Der Nähe so fern von Elster (Yohji & Aya) ================================================================================ Heimweg ------- Memo an mich selbst: Beachte, dass Tiefgaragen groß sind und die Parkplätze Nummern haben. Die Geräusche in einer Tiefgarage erinnern mich immer an die verzerrten Echos in einer Höhle. Ich war noch nie in einer echten Höhle, aber trotzdem. Man könnte jetzt einwenden, dass es dumm ist, einen Vergleich zu etwas zu ziehen, was man nicht kennt, aber die Wahrheit ist doch, dass wir uns eine Vorstellung von allem bilden, über das wir nachdenken, bevor wir es kennen lernen. Man kann das Vorurteile nennen, aber letztendlich ist es nur ein Versuch unseres Verstandes, mit dem Unbekannten klarzukommen. Vielleicht sind echte, natürliche Höhlen ganz anders als Tiefgaragen, aber da Tiefgaragen eine Art Höhle sind, eine künstliche, menschengemachte Höhle, stelle ich mir eine Höhle vor, wie eine Tiefgarage. Und die Geräusche einer Tiefgarage sind somit die einer Höhle. Aber vermutlich ist das falsch. Ich meine, wer außer mir hat schon einen so romantischen Blick auf Tiefgaragen? Nicht, dass ich Tiefgaragen romantisch finde, aber Höhlen, also echte, natürliche Höhlen, die sind doch romantisch. Oder sollten es zumindest sein. Zumindest solange man sich nicht in ihnen verläuft und verhungert. Das ist dann wieder weniger romantisch. So was kann einem natürlich in einer Tiefgarage nicht passieren. Macht das Sinn? Nein, vermutlich nicht. Aber das ist wohl nicht weiter erstaunlich, wenn man eine gute Stunde damit verbracht hat, sein Auto zu suchen, nachdem man die Stunden davor genutzt hat, um sich zu betrinken. Ich weiß, dass ich es in dieser Tiefgarage abgestellt habe, ich weiß es ganz genau. Und trotzdem... Es gibt drei Parkdecks und ich habe keine Ahnung, in welchem der Seven steht. Ich bin durch jedes dieser Parkdecks gelaufen und habe ihn nicht gefunden. Vielleicht wurde er geklaut. Wahrscheinlich steht er noch genau an der Stelle, an der ich ihn heute Abend abgestellt habe und ich finde ihn nur nicht. Es ist jetzt so ungefähr halb fünf Uhr Nachts. Warum ist die Tiefgarage auch um diese Uhrzeit noch so voll mit Autos? Es wäre leichter, ein einzelnes Auto zu finden, als eines unter vielen. Es wäre cool, wenn ich so eine Fernverriegelung hätte, dann müsste ich nur klicken und dann würde der Seven zurückklicken und piepen und mir mit den Scheinwerfern zublinzeln. Der Seven hat aber keine Fernverriegelung und so bin ich auf meine eigenen, alkoholgeschädigten Sinne angewiesen, wenn ich ihn finden will. Wenn ich jemanden finden würde, der mir helfen könnte... ... würde nichts daran vorbeiführen, dass derjenige sieht, dass ich stockbesoffen bin und mir davon abrät, Auto zu fahren. Die Welt ist voll von gutgemeinten Ratschlägen. Ich könnte mir ein Taxi nehmen. Allerdings weiß ich nicht, wo hier der nächste Taxistand ist, habe keine Nummer von einer Vermittlung und da es im Handyzeitalter keine Telefonzellen mehr gibt und somit auch keine Telefonbücher, bin ich aufgeschmissen. Ich könnte öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Ich denke und denke, aber mir fällt wirklich nicht ein, wo der nächste Bahnhof ist. Mir ist so, als hätte ich es einmal gewusst, aber jetzt ist es einfach weg. Außerdem gießt es draußen in Strömen. Ein weiterer Grund, warum die Tiefgarage klingt, wie eine Höhle. Dieses Tropfen von Wasser... Ich frage mich, wenn plötzlich alle Menschen aus dieser Stadt verschwinden, wenn sie einfach fort sind, von einem Moment auf den anderen, wenn sie sterben - wie lange würde es dann dauern, bis diese Tiefgarage wirklich eine Höhle ist? Ein echte Höhle mit Tropfsteinen und ohne rechte Winkel und raue Betonoberflächen? Hundert Jahre? Zweihundert? Wahrscheinlich mehr... Es ist ganz erstaunlich, wenn man mal darüber nachdenkt. Aber jetzt muss ich einen Weg finden, nach Hause zu kommen. Möglichst ohne nass zu werden. Also ohne rauszugehen. In meinem Wagen liegt ein Regenschirm. Irgendwer hat ihn da liegen lassen. Irgendeine Frau, denke ich, denn er hat ein ganz eigenartiges Rankenmuster. Eine Mischung aus Blumentapete und Paisley. Ziemlich hässlich, aber ich bin irgendwie nie dazu gekommen ihn rauszuräumen. Es wäre gut, wenn ich jetzt einen Schirm hätte. Dann könnte ich mich auf die Suche nach einem Bahnhof machen. Oder nach einem Taxistand. Was natürlich sinnlos wäre, denn um den Schirm zu bekommen, müsste ich ja erst mal mein Auto finden und dann würde ich damit fahren und nicht mit der Bahn oder einem Taxi. Aber so ist alles was mir bleibt mein Handy. Ich starre es eine Weile an, dann kommt mir eine gloriose Idee. Ich könnte zu Hause jemanden anrufen und mich abholen lassen. Das klingt gut. Zu Hause jemanden anrufen und mich abholen lassen... zu Hause... Der Gedanke fühlt sich an wie die Sonne im Winter... Das Problem ist, dass nach Abziehen aller Zweiräder, die sich in unserem Besitz befinden, nur ein mögliches Fahrzeug übrig bleibt, nämlich Ayas Porsche. Und damit bleibt auch nur ein möglicher Fahrer, nämlich Aya. Ich kann mir das Gespräch sehr gut vorstellen: „Aya, mir ist da eine dumme Sache passiert. Ich habe meinen Wagen in einer Tiefgarage verloren, bin zu betrunken, ihn wiederzufinden und will nicht raus in den Regen. Hol mich bitte ab.“ Woraufhin Ayas einzige Antwort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Tuten in der Leitung ist. Andererseits... Fragen kostet nichts. Ich wähle seine Nummer und bin erstaunt, als er schon nach dem zweiten Klingeln abhebt. Er meldet sich immer mit seinem Nachnamen, der bei ihm wie ein mürrisches „Was?“ klingt. Kein Gruß, kein gar nichts. Aber immerhin klingt er als wäre er schon eine Weile wach. Das steigert meine Chancen. Ich versuche meine Stimme unter Kontrolle zu bekommen, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob das was ich sage, so klingt, wie ich es mir vorstelle. „Guten Morgen, ich bin’s. Könntest du mich vielleicht abholen, ich fürchte, ich bin hier irgendwie gestrandet.“ Das klang vielleicht ein wenig zu fröhlich oder zu betrunken, denn es herrscht eine ganze Weile Schweigen und ich weiß, er überlegt, ob er jetzt auflegt oder nicht. Ich kann mir richtig vorstellen, wie er das Telefon anstarrt. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, der Mund eine dünne Linie. Ich denke, er telefoniert so ungern, weil er sein Gegenüber dann nicht in den Boden starren kann. Gerade als ich die Hoffnung schon aufgeben will, ist seine Stimme plötzlich wieder da. „Wo bist du?“ Es dauert eine Weile, bis mir einfällt, wo sich diese Tiefgarage befindet. Es ist nicht ganz leicht wach zu bleiben, mit diesem monotonen Tropfen von Wasser als stetiges Hintergrundgeräusch. Aber nach einigem hin und her scheint er eine ungefähre Ahnung meiner derzeitigen Position zu haben und legt auf. