißt noch lange nicht, dass das Sonnenlicht sie töten würde. Im Grunde ist es wie mit uns Menschen. Wir leben am Tag und schlafen in der Nacht – nun ja, zumindest die meisten von uns –, aber deswegen bringt das Mondlicht uns nicht um.“ Claire nickte. „Das hab ich mir gleich gedacht. Es klang zu verrückt, um wahr zu sein.“ Sie blickte wieder auf das Buch hinab. Ihre Augen blieben an der Zeichung eines Vampirs hängen, welche erstaunliche Ähnlichkeit mit der Darstellung aus Jylieres mysteriösen Zukunftsbuch hatte. Unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken, als sie wieder an Gorsco denken musste. „Was hast du?“, wollte Neyo wissen. Claire schaute auf. Unsicher biss sie auf ihrer Unterlippe herum, ehe sie zu einer Antwort ansetzte: „Es ist nur, dass ... sie sind tot, Neyo. Tote Körper, die dennoch irgendwie leben.“ Sie zog missmutig ihre Mundwinkel nach unten. „Das ist widernatürlich.“ Neyo starrte sie eine Weile mit einem undefinierbaren Blick an. „Also bin ich auch widernatürlich?“ Claire zuckte zusammen. Das hatte sie nun wirklich nicht gemeint. „Du verstehst mich falsch“, erwiderte sie hastig. „Du bist vollkommen normal, aber sie ... Wer weiß, wie alt sie schon sind? Wer weiß, wann sie gestorben sind?“ Ihr schauderte es. „Irgendwie ist diese Vorstellung sehr abstrus, findest du nicht?“ Neyo legte seinen Kopf schief und lächelte plötzlich schelmisch. „Du fragst mich in letzter Zeit öfters nach meiner Meinung, hast du das bemerkt? Früher hast du dich nicht darum geschert, was ich gedacht habe.“ Claire fühlte sich viel zu verlegen, als dass ihr die Tatsache aufgefallen wäre, dass Neyo nicht auf ihre Frage geantwortet hatte. „Nun ja ... ich ...“ „Ich frage mich, warum du nicht schon viel früher so nett zu mir gewesen bist“, fuhr Neyo fort. „Wir verstehen uns doch ziemlich gut. Wieso hat das früher nicht geklappt?“ Claire fuhr sich durchs Haar. Irgendwie nahm dieses Gespräch eine unangenehme Wendung, die ihr gar nicht gefiel. Über solche Themen wollte sie eigentlich nicht diskutieren, doch Neyo setzte offenbar alles daran, sie von den zahlreichen Legenden der Vampire abzulenken. „Du bildest dir nur was ein.“ Claire versuchte, hochnäsig und abweisend zu klingen, aber zu ihrer eigenen Verwunderung gelang es ihr nicht wirklich. Was war bloß los mit ihr? „Ich glaube nicht.“ Neyo grinste wieder. Lausbübisch und frech. Früher hatte Claire dieses Lächeln zur Weißglut gebracht, sie hatte darin nichts weiter als Spott und Hohn gesehen. Nun jedoch bemerkte sie, dass ihr Herz unwillkürlich schneller schlug. Langsam wurde diese ganze Angelegenheit immer skurriler. „Wenn ich mir das alles nur einbilde, wieso hast du dann meinen Rat beherzigt und trägst deine Haare jetzt offen?“, wollte Neyo wissen. Claire kaute auf ihrer Unterlippe. Was sollte sie darauf schon erwidern? Tatsache war es schließlich, dass sie es wirklich getan hatte, weil sein Kompliment sie irgendwie berührt hatte. Sie hatte gespürt, dass er es ehrlich gemeint hatte. Und das war mehr gewesen, als sie je gedacht hätte. „Ich glaube, du bist gar nicht so unhöflich, wie du immer tust.“ Neyo stand auf und bewegte sich mit geradezu übertriebener Vorsicht an all den Büchern vorbei. „In der Tiefe deines Herzens bist du eigentlich ein freundlicher Mensch. Du bist nur zu stolz, es zuzugeben.