Dunkelheit von Nochnoi ================================================================================ Kapitel 2: Unheilvolle Schatten ------------------------------- Jyliere war vor den Spiegel getreten und betrachtete sich selbst. Er drehte sich von einer Seite auf die andere und begutachtete missmütig seinen Körper. Noch vor einem Monat war er ein stattlicher Mann gewesen, nicht zu dünn und nicht zu dick. Er hatte herrlich geschmaust und für seine Ungeniertheit sogar den ein oder anderen vorwurfsvollen Blick seitens Claire auf sich genommen. Sein Koch, Gustav, war ein wahrer Meister in seinem Fach, sodass es Jyliere stets schwergefallen war, sich zurückzuhalten. Aber nun hatte sich alles geändert. Seit er diesen Brief erhalten hatte, geschrieben von einem Getreuen, der an der Südgrenze Mysticas, am Schwarzgebirge, stationiert war, war nichts mehr so, wie es war. Anfangs hatte Jyliere es leugnen wollen und auch Te-Kem selbst hatte es für unmöglich gehalten. Noch nie, in ihrer langen Geschichte, war etwas Vergleichbares geschehen. Doch inzwischen hatte die Realität sie eingeholt und sie hatten herausgefunden, dass die Beobachtungen, die am Schwarzgebirge gemacht worden waren, der Wahrheit entsprachen. Man hatte Zeugen befragt, Erkundungen gemacht, nach Beweisen gesucht – schließlich war man fündig geworden. Zunächst war es nur ein bedrohlicher Schatten gewesen, doch inzwischen fand selbst der geschickteste Redner und Täuscher keine Gegenargumente mehr. Die Schatten hatten sich in festes Mauerwerk verwandelt, unumstößlich. Gerüchte waren zu Tatsachen geworden. Jyliere wurde das Herz schwer, als er daran dachte. Selbst Te-Kem war ratlos und wusste nicht genau, was er tun sollte. Seine Zauberkräfte und sein weit verbreitetes Netzwerk von Kriegern und Spionen hatten bis jetzt keine nennenswerte Erfolge erzielen können. Schließlich hatte niemand damit gerechnet, es hatte jedermann völlig unvorbereitet getroffen. Die Suche nach Hinweisen und die Vorbereitungen für die Verteidigungen liefen auf Hochtouren, aber gleichzeitig hatte der Obere darauf bestanden, nichts der Öffentlickeit preiszugeben. Er wollte eine Massenpanik verhindern, die zweifelsohne ausgebrochen wäre. Jyliere fand es unnötig mühsam, im Dunkeln zu arbeiten, doch er konnte Te-Kems Bewegunggründe verstehen und wollte ihm nicht im Wege stehen. Der Obere würde zusätzliche Belastung wahrscheinlich nicht verkraften, ihm glitt sowieso nach und nach alles durch die Finger. Jyliere fühlte sich ebenso hilflos. Anfangs war er optimistisch gewesen, dass die Gefahr abzuwenden wäre. Schließlich hatten sie auch vor Jahren die Barbaren aus dem Nachbarland vertrieben, im Grunde war die derzeitige Situation nicht viel anders. Aber mit der Zeit musste er erkennen, dass sie beinahe machtlos waren. Der Feind überschwemmte das Land, ließ hier und dort hässlich entstellte Leichen zurück und hielt sich im Verborgenen. Diese Wesen waren es gewohnt, in der Finsternis zu verharren, bevor sie erbarmungslos zuschlugen. Ihre Fähigkeiten waren übermenschlich und so etwas wie Mitleid kam in ihrem Vokabular nicht vor. Sie kannten nur die Sprache der Unterwelt, der unermesslich schrecklichen Hölle. Was wollen sie bloß hier? Was suchen sie hier, was sie woanders nicht auch finden können? Tief in seinem Inneren wusste Jyliere die Antwort, doch es widerstrebte ihm, bloß daran zu denken. Es war eine alte Legende, die nur die hochgestellten Magiers Mysticas kannten. Ein Mythos und doch die Wahrheit. Aber genau wie Jyliere verschloss sich Te-Kem davor. Seine Familie hatte damals zuviel verloren, um sich daran zu erinnern. Das Geheimnis war vergraben, tief in der Erde Rashitars. Niemand sollte es aufwecken oder je erwähnen. Die Magier bekamen diese Geschichte nur einmal in ihrem Leben zu hören, danach wurde nie wieder darüber gesprochen. Jyliere hatte es schon beinahe vergessen gehabt, doch als die Wahrheit ans Tageslicht gekommen war, hatte es ihn getroffen wie ein Blitz. Er war zusammengesackt und hatte zum ersten Mal in