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er jetzt kommt oder nicht, aber ich gebe es so oder so auf, mein Auto zu suchen und stelle mich an die Ausfahrt zur Tiefgarage, an eine Stelle, die relativ trocken ist. Mir kommt kurz der Gedanke, dass das hier nicht der einzige Ausgang ist, aber ich bleibe trotzdem hier stehen und sehe hinaus in den Regen. Es ist nicht besonders kalt, eigentlich recht angenehm und das Rauschen des Regens, das ferne Geräusch vorbeifahrender Autos üben eine hypnotische Wirkung auf mich aus. Meine Gedanken schweifen ziellos umher und ich schrecke erst aus ihnen auf, als ein Auto vor mir zum Stehen kommt, anstatt weiterzufahren. Aya. Selbst wenn man seinen Fahrstil berücksichtigt, muss er fast eine Stunde bis hierher gebraucht haben. Während ich einsteige, ärgere ich mich über meine Unachtsamkeit. Ich bin es gewohnt, aber trotzdem beunruhigt es mich, wenn ich den Überblick über die Zeit so verliere. Ich kann mich nicht mehr erinnern, woran ich die ganze Zeit gedacht habe... Die Heimfahrt verläuft schweigend. Nur das Geräusch des Regens auf dem Auto und das Surren und Quietschen der Scheibenwischer. Ich habe noch nie erlebt, dass Aya beim Autofahren Musik hört. Oder in irgendeiner anderen Situation. Mich würde interessieren, welche Musik er mag, aber es scheint so, als würde er überhaupt keine Musik hören. Ich kann mir einen Menschen, der keine Musik hört nicht vorstellen. Andererseits scheint Aya sich mit Stille zu umgeben wie mit einer Rüstung. Ich lehne meine Stirn gegen die kalte Fensterscheibe und sehe zu, wie sich das Wasser in kleinen, sich ständig verändernden Rinnsalen seinen Weg hinunter sucht. Plötzlich fühle ich mich sehr müde. „Weißt du“, murmle ich, „Ich habe gedacht, ich rufe zu Hause an und lasse mich zurückbringen. Nur so eine Idee. Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst.“ Ayas Äquivalent eines Schulterzuckens ist eine winzige Änderung in seiner Haltung. Es ist nicht wirklich so, dass er keine Körpersprache hat, man muss nur ein verdammt guter Beobachter sein, um sie zu sehen. „Ich war schon wach.“ Er hat immer eine Entschuldigung oder Ausrede parat, wenn er etwas unerwartet freundliches tut. Manchmal ist es amüsant. „Alpträume, hm?“ Es ist einer dieser Momente, in denen einem anhand der Dinge, die man tut und sagt, klar wird, wie betrunken man sein muss. Es war unfair, das zu sagen. Er kann mit Mitgefühl und Verständnis nicht umgehen. Er will nicht, dass andere ihn durchschauen, genauso wenig, wie ich das will. „Entschuldigung.“ Seine Schultern, seine Hände am Steuer, seine ganze Haltung wirken angespannter als noch vor wenigen Sekunden. Es ist unangenehm in seiner Nähe zu sein, wenn er so ist. Ich bereue, was ich gesagt habe, kann es aber nicht mehr zurücknehmen. Den Rest der Fahrt über harren wir in angespannter, schwerer Stille aus, dann kommen wir an. Als ich aussteige merke ich, dass sich das Licht irgendwie verändert hat und bleibe neben dem Wagen stehen, um nach oben zu sehen. Der Regen hat etwas nachgelassen. In einiger Entfernung sind die blaugrauen Wolken aufgerissen und enthüllen einen rotgoldenen Morgenhimmel. Auch Aya ist stehen geblieben und sieht den Himmel an. Oder durch ihn hindurch auf etwas ganz anderes. Es ist unmöglich zu sagen, was er denkt, aber das warme Licht lässt ihn nicht ganz so blass wirken und die feuchten Haare geben ihm ein etwas realeres Aussehen. Nach und nach entspannt er sich wieder ein bisschen. „... Danke,“ sage ich nach einigem Zögern. „Ich bin dir wa-“ „Vergiss es einfach.“, unterbricht er mich, bevor er ins Haus flüchtet. Das war klar. Er kann auch mit Dankbarkeit nicht umgehen, vielleicht ist das der Grund dafür, dass er so selten offen hilfsbereit oder freundlich ist... Ich muss gähnen. Zeit, in meine Wohnung zu verschwinden und vielleicht noch ein paar Stunden zu schlafen. Winterschlaf ------------ Wecke nie ein Tier im Winterschlaf. Es gibt Dinge, die sich beschleunigen lassen und Dinge, die das nicht tun. Die Schwierigkeit ist wie immer nur das Unterscheiden. „Und in schlechten Zeiten, wenn es kalt ist und sie kein Futter finden, dann legen sie sich schlafen, bis es Frühling wird...“ Aya ist mir ein Rätsel. Er sieht wirklich selten fern, aber wenn er es tut, überrascht einen die Wahl der Programme. Ich weiß nicht genau, was man von ihm erwarten würde. Vielleicht, dass er sich Samurai-Filme ansieht oder die Kendo-Weltmeisterschaften. Möglicherweise tut er das auch, aber ich habe ihn noch nie so etwas gucken sehen. Es ist selten, dass er fernsieht und wenn er es tut, dann scheinbar nie mit dem Ziel, eine bestimmte Sendung anzuschauen. Wenn einer von uns anderen fernsieht, bleibt Aya manchmal und schaut mit. Oft die Nachrichten, ab und zu Filme. Viele Programme interessieren ihn so wenig, dass er sich mit einem Buch dazusetzen kann. Ich finde das erstaunlich, weil mich alles, was im Fernsehen läuft vom Lesen ablenken kann, aber Aya hat ohnehin ein beeindruckendes Konzentrationsvermögen. Wenn er selbst auf den Gedanken kommt, den Fernseher einzuschalten, dann zappt er solange rum, bis er irgendwo hängen bleibt und sieht die Sendung dann bis zum Schluss. Ich habe das ab und an erlebt. Am meisten erstaunte mich, als ich ihn dabei erwischte, eine amerikanische Talkshow anzusehen. Ich bin geblieben, um herauszufinden, warum er sie interessant findet, aber es war nichts besonderes. Ein Thema nach dem Muster „Mein Freund betrügt mich mit meiner besten Freundin – ich mache Schluss!“ Als ich ihn gefragt habe, warum er das sieht, hat er etwas verwirrt gewirkt. Vielleicht hat er nicht wirklich die Sendung gesehen, sondern seinen eigenen Gedanken nachgehangen. Ich finde es wieder erstaunlich, dass er das kann. Ich sehe Fernsehen, gerade weil ich dann keine Gelegenheit habe, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Auf meine Frage hin hat er mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass er diese Leute nicht versteht. Ich meinte, dass man die Untertitel lesen müsse, wenn man kein Englisch kann, aber er hat nur die Augen verdreht und den Fernseher ausgeschaltet. In Wirklichkeit weiß ich ganz genau, was er damit gemeint hat. Manchmal kommt es mir auch so vor, als wären einige ganz alltägliche Probleme so weit entfernt von der Welt, in der ich lebe, dass sie... nicht real erscheinen. Wie Leben auf einem anderen Planeten. Und doch anders, vertrauter. Es ist das Gefühl, das man hat, wenn man mikroskopische Aufnahmen von der Haut oder dem Boden sieht. Ein Kosmos, mit dem man täglich in Berührung kommt, aber den man doch nicht sieht. Und durch das Bild wird dir für einen flüchtigen Augenblick klar, dass es so viel mehr gibt, als die Dinge, die du wahrnimmst. Dass es ganze Welten gibt, die dir für immer fremd bleiben werden. Dann kommt es mir vor, als wäre ich von allem Bekannten losgelöst. Völlig fremd. Und wenn ich das schon so empfinde, wie stark muss Aya es dann spüren, der sogar von den Menschen, die ihm am nächsten stehen durch eine scheinbar undurchdringliche Barriere aus Stille getrennt ist? Wenn ich raten müsste was er am liebsten sieht, würde ich auf Dokumentationen tippen. Reiseberichte, Wissenschaftssendungen. Das ist es zumindest, was ich ihn am häufigsten habe gucken sehen. Und jetzt sitzt er da und sieht eine Reportage über das Phänomen Winterschlaf. Eine angenehme Frauenstimme spricht. „In diesem Zustand reduzieren sich alle lebenswichtigen Funktionen auf ein Minimum. Der Herzschlag der Winterschläfer verringert sich auf wenige Schläge pro Minute, die Atempausen werden minutenlang. Bei Fledermäusen können zwischen den Atemzügen eine bis eineinhalb Stunden vergehen. Die Körpertemperatur sinkt auf unter zehn Grad...