“ Claire verzog missmutig ihr Gesicht. Eine Moralpredigt von jemanden, der früher die Reste aus Abfalleimern gegessen hatte ... besser konnte es ja gar nicht mehr kommen. „Du hältst dich wohl für weise, was?“, knurrte sie. „Ich bin nicht weise“, entgegnete Neyo. „Ich sehe nur. Das ist alles.“ Mit seiner typischen Gelassenheit ließ er sich neben sie aufs Bett plumpsen, als wäre dies das Natürlichste der Welt. Claire schnaubte. „Und was siehst du?“ „Dass du im Grunde nur so kaltherzig und distanziert bist, weil du keine Gefühle zulassen willst“, meinte Neyo. „Seit dem Tod deines Vaters hast du kaum jemanden an dich herangelassen, nur Jyliere ist zu dir durchgedrungen. Andere jedoch stoßen bei dir auf eine hohe Mauer.“ „Fantastisch“, sagte Claire trocken. „Du hast mich durchschaut.“ „Du brauchst gar nicht sarkastisch zu werden, das ist mein voller Ernst“, entgegnete er. „Du hast nur Angst, verletzt zu werden. Genau wie damals mit deinem Vater.“ Claire hob argwöhnisch eine Augenbraue. Sollte das alles nur ein dummer Scherz sein? Immerhin war Neyo dafür bekannt, dass er Leute auf eine gewisse Art und Weise verspotten konnte, ohne dass diese es so recht bemerkten. Er ließ seinen Charme spielen, sodass man am Ende nicht wusste, ob das alles nur ein schlechter Witz gewesen war oder nicht. Er war ein Meister der Täuschung und schaffte es immer wieder aufs Neue, sein Gegenüber heillos zu verwirren. Und so auch dieses Mal? Ihr Verstand riet Claire, nicht dem Trugschluss zu erliegen, dass es Neyo tatsächlich ehrlich meinte. Stets war er ungehobelt ihr gegenüber gewesen, ob nun völlig offen oder versteckt hinter schönen Worten und einem breiten Lächeln. So war es immer gewesen. Aber andererseits spürte Claire Zweifel. Zwar war es im Grunde nur ein vages Gefühl der Unsicherheit, trotzdem existierte es und machte sie irgendwie nervös. Die Tatsache, dass sie fast schon gewillt war, Neyo zu glauben, war ihr einfach nicht geheuer. Früher wäre ihr so etwas niemals passiert. „Du denkst, dass ich Recht habe, nicht wahr?“ Neyo klang über alle Maßen selbstzufrieden. Claire bedachte ihn mit einem eisigen Blick. Ob er Recht hatte oder nicht, spielte für sie eigentlich gar keine Rolle. Sie wollte einfach nur wissen, ob er sich über sie lustig machte oder es diesmal wirklich ernst meinte. Und trotzdem ... hatte er denn überhaupt Recht? Stimmte es wirklich, dass sie sich vor menschlichen Emotionen zurückzog, um nicht wieder solch ein Leid erfahren zu müssen wie damals nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters? „Du solltest mehr aus dir herausgehen“, schlug Neyo vor. „Lach öfters. Sei ein bisschen offener anderen Menschen gegenüber. Du wirst sehen, das wirkt wahre Wunder. Im Grunde bist du nämlich ziemlich sympathisch. Ich weiß, wovon ich spreche. Und ich finde es schade, dass all die anderen die echte Claire nicht erleben dürfen.“ Die Magierin spürte, wie ihr unvermittelt Röte ins Gesicht schoss. Sie versuchte zwar, es mit allen Mitteln zu unterbinden, stellte aber rasch fest, dass dies nicht wirklich möglich war. Hastig wollte sie sich wegdrehen, doch Neyo griff sie sanft am Kinn und zwang sie, ihn direkt anzusehen. „Du solltest es wirklich mal probieren“, sagte er. „Was hast du schon großartig zu verlieren? Deinen Stolz? Deine harterkämpfte Anerkennung? Vergiss den ganzen Mist.