seinem Leben bittere Tränen geweint. Er hatte das Ende Mysticas und ihrer Bewohner betrauert, welches in nicht allzu ferner Zukunft eintreffen würde. Natürlich hatten seine ersten Gedanken Claire gegolten. Ihr herzliches Lachen, ihre strahlende Augen, ihr zartes Wesen – all dies schätzte und liebte er so sehr, dass er es gar nicht beschreiben konnte. Wie würde er es ertragen können, sollte ihr etwas zustoßen? Würde er es überhaupt ertragen können oder würde er elendlich an seiner Trauer zugrunde gehen? Klopfen an der Tür unterbrach seine düsteren Gedanken, wofür er im Endffekt auch sehr dankbar war. Die Dunkelheit vor seinem geistigen Auge verschwand und machte einem wärmenden Licht Platz. Neyo trat ein, mit gesenkten Kopf, in seiner Hand ein dickes Buch, das augenscheinlich schon mehrere Jahrzehnte hinter sich hatte. „Pierre sagte, du hättest nach diesem Buch verlangt“, meinte der junge Mann knapp. Jyliere musterte ihn und wie immer überkam ihm eine Welle des Stolzes, wenn er Neyo vor sich sah. Als er den jungen Burschen vor Jahren im Gefängnis entdeckt hatte, war er abgemagert und ohne jede Hoffnung gewesen. Seine Augen, leer und hohl, hatten in einem erschreckendem Glanz geleuchtet. Er war ein Junge gewesen, der teilsnahmlos auf seinen Tod gewartet hatte. Aussicht auf Rettung schien er nie gehabt zu haben. Jyliere konnte dies verstehen, schließlich war Neyo Zeit seines Lebens auf sich allein gestellt gewesen. Der Magier hatte dem jungen Kerl nie viel Informationen aus der Vergangenheit entlocken können, dennoch war ihm bewusst geworden, dass Neyo einiges durchlitten hatte. Die Erfahrungen mit dem Tod waren ihm buchstäblich im Gesicht geschrieben. Die Armut und die Einsamkeit hatten ihn aufgefressen und schließlich nur noch eine leere Hülle zurückgelassen. Jyliere hatte es schwer gehabt, dieses Gefäß wieder zu füllen, doch er hatte all seine Konzentration und Anstrengung auf den neuen Jungen in seinem Leben gelenkt. Neyo hatte es zunächst nicht begriffen, dass ihm jemand hatte helfen wollen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. So etwas wie Mitgefühl, Vertrauen oder gar Liebe hatte er nicht gekannt. Er war anfangs oft ausgebüchst und hatte Jyliere offenkundig sehr misstraut. Es hatte zwar keine Feindseligkeit zwischen ihnen geherrscht, dennoch war dem Magier klar gewesen, dass Neyo ihn für eine falsche Schlange gehalten hatte, die irgendwann ihre wahre Absichten offenbaren würde. Jyliere hatte es sehr viel Mühe gekostet, den Jungen vom Gegenteil zu überzeugen, doch irgendwann war es ihm gelungen. Der Magier konnte zwar im nachhinein nicht mehr genau bestimmen, wie er es geschafft hatte, doch nur das Ergebnis zählte. Nach und nach, in ganz langsamen Schritten, hatte Neyo begonnen, ihm zu vertrauen und ihn als Freund anzusehen. Diese Leistung – das Herz eines vereinsamten und verzweifelten Jungen zu erweichen und für sich zu gewinnen – war bis jetzt das Größte, das er je zustande gebracht hatte, so fand zumindest Jyliere. All seine Magie, die er zum Wohle des Landes eingesetzt hatte, all die Leben, die er gerettet hatte . . . dies war im Vergleich geradezu ein Kinderspiel gewesen. Neyo war damals und auch noch manchmal heute die Herausforderung seines Lebens. Inzwischen war aus ihm ein recht passabler Mann geworden, dem die Frauen scharenweise hinterherschauten. Seine Haut war einige Nuancen dunkler als bei den meisten (Jyliere vermutete, dass zumindest eines seiner Elternteile aus einem entfernten Land stammen musste), sein Haar pechschwarz und gelockt und sein Körper durchtrainiert. Die weibliche Welt lag ihm geradezu zu Füßen, von der einfachen Magd bis hin zu den adeligen Damen, die ihre Bewunderung jedoch stets zu verbergen versuchten, da Neyo für sie immer noch die Stellung eines Küchenjungen und ehemaligen Diebes einnahm. Neyo jedoch schien diese Beachtung kaum wahrzunehmen, zumindest interessierte es ihn nicht sonderlich. Er hätte, wenn er gewollt hätte, alle Frauen haben können, nach denen es ihm verlangte, aber aus irgendeinem Grund hielt er sich zurück. Es machte beinahe den Eindruck, als wartete er auf etwas weitaus Größeres, als die Zuneigung eines hübschen Mädchens zu gewinnen. „Du hättest dir nicht die Mühe machen sollen, es mir zu bringen“, meinte Jyliere. Er riss es Neyo dennoch schnell aus den Händen, als könnte das Buch den jungen Mann plötzlich unvermittelt anfallen. „Pierre hätte es erledigen können.