“ Ich bin beeindruckt von den Zahlen und setze mich zu ihm. Er scheint mich gar nicht zu bemerken. Es folgen ein paar Bilder von schlafenden Siebenschläfern. Sie sehen aus wie besonders lebensechte Plüschtiere, nicht wie echte Lebewesen. „Durch die Reduktion aller lebenswichtigen und Kraftstoff zehrenden Funktionen sind Winterschläfer dem Tode näher als dem Leben...“ Ich frage mich, woran Aya denkt, wenn er diese Sendung sieht. Als ich ihm einen kurzen Blick zuwerfe, merke ich, dass er anders aussieht als sonst. Sein Blick ist ungebrochen auf den Fernseher gerichtet, sein Gesicht erstarrt in einem Ausdruck, den ich nicht beschreiben kann. Es scheint nichts zu geben, das anders ist als sonst, aber dennoch ist das neben mir nicht der Aya, mit dem ich sonst zu tun habe. Ich kann nicht sagen, was diesen Eindruck vermittelt. Es ist als wäre hinter seinem gewohnten Gesicht ein anderes, unsichtbares. Ein mir fremdes Gesicht, dessen Schemen ich zum ersten Mal sehe, anstatt es nur zu erahnen. Vielleicht kann dieses Bild es am ehesten beschreiben: Die Leinwand eines Schattentheaters - sie selbst bleibt unbewegt und unverändert, aber die Schatten, die von hinten auf sie fallen, bewegen sich und schaffen so unterschiedliche Bilder. „Bewegungslos verbringen sie den Winter in einem hilflosen Starrezustand, ausgekühlt, mit unregelmäßiger, seltener Atmung und drastisch abgesenktem Stoffwechsel und Herzschlag.“ Ayas Lippen öffnen sich ein wenig, aber er sagt keinen Ton, während er weiter auf den Bildschirm starrt - oder auf was auch immer er dort sieht. Seine Veränderung wird stärker. Es beunruhigt mich. „Aya?“, frage ich. Er reagiert nicht, also stoße ich ihn leicht an. Als er mich ansieht, macht er den Eindruck eines Menschen, der aus tiefem Schlaf erwacht, als wäre er gerade erst aus einem Traum wie aus dunklem Wasser aufgetaucht. Er schweigt einige Minuten, in denen die Frauenstimme weiterredet, dann schüttelt er ganz leicht den Kopf und fährt sich mit der Hand über die Stirn. „Sie schläft.“, flüstert er, wie zu sich selbst. „Nur... manchmal bin ich mir nicht sicher. Vielleicht bin ich es auch, der schläft. Bin ich nicht auch... fast tot...“ Er hat die Hand über seinen Augen, ich kann sein Gesicht nicht sehen, habe Mühe zu verstehen, was er sagt. Seine Stimme ist so flach und hohl... Doch dann hebt er den Kopf, holt tief Luft und sieht mich an. Jemand hat die Lampe ausgeschaltet, keine Schatten tanzen mehr über die Leinwand. Es ist wieder der Aya, den ich kenne. Der gewohnte Aya mit der minimalen Körpersprache und dem leeren Gesicht. „Du wolltest doch immer wissen, wer Aya ist.“, sagt er mit seiner gewohnten, festen Stimme und geht. Aya ist mir ein Rätsel. Ich sehe ihm nach, sehe die Tür an, durch die er verschwunden ist, bevor die Stimme aus dem Fernsehen meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. „Die genaue Ursache für das Aufwachen im Frühjahr ist noch immer nicht genau bekannt. Doch in vielen Fällen ist vermutlich das Steigen der Temperaturen der Auslöser für das Erwachen zu neuem Leben-“ Ich schalte den Fernseher aus und sehe aus dem Fenster. Es ist kalt draußen, der Frühling kommt spät dieses Jahr. Ikebana ------- (zum Chellange "Zwangsneurose") Die Zwänge umgeben uns. Es ist nicht leicht zu entscheiden, was Zwang ist und was nur Gewohnheit. Betrachte die Dinge genau, bevor du urteilst. Einer der Vorteile daran, in einem Blumenladen zu arbeiten ist es, die Blumen zum Einkaufspreis zu bekommen. Das ist praktisch, denn Blumen sind unwahrscheinlich teuer, besonders wenn man bedenkt, dass sie keinen praktischen Zweck erfüllen und nach spätestens einer Woche weggeschmissen werden. Dennoch. Es werden viele Blumen gekauft. Zu allen möglichen Gelegenheiten. Geburtstage, Hochzeiten, Jubiläen, Geburten, Beerdigungen, Festumzüge, Feierlichkeiten, Krankenhausbesuche, Todestage, Trauermärsche, überall begleiten uns Blumen. Es muss also mehr geben, als nur den äußeren, den offensichtlichen Wert. Sie sind mehr als bloßer Schmuck. Blüten sind Symbole. Zeichen der Freude, der Trauer, der Anerkennung oder Anteilnahme. Zeichen der Liebe. Prestigeobjekte. Man kann mit ihrer Hilfe Dinge sagen, ohne sie aussprechen zu müssen, Gefühle ausdrücken, die man nicht in Worte kleiden kann. Die Farbe, die Vielfalt, die Vergänglichkeit. Blumen sind Leben und Tod. Trotzdem ist die Sache mit dem Preis der einzige Vorteil daran, in einem Blumenladen zu arbeiten. Der Job ist eintönig, nicht sehr rentabel und - wie der Einzelhandel mit allen verderblichen Waren - risikoreich. Als im letzten Sommer über Nacht die Kühlschränke ausgefallen sind, konnten wir am nächsten Morgen unseren halben Bestand wegschmeißen, wenn im Winter die Heizung ausfällt, hat das den gleichen Effekt. Der Markt ist heiß umkämpft, Großhändler drücken die Preise mit Dumpingangeboten. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, warum irgendjemand diese Arbeit hauptberuflich machen sollte. Für die Kunst - also Ikebana - ist da keine Zeit. Von uns vieren ist allerdings Aya der einzige, der das kann oder sich auch nur dafür interessiert. Ich war nie ein großer Fan davon. Ikebana wirkt auf mich immer so... streng. Ich weiß, ich weiß, es geht um die Klarheit der Formen, aber ich habe Schwierigkeiten zu glauben, dass überhaupt irgendetwas klar ist, ganz zu schweigen von Gestecken. Natur sollte wild sein, frei und nicht in irgendwelche Formen gepresst. Aber vielleicht habe ich da auch etwas falsch verstanden. Als ich nachts nach Hause komme, gehe ich am Laden vorbei und stutze. Mir ist so, als sähe ich, wie Licht durch die Ritzen im geschlossen Rollläden dringt. Es ist schon spät, fast eins, also gehe ich zur Hintertür, um nachzusehen, ob eingebrochen wurde. Die Kasse wird zwar jeden Abend geleert, aber möglicherweise wissen die Einbrecher das ja nicht. Die Tür scheint unbeschädigt als ich sie erreiche, aber aus dem Lagerraum, der dahinter liegt, dringt deutlich sichtbar Licht durch die dicken, hochgelegenen Milchglasfenster. Vielleicht ist es einer der anderen, jeder von uns hat einen Schlüssel. Wenn ich mir auch nicht erklären kann, was jemand um diese Zeit dort will. Zwar ist der Missionsraum im Keller unter dem Laden, aber wir haben die letzte Mission erst gestern abgeschlossen und ich weigere mich strikt, den Gedanken an ein paar ruhige Tage aufzugeben. Davon abgesehen, würde Kritiker hier nachts kein Treffen ansetzen. Welchen Sinn hat eine