Kurzgeschichten von Schreiberliene (Was werden sie sagen, meine Darling?) ================================================================================ Linda Lay --------- Im Grunde war Linda Lay ein ganz normales Mädchen. Sie trug ihr Haar lang und glatt, wenn es Mode war; und sie trug es kurz gelockt, wenn die Mode sich wieder änderte. Sie mochte rosafarbene T-Shirts zu langen weißen Röcken, wenn alle sie trugen, und sie trug Röhrenjeans in Stiefeln, weil jedes Mädchen sie mochte. Sie liebte Brad Pitt und Leonardo DiCaprio, wenn man sie gerade gerne sah, und waren diese Zeiten vorbei, leugnete sie, jemals von ihnen geschwärmt zu haben. Jeden Morgen, bevor sie in die Schule ging, bevor sie auch nur das Haus verlies, verbrachte sie fast eine Stunde im Badezimmer, vor dem großen Wandspiegel, und versuchte, sich die neuen Muster aus einem Magazin auf das Gesicht zu malen, probierte, perfekt zu sein in Kleidung und Haltung, so perfekt, wie all die anderen, damit sie neben ihnen bestehen konnte, damit sie nicht anders war; jeden Morgen achtete sie darauf, dass ihre Schuhe zu der Kette passten. Wenn sie aß, sorgte sie dafür, dass jeder mitbekam, welch schlechtes Gewissen sie wegen dieser Sünde plagte und sie hatte mit den Jahren ihre Koketterie fast bis zur Perfektion getrieben. Auf ihr Benehmen legte sie sehr viel Wert, auch auf ihren Umgang; und egal, wann man sie antraf, sie wusste immer, wie sie zu wem zu stehen hatte. Sie kannte ihren Platz, und sie wusste, was mit ihren Freunden geschehen würde, wenn sie ihn verließ oder zuließ, dass ein anderer den seinen verkannte; sie wusste, dass diese Freunde dann die Pflicht hatten, sie auf ihren eigenen Platz zu verweisen. Sie wusste, wovon, von wem sie träumen durfte und von was nicht; sie wusste, wonach sie streben konnte. Linda Lay war wie alle Mädchen; nach denen hatte sie sich gerichtet, sich richten müssen, um ihre Freunde nicht zu verlieren, um ihr Leben, das schon längst nicht mehr nur eine Lüge war, weiterleben zu können. Sie war so glücklich wie alle in dieser Anonymität und so unerfüllt wie die Meisten. Doch eines an Linda Lay war anders als bei all den Mädchen, die sie kannte: Immer, wenn sie alleine war, immer, wenn sie traurig war, wenn die Sonne schien oder der Wind durch die Äste der großen Kastanie vor ihrem Fenster stürmte, immer wenn sie abends in ihrem Bett lag, enttäuscht von der Welt oder wenn sie sich auf der Wiese räkelte, sich ungewiss, ob das, von dem sie heimlich träumte, jemals wahr werden würde, und ob das, was sie wollte, wenn sie es bekam, auch das sein würde, was sie brauchte, immer dann schloss sie die Augen. Ganz fest, sodass kein Lichtstrahl durch ihre Lider dringen konnte, so fest, das die ganze Welt stehen blieb und ihr fassungslos beim Träumen zusah. Ja, Linda Lay träumte, und die Welt sah zu, wurde einer Fülle von Gedanken, von Vorstellungen gewahr, die sie selbst sich nie hätte erdenken können. Denn wenn das Mädchen, das sein Haar trug wie alle anderen, das im Grunde genau so war wie alle anderen, sich in die andere Welt flüchtete, dann war sie plötzlich anders. Sie lachte nicht, wenn ihr nach weinen zumute war; sie flennte. Sie sah nicht zu, wenn Unrecht geschah; sie gab dem Rechten das Recht zurück. Und vor allem war sie immer, an jedem Ort, zu jeder Zeit, in jedem Traum sie selbst - ganz sie selbst. Und auch wenn sie von Bergen träumte, von Feen, Elfen und Prinzessinnen, von Trollen, Königen und echten Freundschaften, träumte sie doch immer von einer ehrlicheren Wirklichkeit. So gab es für sie zwei Welten: Die eine, in der sie Linda Lay war, in die Schule ging, Freunde hatte, die keine waren und jeden Tag eifrig lernte, was sie am nächsten Tag wissen musste, und die andere, die sie sich erträumte, in der sie anders war und für diese Andersartigkeit nicht verachtet, sondern bewundert wurde, wo sie ihre Wünsche nicht versteckte, sondern lebte. Sie war sich dessen nie bewusst, doch in ihren Träumen war die Welt, wie sie sein sollte, licht, ehrlich, freundlich; es gab keine Grenzen in ihrem Reich der Phantasie. Genau das sollte Linda Lay auch helfen, denn irgendwann werden Träume, die hinter fest geschlossenen Lidern geträumt werden, Lider, die so fest zugekniffen werden, das kein Lichtstrahl hindurchdringen kann, wahr; irgendwann drängen sie in die Wirklichkeit und ändern, wenn schon nicht die Welt, dann doch den Menschen. Und so sollte Linda Lay eines Tages in dem Bewusstsein erwachen, dass es nicht wichtig war, was ihre Freunde von ihr dachten, denn wenn diese Freunde sie nicht mochten, wenn sie ehrlich war, so mochten diese Freunde nicht sie, sondern die Masken, die sie trug. An diesem Tag sollte Linda Lay ihre Hosen über den Stiefeln tragen und die rosafarbenen T-Shirts, die nicht sie, sondern die anderen mochten, fortgeben; an diesem Tag sollte sie sich selbst erkennen. Doch bis zu diesem Tag in ferner Zukunft war Linda Lay wie alle anderen Mädchen, die sie glaubte zu kennen und träumte nur im Stillen von der einen, der anderen Welt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)