“ „Aber er hat es mir aufgetragen“, widersprach Neyo, immer noch den Blick gesenkt. „Er ist die ältester und getreuster Diener, ich kann ihm doch nichts abschlagen.“ Jyliere runzelte verblüfft die Stirn. Er hatte Neyo noch nie dermaßen unterwürfig reden hören, normalerweise nahm er kein Blatt vor den Mund. Bei aller Magie, was hat Claire bloß mit ihm angestellt?, dachte er. Claire hatte es nie über sich gebracht, Neyo als gleichgestellten Menschen anzuerkennen. Sie sah in ihm lieber einen niederen Diener, der widerstandslos Befehlen zu gehorchen hatte. Sie behandelte ihn herablassend und ohne den geringsten Respekt. Jyliere hatte dies bloß für eine Phase gehalten, vielleicht auch für eine Art Spielchen, und gedacht, dass Claire sich bald wieder einkriegen würde, doch es schien genau ins Gegenteil zu laufen. Das Mädchen war verbissener denn je und schien sich durch Jylieres Zurückhaltung sogar noch bestätigt zu fühlen. Kein Wunder also, dass sie unverblümt vorgeschlagen hatte, Neyo zu bestrafen. In den letzten beiden Wochen war der junge Mann Claire ausgeliefert gewesen und Jyliere konnte sich bereits denken, dass es heftige Streitereien gegeben hatte. Die beiden hatten sich noch nie über längere Zeit vertragen. Jyliere fand diesen Umstand sehr traurig. Er liebte Claire wie eine Tochter und auch Neyo war ihm sehr ans Herz gewachsen. Es betrübte ihn, dass die zwei sich nicht zusammenraufen und Frieden schließen konnten. Das liegt vor allem an Claires unglaublichen Dickschädel, dachte Jyliere. „Neyo“, sagte der Magier in einem besänftigenden Tonfall. „Du bist kein Diener.“ Neyo sah auf, doch seine Miene war ausdruckslos. „In den letzten Wochen schon“, erwiderte er. Die Kränkung war ihm plötzlich deutlich im Gesicht geschrieben. Jyliere seufzte. „Ich werde mit Claire reden. Versprochen.“ „Und worüber?“ „Darüber, dass du ein Bewohner dieses Hauses bist und kein Diener“, sagte Jyliere. „Sie muss dich mit dem nötigen Respekt behandeln.“ „Sie wird nicht auf dich hören“, erwiderte Neyo. „Sie ist ein Sturkopf, ein –“ Er hielt noch rechtzeitig inne, ehe er eine verletzende Beleidigung ausstoßen konnte, die ihm offenbar auf der Zunge gelegen hatte. „Du hast es schon so oft versucht, aber sie scheint es für einen Scherz zu halten.“ „Es ist die Welt, in der sie lebt“, versuchte Jyliere, zu erklären. Er merkte selbst, wie wenig überzeugend er klang. „Die Gesellschaft wird in verschiedene Schichten aufgeteilt und auch ich kann daran nichts ändern. Claire hat zu lange in diesem Umfeld gelebt, ehe sie zu mir kam. Sie war bereits geprägt durch ihren Vater, ihre ganze Umgebung.“ Neyo bedachte ihn mit einem undefinierbaren Blick. „Willst du dich etwa für sie entschuldigen?“ „Ich werde mit ihr reden“, wich Jyliere der Frage aus. „Und nun geh bitte, ich bin sehr müde. In der Küche wird gerade gekocht, vielleich kannst du schon etwas abstauben. Du brauchst nur die Mägde zu becircen und du bekommst alles, was du willst.“ Neyo grinste. „Eine gute Idee.“ Er drehte sich gerade um, da verharrte er noch einen Augenblick und sagte zu dem alten Magier: „Ich bin froh, dass du wieder da bist. Du hast uns allen sehr gefehlt.