Tarnung, wenn man sie durch verdächtiges Verhalten in Gefahr bringt? Ich schließe auf und öffne vorsichtig die Tür. Das grelle Licht der Neonlampen blendet mich im ersten Moment, dann aber erkenne ich Aya, der mit dem Rücken zu mir an einem der groben Holztische steht, an denen wir arbeiten. Er scheint mein Eintreten nicht bemerkt zu haben. Falls er es doch registriert hat, macht er sich nicht die Mühe, es in irgendeiner Form zu zeigen, selbst als ich näher komme. Er hat sich über ein Gesteck gebeugt, der Rücken leicht gekrümmt, die Schultern seltsam angespannt. Sein Blick, sein ganzes Wesen ist auf seine Arbeit gerichtet, während seine Finger flink und präzise wie Teile einer fein abgestimmte Maschine hierhin und dorthin flitzen, Blüten und Stängel mit gemustertem Blattwerk aufnehmen, zurechtschneiden, in Position bringen, anordnen. Er wirkt konzentriert und doch geistesabwesend, mechanisch. Ich beobachte oft, wie er dieses Stadium erreicht. Wenn er in seine eigene Welt entkommt und alles andere ausblendet. Es ist der Ort, den man im Geiste erreicht, an dem dein Handeln ohne bewusstes Denken abläuft, an dem du eins wirst mit dem, was du tust, weil du dich selbst vergisst. Es fällt Aya leicht, dorthin zu kommen, in manchen Situationen tut er es automatisch. Früher bin ich manchmal selbst dort gewesen, als ich noch gezeichnet und gemalt habe. Es war nie mehr als ein Hobby für mich, aber manchmal habe ich diesen Zustand erreicht und bin hinterher wie aus einer Trance wieder zu mir gekommen. Es ist wie eine Ahnung von Vollkommenheit. Ich habe seit Jahren nicht mehr gemalt. Es wäre... seltsam. Es würde nicht zu dem Menschen passen, der ich jetzt bin. Aber vielleicht sollte ich auch versuchen wieder etwas mehr wie der Mensch zu sein, der ich einmal war. Ich weiß es nicht. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich dieses Ich schon vergessen. Ich sehe, wie Aya plötzlich inne hält und mit den gleichen, exakten Bewegungen alles wieder auseinander nimmt. All die klaren, strengen Formen des Arrangements lösen sich nach und nach wieder auf, verschwinden. Seine Bewegungen werden ruckartiger, fahriger, dann zittern seine Hände. Plötzlich wirkt er nicht mehr ruhig, die Linie seiner Schultern, seines Rückens scheint eine ungeheure Energie nur mit Mühe zurückzuhalten. Was bis vor Sekunden noch in Balance war, droht nun zu kippen. Dann stürmt er an mir vorbei, flüchtet sich in den Verkaufsraum, schlägt die Tür hinter sich zu. Ich folge ihm nach einigem Zögern. Er ist nicht wirklich unberechenbar, er ist widersprüchlich, aber ich bilde mir ein, ihn bis zu einem gewissen Grad zu verstehen. Er ist Perfektionist. Er kann nicht gut mit Fehlschlägen umgehen, besonders wenn ihm das, was er tut, wichtig ist. Ich will nicht unbedingt in seiner Nähe sein, wenn sein Geduldsfaden reißt, aber ich verstehe nicht wirklich, warum er hier nach Mitternacht an einem Gesteck arbeitet und ich bin ein außergewöhnlich neugieriger Mensch. Als ich hereinkomme, muss ich mich erst umsehen, bevor ich ihn entdecke, wie er am Ende des Verkaufstresens auf den Boden sitzt und mit starrem Gesicht und gesenktem Kopf herabsieht. Frustriert. Deprimiert. Missmutig. Elend. Als ich näher komme, sieht er auf und versucht, mich mit seinem Blick zu durchbohren. „Was tust du hier, Kudoh?“ Ich höre den stummen Vorwurf in seiner Frage: Wenn du nicht hier wärst, wenn du mich nicht gestört, mich einfach in Ruhe gelassen hättest, dann hätte ich es geschafft, dann wäre es jetzt perfekt, vollkommen. Du verdirbst alles. Du zerstörst alles. Du bist schuld. Manchmal ist er so kindisch. Unter all den Stacheln und der gespielten und echten Tapferkeit ist er so jung. „Wie lange bist du schon hier?“, frage ich ihn, erhalte aber als Antwort nur ein Schulterzucken. Er wendet den Blick ab. Er muss schon sehr lange vergeblich daran arbeiten, wenn er so schnell aufhört, mir die Schuld zuzuschieben. Mit einem leisen Seufzen setze ich mich neben ihn und folge seinem Blick, der auf den leeren Verkaufsraum gerichtet ist. Über Nacht sind die Kübel mit den Schnittblumen, die sonst immer den meisten Platz beanspruchen, in den Kühlschränken. Es ist seltsam diesen Raum, der tagsüber immer mit frischen Blumen und schnatternden Schulmädchen gefüllt ist, jetzt zu sehen. Leer. Nur der Geruch nach feuchter Erde und leicht modrigem Wasser ist ähnlich, doch selbst er ist ohne den Duft der Blumen nicht derselbe. „Woran arbeitest du?“, frage ich, aber Aya schweigt nur. Ich hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet. Umso mehr überrascht es mich, dass er nach einiger Zeit doch noch antwortet. „Morgen ist ihr Geburtstag.“, sagt er sehr leise, sodass ich mich anstrengen muss, um es zu verstehen, obwohl es im Laden absolut still ist. „Wie alt wird sie?“, frage ich, mehr um überhaupt irgendetwas zu sagen als weil es mich wirklich interessiert. Ich denke zurück an mein Gespräch mit Ken. Ich musste ihm das wenige, was er über Aya und seine Schwester weiß, buchstäblich aus der Nase ziehen. Ken ist niemand, der hinter ihrem Rücken über andere spricht oder Dinge über einen ausplaudert, die andere nichts angehen. Es ist eine seiner besten Eigenschaften, aber meine Güte, hat es mich Überredungskunst gekostet, ihn davon zu überzeugen, dass mich Ayas Vergangenheit etwas angeht. Aya sieht mich abschätzend an, als erwöge er, ob ich es wert bin, mir diese persönliche Information anzuvertrauen. Was geht dich das an?, fragt sein Blick. Warum willst du das wissen? „Siebzehn.“, sagt er dann und mir wird in diesem Augenblick klar, dass ich nicht einmal genau weiß, wie alt Aya selbst ist und dass ich Ken auch nicht nach seinem richtigen Namen gefragt habe. Manchmal weiß ich wirklich nicht, was mit mir los ist. Vielleicht kann ich nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden. Aber es kommt mir manchmal so vor, als hätte ich eine Ahnung davon, wer Aya ist, die über bloße Fakten hinausgeht und diese unwesentlich erscheinen lässt. Aya ist so perfektionistisch, dass es schon ans neurotische grenzt. Er weiß oft nicht, was er tun soll, er hat Angst und ist verzweifelt, wie alle anderen, aber man sieht es nicht. Er versucht alles vor der Welt zu verstecken, sich von allem zu entfernen, bis es nur noch ein ferner Traum ist, den er durchwandelt, abgesehen von den wenigen Dingen, für die er lebt. Es ist, als wäre er nicht ganz da. Es ist nicht schwierig, diesen Aya zu sehen, aber man muss genau hinschauen. Er ist fast ganz versteckt hinter dem harten, kalten Aya, dem Aya, der selten die Fassung verliert, dem, der für Geld tötet. Ich schrecke aus meinen Gedanken auf, als Aya aufsteht und wieder in den Lagerraum zurückkehrt. Ich werfe noch einen letzten Blick auf den leeren Verkaufsraum, bevor ich das Licht ausschalte und ihn verlasse. Die Tür macht kaum ein Geräusch, als sie sich schließt. Ich nähere mich Aya und sehe ihm über die Schulter, während er weiter an dem Gesteck arbeitet. Er ignoriert mich und ich sehe dabei zu, wie er sich wieder verliert, wie er zwei weitere Arrangements erschafft und wieder zerstört, ohne dass ich erkennen kann, was er an ihnen auszusetzen haben könnte. „Ich kann nicht arbeiten, wenn du dabei bist.