“ Claire verengte ihre Augen zu Schlitzen. Nun verspottete er sie aber wirklich ... „Die anderen sollen auch das sehen können, was ich sehe“, meinte er leise, fast schon flüsternd. Irrte sie sich oder war er tatsächlich ein Stückchen näher zu ihr gerückt? Zumindest hatte sich der Abstand zwischen ihnen deutlich verringert. Claire schluckte. Was sollte das? Was hatte er nur vor? Und die weitaus wichtigere Frage: Wieso ließ sie es überhaupt geschehen? Inzwischen war Claire hundertprozentig davon überzeugt, dass sie ihren Verstand verloren hatte. Früher hätte sie ihm ohne Zögern eine schallende Ohrfeige verpasst oder ihm irgendeinen Fluch an den Hals gehetzt, nun jedoch hockte sie einfach stocksteif da, ihr Herz wild pochend, und ließ es zu, dass Neyo ihr dermaßen nah kam. So nah ... „Wirklich überaus entzückend. Es tut mir fast schon leid, diese romantische Stimmung zu unterbrechen.“ Claire lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie diese Stimme hörte. Die Stimme, die ihr seit geraumer Zeit ständig in ihren Albträumen begegnete und sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Ebenso die dazugehörigen funkelnden Raubtieraugen. Sie wagte es kaum, sich umzusehen. Viel zu sehr hoffte sie, dass das alles bloß eine Illusion war. Nichts weiter als dumme Einbildung. Doch Neyos Gesichtsausdruck sprach Bände. Auch er hatte es gehört, es war also nicht nur ein Produkt ihrer Fantasie gewesen. Es war echt. Gorsco war nicht allein gekommen, wie Claire zu ihrem Entsetzen feststellen musste. Neben dem gierig grinsenden Vampir befanden sich noch drei weitere Personen, die ebenfalls nicht sehr vertrauenswürdig erschienen. Einer wirkte unheimlicher als der andere. Sie alle machten den Eindruck, mehr Schatten und Dämonen als Menschen zu sein. Claires Blick blieb jedoch an jemand ganz Bestimmten hängen. Sie hatte diesen jungen Mann mit der kupferfarbenen Haut und den langem dunklen Haar noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen und doch kam es ihr gleichzeitig so vor, als würde sie ihn kennen. Als würde es irgendeine Verbindung zwischen ihnen geben, die sich die Magierin einfach nicht erklären konnte. Unter normalen Umständen hätte Claire diesen Mann sicher anziehend gefunden. Seine Ausstrahlung war enorm, seine Aura sowohl geheimnisvoll als auch irgendwie verführerisch. Sicherlich hatte dieser Kerl schon unzählige Herzen gebrochen. Oder er hatte die Frauen, die ihn angehimmelt hatten, einfach umgebracht. Dass er ebenfalls ein Vampir war, stand außer Frage. Man spürte es förmlich, das ganze Zimmer war davon erfüllt. Und er war ganz gewiss kein niederer Untoter, soviel war klar. Dieser Kerl hatte Macht ... vielleicht sogar noch mehr Macht als Gorsco und die anderen beiden Vampire. Claire schluckte. Das waren ja äußerst rosige Aussichten. „Was wollt ihr hier?“ Neyo war aufgesprungen und hatte sich schützend vor Claire gestellt. Seine Hände verkrampften sich zu Fäusten. Offenbar war er bereit, sich mit den Eindringlingen anzulegen ... so verrückt dies auch sein mochte. „Ein kleines freches Mundwerk.“ Der besagte Vampir war vorgetreten und bedachte sein Gegenüber mit einem interessierten Blick. „Du musst Neyo sein, nicht wahr?“ Neyo schnaubte. „Und wer will das wissen?“ Der Vampir grinste. „Man nennt mich Sharif. Vielleicht habt ihr schon von mir gehört.