“ Jyliere hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die in diesem Moment hervorzubrechen drohten. Neyo schenkte ihm noch ein letztes Lächeln und verschloss die Tür hinter sich. In seinen Augen hatte der alte Magier kein Anzeichen dafür finden können, ob er begriffen hatte, wie sehr diese Worte Jyliere rührten. Auch als Claire ihm zum ersten Mal ihre Zuneigung gestanden hatte, hatten dem Magier jegliche Worte gefehlt. Er war so bewegt und geschmeichelt gewesen, dass er sie kurzerhand einfach in den Arm genommen hatte. Dieses Ereignis, so hatte er im nachhinein realisiert, hatte die Grenzen zwischen ihnen endgültig gesprengt. Neyo hingegen war schwerer zu meistern gewesen als Claire. Sein angeborenes Misstrauen hatte es im untersagt, irgendwelche Gefühle für den alten Knacker zu entwickeln, der sich so aufopfernd um ihn kümmerte. Er hatte hinter allem eine Finte gesehen, überall nur Fallen und Lügen. Irgendwann aber – nach einer schier endlos langen Zeit – war das Eis nach und nach gebrochen. Dennoch sprach Neyo seine wahren Gefühle nur selten aus, was aber wahrscheinlich inzwischen eher daran lag, dass sich Männer grundsätzlich bedeckt hielten. Darum war jede Liebesbekundung ausgesprochen selten und Jyliere hütete sie wie einen Schatz. Diese beiden Menschen bedeuten mir so unheimlich viel, dachte er, während allmählich die Verzweiflung zurückkehrte, die Neyo für einen kurzen Moment verscheucht hatte. Ich kann sie doch nicht einfach sterben lassen. Nein, das konnte er gewiss nicht. Jyliere legte das Buch, das ihm Neyo gebracht hatte, mit einer geradezu übertrieben wirkenden Vorsicht auf den großen Schreibtisch. Es war in einem einfachen, dunkelbraunen Lederband gehalten welches nicht im geringsten den grausamen Inhalt widerspiegelte. Es erschien harmlos, bloß wie ein weiteres Lexikon, die Jyliere zur Genüge in seiner Bibliothek angehäuft hatte. Jyliere fuhr mit den Fingerspitzen über die Gravur auf der oberen Mitte des Deckels. Ihm war bewusst, dass die Welt der Gewöhnlichen, weit dort draußen hinter dem Schwarzgebirge, nicht mal im entferntesten wusste, was ein Buch überhaupt war, somit war es umso erstaunlicher und auch unbegreiflicher, dass dieses Werk aus eben dieser Region stammte. Ein Magier hatte es vor mehr als hundert Jahren nach einer langen Reise nach Mystica mitgebracht. Ein junger Mann, augenscheinlich ein höhergestellter Herr, hatte es ihm wortlos in die Hand gedrückt und war daraufhin verschwunden. Niemand hatte ihn je wieder gefunden oder von ihm gehört. Das Schwierigste war gewesen, die Sprache zu entschlüsseln. Es war wie eine Art Code angelegt, eine Sammlung aus unterschiedlichen Symbolen, Buchstaben und Zahlen, die für ein ungeübtes Auge keinen Sinn ergaben. Es hatte mehr als fünfzig Jahre gedauert, bis die hohen Magier das Buch endlich hatten lesen können. Inzwischen wünschten sich einige von ihnen, dass sie dies wieder rückgängig machen könnten. Das, was in dem Buch stand, hatte sie zutiefst erschüttert und ihre Moralvorstellungen schwer in Frage gestellt. Selbst heute noch graute es den wenigen Magiern, die die Sprache beherrschten, überhaupt den Titel des Buches zu lesen. Sie hielten es für ein schlechtes Omen, für ein ungutes Zeichen von Göttern, Dämonen oder sonstigen Gestalten. Man hatte sogar überlegt, es zu verbrennen, doch Jyliere hatte sich noch rechtzeitig eingeschaltet und das Buch an sich genommen. Jyliere wusste auch nicht mehr so genau, was ihn überhaupt dazu getrieben hatte, dieses Ding vor den Flammen zu retten. Damals hatte er es für eine gute Idee gehalten, doch inzwischen war es sich nicht mehr so sicher. Das Buch mochte vielleicht ein reicher Fundus an unschätzbaren Wissen sein, aber andererseits umgab es auch eine Art unheimliche Aura, die sich niemand so recht erklären konnte. Es war wahrhaftig ein Buch der Magie, doch ganz gewiss keiner guten Magie. Jyliere las den Titel und spürte, wie ihn erneut Ehrfurcht und auch ein wenig Panik erfüllte. Das Buch der Zukunft, stand dort in schwarzen, reich verzierten Lettern. Das Buch der Zukunft – das war es wirklich, zumindest wenn man dem Inhalt Glauben schenkte. Es erzählte zwar auch haargenau vergangene Ereignisse, doch größtenteils bezog es sich auf Geschehnisse, die noch passieren würden. Anfangs, als man das Buch nach und nach übersetzt hatte, hatte man es für einen dummen Scherz gehalten, sodass einige jegliches Interesse daran verloren hatten, es überhaupt weiter zu entschlüsseln. Man hatte es für ein simples