“, behauptet er. Er presst die Worte zwischen den Zähnen heraus, sein Mund eine dünne, harte Linie. Ich lege eine Hand auf seine Schulter, aber er wird nur noch angespannter und ich ziehe sie schnell wieder zurück. „Es muss doch nicht perfekt sein.“, versuche ich ihn zu besänftigen. Es ist ja nicht so, dass seine Schwester es tatsächlich sehen könnte. Allerdings denke ich nicht, dass es eine gute Idee wäre, ihn darauf hinzuweisen. Er wirft mir einen ausgesprochen giftigen Blick zu und arbeitet stumm und verbissen weiter. Fängt ein neues Arrangement an, indem er die ersten Blumen auswählt. Offensichtlich muss es doch perfekt sein und wenn er hier bis morgen früh steht. „Vielleicht konzentrierst du dich zu sehr darauf.“, meine ich. „Du solltest das ganze ein wenig lockerer angehen.“ Aya sieht wieder auf, diesmal abfällig. Falls das Wort locker in seinem Wortschatz existiert, hat es keine sehr positive Bedeutung. „Warum überhaupt Ikebana?“, frage ich ihn. „Es ist so streng. Die Mädchen in unserem Laden finden die größeren, bunten Sträuße sowieso schöner.“ Er schüttelt den Kopf, ohne in seiner Arbeit innezuhalten. „Es ist ein Geschenk. Von mir.“, murmelt er und ich verstehe plötzlich. Ein Geschenk, etwas persönliches, eine Botschaft, ein Gebet, kein hübscher bunter Schnickschnack, kein Strauß, den man einer Kranken ins Zimmer stellt. Aya macht keine leichtfertigen Geschenke. „Du verstehst das nicht.“, fährt er fort. „Du bist so unordentlich.“ Es ist keine Beleidigung. Aya empfindet vermutlich sein Bedürfnis nach Ordnung als Schwäche. Vielleicht denkt er wirklich, ich wäre frei davon, aber in Wirklichkeit folge auch ich meinen Mustern, festgefahren, unfähig mich davon loszulösen. Unsere Gewohnheiten, die Anker, die uns Halt geben und uns fesseln. Ich erwidere nichts und sehe zu, wie die Pflanzen in der flachen Schale zurechtgerückt werden, wie etwas Gestalt annimmt, das sowohl wild als auch gezähmt ist, künstlich und natürlich, frei und doch in einer festen Form gebunden, ein winziger Teil von etwas viel größerem und doch etwas besonderes und einzigartiges in sich. Es ist eine Verbindung der Widersprüche. Antithesen, die sich gegenseitig aufheben. Vollkommenheit. Das ist Ikebana? Mir wird klar, dass ich es bis heute nicht verstanden habe. Als es fertig ist, bemerkte ich, wie Aya es wieder auseinandernehmen will. „Warte, sieh es dir doch erst mal richtig an.“, fordere ich ihn auf. Aya wirkt genervt, verschränkt die Arme vor der Brust und starrt das Gesteck unzufrieden an. „Es ist perfekt. Siehst du das nicht?“, frage ich fast schon verzweifelt. Ich weiß nicht, warum mich die Vorstellung so krank macht, er könnte es wieder auseinandernehmen und noch mal von vorn anfangen. Aya sieht mich mit einer Spur Verwunderung an, dann schaut er wieder unentschlossen auf die Pflanzen. Dann, von einem Moment auf den anderen, verändert sich etwas in seinem Blick. Seine Augen weiten sich leicht, seine Mimik, seine ganze Haltung entspannt sich. Er wirkt auf einmal todmüde, aber dennoch gelöst und zufrieden. Ein winziges Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht. Nebel ----- (zum Chellange "Metapher") Eine Metapher ist ein bildhafter Ausdruck. Ein Bild aus Worten. Da auch hier gilt, dass jeder Betrachter etwas anderes sieht, ist es meist besser, sich klar auszudrücken. Das Wetter ist etwas, worüber in unserer Zeit niemand mehr groß nachdenkt. Der einzige Gedanke, den ein Durchschnittsmensch daran verschwendet, ist, ob es lohnen würde, heute den Regenschirm mitzuschleppen. Blick aus dem Fenster, in Gedanken den letzten Wetterbericht abgerufen, die unüberdachten Wege erwogen, die man heute zu gehen gedenkt. Eine Frage von Sekunden. Nein, man braucht das Ding nicht mitnehmen. Man würde es ohnehin vergessen. Im Bus, in der Bahn, im Wartezimmer. Auf den Fundbüros sammeln sich Schirme. Das ist alles, was das Wetter angeht, scheint es. Es regnet oder es regnet nicht. Zwei Stadien. Klar unterscheidbar. Und dann, ganz verwirrend und unheimlich, kommen Tage wie dieser. Tage, an denen das Wetter so ungewöhnlich, so bemerkenswert und unerwartet ist, dass die Leute nicht umhin kommen, es zu bemerken. Heute ist ein Tag, an dem man nicht entscheiden kann, ob es regnet oder nicht. Aber es ist sowieso egal, weil ein Schirm einen nicht vor der Nässe schützt. Als ich heute morgen aufgewacht bin, wusste ich sofort, dass etwas anders ist als sonst. Ich konnte nicht sofort sagen, was es war, aber ich wusste es, noch bevor ich die Augen aufschlug und das milchig trübe Licht sah. Alles war ungewohnt. Ich lag ganz still da und versuchte herauszubekommen, was anders war, als an anderen Tagen. Und dann wurde es mir klar: Die Geräusche. Keine zankenden Spatzen, kein ununterbrochenes Motorenbrummen, keine schwach ins Zimmer dringenden Stimmen. Stille. Eine unheimliche, bodenlose Ruhe, die beinahe zu pulsieren schien. Ein Nichtgeräusch mit erschreckendem Eigenleben, gegen das ich das Radio einschaltete. Auf der ganzen Stadt liegt der Nebel so dicht und undurchdringlich als wäre er fest. Er fühlt sich im Gesicht zäh und klebrig an, wenn man hinausgeht. Obwohl es recht kühl ist, kommt man sich schon nach kurzer Zeit durchnässt und verschwitzt vor. Der Schweiß auf der Haut verdunstet nicht. Es scheint sogar so, als würde noch zusätzliches Wasser auf deinem Körper kondensieren. Nicht der kleinste Windhauch ist zu spüren. Die Luft, die man einatmet, hat plötzlich einen intensiven Geschmack. Sie schmeckt, wie sie für gewöhnlich nur riecht. Nach Abgasen, Menschen, Müll. Wenn man einatmet ist es, als wäre man unter Wasser, so nass und schwer muss man die Luft in die Lungen ziehen. Die Sicht beträgt unter fünfzig Meter, der Verkehr in der ganzen Stadt ist zum Erliegen gekommen, bis auf einige mutige oder lebensmüde, die den höheren Mächten trotzen. Man hört ab und an das Brummen ihrer Motoren, wie aus unendlich weiter Ferne. Alle Töne sind so seltsam dumpf und gedämpft. Als würde man den Kopf in dichte Watte halten oder in Seifenschaum, nur ohne das Knistern der zerplatzenden Bläschen. Ich war nur ganz kurz draußen, aber die Eindrücke sind so stark, dass man sie nicht ignorieren kann. Wenn man den Gehweg entlang geht, ist es als würde man seinen eigenen Käfig aus Blindheit mit sich herumtragen und die Dinge außerhalb davon tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden hinter dir auf Nimmerwiedersehen. Es ist wie in einem Traum. Klaustrophobisch, zutiefst beunruhigend. Der Nebel lässt einen Dinge sehen und glauben, die man sonst belächeln würde. Deine Nackenhaare stellen sich auf und du schlägst den Kragen deiner Jacke hoch. Du bleibst nicht stehen, bis du an deinem Ziel angelangt bist. Das Licht fällt nicht mehr aus einer bestimmten Richtung, es ist einfach da, diffus, undefinierbar, farblos. Als