“ Claire lief ein kalter Schauer über den Rücken. Obwohl sie eigentlich damit gerechnet hatte, war es dennoch irgendwie erschreckend. Immerhin hatte Jyliere ihn als großen Vampir bezeichnet, den man in ferner Zukunft als König ansehen würde. Die Magierin schüttelte es unvermittelt. Sharifs Stimme war wie klirrendes Eis, das sich in ihre Haut bohrte. Tief und unbarmherzig. Und der Blick, mit dem er Neyo bedachte, wollte Claire auch nicht so recht gefallen. Fast schon fasziniert ... als wüsste er ganz genau, was Neyo eigentlich wirklich war. Vielleicht war es ja tatsächlich so. „Ihr habt meine Frage nicht beantwortet: Was wollt ihr hier?“ Neyo knirschte mit den Zähnen. Er ließ sich in keiner Weise anmerken, ob er sich fürchtete oder nicht. Selbst Claire konnte seine genauen Gefühle nicht ergründen. Es schien beinahe so, als hätte er eine Barriere errichtet. Sharif schmunzelte amüsiert. „Was für ein mutiges kleines Bürschchen du doch bist“, meinte er. „Dumm, einfältig und komplett verrückt ... aber trotzdem mutig. So etwas schätze ich sehr. Größenwahnsinn ist immer überaus belustigend.“ Neyo machte den Anschein, als wollte er sich ohne Rücksicht auf Verluste auf den Vampir stürzen. Claire packte ihn noch rechtzeitig am Arm und holte ihn damit in die Realität zurück. „Im Grunde brauchen wir dich gar nicht“, meldete sich einer der Untoten zu Wort. Er hatte langes silbernes Haar, ein fast schon aristokratisches Auftreten und den Blick eines Massenmörders. „Unser Interesse gilt mehr deiner entzückenden Freundin.“ Und mit diesen Worten richtete er seine glühenden Augen auf Claire. Die Magierin fuhr zusammen. Sie spürte, wie sie erneut die Angst zu übermannen drohte. Und diesmal war es sogar noch schlimmer als bei ihrer ersten Begegnung mit Gorsco in der Bibliothek. Sie waren nicht hinter irgendeinem verdammten Buch her, sondern hinter ihr. Warum auch immer ... Claire zwang sich, einen klaren Kopf zu behalten. Es brachte niemanden etwas, wenn sie nun die Fassung verlor und somit den Vampiren die Gelegenheit bot, sie ohne größere Schwierigkeiten zu überrumpeln. Die junge Frau versuchte, die bösartigen Augen dieser Kreaturen zu ignorieren und sich stattdessen ganz und gar auf die Glocken zu konzentrieren, die überall im Haus verteilt waren. Te-Kems Wächter und vor allen Dingen Jyliere selbst würden auf ihren Hilferuf binnen weniger Sekunden reagieren. Die Vampire würden überhaupt keine Chance haben, zu begreifen, was eigentlich geschah. Und dann? Claire bezweifelte zwar, dass Jyliere und das Schutzpersonal stark genug waren, um diese Kerle zu überwältigen, aber möglicherweise könnten sie sie wenigstens verwirren. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. „Denk nicht mal dran.“ Sharif starrte sie unverhohlen an. Claire wich ein Stück zurück. Hatte er etwa durchschaut, was sie vorhatte? Aber wie? Konnte dieser Vampir etwa Gedanken lesen? „Solltest du es wagen, irgendwen zu alarmieren, wird es um deinen Freund äußerst schlecht bestellt sein.“ Innerhalb eines Wimpernschlags stand er plötzlich unvermittelt neben Neyo und hatte ihm seine kalten Finger demonstrativ in den Nacken gelegt. „Es ist für mich ein Leichtes, das Genick eines kümmerlichen Menschen zu brechen.“ Claire schluckte schwer. Soviel also zu ihrem Plan ... „Was wollt ihr denn nun von uns?“ Immer noch ließ Neyo keine Furcht erkennen. Er schien sich nicht mal daran zu stören, dass ein Vampir gerade sein Leben in der Hand hielt. Sharif legte den Kopf schief. „Wir machen einen kleinen Ausflug“, erklärte er. „Ich will euch nämlich unbedingt meinen Vater vorstellen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)