Märchenbuch gehalten und die Enttäuschung war groß gewesen. Viele hatten sich Hoffnungen gemacht, etwas Einzigartiges und Erstaunliches in den Händen zu halten, aber nach ihrer ernüchternden Erkenntnis hätte es ebenso gut das Werk eines verzogenen Bengels sein können, der sich einen Spaß daraus machte, andere an der Nase herumzführen. Doch dann war etwas geschehen, womit niemand gerechnet hatte. Mehrere der Prophezeiungen, die in dem Buch erwähnt wurden, waren plötzlich in Erfüllung gegangen. Es hatte von einem Sturm erzählt, der halb Mystica stark in Mitleidenschaft ziehen würde . . . und so war es dann auch passiert! Auch den Angriff der Barbaren aus dem Nachbarland vor mehreren Jahren hatte es vorausgesehen. Einzigartig war dieses Buch auf jeden Fall, dennoch hatte man sehr bald entschieden, es loszuwerden. Die Prophezeiungen berichteten allesamt von Katastrophen, Seuchen, Kriegen oder gar den Untergang ganzer Reiche. Selbst das Ende Mysticas war dort vermerkt, welches etwa in fünfhundert Jahren eintreffen sollte. Spätestens nach dieser Entdeckung hatte sich selbst der ehrgeizigste Magier davon abgewandt. Dies war eine Zukunft, von der niemand etwas wissen wollte. Neben all den Schreckensberichten gab es aber auch eine schier endlos lange Liste von Feinden und Dämonen, sowohl aus der Vergangenheit, als auch aus der Gegenwart und Zukunft. Ihr Leben und ihr Sterben waren dort verzeichnet, ebenso wie ihre abscheulichen Gräueltaten. Schon allein beim Lesen wurde einem speiübel und man fragte sich, wie Menschen – und auch Dämonen – nur so etwas zustande bringen konnten, ohne an ihren Gewissensbissen zugrunde zu gehen. Man musste schon ohne Seele sein, um etwas Vergleichbares tun zu können. Jyliere schlug die Seiten auf. Er spürte, wie seine Fingerspitzen zu kribbeln begannen, als würde das Buch selbst eine mystische Magie abgeben, doch Jyliere ignorierte es. Er fühlte dies jedes Mal und es störte ihn inzwischen nicht mehr. Er blätterte es unaufhaltsam durch, vorbei an all den Ereignissen, die bereits geschehen waren. Vorbei an Kriegen, Intrigen und Meuchelmorden. Vorbei an den Schrecknissen der Menschheit, die des öfteren dermaßen grausam waren, das Jyliere diese Leute beruhigt zu der Kategorie Dämonen zählen konnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Schließlich hielt er inne. Vor ihm war eine Seite aufgeschlagen, die sich nicht weiter von den anderen unterschied, wenn man die Sprache nicht lesen konnte. Jyliere erinnerte sich plötzlich wieder an Baptistes ernsten Gesichtausdruck, als er seinen Freund gebeten hatte, im Buch der Zukunft nach eben jenen Kapitel zu suchen. Im Gegensatz zu den anderen Magiern hatte sich der etwas exzentrische Mann niemals vor diesem Werk verschlossen oder es aus seinem Herzen verbannt. Er entsann sich immer wieder an einzelne Passagen und auch diese, die nun vor Jyliere aufgeschlagen war, hatte er noch sehr gut im Kopf behalten. Dennoch hatte er Jyliere gebeten, sich selbst ein Bild zu machen. Baptiste hatte es zwar nicht gesagt, aber er schien Angst davor gehabt zu haben, die Worte, die er vor so endlos langer Zeit gelesen hatte, zu wiederholen. Jyliere entschlüsselte Wort für Wort, Symbol für Symbol. Als er schließlich damit fertig war, sank er kraftlos zu Boden und zitterte am ganzen Leibe. Nie hätte er es gedacht. Nie hätte er damit gerechnet, dass es so schlimm werden würde. * * * * * „Hast du gesehen, wie dünn er war? Er sieht echt nicht gut aus.