würde es aus dem Nebel selbst stammen. Nichts ist mehr klar zu erkennen, nichts wirft Schatten. Die Umrisse verschwimmen, Silhouetten zeichnen sich im hellen Grauweiß ab. Die Dinge werden ihrer Realität beraubt, verlieren ihre Bedeutung, nehmen eine andere an. Grenzen verwischen. Was vorher noch deutlich sichtbar und gewöhnlich war, zeigt sich jetzt, wo man genauer hinsehen muss, von einer neuen Seite. Ich komme durch den Vordereingang in den Laden, die Glöckchen an der Glastür klingen nicht ganz so schrill wie sonst, fast eingeschüchtert. Durch die Schaufenster dringt das graue Licht wie dichter Rauch in den Raum, die Häuser auf der anderen Straßenseite sind nur vage zu erahnen. Aya ist schon da. Er hat sich einen Stuhl in die Nähe der Glasfront gezogen und starrt hinaus. Er hat kurz aufgesehen, als ich hereinkam, ansonsten sitzt er völlig unbeweglich. Wenn ich nicht sowieso schon leicht verstört von diesem Morgen wäre, spätestens jetzt wäre ich es. Aya sitzt nie herum. Er zieht es in den allermeisten Situationen vor zu stehen, weil es ihn nervös macht, wenn andere ihn überragen. Und er gibt sich im Laden stets zumindest einen Anschein von Tätigkeit. Egal wie wenig zu tun ist oder ob irgendjemand darauf achtet, Aya ist immer beschäftigt. Nur heute sitzt er da und sieht ganz versunken nach draußen, wo nichts zu sehen ist. Das Läuten der Glocken bringt mich dazu, meinen Blick von Aya loszureißen und lässt mich zur Tür herumfahren. Ken steht da, sein braunes Haar steht zerzaust in alle Richtungen, seine Augen leuchten. „Wow, habt ihr so was schon mal erlebt?“, ruft er begeistert. Seine Stimme ist viel zu laut, aber eigentlich gibt es keinen Grund zu flüstern. Aya zuckt fast unmerklich zusammen, aber Ken, der jetzt ebenfalls aus dem Fenster guckt, ist nicht zu bremsen. „Ist ja echt der Wahnsinn. Als ob die Welt untergegangen wäre oder so.“, kommentiert er beeindruckt. Einen Augenblick lang sieht Aya so aus, als wollte er etwas sagen, aber dann ist der Moment vorbei und er steht auf und trägt den Stuhl wieder an seinen Platz hinter der Theke. „Wo ist eigentlich Omi?“, fragt Ken. Ich versuche, das irreale Gefühl, das der Nebel bei mir ausgelöst hat, abzuschütteln und mache mich an die Arbeit. „In der Schule, wo sonst.“ Auf meine Antwort hin blinzelt Ken und lacht leise. Natürlich, in der Schule. Logisch. Heute ist ein ganz normaler Wochentag. Ein Tag wie jeder andere. Warum sollte auch keine Schule sein? Wir erledigen die üblichen Arbeiten ruhig und einvernehmlich. Die Schnittblumen werden wie jeden Morgen in den Verkaufsraum getragen und aufgestellt, Tische mit Topfpflanzen und Werbeschilder kommen vor dem Laden auf den Bürgersteig. Alles wird gegossen, durchgesehen, aussortiert. Das Wechselgeld wird in die Kasse gelegt, dann sind wir fertig. Wir sehen wieder hinaus in den Nebel, anstatt uns ratlos anzusehen. Es ist einer dieser Tage, an dem man irgendwie weiß, dass niemand kommen wird, außer vielleicht zwei, drei einzelnen Kunden, für die es sich eigentlich nicht lohnt den Laden offen zu lassen. Natürlich kann man immer irgendeine Beschäftigung finden, aber es wäre eben nur das: eine Beschäftigung, keine sinnvolle Tätigkeit. Es wäre unsinnig, einen Haufen Sträuße zu binden, wenn klar ist, dass keine Kundschaft kommt. Und keiner von uns ist heute bereit, den Laden mehr als unbedingt nötig zu putzen, also warten wir. Sogar Aya hat irgendwoher ein dünnes Büchlein, das er nun aufschlägt und man kann quasi zusehen, wie er die Außenwelt systematisch ausblendet. Es dauert nur eine knappe viertel Stunde, bis Ken das Nichtstun nicht mehr aushält und in nervöse Ersatzhandlungen verfällt. Er lehnt an der Theke und trommelt mit den Fingern darauf und wenn man ihm sagt, dass er aufhören soll, dann fängt er an, denselben Takt mit dem Fuß zu tappen. Ich schaffe es für ungefähr zehn Minuten, ihn mit einem Gespräch über dies und das abzulenken und erfahre, dass es nach Meinung der Meteorologen erst gegen Abend aufklaren soll. Dann gehen uns die Themen aus und wir schweigen. Mit Ken zu schweigen ist etwas völlig anderes als mit Aya zu schweigen. Mit Ken zu schweigen ist anstrengend. Als er wieder anfängt zu tappen und zu trommeln, sage ich ihm, dass er meinetwegen auch gehen kann, wenn er will, es ist ja ohnehin nichts zu tun. Als hätte er nur auf diese Aufforderung gewartet, stößt er sich von der Theke ab und verabschiedet sich, dann klingeln die Glöckchen über der Tür und Ken verschwindet nach wenigen Metern im Nebel. Keiner von uns hat ernsthaft in Erwägung gezogen, Aya nach seiner Meinung zu fragen. Immerhin ignoriert er inzwischen seit einer halben Stunde erfolgreich das Vorhandensein des Ladens, seiner Kollegen und vermutlich auch seiner selbst. Er reagiert nie sonderlich begeistert, wenn man ihn wieder an all das erinnert, also lasse ich ihn in Ruhe. Ich setze mich auf die Theke und rauche. Aya bekommt davon genauso wenig mit wie von Kens nervigem Getrommel, sonst würde er mich hochkant rausschmeißen. Ich denke eine Weile darüber nach, was Ken jetzt wohl macht. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass sogar bei diesem Wetter und um diese Uhrzeit irgendwelche Fußballfreaks im Park rumhängen, aber wer weiß, denen ist so was zuzutrauen. Davon abgesehen ist Ken der einzige Mensch, den ich kenne, der allein Fußball spielen kann. Vermutlich ist das kein besonderes Talent, aber ich fand es ganz erstaunlich als ich es mal gesehen habe. Mit Aya zu schweigen ist leicht. Es stellt sich bei ihm genauso wenig die Frage, ob und über was man reden sollte, wie bei einer massiven Mauer. Er hat von sich aus kaum das Bedürfnis, einem etwas mitzuteilen und wenn man selbst etwas sagt und es tatsächlich zu ihm durchdringt, dann stehen die Chancen ziemlich gut, dass es ihn nicht die Bohne interessiert. Vielleicht würde er einem zuhören, wenn man ihm etwas wichtiges erzählt, aber man erzählt jemandem, mit dem man nie redet in der Regel nichts wichtiges. Ich gähne und sehe auf die Uhr. Es ist kurz nach zehn. Etwa um neun rum haben wir aufgemacht. Es würde Omi vielleicht ein bisschen ärgern, aber ich könnte Aya jederzeit dazu überreden, für heute Schluss zu machen und dann wäre es das. Wir würden alles wieder einpacken und aufräumen, die Kasse wieder leeren, die Glastür abschließen, die Rollläden herunterlassen und dann würde er in seiner Wohnung verschwinden und ich... Ich seufze. Wenigstens hat Ken ein halbwegs normales Hobby. Ich habe so was nicht. Ich würde zu mir nach Hause gehen und bis in die Abendstunden in meinen eigenen zähen Gedanken versacken, weil es einfach noch deprimierender ist, schon vormittags in irgendwelchen Kneipen rumzuhängen. Und irgendwann, etwa um die Zeit zu der normale Leute langsam daran denken, schlafen zu gehen, würde ich mich aufraffen und ausgehen. Und es würde so gut werden wie immer, was nichts daran ändert, wie sehr mich der Gedanke daran jetzt im Moment anekelt... Und dann lässt Aya sein Buch sinken, schlägt es zu und blinzelt mich etwas verwirrt an. Er ist nicht mehr ganz dort, aber auch noch nicht ganz hier. Er wirkt auf einmal so normal, dass ich ihn automatisch kurz anlächle. Er erwidert das Lächeln leicht irritiert, ohne es wirklich zu merken, bevor er fragt: „Wo ist Ken hin?“ „Weg.“, antworte ich wenig aufschlussreich, aber Aya scheint ohnehin keinen besonderen Wert auf eine ausgiebigere Auskunft zu legen. „Was machst du dann noch hier?“ Auch wenn es vielleicht so erscheint, er meint es nicht unfreundlich. Es scheint ihn wirklich zu interessieren. Ich zucke mit den Schultern. „Weiß nicht. Hab nichts besseres zu tun, fürchte ich.“ Ayas einzige Reaktion besteht darin, dass er wieder aus dem Fenster in den Nebel sieht und schweigt. Die Stille zieht sich hin, aber sie wirkt jetzt mehr wie ein Schweigen zwischen zwei Menschen. Vielleicht sogar ein bisschen wie zwischen zwei Menschen, die jederzeit miteinander reden könnten, wenn sie wollten, zwei Menschen, die sich gut verstehen. Ich weiß nicht mehr genau, wie diese Art von Schweigen klingt... Anstatt länger darüber nachzudenken, beschließe ich, es auszuprobieren. „Aya?“ „Hm?“ „Was wolltest du vorhin sagen?“ „Wann?“ „Als Ken meinte, es sehe aus, als wäre die Welt untergegangen.“ Aya sieht mich ein wenig nachdenklich an, aber nicht so als denke er darüber nach, ob er es mir sagen will oder nicht, sondern als überlege er, wie er den Gedanken, den er vorhin hatte, in Worte fassen kann. „Es ist eher so, als wäre sie aufgegangen, alles sieht mehr so aus, wie es wirklich ist.“, sagt er dann leise und sieht wieder aus dem Fenster. Ich bin überrascht von der Antwort. Nicht von ihrem seltsamen Inhalt, sondern von der Antwort selbst. Ich bin plötzlich froh, dass ich heute hier bin, jetzt, genau in diesem Moment und einfach schweigen kann. In meinem Schweigen schwingt Zustimmung mit, obwohl ich es nicht so sehe wie Aya. Aber auch das ist gut. Die Welt hat sich über Nacht von einem bekannten Ort in etwas fremdes, überirdisches verwandelt. Die Stadt hat sich verwandelt. Sogar die Menschen sind anders als gewöhnlich. Alle scheinen in einem eigenartigen Zustand entrückter Melancholie zu schweben. Alles läuft langsamer ab als sonst. Oder anders. Oder gar nicht. Die Menschen bleiben lieber zu Haus, wenn sie können. Das Wetter rechtfertigt es. Sie sitzen an den Fenstern und sehen hinaus in den Nebel. Manche schlendern langsam, ruhig, wie betäubt zur Arbeit. Sie sehen die Dinge an, die sie zu kennen glauben, die Menschen, die sie zu kennen glauben. Und sie staunen. Nichts persönliches ------------------- Es gibt Tage, da kann ich ihn nicht ertragen. Die sorgsam kultivierte Tragik, die unüberwindlichen Mauern, die nichtssagenden Blicke. Das undurchdringliche Schweigen. Wenn er so weit weg ist mit seinen Gedanken, dass er mich nicht sieht. So fern, dass ich schreien und rufen könnte und er würde mich nicht hören. An manchen Tagen ertrage ich es nicht. Ich weiß nicht, ob es an mir liegt oder an ihm. Ich kann nicht beurteilen, ob er noch kälter und distanzierter ist als gewöhnlich oder ob es mich nur mehr stört als sonst. Vielleicht ein wenig von beidem. Es kommt und geht, manchmal hat es keinen für mich erkennbaren Grund, manchmal weiß ich genau, was es ausgelöst hat. Bei mir ist es ein Traum, der mich reizbar und unruhig zurücklässt, der mir seine Gegenwart unangenehm macht, aus Gründen, die ich nicht benennen kann. Ich kann diesen Bildern nicht entkommen, so sehr ich es auch versuche. Sie hinterlassen ein Gefühl der Machtlosigkeit. Ich fühle mich wie ein verletztes Tier, in die Ecke gedrängt, ängstlich. Alles läuft so falsch... Manche Leute glauben nicht daran, dass die Geister der Verstorbenen von einem Besitz ergreifen können, dass man von ihnen besessen sein kann. Ich weiß es besser. Über Jahre hinweg immer wiederkehrende Träume über Verlust und Schuld in Zusammenhang mit immer derselben Person. Das ist Besessenheit. Man kann sich dessen bewusst sein, aber man kann es nicht einfach abstreifen wie eine alte Haut. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen, kann nicht vergeben und vergessen. An den Grenzen meines Gesichtsfeldes lauert der Schatten einer toten Frau. Ich denke, Aya würde das verstehen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich seine Nähe suche. Glaube ich, dass er Antworten auf meine Fragen hat? Dass er eine Lösung weiß? Dass er mir Trost spenden könnte? Ich weiß nicht wie, aber in letzter Zeit hat sich der Gedanke in meinem Kopf eingenistet, er könnte das Puzzleteil sein, dass mir fehlt, um einen Sinn in allem zu erkennen. Ich bekämpfe diesen Gedanken, zumindest versuche ich es. Es gibt keinerlei Grundlage für diese Annahme, sage ich mir. Aber es hat ohnehin nichts mit Logik zu tun. Vielleicht werde ich wahnsinnig. Ich bin fixiert auf einen Mann, der meine Existenz nur vage zur Kenntnis nimmt. Und das auch nur, weil er aufgrund äußerer Zwänge viel Zeit mit mir verbringt. Es ist unwahrscheinlich, dass er in uns mehr sieht als Arbeitskollegen, wenn er überhaupt etwas sieht. Es ist unklar, ob er uns als lebendige Menschen wahrnimmt und nicht nur als schattenhafte Wesen. Ich weiß das, weil es eine Zeit gab, in der ich die Welt auch so gesehen habe. Dann bin ich eines Tages aufgewacht und hatte nichts mehr als eine Tätowierung auf dem Arm, die ich noch nie gesehen hatte. Dann bin ich hierher gekommen. Wo auch immer es ist, wo ich mich hier befinde. Es sieht aus wie ein Blumenladen, aber in Wirklichkeit ist es der Limbo, eine Art Vorhölle. Und eines Tages wacht ein rothaariger Mann in meinem Bett auf und weckt eine längst verschüttete Erinnerung in mir, aber ich kann sie nicht greifen. Ich kann nicht dahinterkommen, was ich in ihm sehe. Ich bin an einem toten Punkt angelangt. Ich bin gleichermaßen fasziniert und abgestoßen von seinem Wesen. Er ist so snobistisch, so unnahbar, verächtlich, arrogant, ein wandelnder Anachronismus. Man erwartet jeden Moment, ihn Worte sagen zu hören wie Ehre, Würde und Stolz, aber er tut es nie. Er könnte über Leben und Tod sprechen, über Untergang und Verdammnis und die Leute würden ihm zuhören. Er hat diese Art, einen in seinen Bann zu ziehen, selbst wenn er es nicht beabsichtigt. Aber er will das nicht, er bemerkt es nicht einmal. Er benutzt überhaupt keine großen Worte, als wären sie ihm irgendwann abhanden gekommen. Er zieht es vor zu schweigen. Wenn ich etwas sage, hört er nicht zu. Wenn ich etwas tue, sieht er nicht hin. Es macht mich wahnsinnig. Dem Teil von mir, den alle anderen mögen, der gut mit allen klar kommt und der Welt Sorglosigkeit vorgaukelt, hat er nichts zu sagen. Vielleicht ist es einfach nur das. Ich versuche mich zu erinnern, ob es überhaupt Momente gegeben hat, in denen er nicht durch mich hindurch gesehen hat. Doch, es gab sie, aber ich weiß nicht, ob sie irgendetwas bedeuten oder ob seine weggeschlossene Persönlichkeit einfach hin und wieder herausbricht, jenseits seiner Kontrolle und gleichgültig gegenüber den äußeren Umstände. Vielleicht bin ich nur Zeuge von Ausrutschern geworden. Seelischen Deichbrüchen. Ich denke an gestern zurück, wie die Kugel mich nur knapp verfehlt, wie sie hinter mir ihr Ziel findet. Ich komme nicht umhin zu denken, dass sie genauso gut mich hätte treffen können. Ich war vor Schreck erstarrt, als ich Aya als den Schützen erkannte. Ich drehte mich um und hinter mir lag unsere Zielperson, tot. Die anderen haben nichts davon bemerkt, sie waren zu beschäftigt, um es zu sehen und ich habe hinterher nichts gesagt. Aya hat geschossen, obwohl ich in der Schusslinie stand. Der Ausdruck auf seinem Gesicht geht mir nicht mehr aus dem Sinn: konzentriert, kalt, gleichgültig. Ein zaghaftes Klopfen an meiner Tür, stört mich in meinen Gedanken. Wer auch immer dort draußen ist, ich weigere mich ihn hereinzubitten, aber nach einer Weile wird die Tür dennoch zögerlich geöffnet und Aya steht in der Tür. Er wirkt unbehaglich, aber doch gefasst. Einige Sekunden verstreichen. „Kann ich reinkommen?