“ Catherine saß Neyo gegenüber und beugte sich weiter vor, damit er sie besser verstehen konnte. Sie befanden sich in der Küche, hatten auf den unbequemen Holzbänken Platz genommen und versuchten hartnäckig, den Trubel und den Lärm, der rings um sie herrschte, zu ignorieren. Doch dies war, so bemerkte Neyo, ein schier unmögliches Unterfangen. Küchenjungen klapperten mit Töpfen und Geschirr, die Mägde schrien unaufhörlich Kommandos und Gustav, der Koch, grölte wie so üblich ein äußerst anzügliches Lied, wenn er mal wieder in seinem Element war. Neyo musste grinsen. Es mochte alles chaotisch wirken, dennoch stimmte es ihn heiter. Er vergaß Claire arroganten Gesichtsausdruck und Jylieres geradezu leidliche Miene und verlor sich ganz im Trubel dieser Menschen. Menschen, die über die Jahre hinweg zu guten Freunden geworden waren. Neyo spießte sich ein Stück Lammfleisch auf und schob es in den Mund, wo es genüsslich auf der Zunge zerging. Gustav hatte ihm zunächst nichts von seinem vorzüglichen Mahl abgeben wollen, doch nachdem seine reizende Tochter Catherine ihn mit Worten und einem geradezu hinreißenden Augenaufschlag betört hatte, war jeglicher Widerstand versiegt. Nun saß Catherine ihm gegenüber und in ihren Augen konnte er lesen, dass sie eine Art Wiedergutmachung von ihm erwartete. Sie war siebzehn und eine wahre Augenweide, keine Frage, und sie wusste es, ihre Reize perfekt einzusetzen. Im Gegensatz zu der zugeknöpfen Claire hatte sie stets offenherzige Kleider bevorzugt, die mehr zeigten als verhüllten. Ihr tiefschwarzes Haar trug sie offen und schüttelte es dann und wann, um die willenlose Männerwelt gefügig zu machen. Einzig die Erinnerung an ihren herrischen und temperamentvollen Vater hielt die Herrschaften zurück, wie wilde Tiere über sie herzufallen. Neyo konnte es sehr gut verstehen, dass viele ihr Herz an Catherine verloren hatten, doch er gehörte nicht dazu. Er hatte sie als kleines Kind kennen gelernt und fühlte sich immer noch wie ein großer Bruder für sie. Die Vorstellung, ihren Annäherungsversuchen entgegenzukommen widerte ihn geradezu an. Dennoch, obwohl sie seine Zurückhaltung eigentlich bemerken musste, ließ sie nicht locker. Anstatt sich den Kerlen hinzugeben, die schon bei ihrem Anblick hemmungslos zu sabbern begannen, hatte sie sich einem Mann verschrieben, der in dieser Hinsicht gar nichts von ihr wissen wollte. Aber so war Catherine nun mal, sie liebte Herausforderungen. „Er wird krank, glaub ich“, meinte Neyo. „Er sah aus, als hätte er keine ruhige Nacht mehr gehabt. Irgendwas beschäftigt ihn.“ „Ich hab ihn noch nie so erlebt“, sagte Catherine. „Er scheint in letzter Zeit richtig besorgt. Irgendwie macht mir das Angst.“ Neyo zuckte mit den Schultern, während er auf einem Stück Kohl kaute. „Das gibt sich wieder.“ „Ach ja?“, erwiderte Catherine, nun etwas gereizt. „Pierre hat mir erzählt, dass Jyliere selbst noch beim Angriff der Barbaren frohen Mutes war.“ Neyo hob ungläubig eine Augenbraue. „Pierre redet mit dir? Du bist die Ausgeburt der Unterwelt, schon vergessen?“ Catherine lief rot an vor Wut. Sie wurde nicht gern daran erinnert, mit welch selbstgefälligen Blick der spießige Pierre sie tagein, tagaus strafte. Für ihn waren Catherine freizügiger Kleidungsstil und ihr unverfrorenes Gebarden ein Zeichen für den Verlust ihrer Seele. „Na fein, nicht direkt mit mir, aber mit jemand anderen hat er gesprochen und ich war zufällig in der Nähe“, gab sie zähneknirschend zu. „Das kommt der Realität schon näher“, meinte Neyo schelmisch grinsend. Doch anstatt sich weiter in ihren Ärger hineinzusteigern, lächelte sie plötzlich. „Du willst mich bloß wieder reizen, nicht wahr? Aber darauf lass ich mich nicht ein.“ „Wie du meinst“, sagte Neyo. Er schenkte der Haushälterin Marie, die schon seit unzähligen Jahren in Jylieres Diensten stand, ein aufmunterndes Lächeln, als diese gestresst an ihnen vorbeihetzte. Sie erwiderte die Geste und war für einen Moment dermaßen abgelenkt, dass sie frontal mit einem schwerbeladenen Küchenjungen zusammenkrachte. Das Scheppern abstürzender Töpfe ließ die ganze Küche für einen Augenblick erstarren. „Du solltest die Damen nicht so becircen, Neyo“, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. „Sie wissen dann gar nicht mehr, was sie tun.