“, fragt er dann widerstrebend. Ich zucke mit den Schultern und unterdrücke ein freudloses Lachen. Kann ich dich davon abhalten? Du stehst doch sowieso schon halb im Zimmer. Interessiert dich meine Meinung dazu wirklich? Nein, verschwinde. Er schließt sorgsam die Tür hinter sich, als er eintritt, bleibt mitten im Raum stehen. Seine Augen huschen nervös über die Gegenstände im Zimmer, meiden mich, bleiben schließlich am Fenster hängen. „Wegen gestern...“, sagt er endlich. Ich sage nichts, weiß nicht, was ich sagen soll. Er könnte sich rechtfertigen, versuchen sich zu verteidigen. Er hat nicht gesehen, dass ich es war. Es war die einzige Gelegenheit, die Zielperson zu eliminieren. Es wäre keine Lüge und ich wüsste es, aber es geht hier nicht darum, ob ich ihm glaube oder nicht. Woher hatte er eigentlich die Pistole, er kämpft doch sonst niemals mit Schusswaffen? Ich spüre, wie sein Blick mich streift, glaube ein Seufzen zu hören. Aber das kann nicht sein, ich muss mich irren, denn jemand wie Fujimiya seufzt nicht. Und wenn mich von ihm ein Laut erreicht, so ist das nur ein Echo meiner Einbildung. „Du nimmst das persönlich, oder?“, fragt er in die Stille hinein und er lässt es wie einen Vorwurf klingen. Er sieht mich forschend an. „Natürlich nimmst du es persönlich.“, beantwortet er seine eigene Frage. „Ich könnte tot sein. Ich denke, das ist persönlich.“, sage ich. Es klingt wie eine Rechtfertigung, nicht wie die Anklage, die es sein soll. Ich kann zusehen, wie sein Gesicht versteinert. „Wenn du das so siehst, ist das bedauerlich, aber ich kann es nicht ändern.“ Seine Stimme hat einen ungewohnt dumpfen Klang, als er sich umdreht, um das Zimmer zu verlassen. Ich springe auf und schneide ihm den Weg ab, bevor er die Tür erreicht. Ich bin wütend. Warum fühlt er sich Angesichts dieses Vorwurfes in seinem Stolz verletzt, wenn er doch sonst immer alles tut, um seine Umwelt von seiner Gleichgültigkeit und Kaltblütigkeit zu überzeugen? „Was soll das heißen?“, fahre ich ihn an. Als er mich nicht ansieht und versucht, an mir vorbei zu entkommen, packe ich sein Handgelenk und ziehe ihn mit einem Ruck zu mir. Als er aufsieht ist all die Gefasstheit aus seinem Blick verschwunden. „Du bist so ein Idiot, Kudoh.“, faucht er. Er zerrt ohne allzu großen Nachdruck an seinem Arm, den ich aus Sturheit weiter festhalte, hält dann nach einer Weile still, seufzt resigniert und sieht mir direkt ins Gesicht. „Was denkst du? Dass ich dein Leben einfach so riskiert hätte?“, fragt er mich immer noch aufgebracht. Oder niedergeschlagen oder keines von beidem. Ich antworte nicht, sondern erwidere nur stumm seinen Blick. „Natürlich glaubst du das.“, flüstert er plötzlich. Er sieht auf einmal aus als wäre alles Leben aus ihm gewichen. „Was soll ich denn denken?“, frage ich ihn weniger scharf als ich beabsichtigt hatte. Seine Augen sehen direkt durch mich hindurch. „Du hast nicht nur kein Vertrauen in meine Fähigkeiten, du hast nicht einmal Vertrauen in meine Absichten.“, stellt er tonlos fest. „Du kannst denken, was immer du willst, Kudoh. Es spielt unter diesen Umständen keine Rolle.“ Ich habe keine Ahnung, wovon er redet, aber ich weigere mich, ihn loszulassen, als er wieder versucht zu gehen. „Welche Umstände?“, frage ich ihn. Es ist nicht die Frage, die ich stellen möchte. Ich weiß nicht, welche Frage ich stellen muss. Ich weiß nicht, welche Antwort mir helfen könnte, ihn zu verstehen. Er zieht weiter halbherzig an seinem Arm, um mich dazu zu bringen, ihn loszulassen. Mir ist klar, dass er es schon längst geschafft hätte, würde er ernst machen. Ich kann ihn genau sehen. Den Moment, in dem er seine Geduld verliert, in dem er seine Fassung aufgibt und nichts mehr zurückhält. Vielleicht war es die richtige Frage. Die Worte sprudeln plötzlich aus ihm heraus, bitter und geplant zunächst noch, dann immer verzweifelter und unzusammenhängender. Er sieht mich mit einem Blick an, der um Verständnis bettelt. Ich weiß nicht, ob es das ist, was ich wollte. „Ich denke nicht, dass wir weiter zusammenarbeiten können, wenn du nicht bereit bist, dich auf mich zu verlassen. Also werde ich wohl gehen müssen. Ist es das, was du willst? Ich wollte mich gestern bei dir entschuldigen, aber du bist mir ausgewichen. Ich weiß, dass du es alles falsch verstanden hast, du konntest es ja nicht sehen, aber ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Ich dachte, ich müsste es dir nur erklären, aber selbst wenn du mir glaubst, macht es das jetzt nicht mehr besser... Ich dachte, du hättest eine höhere Meinung von mir.“, setzt er elend hinzu. Ich lasse ihn endlich los und stolpere ein paar Schritte zurück. Es ist mehr als sein Stolz, der verletzt ist. Vielleicht habe ich ihm wirklich Unrecht getan. „Eine Meinung von dir? Ich verstehe dich nicht.“, sage ich zu meiner Verteidigung. „Wie sollte ich denn, wenn du alles tust, um das zu verhindern? Dann erkläre, was gestern war.“, fordere ich ihn auf, als er mich nur reglos ansieht. „Er stand hinter dir, Yohji.“, sagt er schließlich leise. „Ich habe gesehen, wie er auf dich anlegt, ich hatte die Waffe von einem der Bodyguards. Ich bin kein schlechter Schütze, ich wusste, dass ich treffen würde. Bis auf sie seid ihr alles, was ich habe. Ich würde eher mich selbst in Gefahr bringen, als einen von euch. Ich dachte, du wüsstest das. Aber du hast Recht, es ist meine Schuld, wenn du es nicht tust.“ Es ist das erste mal, dass er mich nicht Kudoh nennt und das erste mal, dass er ganz und gar da ist und sich mir zeigt. Verloren und einsam. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, um es wieder gut zu machen. Es gibt nichts, was ich sagen kann. Erst als er nach der Türklinke greifen will, schaffe ich es, mich aus meiner Betäubung zu lösen. Ich ziehe ihn in eine Umarmung und halte ihn fest. Er erstarrt und ich will ihn schon loslassen, als er die Umarmung unbeholfen erwidert. Ich kann nicht aufhören zu hoffen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)