“ Neyo brauchte sich nicht umzudrehen, um seinen alten Freund Calvio wiederzuerkennen. Der bärtige Mann von etwa vierzig Jahre ließ sich ächzend neben Neyo nieder und vergriff sich ungefragt an dessen Essen. Während Catherine unwillkürlich das Gesicht verzog, konnte Neyo nur schmunzeln. Typisch für Calvio, irgendwo aufzukreuzen und sich einzumischen, wo es ihm gerade passte. Während die meisten Calvio für etwas suspekt hielten und eine Art Bandit und potenziellen Meuchelmörder in ihm sahen, hatte Neyo in ihm einen Seelenverwandten gefunden. Auch er hatte lange Zeit auf der Straße gelebt, ehe er bei Jyliere ein Dach über den Kopf gefunden hatte. Und dennoch, obwohl er sich nun in den besten Kreisen befand, hatte sich sein Benehmen nicht im geringsten verändert. Er war ein ungehobelter, ständig fluchender (und er kannte wirklich ausgezeichnete Verwünschungen, bei denen selbst Experten einen roten Kopf bekamen) Trotzkopf, der sich von niemanden etwas sagen ließ. Selbst Jyliere konnte ihm nichts befehlen, sondern nur höflich bitten. Niemand, auch nicht mal Neyo, konnte sich vorstellen, was den Magier damals gereizt hatte, diesen respektlosen Vandalen in sein Haus mitzunehmen, zumal keiner so genau wusste, was Calvio eigentlich genau für Jyliere tat. Er verschwand manchmal einige Tage und kam dann gutgelaunt zurück, doch er verlor kein einziges Wort darüber. Auch Jyliere hüllte sich in Schweigen. „Wir sind uns gerade am unterhalten, Calvio“, zischelte Catherine gereizt, „falls du überhaupt weißt, was das bedeutet.“ „Aber natürlich weiß ich das.“ Der Mann lachte dröhnend, als hätte sie soeben der größten Witz der Welt erzählt. „Es stellt sich allerdings die Frage, ob du es auch wirklich weißt, oder ob du eher daran interessiert bist, Neyo zu bezaubern und ihn in dein Bett zu kriegen.“ Jede halbwegs anständige Dame wäre bei diesen Worten empört aufgesprungen, hätte Calvio mit einem hasserfüllten Blick gestraft und wäre gekränkt davongestürmt. Doch da Catherine keinen Funken Anstand im Leib hatte, blieb sie sitzen, lächelte sogar geheimnisvoll, als hätte Calvio mit seiner Vermutung gar nicht so Unrecht. Wahrscheinlich hat er das auch nicht, dachte Neyo betrübt. Catherines Avancen nervten ihn allmählich, doch er wagte es nicht, sie direkt darauf hinzuweisen. Bei diesem Mädchen war man gut damit beraten, seine Stimme zu erheben, wenn man wollte, dass sie einen wenigstens annähernd zur Kenntnis nahm, aber dies hatte wieder zum Nachteil, dass man damit ungewollt Gustav auf den Plan rief, der es ganz und gar nicht leiden konnte, wenn jemand seine geliebte Tochter anschrie. Es rankten sich einige Legenden um diesen hünenhaften Mann, in denen es hieß, er könne das Rückgrat eines anderen mühelos brechen. Neyo war nicht erpicht darauf, herauszufinden, ob dies der Wahrheit entsprach. „Ich seh schon, Neyo ist das Thema unangenehm.“ Calvio schlug seinem Freund dermaßen aufmunternd auf den Rücken, dass er beinahe vornübergekippt wäre. „Also reden wir am besten von was anderem.“ Calvio legte seine Stirn grüblerisch in Falten, was einen wirklich albernen Anblick bot. Sogar Catherine biss sich auf die Lippen, um sich ein Lachen zu verkneifen. „Alsooo . . habt ihr schon bemerkt, dass der große Meister wieder da ist?“ „Ich muss schon sagen, deine Geprächsthemen sind äußerst einfallsreich“, sagte Catherine spöttisch. „Kein Wunder, dass du länger darüber nachdenken musstest.“ Calvio war viel zu guter Laune, um sich auf irgendeine Weise provozieren zu lassen. Er zwinkerte Catherine schelmisch zu und meinte: „Du kennst mich doch, Puppe, ich bin einzigartig.“ „Hast du meine Tochter etwa gerade 'Puppe' genannt?“, schallte es vom anderen Ende der Küche zu ihnen herüber. Gustav starrte Calvio vorwurfsvoll an und schien darüber zu sinnieren, ob er ihn mit dem Messer aufschlitzen sollte oder nicht. Wahrscheinlich war das einzige, was ihn von dieser überstürzten Tat zurückhielt, die Gerüchte, die über Calvio im Umlauf waren. Es hieß nämlich, er wäre der Mörder einiger berüchtiger Piratenführer, die nicht für ihre Feinfühligkeit bekannt gewesen waren. Niemand wusste, ob dies nun stimmte oder nicht, und Calvio machte sich auch keine große Mühe, Klarheit zu verschaffen. Er lächelte immer nur versonnen, wenn dieses Thema angesprochen wurde, weder bestätigte er es, noch widerlegte er es. Er genoss es einfach viel zu sehr, ein mysteriöser und undurchschaubarer Mann zu sein. „Du musst dich verhört haben, mein Freund“, brüllte Calvio zu dem verärgerten Koch herüber. An Catherine gewandt flüsterte er: „Meine Güte, der hat ja Ohren wie ein Luchs. Da muss man ja richtig aufpassen.“ „Unsere Familie verfügt über viele außergewöhnliche Gaben“, meinte Catherine grinsend. Dabei schaute sie vor allen Dingen Neyo an, der mit mürrischer Miene ihrem Blick auswich. „Wir waren gerade dabei, über Jyliere zu sprechen“, lenkte er rasch das Thema in eine andere Richtung. Ihm dürstete es wenig danach, von Catherines Qualitäten zu hören. „Richtig“, meinte Calvio, nachdem er dem immer noch wütend dreinblickenden Gustav ein freundliches Lächeln zugeworfen hatte, das in Neyos Augen jedoch alles andere als aufrichtig gewesen war. „Es ist merkwürdig, dass er sich noch nicht hat blicken lassen. Nach seiner Ankunft hat er sich sofort in sein Zimmer zurückgezogen.“ „Sonst begrüßt er uns immer“, sagte Catherine. „Die einzigen, die wirklich mal kurz mit ihm gesprochen haben, waren Pierre und Claire.“ Sie zog demonstrativ ihre Mundwinkel nach unten. „Ich hab sie zufällig auf dem Flur getroffen und gefragt, wie es Jyliere so ginge und ob er bald vorbeischauen würde. Sie hat natürlich sehr freundlich reagiert, wie immer.“ Auch Catherine konnte Claire, wie der Rest des Personals, absolut nicht leiden. Hinzu kam noch, dass sich Claire immer ziemlich ungehalten über Catherines Aussehen und Verhalten äußerte, sodass sogar eine Art Kleinkrieg zwischen den zwei Frauen ausgebrochen war. Es war für Neyo jedesmal ein Hochgenuss, dabei zuzusehen, wie die beiden versuchten, sich gegenseitig mit ihren Blicken zu töten. Catherine war jemand, den Claire noch mehr verachtete als ihn. „Ich hab auch kurz mit ihm gesprochen“, meinte Neyo. „Tatsächlich?“, fragte Catherine interessiert. „Und?“ Neyo zuckte mit den Schultern. „Er sah mitgenommen aus, was aber, denk ich, kein Wunder ist. Von Fielle zurück ist es ein weiter Weg. Er hat mich kurz darauf abgewimmelt. Hätte ich ihm nicht dieses Buch bringen müssen, hätt ich ihn wahrscheinlich auch nicht zu Gesicht bekommen.“ „Vielleicht hast du ja wirklich Recht und er wird krank“, sagte Catherine besorgt. „Ich weiß gar nicht, wie alt er eigentlich ist. Im Moment sieht er aus wie mein Großvater – kurz, bevor dieser gestorben ist.“ Sie riss plötzlich erschrocken ihre grasgrünen Augen auf. „Oh, bei allen Göttern! Was ist, wenn Jyliere sterben muss? Dann sind wir Claire hilflos ausgeliefert.“ „Er wird nicht sterben, verstanden?“ Calvios Miene war hingegen seiner Natur sehr ernst, als er Catherine anschaute. Diese wich unweigerlich ein Stück zurück. Auch Neyo musste sich eingestehen, dass dieser Gesichtausdruck seines Freundes etwas Merkwürdiges an sich an. „Neyo?“ „Was ist?“ „Du hast gerade erwähnt, dass du Jyliere ein Buch gebracht hast“, meinte Calvio. „Welches war das?“ Neyo runzelte verwundert die Stirn. Warum wollte er das wissen? „Ich weiß nicht genau. Ich konnte die Schrift nicht entziffern. Es waren irgendwelche Symbole, die ich noch nie gesehen habe.“ „Noch nie?“, hakte Calvio nach. Er kratzte sich nachdenklich am Bart. „Dabei bist du so ein schlaues Bürschchen. Beherrschst mehrere Sprachen . . . dennoch konntest du es nicht entziffern.“ Neyo verstand beim besten Willen nicht, worauf Calvio hinauswollte. Er konnte weder lesen noch schreiben und schien auch nie großen Wert darauf gelegt zu haben, es zu erlernen. Neyos Unterricht hatte er müde belächelt und alle Lehrer und Gebildete als „hochnäsiges Pack“ bezeichnet. Für ihn hatte es nie eine große Rolle gespielt. Er verirrte sich nur in Jylieres prachtvolle Bibliothek, wenn er aus Versehen die falsche Abzweigung genommen hatte. „Warum willst du das wissen, Calvio?“, fragte Neyo, wobei er sich keine Mühe gab, sein Misstrauen zu verbergen. Sein langjähriger Freund lächelte nur geheimnisvoll. „Ach, nur so. Einfach reines, unschuldiges Interesse.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)